Der nächste Halt meiner literarischen Weltreise führt uns wieder in ein Nachbarland – eines, das meine allererste Auslandsreise überhaupt war, meine Schul-Abschlussfahrt vor mehreren Äonen. Dort habe ich zum ersten Mal das Meer gesehen, stand staunend vor dieser unendlichen Weite, die ich bis dahin nur aus Filmen und Büchern kannte. Brügge und Gent haben mich damals richtig verzaubert, mit seinen Kanälen, dem Kopfsteinpflaster, den Häusern, die aussehen, als würde jeden Moment Ms Marple um die Ecke kommen. Und Brüssel habe ich gleich zweimal besucht – eine Stadt, die ich sehr gerne mag und ich erinnere mich an ein wahnsinnig gutes Abendessen in einem Restaurant in einer alten Bank – Belga Queen – kann ich sehr empfehlen und wenn ich mich recht erinnere, kam das Restaurant sogar in einem Roman vor, den ich vor einer Weile gelesen habe, in Robert Manesses „Die Hauptstadt“. Belgien ist also ein Nachbarland, das ich zumindest ein bißchen kenne, und dennoch eines, das in seiner Tiefe, Vielfalt und Komplexität immer noch weiter entdeckt werden kann.
Belgien wirkt auf den ersten Blick überschaubar: klein, dicht besiedelt, eines dieser Länder, das man leicht auf der Europakarte übersehen könnte, wenn man nicht gerade Pommes liebt. Es entfaltet dann aber bei näherem Hinsehen eine erstaunliche kulturelle und politische Vielschichtigkeit. Die drei offiziellen Sprachen: Niederländisch, Französisch und Deutsch sind keine bloßen Verwaltungsakte, sondern Ausdruck historischer Prägungen, Identitäten und rivalisierender kultureller Räume. Wer Belgien bereist, bewegt sich ständig zwischen ihnen: Flandern mit seinen flämischen Städten wie Gent oder Antwerpen, die französischsprachige Wallonie mit Lüttich oder Namur, dazwischen das politisch pulsierende Herz Brüssel sowie im Osten jene kleine deutschsprachige Gemeinschaft, die oft vergessen wird, die aber ihr ganz eigenes literarisches und kulturelles Erbe trägt.





Das Spannende an Belgien ist dieses Gefühl, dass die Vielfalt nicht wie in fernen, weiten Ländern als bunter Flickenteppich erscheint, sondern in dichter Nachbarschaft lebt. Man fährt nur wenige Kilometer und landet sprachlich in einer anderen Welt, mit anderen Traditionen, anderer Mentalität, anderem Humor. Schön ist, dass sich das in der Literatur widerspiegelt: Geschichten, die zwischen Sprachen wandern, zwischen Erinnerungen, Identitäten und Brüchen, zwischen regionalen Eigenheiten und europäischer Weite.
Politisch zeigt sich Belgien als föderale konstitutionelle Monarchie, in der sich die regionalen und sprachlichen Besonderheiten tief in die politischen Strukturen eingeschrieben haben. Regierung und Koalitionsbildung sind oft ein Geduldsspiel nicht, weil Belgier*innen besonders streitlustig wären, sondern weil die Macht zwischen Regionen und Gemeinschaften so fein austariert ist, dass jede Entscheidung mehrere Ebenen durchlaufen muss. Das Land besteht aus Regionen (Flandern, Wallonien, Brüssel) und Sprachgemeinschaften (niederländisch-, französisch- und deutschsprachig), die jeweils eigene Zuständigkeiten haben. Politik ist hier ein Balanceakt, eine ständige Suche nach Kompromissen und Koalitionen, die manchmal fragil wirken, aber doch seit Jahrzehnten dafür sorgen, dass das Land trotz Krisen und Spannungen funktioniert.





In gewisser Weise ist Belgien vielleicht eines der prototypisch europäischen Länder: klein, föderal, vielfältig, kompliziert – und gerade deshalb so interessant. Es steht für ein Miteinander, das nicht immer friktionsfrei ist, aber in seiner Reibung Ideen, Geschichten und Perspektiven hervorbringt, die untrennbar mit seiner kulturellen Identität verbunden sind.
