Read around the world: Nigeria

Nigeria ist das bevölkerungsreichste Land Afrikas und zugleich eines der facettenreichsten. Während viele beim Stichwort „Nigeria“ an Afrobeat oder Nollywood denken – und das völlig zurecht –, lohnt sich ein Blick auf die tiefere Geschichte und die beeindruckende kulturelle Vielfalt dieses westafrikanischen Landes. Ich selbst war noch nie in Nigeria, aber das Land steht weit oben auf meiner Wunschliste: allein schon wegen der faszinierenden literarischen Stimmen, die von dort kommen, aber auch wegen der dynamischen Kunstszene und der unglaublichen Lebendigkeit, die das Land ausstrahlt.

Nigeria blickt auf eine jahrtausendealte Geschichte zurück: Bereits vor der Kolonialisierung existierten mächtige Reiche wie das Benin-Königreich, das Oyo-Imperium oder das Sokoto-Kalifat. Diese Kulturen haben nicht nur kunstvolle Bronzeskulpturen und komplexe politische Systeme hervorgebracht, sondern auch tief verwurzelte soziale und spirituelle Strukturen. Ab dem späten 19. Jahrhundert wurde Nigeria Teil des britischen Kolonialreichs und erlangte erst 1960 seine Unabhängigkeit – ein wichtiger Meilenstein, der von einer neuen Ära der Selbstbestimmung, aber auch von politischen Umbrüchen geprägt war.

Heute ist Nigeria eine föderale Republik mit über 250 ethnischen Gruppen und mehr als 500 gesprochenen Sprachen – allen voran Hausa, Yoruba und Igbo. Diese Vielfalt ist ein kultureller Schatz, führt aber auch immer wieder zu Spannungen, gerade im Kontext von Religion, Ressourcenverteilung und politischer Macht. In der jüngeren Geschichte stand Nigeria oft im Fokus internationaler Berichterstattung – sei es wegen der Terrorgruppe Boko Haram, der Entführung von Schulmädchen oder der #EndSARS-Bewegung gegen Polizeigewalt. Gleichzeitig ist das Land ein Ort unermüdlicher Hoffnung, Innovation und Kreativität.

Wirtschaftlich ist Nigeria ein Schwergewicht auf dem afrikanischen Kontinent – vor allem wegen seiner Ölreserven. Doch das Land hat weitaus mehr zu bieten: eine boomende Tech-Szene, die besonders in Städten wie Lagos oder Abuja wächst, sowie eine junge, digital vernetzte Bevölkerung mit einer enormen kulturellen Strahlkraft. Ob Mode, Musik oder Film – nigerianische Kreative setzen weltweit Trends. Musiker wie Burna Boy oder Wizkid füllen internationale Arenen, und Nollywood zählt zu den größten Filmindustrien der Welt.

Die Literatur Nigerias ist besonders bemerkenswert: Schon Chinua Achebe hat mit „Things Fall Apart“ (1958) ein weltliterarisches Ausrufezeichen gesetzt, das bis heute nachhallt. Auch Wole Soyinka, der erste afrikanische Literaturnobelpreisträger, stammt aus Nigeria. In den letzten Jahren haben Autor*innen wie Chimamanda Ngozi Adichie, Teju Cole oder Akwaeke Emezi globale Bekanntheit erlangt – ihre Werke beschäftigen sich mit Themen wie Migration, Identität, Feminismus und postkolonialer Geschichte und zeigen, wie vielschichtig die nigerianische Erfahrung ist.

Nigeria ist sportlich ebenfalls präsent – vor allem im Fußball, mit Erfolgen auf kontinentaler und internationaler Ebene. Die „Super Eagles“ sind dreifacher Afrikameister und regelmäßiger Teilnehmer an Weltmeisterschaften. Aber auch in der Leichtathletik, im Basketball und neuerdings im E-Sport gewinnt Nigeria an Bedeutung.

Geografisch beeindruckt das Land mit seiner Vielfalt: von den Savannen des Nordens über das zentrale Plateau bis hin zu den tropischen Regenwäldern und Küsten im Süden. Der Niger und der Benue, die beiden großen Flüsse des Landes, prägen nicht nur das Landschaftsbild, sondern auch die kulturelle Identität vieler Volksgruppen. Naturwunder wie der Zuma Rock oder die Olumo-Felsen sind genauso Teil der nigerianischen Realität wie der chaotische Verkehr von Lagos oder das farbenfrohe Treiben auf lokalen Märkten.

Fläche: Nigeria (923.769 km²) ist mehr als doppelt so groß wie Deutschland und das größte Land Westafrikas.
Bevölkerung: Mit etwa 223 Millionen Menschen (2024) ist Nigeria das bevölkerungsreichste Land Afrikas.
Bevölkerungsdichte: Etwa 241 Personen/km² – vergleichbar mit Deutschland.
Wirtschaft: Nigeria ist eine der größten Volkswirtschaften Afrikas. Neben Öl und Gas spielen Landwirtschaft, Telekommunikation und Dienstleistungen eine wachsende Rolle. Die Hauptstadt Abuja ist das politische Zentrum, während Lagos als wirtschaftliches und kulturelles Herz des Landes gilt.


Gelesen habe ich zwei sehr unterschiedliche Bücher für diesen Stopp. Einmal Nacherzählungen klassischer nigerianischer und europäischer Sagen und einen Roman über die katastrophalen Auswirkungen eines unerfüllten Kinderwunsches.

In all deinen Farben – Bolu Babaola erschienen im Eisele Verlag, übersetzt von Ursula C Sturm

Bolu Babalola versammelt darin 13 Liebesgeschichten – viele davon inspiriert von Mythen und Legenden aus aller Welt. Besonders gefallen haben mir die Erzählungen, die einen direkten Bezug zu Nigeria hatten: Sie wirkten lebendig, gefühlvoll und waren atmosphärisch unglaublich stark. Auch der feministische Ansatz der Sammlung hat mich beeindruckt – Babalola rückt Frauen ins Zentrum, die sonst oft nur Randfiguren in solchen Geschichten sind, und schreibt sie mit Stärke, Selbstbestimmung und Tiefe.

Was mir allerdings gefehlt hat war queere Repräsentation. Ich hatte sehr gewünscht, es hätte auch eine Geschichte aus dem LGBTQ+-Spektrum gewünscht, insbesondere da das Buch ansonsten mit so viel Anspruch auf Inklusivität daherkommt. Trotzdem mochte ich die Grundidee sehr, dass hier Stimmen Raum bekommen, die in der westlich dominierten Popkultur oft überhört oder gar ausgelassen werden.

Osun war es gewohnt, angeschaut zu werden, aber von diesem Moment an würde sie sich daran gewöhnen, wirklich gesehen zu werden.

Babalola schreibt sinnlich, humorvoll und klug – und schafft es, uralte Geschichten in die Gegenwart zu holen, ohne ihren Zauber zu verlieren. Sie lässt ihre Figuren auf Augenhöhe lieben, begehren und scheitern. Besonders schön fand ich die wiederkehrende Botschaft, dass Liebe nicht nur bedeutet, gesehen zu werden, sondern erkannt zu werden.

Besonders die Geschichten mit einem Bezug zu Nigeria haben mich dabei tief berührt, nicht nur, weil sie kulturell reich und atmosphärisch dicht sind, sondern auch, weil Babalola sie mit viel Feingefühl in die Gegenwart holt.

Trotzdem habe ich gemerkt: Ich bin einfach kein großer Fan von mythologischen Nacherzählungen. Mich verlieren Geschichten schnell, wenn zu viel Symbolik oder mythische Struktur im Spiel ist – das ist natürlich Geschmackssache. Aber für Leser*innen, die sich für feministische, diverse und vor allem empowernde Liebesgeschichten interessieren, ist dieses Buch eine echte Empfehlung. Vor allem Fans von Madeleine Miller (z. B. Ich bin Circe) oder auch von romantischer Fantasy werden hier glücklich.

Bolu Babalola ist eine nigerianisch-britische Autorin, Journalistin und selbsternannte „Romcom-Connoisseurin“. Bevor sie als Schriftstellerin bekannt wurde, machte sie sich mit witzigen Twitter-Posts und scharfsinnigen Beobachtungen über Popkultur einen Namen. In all deinen Farben ist ihr literarisches Debüt, und es zeigt eindrucksvoll, dass romantische Geschichten nicht trivial, sondern kraftvoll und politisch sein können – vor allem, wenn sie Stimmen Raum geben, die im Mainstream oft übersehen werden.

Ich danke dem Eisele Verlag für das Rezensionsexemplar.

Literarisch ging es dann mit dem folgenden Roman weiter:

Bleib bei mir – Ayòbámi Adébáyò erschienen im Piper Verlag, übersetzt von Maria Hummitzsch

Ayọ̀bámi Adébáyọ̀ erzählt darin die Geschichte von Yejide, einer kinderlosen Frau im Nigeria der 1980er-Jahre – eindringlich, emotional und mit einer starken literarischen Stimme.

Ich mochte das Buch, merke aber auch, dass mir persönlich der Zugang zum Thema Mutterschaft schwerfällt – schlicht, weil ich mich nicht wirklich damit identifizieren kann. Der zentrale Konflikt – der unerfüllte Kinderwunsch und das gesellschaftliche Stigma rund um Kinderlosigkeit – ist eindrucksvoll erzählt, aber für mich emotional manchmal schwer greifbar gewesen. Auch die sehr dramatische Erzählweise, mit wenigen beschreibenden Passagen und eher kargem Kontext, machte es mir manchmal schwierig, mich wirklich in die Figuren hineinzufühlen. An manchen Stellen hätte ich mir mehr Einbettung in die politischen und kulturellen Hintergründe gewünscht.

Dennoch bleibt Yejides Geschichte eine kraftvolle, und in vielen Momenten tief berührende. In ihrer Verzweiflung lässt sie sich sogar auf einen „Wunderglauben“ ein und stillt eine Ziege – eine Szene, die zugleich absurd-komisch und tragisch ist. Sie zeigt, wie weit Frauen gehen, um gesellschaftlichen Erwartungen gerecht zu werden – und wie groß der Druck ist, der auf ihnen lastet.

Ich hoffte, dass er durch das Halten meiner Hand seine Qualen in meinen Körper überführen könnte und frei wäre

Als Yejide schließlich doch Mutter wird, erlebt sie eine neue Art von Schmerz: den Verlust. Ihre Kinder sind krank, ihr Mann Akin wird zum Komplizen des patriarchalen Systems – und trotzdem stellt sie ihm morgens das Frühstück hin.

Bleib bei mir ist ein kraftvolles Debüt mit Schwächen, aber auch mit vielen Stärken – allen voran einer Autorin, die zeigt, wie lebendig und mutig nigerianische Gegenwartsliteratur sein kann.

Ayọ̀bámi Adébáyọ̀ wurde 1988 in Lagos, Nigeria, geboren und gehört zu den spannendsten Stimmen der zeitgenössischen nigerianischen Literatur. Sie studierte Literatur und Kreatives Schreiben an der Obafemi Awolowo University in Nigeria sowie an der University of East Anglia in Großbritannien, wo sie unter anderem von Margaret Atwood und Chimamanda Ngozi Adichie gefördert wurde.

Ihr Debütroman Stay With Me erschien 2017 und wurde sofort international gefeiert. Das Buch war unter anderem für den Baileys Women’s Prize for Fiction nominiert und wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt. Adébáyọ̀ verbindet in ihrer Arbeit komplexe familiäre Themen mit politischen und gesellschaftlichen Realitäten Nigerias, besonders mit Blick auf Geschlechterrollen, Verlust und persönliche Autonomie.

Ich kann euch natürlich nicht aus Nigeria abreisen lassen ohne euch auch ein bißchen Lust auf die Musik- und Filmszene dort zu geben. Bei der Lektüre lasse ich gerne

Während der Lektüre lasse ich gerne Radio Garden laufen, bei dem man sich in Radiosender aus aller Welt einklicken kann und man sich ein kleines bißchen so fühlt als sei man vor Ort. Diese beiden Vertreter*innen aus dem Bereich Afrofusion mochte ich besonders:

Ich habe bislang noch keinen Film aus Nigeria geschaut, aber „dieser hier“Lionheart“ ist schon eine Weile auf meiner Wunschliste. Der erste nigerianische Film auf Netflix – und gleichzeitig der erste, der von Nigeria jemals für den Oscar eingereicht wurde. Regisseurin und Hauptdarstellerin Genevieve Nnaji erzählt eine kluge Geschichte über Familie, Verantwortung und weibliche Stärke in einem männerdominierten Geschäft.


Wer noch mal die zurückliegenden Stationen besuchen will:

China
Vietnam
Afghanistan
Chile
Polen
USA
Kongo
Japan
Belarus
Israel
Südkorea

Und wer noch mehr Lust auf Nigeria hat, bisher besprochen habe ich folgende Bücher:

Meine Schwester die Serienmörderin – Oyinkan Braithwaite
Purple Hibiskus und Dear Ijeawele von Chimamanda Ngozi Adachi

Und jetzt ihr bitte: Wart ihr schon mal in Nigeria? Habt ihr Empfehlungen für Bücher, Filme und Musik? Freue mich sehr von euch zu hören.

Read around the World: Südkorea

Südkorea – ein Land, das oft für seine technologische Innovationskraft und Popkultur gefeiert wird, aber zugleich eine bewegte Geschichte und eine faszinierende Tradition besitzt. Wir waren schon in einigen Ländern Ostasiens unterwegs, aber ein Besuch in Südkorea hat sich bisher nicht ergeben. Ich habe aber große Lust das Land einmal zu besuchen.

Südkorea, offiziell die Republik Korea, liegt auf der südlichen Hälfte der koreanischen Halbinsel und grenzt im Norden an Nordkorea. Die Hauptstadt Seoul ist nicht nur das wirtschaftliche Zentrum, sondern auch eine pulsierende Metropole voller Kontraste – von hypermodernen Wolkenkratzern bis hin zu jahrhundertealten Palästen wie Gyeongbokgung. Neben Seoul gibt es weitere bedeutende Städte wie Busan, bekannt für seine Strände und Filmfestivals, oder Daegu, ein Zentrum der Textil- und Elektronikindustrie.

Die Geschichte Koreas reicht Jahrtausende zurück. Bereits in der Antike existierten Königreiche wie Goguryeo, Baekje und Silla, die ihre Spuren in Form von beeindruckenden Tempeln und Festungen hinterlassen haben. Im 20. Jahrhundert wurde Korea von Japan kolonialisiert und erst 1945 nach dem Zweiten Weltkrieg wieder befreit – allerdings nur, um kurz darauf in zwei Staaten geteilt zu werden. Der Koreakrieg (1950–1953) verfestigte diese Trennung und hinterließ eine der am schwersten bewachten Grenzen der Welt, die Demilitarisierte Zone (DMZ). Bis heute sind Nord- und Südkorea technisch gesehen im Kriegszustand, da nie ein offizieller Friedensvertrag unterzeichnet wurde.

Politisch ist Südkorea heute eine Demokratie, aber nicht ohne Herausforderungen. In der Vergangenheit gab es immer wieder Massenproteste gegen Korruption, und das Land hat eine komplexe Beziehung zu seinen Nachbarn – sei es China, Japan oder natürlich Nordkorea. Wirtschaftlich hat Südkorea eine beeindruckende Entwicklung hingelegt: Von einem armen Agrarstaat in den 1950ern ist es zur zwölftgrößten Volkswirtschaft der Welt aufgestiegen, mit Konzernen wie Samsung, Hyundai oder LG, die global führend sind. Gleichzeitig gibt es soziale Probleme wie Misogynie, Überarbeitung, eine hohe Suizidrate und eine rigide Arbeitskultur, die viele junge Menschen unter Druck setzt.

Die Kultur Südkoreas ist unglaublich lebendig und weltweit einflussreich. Die koreanische Welle („Hallyu“) hat mit K-Pop, K-Dramen und koreanischem Kino eine riesige Fangemeinde gewonnen. Bands wie BTS oder Blackpink brechen Rekorde, während Filme wie „Parasite“ internationale Preise abräumen. Auch die koreanische Literatur gewinnt zunehmend an Bedeutung. Han Kang, die mit ihrem Roman „Die Vegetarierin“ den Man Booker International Prize gewann, gehört zu den bekanntesten zeitgenössischen Autor*innen. Auch Kim Young-ha ist für seine kritischen Gesellschaftsanalysen bekannt. Klassische Werke wie „Der neunte Raum“ von Cho Chong-rae oder „Der Fluss“ von Choe In-ho beleuchten die koreanische Geschichte und Gesellschaft mit tiefgründiger Intensität. Ein weiteres zentrales Thema in der koreanischen Literatur ist die Teilung des Landes: Romane wie „Der alte Garten“ von Hwang Sok-yong oder „Das Generalsekretariat“ von Yi Mun-yol thematisieren die psychologischen und sozialen Folgen der Spaltung. Besonders bemerkenswert ist auch die wachsende Zahl junger Autorinnen wie Nam-joo Cho, die mit „Kim Jiyoung, geboren 1982“ ein gesellschaftskritisches Werk geschaffen hat, das feministische Debatten in Südkorea angestoßen hat.

Sportlich gesehen ist Südkorea besonders stark in Disziplinen wie Taekwondo, E-Sports und Bogenschießen. Die Olympischen Spiele 1988 in Seoul und die Fußball-WM 2002, die gemeinsam mit Japan ausgetragen wurde, haben das Land international als Sportnation gefestigt. Doch wie in vielen Bereichen Südkoreas gibt es auch hier eine strenge Leistungskultur, die mit einem hohen Erwartungsdruck einhergeht.

Neben all der Modernität bietet Südkorea auch beeindruckende Naturlandschaften: von den Bergen des Seoraksan-Nationalparks bis zu den Stränden der Insel Jeju. Traditionelle Feste wie Chuseok (das Erntedankfest) oder Seollal (das koreanische Neujahr) sind tief in der Gesellschaft verwurzelt und zeigen die enge Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart.