Hier wie immer die vergleichenden Daten:
- Bevölkerung: ca. 11,8 Mio. Menschen (Stand 2025)
- Fläche: rund 30.700 km² (etwa so groß wie Baden-Württemberg)
- Bevölkerungsdichte: sehr hoch, vor allem in Flandern und rund um Brüssel
- Sprachen: Niederländisch, Französisch, Deutsch
- Politisches System: föderale konstitutionelle Monarchie mit stark regionalisierten Zuständigkeiten
Auch wenn Belgien heute häufig überwiegend mit „Brügge sehen und sterben“ oder Pommes assoziiert wird man darf nicht vergessen, wie stark das Land die Pop- und Comic-Kultur geprägt hat. Tim und Struppi ist wohl das berühmteste Beispiel dafür: Der belgische Zeichner Hergé (bürgerlich Georges Remi) schuf mit dem Reporter Tim und seinem treuen Foxterrier Struppi eine der erfolgreichsten und einflussreichsten Comicserien Europas. Der erste Band erschien 1929, die Reihe lief bis zum Tod Hergés 1983 und zwischenzeitlich wurden über 230 Millionen Alben verkauft, in unzählige Sprachen übersetzt. Tim und Struppi sind nicht nur ein Stück Abenteuer- und Kindheitsnostalgie, sondern auch ein Symbol für Belgien als Land, das mit einem Fuß in der Belletristik, dem anderen in der Pop- und Drachen-Kultur steht ein Beleg, wie sehr Geschichten, Erzählungen und Bildwelten belgisch sind.
Musikalisch steht Belgien für mich ganz klar unter dem Stern des DUNK! Festivals. Ich habe es bisher noch nicht geschafft diese Kultstätte des Postrocks zu besuchen, aber irgendwann klappt das sicherlich noch mal. Mein lieber Blognachbar Gerhard vom Blog Kulturforum hat schon des Öfteren davon berichtet.
Vorstellen möchte ich euch heute die Band „We stood like Kings“ die ich vor ein paar Jahrenlive bei einem ganz besonderen Event erleben durfte. Auch hier gibts im Kulturforum entsprechendes nachzulesen – und das lohnt sich 🙂
Auch filmisch liefert Belgien ordentlich ab. Chantal Akerman gilt als eine der bedeutendsten belgischen Regisseurinnen und als zentrale Stimme des feministischen und experimentellen Kinos. Ihr Film „Jeanne Dielman, 23, quai du Commerce, 1080 Bruxelles“ (1975) ist ein radikal ruhiges, minutiös beobachtetes Porträt weiblicher Alltagsroutine und innerer Zermürbung ist wirklich ein Meilenstein der Filmgeschichte, der zeigt, wie politisch und effektiv scheinbar unspektakuläre Gesten sein können. Kann den Film wirklich nur empfehlen.
Nach all den Musik- und Filmtipps möchte ich Belgien nun auch literarisch vorstellen und habe dafür „Dius“ von Stefan Hertmans gelesen:
Dius – Stefan Hertmans erschienen im Diogenes Verlag, übersetzt von Ira Wilhelm
Es gibt Zufälle, die so schräg sind als wäre kurz ein Riss im Raum-Zeit-Kontinuum entstanden und man zweifelt, ob das Buch sich vielleicht ins echte Leben ausgedehnt hat. Während ich Stefan Hertmans’ „Dius“ las – ein Buch, in dem Vittore Carpaccios Bilder eine recht zentrale Rolle spielen – fand ich auf meinem täglichen Spaziergang mit der kleinen Gasthündin im offenen Bücherschrank ausgerechnet einen Bildband dieses Malers. Carpaccio, nicht da Vanci oder Michaelangeo, ein Maler, den man nun wirklich nicht an jeder Ecke erwartet. Plötzlich wurde aus einer ohnehin schon intensiven Lektüre ein kleines multimediales Erlebnis: Musik über die Playlist, die beim Diogenes-Zoom-Abend mit dem Autor empfohlen wurde, Hertmans’ Worte im Buch –und dann diese Bilder, die direkt daneben aufschlugen und die mich wirklich sehr fasziniert haben.
Im Zentrum des Romans steht Anton, ein Kunsttheoretiker voller Sehnsucht, der oft eher beobachtet als handelt. Schon früh gibt es eine Szene, die sich ins Gedächtnis brennt: ein Autounfall, ein Hirsch, eine beinahe tödliche Bewegung. Hertmans schreibt das mit einer Intensität, die einen sofort in Antons Kopf zieht. An seiner Seite steht Dius, zunächst sein Student, dann sein Freund impulsiver, unmittelbarer, ein Künstler, der die Welt mit den Händen begreift. Zwischen den beiden entsteht eine enge, zugleich fragile Verbindung, getragen von Gesprächen über Kunst und Natur, aber auch von all dem, was unausgesprochen bleibt. Am Ende geht Dius nach Italien, Anton bleibt zurück und die Lücke zwischen ihnen erzählt ebenso viel wie ihre gemeinsamen Jahre.