Fläche: Südkorea (100.363 km²) ist etwas größer als Bayern (70.550 km²), aber deutlich kleiner als Deutschland (357.022 km²).
Bevölkerung: Südkorea hat etwa 51,7 Millionen Einwohner, während Deutschland rund 84 Millionen zählt.
Bevölkerungsdichte: Mit etwa 516 Personen/km² ist Südkorea fast doppelt so dicht besiedelt wie Deutschland (233 Personen/km²).
Wirtschaft: Südkorea ist die zwölftgrößte Volkswirtschaft der Welt und bekannt für seine Hightech-Industrie und Popkultur.

Für Südkorea habe ich natürlich Han Kang gelesen, eine Autorin die ich seit ihrem Roman „Die Vegetarierin“ sehr sehr schätze.

Weiß – Han Kang erschienen im Aufbau Verlag, übersetzt von Ki-Hyang Lee

Han Kang, eine der bedeutendsten zeitgenössischen Schriftstellerinnen Südkoreas, hat sich mit ihrem international gefeierten Roman Die Vegetarierin als radikale Erzählerin des Verstörenden und Poetischen etabliert. Ihr Werk kreist um die Fragilität menschlicher Existenz, die Grenzen des Körpers und die tief sitzenden Wunden individueller wie kollektiver Traumata. Ihr Buch Weiß ist eine introspektive Meditation über Verlust, Erinnerung und die Bedeutung der Farbe Weiß.

In Weiß setzt sich Han Kang mit dem Tod ihrer früh verstorbenen älteren Schwester auseinander. Die Erzählerin reist nach Warschau, eine Stadt, die nach ihrer nahezu vollständigen Zerstörung im Zweiten Weltkrieg originalgetreu wieder aufgebaut wurde. Die Kulisse dieser wiedergeborenen Stadt wird zum Sinnbild für das zentrale Thema des Buches: Erinnerung und das fortwährende Ringen mit der Vergangenheit. In kurzen, fast lyrischen Fragmenten reflektiert Han Kang über weiße Dinge – von Schnee, Salz und Milch bis zu Totenhemden und Knochen – und verknüpft diese Assoziationen mit der eigenen Geschichte und dem Verlust ihrer Schwester.

Die Sprache in Weiß ist reduziert, aber hochgradig poetisch. Jede Seite ist durchzogen von einer fast meditativen Stille, die sich zwischen den Wörtern entfaltet. Dabei ist das Buch weniger eine durchgehende Erzählung als eine Sammlung von Gedanken und Erinnerungsbildern, die lose miteinander verwoben sind. Diese Struktur kann auf manche Leser*innen fragmentarisch oder gar unzusammenhängend wirken, doch genau darin liegt ihre Kraft: Han Kang erfasst das Wesen von Erinnerung – flüchtig, sprunghaft, immer wieder neu geformt.

Die Farbe Weiß steht in diesem Werk sowohl für Reinheit als auch für Abwesenheit. Sie symbolisiert Unschuld, aber auch Tod, Schmerz und das Verblassen von Leben. Die Erzählerin sucht nach einem Weg, ihre verstorbene Schwester in der Welt zu verankern, ihr eine Existenz zu verleihen, die über die wenigen Stunden ihres Lebens hinausgeht. So entsteht ein poetisches Gedenken, das sich mit der Frage beschäftigt, wie man einen Menschen erinnern kann, der kaum die Möglichkeit hatte, Spuren zu hinterlassen.

Verglichen mit Die Vegetarierin, das eine explosive Wucht besitzt und mit erschütternder Intensität in psychische und körperliche Abgründe vordringt, ist Weiß ein stilleres, intimeres Buch. Es fällt weniger durch narrative Radikalität auf, sondern vielmehr durch seine leisen Töne und seine meditative Sprache. Während Die Vegetarierin mit gesellschaftlichen Normen und Gewaltmechanismen bricht, ist Weiß ein tiefpersönliches, beinahe spirituelles Werk – eine Art poetische Trauerarbeit.

Han Kang gelingt es, mit minimalistischem Stil eine große emotionale Tiefe zu erzeugen. Die scheinbare Schlichtheit des Textes trägt eine existenzielle Schwere, die lange nachhallt. Die Übersetzung von Deborah Smith erfasst dabei die Eleganz und Subtilität von Hans Prosa meisterhaft, sodass die Bedeutungsebenen und der Rhythmus der Sprache erhalten bleiben.

Weiß ist kein Roman im klassischen Sinne, sondern eher eine literarische Reflexion, die zwischen Essay, Lyrik und autobiografischer Prosa changiert. Es ist ein Buch für Leser*innen, die sich auf eine introspektive Reise begeben möchten, die mehr Fragen stellt als beantwortet. Obwohl es mich nicht so nachhaltig erschüttert hat wie Die Vegetarierin, hat es mich dennoch berührt und beeindruckt. Es ist ein stilles, intensives Buch, das sich mit der Vergänglichkeit des Lebens auseinandersetzt – und mit der Möglichkeit, Erinnerungen durch Sprache zu bewahren.

Unmöglicher Abschied – Han Kang erschienen im Aufbau Verlag, übersetzt von Ki-Hyang Lee

In „Unmöglicher Abschied“ kehrt Han Kang zu ihrer bewährten Thematik von Trauma, Erinnerung und Schmerz zurück und entfaltet eine meisterhafte Erzählung, die sich mit der historischen Tragödie des Jeju-Massakers von 1948 auseinandersetzt. Ich habe „Unmöglicher Abschied“ als Hörbuch gehört (aktuell in der ARD Audiothek). Die Hauptfigur Kyungha wird von ihrer Freundin, die verletzt in einem Krankenhaus liegt auf eine eigentlich nicht großartig dramatische Mission geschickt: Sie soll während eines Schneesturms auf die Insel Jeju reisen, um den Vogel ihrer Freundin Inseon zu versorgen. Doch ihre Reise nimmt zunehmend surreale Züge an, während sie in einen Raum des Schmerzes und der Erinnerungen eindringt, in dem sich Vergangenheit und Gegenwart, Traum und Wirklichkeit untrennbar vermischen.

Die Struktur des Romans ist ungewöhnlich und fragmentarisch, wobei jede Bewegung in der Erzählung einer Verschiebung des Bewusstseins gleicht. Während in Die Vegetarierin verschiedene Perspektiven um die zentrale Figur kreisen, bleibt die Erzählung „in We Do Not Part“Unmöglicher Abschied“ bei Kyungha – jedoch verändert sich ihr innerer Zustand so tiefgreifend, dass sich der Roman fast wie eine Abfolge unterschiedlicher Realitäten liest. Die poetische und karge Sprache Han Kangs schafft dabei eine dichte, fast meditative Atmosphäre, die sich mit jeder Seite weiter verdichtet.

Besonders beeindruckend ist der Umgang mit Farbe und Naturbildern. Schnee, Licht und Schatten durchziehen die Erzählung als zentrale Motive, die sowohl für Reinheit als auch für das Vergessen und die Kälte des Todes stehen. Han Kang verwebt diese Bilder mit erschütternden historischen Details über die Massaker, die auf Jeju stattfanden, und zeigt, wie tief sich kollektives Trauma in Landschaften, Körper und Erinnerungen einbrennt.

„Unmöglicher Abschied“ ist ein herausforderndes, aber zutiefst bewegendes Werk. Die Szenen im Krankenhaus rund um die Fingerkuppen haben mir total zugesetzt, da kommt für mich kein Horrorfilm mit. Aber insgesamt verbindet der Roman lyrische Schönheit mit schonungsloser Aufarbeitung von Gewalt und Geschichte. Han Kangs Fähigkeit, Schmerz in poetische Bilder zu übersetzen, macht den Roman zu einem eindrucksvollen literarischen Ereignis, das mich noch immer beschäftigt. Es ist ein Buch, das ich unbedingt noch einmal im Winter lesen möchte, wenn die Stille und Kälte der Jahreszeit seine Atmosphäre noch verstärken.

Einen Film für Südkorea aussuchen ist echt gar nicht so einfach. Bei vielen Ländern hab ich eher das Problem noch gar keinen Film aus dem Land gesehen zu haben oder es dauert bis ich einen finde, den ich irgendwo ansehen kann, nicht so Südkorea. Hier ist es eher die Qual der Wahl. Soll ich Parasite nehmen, den ich sehr mochte oder doch „The Host“ – ich habe mich dann aber für Burning von Lee Chang-dong entschieden, ein Film den ich vor ein paar Jahren im Kino gesehen habe und der auf einer Kurzgeschichte von Haruki Murakami beruht.

Mit K-Pop kann ich persönlich nicht so viel anfangen. Ich mag aber zum Beispiel die Band „Wings of the Isang“ sehr gerne:

Typisch für koreanisches Essen ist das gemeinsame Essen am Tisch, oft mit einem Grill in der Mitte. Witzigerweise haben wir die koreanische Küche vor allem in Japan kennengelernt, denn dort gab es unfassbar viele koreanische Restaurants die häufig deutlich günstiger waren als die japanischen. Ich esse sehr gerne koreanisch und mag auch die BBQs sehr gerne. Kimchi könnte ich täglich essen. Wir haben schon mal versucht es selbst zu machen, hat aber nicht so wirklich funktioniert.

Ich hoffe unser Ausflug nach Südkorea hat euch gefallen? Jetzt verlassen wir Asien erst einmal und begeben uns mal wieder auf den afrikanischen Kontinent.

Wer noch mal die zurückliegenden Stationen besuchen will:

Wer jetzt Lust auf weitere Lektüre aus Südkorea bekommen hat, dem empfehle ich die folgenden Romane:

Kennt ihr Südkorea? Habt ihr Lieblingsautor*innen oder Lieblingsfilme? Freue mich auf eure Rückmeldungen.

Read around the world: CHINA

China – ein Land, das oft durch seine wirtschaftliche und politische Macht in den Schlagzeilen steht, aber zugleich eine der ältesten und faszinierendsten Kulturen der Welt besitzt. Wir sind in einigen Ländern in Südostasien gewesen, ein Besuch in China hat sich allerdings nie ergeben. Ich bin auch nicht sicher, ob ich es mich wirklich hinzieht – zumindest solange nicht, wie sich die Situation für Menschen aus der LGBTQ+ Community deutlich verbessert.

China, offiziell die Volksrepublik China, ist das bevölkerungsreichste Land der Welt und erstreckt sich über eine riesige Fläche in Ostasien. Es grenzt an 14 Länder, darunter Russland, Indien und Vietnam. Die Hauptstadt Peking ist nicht nur das politische Zentrum, sondern auch ein kultureller und historischer Hotspot mit Wahrzeichen wie der Verbotenen Stadt und dem Tian’anmen-Platz.

Historisch gesehen ist China eine der ältesten kontinuierlichen Zivilisationen der Welt, mit Ursprüngen, die über 3.000 Jahre zurückreichen. Das Land erlebte die Herrschaft mächtiger Dynastien wie der Qin, Tang und Ming und war ein Zentrum von Innovationen wie dem Kompass, dem Schießpulver und dem Buchdruck. Im 20. Jahrhundert wurde China nach dem Sturz der Qing-Dynastie zur Republik und 1949 schließlich zur Volksrepublik unter der Führung von Mao Zedong. Seitdem hat sich das Land von einer agrarischen Planwirtschaft zur zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt entwickelt.

Politisch wird China von der Kommunistischen Partei dominiert, die das Land mit strenger Kontrolle regiert. Besonders in den letzten Jahren gab es immer wieder internationale Kritik an der Unterdrückung von Minderheiten, der Einschränkung der Meinungsfreiheit und dem massiven Überwachungsapparat. Die Proteste in Hongkong, die Lage in Xinjiang und die Spannungen um Taiwan zeigen, wie komplex die politische Realität in China ist. Wobei wenn man sich die Entwicklung in der Welt gerade anschaut, ist ggf demnächst China noch unser aller Hoffnung. Bekloppte Welt.

Trotz dieser Herausforderungen bleibt Chinas Kultur unglaublich vielfältig und lebendig. Mandarin ist die am weitesten verbreitete Sprache, doch es gibt hunderte weitere Sprachen und Dialekte. Chinesische Literatur, Kunst und Philosophie haben die Welt geprägt – von Konfuzius über die Tang-Dichter bis hin zu modernen Autor*innen wie Yu Hua oder Yan Lianke.

Die chinesische Literaturszene ist geprägt von einer reichen Tradition und einer modernen Vielfalt. Klassische Werke wie „Die Reise in den Westen“ oder „Der Traum der Roten Kammer“ sind bis heute einflussreich. Zeitgenössische Autorinnen wie Mo Yan, der 2012 den Literaturnobelpreis gewann, oder Liu Cixin, dessen Science-Fiction-Roman „Die drei Sonnen“ international gefeiert wurde, zeigen die Bandbreite der chinesischen Literatur. Besonders bemerkenswert ist die wachsende Zahl von Schriftstellerinnen, die gesellschaftliche Missstände und individuelle Schicksale in ihren Werken reflektieren, oft unter erschwerten Bedingungen der Zensur. Auch junge Autor*innen wie An Yu oder Shuang Xuetao bringen neue Stimmen in die chinesische Literaturlandschaft und werden zunehmend international wahrgenommen.

China spielt auch im Sport eine bedeutende Rolle. Besonders erfolgreich ist das Land in Disziplinen wie Tischtennis, Badminton und Gewichtheben. Bei den Olympischen Spielen gehört China regelmäßig zu den Nationen mit den meisten Medaillen. Aber auch im Fußball versucht das Land, sich international stärker zu etablieren.

In den letzten Jahrzehnten hat China enorme wirtschaftliche Fortschritte gemacht. Städte wie Shanghai und Shenzhen sind Symbole für das moderne China – geprägt von Wolkenkratzern, Hightech und rasantem Wachstum. Doch dieser Fortschritt hat auch Schattenseiten: Umweltprobleme, soziale Ungleichheit und eine alternde Bevölkerung stellen das Land vor große Herausforderungen.

Abseits der Metropolen bietet China atemberaubende Natur: die endlosen Weiten der Wüste Gobi, die beeindruckenden Karstlandschaften von Guilin oder die sagenumwobene Große Mauer. Traditionelle Feste wie das chinesische Neujahr oder das Drachenbootfest sind tief in der Gesellschaft verankert und zeigen die enge Verbindung von Geschichte und Gegenwart.

Fläche: China (9.596.961 km²) ist etwa 27-mal größer als Deutschland (357.022 km²).
Bevölkerung: China hat etwa 1,41 Milliarden Einwohner, während Deutschland rund 84 Millionen zählt.
Bevölkerungsdichte: China (147 Personen/km²) somit weniger dich besiedelt als Deutschland (233 Personen/km²).
Wirtschaft: China ist die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt und steht auf Platz 2 des globalen Bruttoinlandsprodukts.

Für den Stopp in China habe ich das Buch „Ghost Music“ von An Yu gelesen.

Im Zentrum der Geschichte steht Song Yan, eine junge Frau in Peking, die einst davon träumte, Konzertpianistin zu werden. Stattdessen gibt sie nun Klavierunterricht für Kinder, während ihr Mann Bowen, der für BMW arbeitet, oft abwesend ist – und wenn er da ist, wirkt er wie ein Fremder. Mit ihnen lebt Bowens Mutter, die nach dem Tod ihres Mannes aus der südwestchinesischen Provinz Yunnan nach Peking gezogen ist. Die Stimmung in der Wohnung ist angespannt, unausgesprochene Wünsche und Frustrationen hängen in der Luft wie dichter Nebel.

Dann beginnen plötzlich Pakete mit seltenen Yunnan-Pilzen vor ihrer Tür aufzutauchen. Sie sind adressiert von Bai Yu – dem Namen eines berühmten Konzertpianisten, der seit Jahren als verschollen gilt. Als Song Yan sich schließlich auf die Suche nach dem Absender macht, findet sie tatsächlich den mysteriösen Musiker in einem verlassenen Haus. Er bittet sie, für ihn zu spielen – aber nicht einfach Musik, sondern „den Klang des Lebens“.

Diese Begegnung wird für Song Yan zu einem Spiegel ihrer eigenen inneren Leere. Bai Yu erzählt ihr, wie er sich selbst in der Musik verlor, bis er das Gefühl hatte, dass seine Hände nicht mehr zu ihm gehörten, dass kein echtes „Ich“ mehr in ihm existierte. In diesen Gesprächen schwingen so viele unausgesprochene Ängste mit – die Furcht vor dem Verschwinden, vor der Entfremdung von sich selbst und von anderen. Nach und nach löst sich Song Yan aus den festgefahrenen Strukturen ihres Lebens, während sich gleichzeitig verborgene Geheimnisse aus Bowens Vergangenheit an die Oberfläche drängen.

Was mich an „Ghost Music“ besonders fasziniert hat, ist die Art, wie An Yu das Alltägliche mit dem Unwirklichen verwebt. Plötzlich taucht ein leuchtender, sprechender Pilz in Song Yans Wohnung auf, der ihr kryptische Botschaften zuflüstert. „Konzeptuell bin ich Geistern ähnlicher als Pilzen“, sagt er ihr einmal. Währenddessen wird Yunnan von einem geheimnisvollen orangefarbenen Staub überzogen, der die Landschaft in eine Art Zwischenwelt verwandelt. An Yu erschafft hier eine Atmosphäre, die mich an frühe Murakami-Romane erinnert – diese Mischung aus Realität und Magie, in der alles in einem diffusen, traumhaften Licht erscheint.

Doch was das Buch so eindringlich macht, ist weniger das Übernatürliche als das Unausgesprochene. Song Yan, Bowen und seine Mutter bewegen sich wie Geister durch ihr eigenes Leben, gefangen in Routinen, unfähig, ihre tiefsten Wünsche in Worte zu fassen. Sie sind die wahren Gespenster dieser Geschichte – nicht die geheimnisvollen Pilze oder die verschwundenen Musiker.