In solchen Momenten weiß ich warum Dius in mein Leben treten musste: weil wir beiden den Durst nach längst vergangenen Zeiten teilen, die uns durch die frühen Erinnerungen irgendwie in den Körper eingeschrieben sind und uns unbehaust werden lassen im Lärm unserer Gegenwart. Kultur ist etwas Unbegreifliches; das Höchste ist mit dem Abgründigsten verwandt, und voll all den Jahrhunderten voller Schmerz, Verzückung und Verwirrung bleibt uns am Ende nur diese himmlische Musik, bei der sich mein Herz vor Verlangen zusammenkrampft, während ich unter der leichten Daunendecke liege….
Hertmans verankert diese Freundschaft in einem alten Bauernhaus in den weiten Westflämischen Poldern, einer Landschaft, die wie ein Resonanzraum wirkt, Seine Naturbeschreibungen sind präzise und voller Zärtlichkeit, und immer wieder stellt der Text die Frage, wie man Schönheit überhaupt fassen kann – ob Sprache reicht, um zu vermitteln, was Kunst, Landschaft oder ein Mensch in uns auslösen können.
Anton, ist Kunsttheoretiker, der oft an den Rändern des Lebens entlanggleitet. Einer, der eher denkt als handelt, der seine Sehnsüchte und seine Melancholie mit sich herumträgt und im Gegensatz Ein Gegenpol, lebendig, impulsiv, handfest im besten Sinn. Er denkt nicht nur über Kunst nach, er greift nach ihr, verschmilzt mit Material und Werkzeug, ein Mensch, der mit seiner Umgebung in eine Art physischer Resonanz tritt. Zwischen den beiden entsteht eine Freundschaft, die nicht idyllisch ist, sondern vibrierend; eine Beziehung, in der Nähe und Verrat, Inspiration und Verletzlichkeit von Anfang an mitschwingen.
Gerade weil Dius kein klassisch plotgetriebenes Buch ist, wirkt das, was geschieht, umso intensiver. Hertmans schildert ein Leben, das von Verlust, Erinnerung und dem Bedürfnis nach Nähe geprägt ist – aber auch von dem Versuch, sich über Kunst und die Betrachtung der Welt neu zu verorten. Durch die kunsthistorischen Exkurse, die Musik und die Naturbeobachtungen entsteht ein Geflecht, das gleichzeitig poetisch, scharf und berührend ist. Es ist ein Buch über das Sehen – im wörtlichen wie im übertragenen Sinn. Dius hat mich sehr berührt, und als Nächstes wartet nun Hertmans’ Krieg und Terpentin auf mich. Danke an Susanne vom Diogenes Verlag für ihre treffsichere Empfehlung – und natürlich an den Diogenes Verlag für das Rezensionsexemplar.
Wer noch mal zu den vorherigen Stationen (Sri Lanka, Italien, Trinidad & Tobago, Nigeria, Südkorea, China, Israel, Belarus, Japan, DR & Republik Kongo, USA, Polen, Chile, Afghanistan, Vietnam, Ukraine, Mauretanien, Mexiko, Niederlande, Malaysia) zurückreisen möchte wird in meiner Kategorie „Read around the World“ fündig.
Weitere Romane belgischer Autor*innen die ich gelesen und empfehlen kann:
- I who have never known men – Jacqueline Harpman
- Trophäe – Gesa Schoeters
- Auf der Suche nach Marie – Madeleine Bourdouxhe
- Der Buchhändler von Archangelsk – George Simenon
- Mit Staunen und Zittern – Amélie Nothomb
Was sind eure Tipps für Belgien? Würde gerne mal wieder hin und welche Buch-Musik-Film Tipps habt ihr? Freue mich von euch zu hören und bin sehr gespannt!














































































































