We pour a bit of ourselves into everything we do, every note we play and, unwittingly, one fragment at a time, we leave ourselves in the past.

„Ghost Music“ ist ein leiser, eindrucksvoller Roman über Entfremdung, über die Geister, die uns begleiten – sei es in Form von Erinnerungen, unterdrückten Wünschen oder verlorenen Träumen. Es ist eine Geschichte, die weniger mit Worten erzählt wird als mit Zwischentönen, mit dem, was unausgesprochen bleibt. Ein Buch, das nicht nur gelesen, sondern gefühlt werden will.

Einer meiner liebsten Regisseure ist Wong Kar-Wei, allerdings werde ich auf seine Filme bei meinem Stopp in Hong Kong näher eingehen. Chinesische Filme habe ich tatsächlich noch sonderlich viele gesehen, da hab ich wirklich eine Bildungslücke. Ein Film den ich sehr mochte stammt vom chinesischen Regisseur Dai Sijie, es ist allerdings eine französisch-kanadische Produktion. Der Film „Les filles des botanistes/Die Töchter des chinesischen Gärtners. Die Geschichte spielt im China der 1980er Jahre und handelt von der verbotenen Liebesbeziehung zweier Frauen in der Volksrepublik China einer Ära, in der Homosexualität offiziell geächtet wurde und als abartig und staatsfeindlich galt.

Die Situation der LGBTQ+-Community in China ist allerdings von zunehmenden Einschränkungen und staatlichen Repressionen geprägt. Obwohl Homosexualität offiziell seit 1997 nicht mehr strafbar ist und 2001 von der Liste der psychischen Krankheiten gestrichen wurde, erleben LGBTQ+-Menschen weiterhin erhebliche Diskriminierung und staatlichen Druck.

Im Mai 2023 wurde das Pekinger LGBTQ-Zentrum von den Behörden geschlossen. Diese Organisation bot unter anderem psychologische Beratungen an und setzte sich für die Rechte der LGBTQ+-Community ein. Die Schließung wirft ein Schlaglicht auf die angespannte Situation queerer Organisationen in China.

Im Juni 2024 musste die LGBTQ+-freundliche Bar „Roxie“ in Shanghai nach neun Jahren ihren Betrieb einstellen. Die Bar galt als sicherer Treffpunkt für die Community. Die Schließung erfolgte aufgrund von „Umständen außerhalb ihrer Macht“, wobei die Bar von den Behörden als „zu feministisch“ erachtet wurde und schon länger unter Druck stand.

Diese Entwicklungen zeigen, dass trotz der formalen Entkriminalisierung von Homosexualität die LGBTQ+-Community in China weiterhin mit erheblichen Herausforderungen und staatlichen Repressionen konfrontiert ist.

Eine der wenigen Bands aus China die ich kenne (und sehr gerne mag) ist die Postrock Band „Wang Wen“ – hört mal rein:

Ich hoffe, der Stopp in China hat euch gefallen und ich konnte euch einen kleinen Einblick in dieses riesige und facettenreiche Land geben. Wart ihr schon einmal dort? Welche Erfahrungen habt ihr gemacht? Welche Filme oder Bands kennt ihr bzw könnt ihr empfehlen?

Hier noch eine kleine Liste an Büchern chinesischer Autor*innen, die ich empfehlen kann:

Die drei Sonnen und Spiegel – Liu Cixin
Wild Swans – Jung Chang
Daughter of the River – Ying Hong

Wer noch mal die zurückliegenden Stationen besuchen will:

Der nächste Stopp wird – der Zufallsgenerator wollte es so – wieder ein asiatisches Land sein. Wir machen uns auf nach Süd Korea und ich hoffe ihr seid wieder dabei.

Read around the world: ISRAEL

Heute mal wieder ein Stopp auf der literarischen Weltreise den wir tatsächlich schon mal besucht haben. Vor mittlerweile acht Jahren waren wir für zwei Wochen in Israel unterwegs. Schon die Anreise ist ein Erlebnis für sich. Der verstecke Abflugterminal am Münchner Flughafen, die deutlich intensiveren Sicherheitskontrollen wo es zB neben den üblichen Maßnahmen kurze persönliche Interviews gibt, die nicht nur darauf abzielen, gefährliche Gegenstände zu finden, sondern potenzielle Sicherheitsrisiken zu identifizieren. Die Ausreiseprozedur ist oft noch strenger, doch das zeigt, welchen Stellenwert Sicherheit in diesem Land hat.

Eine beliebte Redewendung lautet: „Nach Jerusalem fährt man zum Beten, nach Haifa zum Arbeiten und nach Tel Aviv zum Sündigen.“ Zu Haifa kann ich nicht viel sagen, da wir nicht dort waren, aber Tel Aviv ist eine leichtlebige, herzliche Stadt mit einem 14 km langen Sandstrand, einer jungen, modernen Atmosphäre und einem angenehmen Klima, die wir sehr schnell lieb gewonnen hatten. Tagsüber waren wir angenehme 20–21 Grad, doch sobald die Sonne unterging, wurde es schlagartig kalt – da kam unsere dicke Münchner Winterjacke tatsächlich zum Einsatz.

Tel Aviv ist eine vergleichsweise junge Stadt. Sie wurde 1909 gegründet, als die alte Hafenstadt Jaffa aus allen Nähten platzte. In den 1920er und 1930er Jahren kamen viele jüdische Architekten deutscher Herkunft ins Land und prägten die Stadt mit rund 5000 Gebäuden im Bauhaus-Stil. Besonders rund um den Rothschild-Boulevard findet man diese moderne Architektur, die mittlerweile von der UNESCO als Weltkulturerbe anerkannt wurde.

Ein Ausflug nach Jerusalem durfte natürlich nicht fehlen. Knapp 1 Stunde braucht man auf der Autobahn und fährt dabei durch das Jordan Valley an vielen geschichtsträchtigen Orten vorbei. Da wir uns das Auto fahren in Jerusalem schenken wollten, begaben wir uns für diesen Trip auf einen geführten Ausflug und waren mit 10 Leuten eine international bunt gemischte Truppe.

Jerusalem ist das komplette Gegenteil zu Tel Aviv eine der ältesten Städte der Welt, seit Jahrtausenden von verschiedenen Kulturen und Religionen geprägt und religiös bis in die Haarwurzeln. Die Altstadt ist in vier Viertel unterteilt – das jüdische, das armenische, das muslimische und das christliche Viertel. Die engen Gassen voller Menschen, Geschäfte, Stimmengewirr und Gerüche vermitteln ein Gefühl aus „1001 Nacht“ und „Indiana Jones“ zugleich.

Wahrscheinlich ist es nicht überraschend, dass Jerusalem das Ziel schlechthin für religiöse Touristen ist, trotzdem war ich irgendwie nicht drauf vorbereitet. In Deutschland sind mir selbst in Bayern selten extrem gläubige Menschen begegnet: die deutschen Touristen die mit uns unterwegs waren fielen mit ihren riesigen Kreuzen, die sie um den Hals trugen, eindeutig in diese Kategorie.

Der erste und zum Glück einzige kommerzielle Stop der Tour brachte uns auf dem Ölberg in ein biblisches Devotionaliengeschäft, in dem man alles bekommen konnte, was das religiöse Herz begehrt. Man muss sich den Laden vorstellen wie einen riesigen Supermarkt inklusive roter Plastikeinkaufskörbe die jeder in die Hand bekam. Es gab Kreuze, Krippen, Heilenstatuen, Rosenkränze, Öle in allen Ausführungen und Preisklassen etc zu kaufen und sehr erstaunt musste ich feststellen, das wir zwei die einzigen in der Gruppe waren, die nichts einkauften. Die anderen kamen mit großen Tüten in den Bus zurück und hatten zum Teil richtig große Beträge dort gelassen.

Die Altstadt von Jerusalem ist aufgeteilt in vier Bezirke: das jüdische, das armenische, das arabische und das christliche Viertel und die engen Gassen voller Menschen, Geschäfte, Stimmengewirr und Gerüche vermitteln ein Gefühl aus einer Mischung von 1001 Nacht und Indiana Jones.

Bei der Führung durch die diversen Kirchen merkte ich, dass mir teilweise entsprechendes Hintergrundwissen fehlte und ich mit einigen biblischen Namen nicht genug anfangen konnte, um es in den historischen Kontext zu setzen. Die Pilger, die sich zum Beispiel in der Erlöserkirche auf den Boden warfen, um den Boden zu küssen, den angeblichen Abdruck von Jesus Hand in der Via Dolorosa küssten oder stundenlang anstanden, um sich das Grab von Joseph von Arimatrea anzusehen und dort fanatisch weinend zu knien, fand ich ganz schön beklemmend.

Die Klagemauer ist erwartungsgemäss absolute Hochsicherheitszone. Man geht durch Sicherheitschecks wie am Flughafen und reiht sich dann in die Schlange vor dem nach Geschlechtern getrennten Eingang. Es gibt eine Art free little library, in der man sich Bibeln in allen Sprachen ausleihen kann und in weißen Plastikstühlen kann man vor der Mauer sitzen und beten oder einen Zettel mit einem Gebet in die Klagemauer stecken. Unser Wunsch Trump das Zeitliche segnen zu lassen wurde leider bislang nicht erfüllt, vielleicht hätte man dazu religiöser sein müssen.

Jerusalem ist eine aufregende Stadt, es gibt so viel Geschichte und wahnsinnig viel zu sehen, dennoch war ich froh, abends wieder im leichtlebigeren Tel Aviv zu sein.

Hier noch einige wichtige geschichtliche Eckpunkte:

  • Antike: Das Gebiet des heutigen Israel war in biblischer Zeit das Königreich Israel und Juda. Die Stadt Jerusalem wurde im 10. Jahrhundert v. Chr. zur Hauptstadt des jüdischen Königreichs.
  • Römische Zeit: Nach der Zerstörung des Tempels 70 n. Chr. durch die Römer wurde die jüdische Bevölkerung zerstreut (Diaspora).
  • Mittelalter und Osmanische Herrschaft: Bis 1917 war das Gebiet Teil des Osmanischen Reiches.
  • Britisches Mandatsgebiet: Nach dem Ersten Weltkrieg übernahm Großbritannien die Verwaltung über Palästina.
  • Gründung Israels (1948): Nach der UN-Resolution zur Teilung Palästinas rief David Ben-Gurion am 14. Mai 1948 den Staat Israel aus. Es folgte der erste arabisch-israelische Krieg. Golda Meir war eine der bekanntesten Politikerinnen Israels und diente von 1969 bis 1974 als Premierministerin. Sie war die erste Frau in diesem Amt in Israel und eine der wenigen Frauen weltweit, die ein solches politisches Spitzenamt innehatten.
  • Konflikte und Friedensverträge: Israel war in mehrere Kriege verwickelt (Sechstagekrieg 1967, Jom-Kippur-Krieg 1973), schloss aber auch Friedensabkommen, z. B. mit Ägypten 1979 und Jordanien 1994.

Ein besonders ergreifender Teil unserer Reise war der Besuch der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem. Das Museumsgebäude ist eine architektonische Besonderheit, bei dem man nicht gerade durch das Museum gehen kann, sondern man immer wieder um eine Ecke biegen muss und immer neuen schrecklicheren Geschehnissen gegenübersteht. Dabei verliert sich der Boden immer weiter nach unten und gleicht einem Abstieg in die Hölle. Das Gebäude läuft vorne spitz zu und öffnet sich dann einer positiven Zukunft entgegen. Die Gedenkstätte sollte man sich unbedingt ansehen, auch wenn man denkt, man hat schon soviel zu dem Thema gehört. Es ist erschütternd, schrecklich und zeigt, wie schnell die Welt aus den Fugen geraten kann.

Das im Jahre 1987 errichtete „Denkmal für die Kinder“ ist dem Gedenken an die 1,5 Millionen von den Nationalsozialisten ermordeten jüdischen Kinder gewidmet. Das Denkmal ist als unterirdischer Raum angelegt, in dem fünf Kerzen durch Spiegel in der Dunkelheit so reflektiert werden, dass ein ganzer Sternenhimmel entsteht. Im Hintergrund werden die Namen, das Alter und der Geburtsort der Kinder von einem Tonband abgespielt. Dieses Endlosband braucht ungefähr drei Monate, um alle Namen wiederzugeben. Unfassbar traurig!

Israel hat sich von einem kleinen, ressourcenarmen Land zu einer der führenden Hightech-Nationen der Welt entwickelt. Es wird oft als „Start-up Nation“ bezeichnet, da es die höchste Start-up-Dichte pro Kopf hat. Zu den wichtigsten Wirtschaftssektoren gehören:

  • Technologie und Innovation: Israel ist weltweit führend in Bereichen wie Cybersicherheit, Medizintechnik und künstlicher Intelligenz.
  • Landwirtschaft: Trotz des trockenen Klimas hat Israel durch innovative Bewässerungssysteme eine leistungsfähige Landwirtschaft aufgebaut.
  • Tourismus: Historische und religiöse Stätten ziehen jedes Jahr Millionen Besucher an.

Im Masada National Park in der Judäischen Wüste liegt die Masada Festung die Herodes, König von Judea von 37 bis 4 BC erbauen ließ. Es war die letzte Bastion der jüdischen Zeloten (Freiheitskämpfer) gegen die Römer. Zwei Jahre lang versuchten etwa 8000 römische Soldaten die Leute auf der Festung auszuhungern, gelang ihnen aber nicht, denn diese legten Gärten, Zisternen und Bäder an, hielten Tiere und lebten einigermaßen vergnüglich in ihrer Festung, während die Römer in der Wüste litten.

Nach zwei Jahren hatten die aber genug und ließen sich von jüdischen Zwangsarbeitern eine Rampe bauen, mit der sie dann die Festung eroberten. Bevor die etwa 960 Zeloten allerdings gefangengenommen werden konnten, brachten sie sich gegenseitig um, um nicht in feindliche Hände zu fallen.

Die tragischen Ereignisse der letzten Tage der Rebellen von Masada transformierten den Ort in eine kulturelle Ikone als Symbol für den dauernden Kampf der Menschheit für Freiheit und gegen Unterdrückung. 2001 wurde Masada von der Unesco in die Liste der Weltkulturerbstätten aufgenommen.

Nach der Wüstenhitze kam das Tote Meer gerade recht. Das Tote Meer ist das tiefstgelegenste Meer der Welt und hat einen Umfang von etwa 135 km und in der Mitte des Sees verläuft die Grenze zwischen Israel und Jordanien. Die Einsamkeit und Weite der Wüste und des Toten Meeres schaffen eine ganz surreale Atmosphäre.

Die Oberfläche des Toten Meeres nimmt pro Jahr etwa um etwas mehr als 1 Meter ab. Aufgrund des hohen Salzgehaltes, der fast das Zehnfache der Ozeane beträgt, und der damit verbundenen hohen Dichte trägt das Wasser den menschlichen Körper außergewöhnlich gut, man kann allerdings dennoch ertrinken. Das Baden dort ist gar nicht so ungefährlich, den die Menschen verlieren am Toten Meer oft die Balance und schlucken dann große Mengen an Wasser. Das ist lebensgefährlich, da es schwere Lungenverletzungen verursachen kann. Mit einem Salzgehalt, der zehnmal höher ist als in den Ozeanen, trägt das Wasser den menschlichen Körper mühelos – ein einzigartiges Erlebnis.

Die israelische Küche ist ein Schmelztiegel aus mediterranen, arabischen und osteuropäischen Einflüssen.

Besonders beliebt sind:

  • Hummus und Falafel – Grundnahrungsmittel, die man überall bekommt.
  • Shakshuka – eine würzige Eierspeise in Tomatensauce.
  • Sabich – ein Pita-Sandwich mit Auberginen und Ei.
  • Jachnun – ein jemenitisches Gebäck, das traditionell am Shabbat gegessen wird und was uns ganz schön überraschte:
  • Schnitzel – wurde insbesondere in Tel Aviv als „Pargit“ gebratenes Hähnchen-Schnitzel an jeder Ecke angeboten und war richtig gut

Während unserer Reise fühlten wir uns die meiste Zeit über sicher. Trotzdem wurden wir durch ein Ereignis aufgeschreckt: Ein Messerangriff in Jaffa, von dem wir nur durch besorgte Anrufe unserer Familie in Deutschland erfuhren. Auch Raketenangriffe im Süden des Landes passierten während unseres Aufenthalts, wurden aber durch das Abwehrsystem Iron Dome abgefangen. Diese Realität ist für viele Israelis Alltag.

Noch ein bisschen was zur Kultur in Israel: Erstaunlicherweise habe ich bislang gar nicht so viele israelische Filme gesehen, daher ist meine Auswahl hier etwas bescheiden. In Erinnerung geblieben ist mir auf jeden Fall der Film „A Tale of Love and Darkness“ von und mit Natalie Portman:

Der Film basiert auf den Memoiren des israelischen Schriftstellers Amos Oz und erzählt von seiner Kindheit im Jerusalem der 1940er Jahre, geprägt von der Gründung Israels, familiären Konflikten und der melancholischen Beziehung zu seiner Mutter, die mit Depressionen kämpft.

Den zweiten Film den ich nennen möchte habe ich leider noch gar nicht gesehen, kenne bislang nur Trailer habe ihn aber schon eine Weile auf meiner Liste. Es geht um „Shiva Baby“, eine schwarze Komödie, um eine junge Frau, die auf einer traditionellen jüdischen Trauerfeier (Shiva) auf ihre Ex-Geliebte, ihren aktuellen Liebhaber und ihre Eltern trifft.

Insbesondere in Tel Aviv haben wir wunderbare Buchläden gefunden, dort gibt es eine pulsierende Literaturszene die lebendig, politisch engagiert und oft geprägt ist von Mehrsprachigkeit – Hebräisch dominiert, doch auch arabische, jiddische und russische Literatur haben bedeutenden Einfluss. Zahlreiche Literaturpreise wie zB der Sapir-Preis und die internationale Anerkennung israelischer Autor*innen zeigen, wie tief Literatur im kulturellen Leben des Landes verwurzelt ist.

Besonders gerne lese ich die Bücher des Historikers Yuval Noah Harari, die Romane von Zeruya Shalev und Ayelet Gundar-Goshen, von der ich euch heute hier auch einen Roman vorstellen werde. In den 90er Jahren habe ich eine Menge Bücher von Meir Shalev gelesen, insbesondere „Im Haus der großen Frau“ ist mir sehr in Erinnerung geblieben.

Bevor ich aber auf die heutige entsprechende Lektüre eingehe möchte ich noch kurz auf die Musikszene in Israel eingehen. Und da kommt man eigentlich nicht wirklich am Eurovision Song Contest vorbei 😉 Israel und der Eurovision Song Contest – das ist wie Falafel und Hummus: einfach eine perfekte Mischung! Seitdem Israel 1998 mit „Diva“ von Dana International den Wettbewerb gewann, hat das Land regelmäßig mit seinen einzigartigen Beiträgen überrascht. Egal ob mit melodischen Hits oder schrillen Showeinlagen, Israel sorgt stets für die nötige Portion Drama und Glamour.

Israel ist ein wunderbares Reiseland mit vielfältiger Geschichte, beeindruckender Natur, kultureller Vielfalt, warmherzige, humorvolle Menschen und einem der wenigen sicheren Orte in der Region für Menschen aus der LGBTQ Community. Der Terrorangriff am 7. Oktober war ein furchtbarer, grausamer und unmenschlicher Akt was danach in Gaza folgte ebenso. Ich hoffe, es wird irgendwann ein friedliches Zusammenleben von jüdischen und arabischen Menschen in Israel möglich sein. Trusk mit seinen menschenverachtenden Ideen von einer Riviera in Gaza trägt sicherlich nicht zu einer vernünftigen friedlichen Lösung bei. Trotz der politischen Spannungen und Herausforderungen bleibt Israel ein Land voller Hoffnung und Warmherzigkeit, das Besucher*innen mit seiner einzigartigen Mischung aus Tradition und Moderne, Spiritualität und lebendigem Stadtleben definitiv in seinen Bann zieht.

Löwen wecken – Ayelet Gundar-Goshen erschienen im Kein & Aber Verlag, übersetzt von Ruth Achlama


„Löwen wecken“ ist ein tiefgründiger und fesselnder Roman, der die moralischen Dilemmata eines neurochirurgischen Arztes, Eitan Green, in den Mittelpunkt stellt. Nachdem er einen Migranten überfährt und die Tat vertuscht, gerät er in die Hand der Witwe des Opfers, Sirkit, die ihn erpresst, illegale Flüchtlinge medizinisch zu versorgen. Die Erpressung entwickelt sich zu einer zunehmend komplexen Beziehung, die zwischen moralischen Zwängen, Schuld und unerforschten Gefühlen pendelt.

Gundar-Goshen schafft es ausgesprochen gut, die inneren Konflikte ihrer Figuren zu beleuchten. Der Arzt, der an seinem Hippokratischen Eid gebunden ist, muss sich mit seiner Schuld und der Verantwortung für das Leben anderer auseinandersetzen, was zu einem spannungsgeladenen Drama führt. Sirkit, die Witwe, ist eine faszinierende und ambivalente Figur, die von Rachegefühlen und einem tiefen Überlebenswillen geprägt ist, und ihre Entwicklung vom „Schurken“ zur vielschichtigen Persönlichkeit ist ein zentraler Bestandteil der Erzählung. Auch Eitans Frau, Liat, die mit ihrer Fähigkeit, Menschen zu durchschauen, eine Art menschliche Detektivin ist, spielt eine wichtige Rolle in der spannungsgeladenen Atmosphäre des Romans.

Er parkte den Wagen und ging auf den Hof. Versuchte zu begreifen, warum sein Mitleid immer so schnell versiegte. Wieso sich hinter der Empathie immer dieser Groll einschlich. Wie Haie, die bei Blutgeruch durchdrehen, witterte auch er Schwäche und rastete aus. Oder vielleicht war es umgekehrt; nicht wegen der Kraft, die Schwachen kaputt zu machen, zürnte er ihnen, sondern wegen der raffinierten Art, mit der sie ihn kaputt machten. Wie ihre Armseligkeit ihm zusetzte, ihn schuldig machte.

Der Roman ist nicht nur eine packende Geschichte über moralische und existenzielle Fragen, sondern auch eine scharfsinnige Reflexion über die Behandlung von Flüchtlingen in Israel und die rassistischen und politischen Spannungen, die damit verbunden sind. Gundar-Goshen hinterfragt, was es bedeutet, „gut“ oder „schlecht“ zu sein, und wie gesellschaftliche Vorurteile unsere Entscheidungen beeinflussen.

Ayelet Gundar-Goshen, bekannt für ihre feinfühligen und komplexen Erzählungen, nutzt in „Löwen wecken“ ihre Fähigkeit, tief in menschliche Psychen einzutauchen. Die Autorin wurde 1982 in Tel Aviv geboren und ist bekannt für ihre Auseinandersetzungen mit gesellschaftlichen und politischen Themen, besonders in Bezug auf das Leben in Israel. Ihre Werke sind international anerkannt und werden für ihre brillante Mischung aus Humor, Tragik und tiefgründiger Analyse geschätzt.

Weitere Bücher aus Israel die ich hier besprochen habe findet ihr hier: Lizzie Doron – Ruhige Zeiten, Etgar Keret – Gaza Blues, Dana Vowinckel – Gewässer im Ziplock

Das war unser Stopp in Israel – seid ihr schon mal da gewesen? Welche kulturellen Tipps aus Israel (Bücher / Filme / Musik etc) habt ihr für mich?

Wer noch mal die zurückliegenden Stationen besuchen will:

Das nächste Land auf der literarischen Weltreise ist China (unser 10. Stopp!) – habt ihr Lust?

Read around the world: BELARUS

Belarus – ein Land, das oft im Schatten seiner großen Nachbarn steht, aber eine reiche Geschichte, eine lebendige Kultur und eine politische Situation hat, die die Welt seit Jahren bewegt. Obwohl ich selbst noch nicht dort war, habe ich mich intensiv mit dem Land beschäftigt, um einen Einblick in seine Vergangenheit und Gegenwart zu geben.

Belarus, oft als „die letzte Diktatur Europas“ bezeichnet, ist ein Land, das zwischen Europa und Russland liegt – sowohl geografisch als auch politisch. Im deutschen Sprachraum auch Weißrussland genannt, ist Belarus ein osteuropäischer Binnenstaat der an Litauen, Lettland, Russland, die Ukraine und Polen grenzt. Die Hauptstadt Minsk ist nicht nur das politische Zentrum, sondern auch das kulturelle Herz des Landes.

Historisch gesehen war Belarus lange Teil verschiedener Großreiche – von der Kiewer Rus über das Großfürstentum Litauen bis hin zum Russischen Reich und später der Sowjetunion. Erst 1991 wurde Belarus unabhängig, doch die sowjetischen Strukturen blieben in vielerlei Hinsicht erhalten. Dies zeigt sich besonders in der politischen Situation des Landes.

Seit 1994 wird Belarus von Alexander Lukaschenko regiert, der sich über Jahrzehnte hinweg durch Wahlfälschungen, Einschüchterung und Gewalt an der Macht gehalten hat. Die Präsidentschaftswahlen im August 2020 markierten einen Wendepunkt: Hunderttausende Menschen gingen auf die Straße, um gegen die offensichtliche Manipulation der Wahlergebnisse zu protestieren. Die Opposition, allen voran Swetlana Tichanowskaja, stellte sich gegen das Regime und gewann international an Unterstützung.

Die Antwort der Regierung war brutal: Massenverhaftungen, Folter von Demonstrierenden und ein systematisches Vorgehen gegen kritische Stimmen. Viele Aktivistinnen und Journalistinnen wurden inhaftiert oder ins Exil gezwungen. Trotz der Repressionen bleibt der Widerstand im Land lebendig – sei es durch kleine Akte des zivilen Ungehorsams oder die belarussische Diaspora, die im Ausland weiter für Veränderungen kämpft.

Fotos: Pixabay

Trotz der politischen Unsicherheiten ist die belarussische Kultur tief verwurzelt und vielfältig. Die belarussische Sprache, die lange durch Russisch verdrängt wurde, erlebt seit einigen Jahren eine Renaissance, besonders unter jüngeren Menschen und in der Oppositionsbewegung. Literatur spielt dabei eine große Rolle – Autor*innen wie Swetlana Alexijewitsch, die 2015 den Literaturnobelpreis gewann, haben das Land weltweit bekannt gemacht. Ihr Werk beschäftigt sich intensiv mit den Traumata der sowjetischen Vergangenheit und den gesellschaftlichen Herausforderungen der Gegenwart. Wahrscheinlich ist neben der Nobelpreisträgerinnen Swetlana Alexijewitsch einer der bekanntesten Künstler aus Belarus der Maler Marc Chagall, der in Wizebsk geboren wurde und später lange Zeit in Frankreich lebte. Die beliebteste Sportart der Belarussen ist Eishockey und die Nationalmannschaft steht auf Platz 14 der Weltrangliste. Im Tennis hat Wiktoryja Asaranka 2012 den ersten Platz der Weltrangliste erreicht.

Abseits der politischen Spannungen ist Belarus ein Land von beeindruckender Natur. Fast 40 % des Landes sind von Wäldern bedeckt, und der Białowieża-Nationalpark in dem sich einer der letzten und ältesten Urwälder Europas befindet, Heimat der letzten europäischen Wisente, gehört zum UNESCO-Welterbe. Die Naturverbundenheit spielt auch in der belarussischen Folklore eine große Rolle – alte Bräuche, wie das Feiern von Kupala-Nacht, werden immer noch gepflegt.

Belarus steht an einem Scheideweg. Die wirtschaftliche Abhängigkeit von Russland, die internationalen Sanktionen gegen das Regime und der Druck aus der eigenen Bevölkerung machen eine Veränderung auf lange Sicht unausweichlich. Doch wie diese Veränderung aussehen wird, bleibt ungewiss.

Während Belarus in den internationalen Medien oft auf seine politische Krise reduziert wird, ist es wichtig, das Land auch in seiner Tiefe zu betrachten – mit all seiner Geschichte, Kultur und den Menschen, die trotz aller Widrigkeiten für eine bessere Zukunft kämpfen.

Obwohl ich noch nicht dort war, ist Belarus ein Land, das mich durch seine Widersprüche und seine Resilienz fasziniert. Vielleicht wird es eines Tages möglich sein, es frei und ohne Angst zu bereisen – und die Schönheit, Gastfreundschaft und Kultur des Landes in voller Gänze zu erleben.

  • Fläche: Belarus (207.600 km²) ist etwas kleiner als Deutschland (357.022 km²).
  • Bevölkerung: Belarus hat etwa 9,3 Millionen Einwohner, während Deutschland rund 84 Millionen zählt.
  • Bevölkerungsdichte: Belarus (45 Personen/km²) ist deutlich dünner besiedelt als Deutschland (233 Personen/km²).
  • Wirtschaft: Belarus ist weltweit auf Rang 79 in Bezug auf das Bruttoinlandsprodukt.

Belarus gehört übrigens zu den Ländern mit dem höchsten Alkoholkonsum pro Kopf weltweit. Besonders beliebt ist Samogon, ein hausgemachter Schnaps, der in ländlichen Gebieten oft selbst gebrannt wird. Laut einem WHO-Bericht von 2018 lag der durchschnittliche Pro-Kopf-Konsum bei ca. 14,4 Litern reinem Alkohol pro Jahr (bezogen auf Personen ab 15 Jahren). Damit gehörte Belarus damals zu den Top 3 der Länder mit dem höchsten Alkoholkonsum weltweit. Wir müssen uns da in Deutschland aber gar nicht groß drüber mokieren, denn wir liegen mit 12,9 Litern nur knapp dahinter und immerhin noch vor Russland mit 11,7 Litern. Der weltweite Durchschnitt liegt bei etwa 6,2 Litern. Hui.

Musik und Kunst sind ebenfalls Ausdruck des Widerstands. Viele belarussische Musiker und Bands mussten das Land verlassen, weil ihre Lieder zur Hymne der Protestbewegung wurden. Straßenkunst und Graffiti, oft mit politischer Botschaft, prägen das Bild vieler Städte – solange sie nicht von den Behörden entfernt werden. Auch Sasha Filipenko musste 2020 sein Heimatland verlassen. Von ihm hörte ich im Rahmen dieser literarischen Weltreise den Roman „Kremulator“ als Hörbuch

Sasha Filipenko – Kremulator erschienen im Diogenes Verlag, übersetzt von Ruth Altenhofer

Sasha Filipenkos „Kremulator“ ist ein eindrucksvoller historischer Roman über die Brutalität der Stalin-Zeit, erzählt mit präziser, oft lakonischer Sprache. Der Protagonist Pjotr Nesterenko, Direktor des ersten Krematoriums in Moskau, hat den Tod so oft gesehen, dass er sich für unsterblich hält. In den Öfen seines Krematoriums verschwinden die Opfer der stalinistischen Säuberungen: angebliche Spione, Verräter, ehemalige Revolutionshelden. Doch im Sommer 1941, kurz nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion, wird Nesterenko selbst verhaftet. Er, der immer überlebt hat, steht nun einem Gegner gegenüber, der entschlossen ist, ihn zu brechen: Pawel Andrejewitsch Perpeliza, ein junger, ehrgeiziger Ermittler, der fest entschlossen ist, Nesterenko als Spion zu überführen.

Die Verhöre zwischen den beiden Männern bilden das Herzstück des Romans. Mit stoischer Ruhe erzählt Nesterenko seine Lebensgeschichte – eine atemberaubende Odyssee: erst Offizier im Bürgerkrieg, dann Flucht nach Serbien, Rumänien und Frankreich, schließlich die Rückkehr in die Sowjetunion, wo er sich dem System anpasst und dennoch nie wirklich sicher ist. Während Perpeliza gräbt, wird klar, dass Nesterenkos wahres Verbrechen nicht in Taten, sondern in seinem Überlebenswillen und seinen internationalen Kontakten liegt.

Filipenko schildert diesen Abstieg in die sowjetische Willkürherrschaft mit einem feinen Gespür für historische Details und psychologische Spannung. Immer wieder wird die Handlung von Briefen an Vera, Nesterenkos große Liebe seit Kindheitstagen, unterbrochen – ein leiser, menschlicher Gegenpol zur Grausamkeit des Systems. Diese Briefe, geschrieben in einem Tagebuch, sind sein einziger Trost in einer Welt, in der jede falsche Antwort den Tod bedeuten kann.

Besonders eindrucksvoll fand ich die nüchterne, fast unerschütterliche Stimme Nesterenkos, die mich an Count Alexander Rostov aus A Gentleman in Moscow erinnerte. Wie Rostov bewahrt er seine aristokratische Eleganz so ist auch Nesterenko ein Überlebenskünstler, gezeichnet von der Geschichte, aber nicht bereit, sich einfach dem Tod zu ergeben.

Filipenko, 1984 in Belarus geboren, ist einer der wichtigsten kritischen Stimmen der postsowjetischen Literatur. Seine Bücher beleuchten Mechanismen der Repression – sowohl historisch als auch in der Gegenwart. Seine Kritik am belarussischen Regime zwang ihn ins Exil, was seinen Werken eine besondere Dringlichkeit verleiht.

Kremulator ist ein Roman, der mich tief bewegt hat. Filipenko verzichtet auf Pathos und Effekthascherei; stattdessen bringt er die beklemmende Atmosphäre der Stalin-Zeit mit präziser Sprache, schwarzem Humor und psychologischer Tiefe zum Leben. Während man liest, spürt man förmlich den kalten Atem des Systems im Nacken – diese Ungewissheit, die Millionen Menschen das Leben kostete.

Ein herausragender Roman, klug komponiert und erschreckend aktuell. Unbedingt lesenswert. Mein einziger kleiner Wehmutstropfen war, dass ich nicht wirklich etwas über Belarus erfahren habe – ich habe im Nachhinein jetzt noch in 2-3 andere Romane von Sasha Filipenko reingelesen, er scheint aber überwiegend über Russland zu schreiben.

Hat jemand vielleicht eine Empfehlung für einen Roman von eine*m belarussischen Autor*in der auch dort spielt?

Meine Film-Empfehlung ist „Komm und sieh“ aus dem Jahr 1985 von Elem Klimov. Einer der eindrucksvollsten und erschütterndsten Antikriegsfilme der Filmgeschichte. Er zeigt die Schrecken des Zweiten Weltkriegs aus der Sicht eines jungen belarussischen Partisanen und wurde international (zu Recht) hochgelobt. Ich fand ihn gut, aber streckenweise nur schwer aushaltbar.


Einen Hauch stolz bin ich, dass ich tatsächlich von mir behaupten kann, eine Lieblingsband aus Belarus zu haben. Ich finde Molchat Doma richtig gut. Die Band wurde 2017 in Minsk gegründet und besteht aus Egor Shkutko (Gesang), Roman Komogortsev (Gitarre, Synthesizer) und Pavel Kozlov (Bass, Synthesizer). Ihr Sound ist stark von New Wave, Post-Punk und Synth-Pop der 80er beeinflusst – oft verglichen mit Joy Division, The Cure, Depeche Mode oder Kino. Besonders ihr Album Etazhi, 2018 wurde durch Social Media und Plattformen wie TikTok und Bandcamp weltweit bekannt. Ihr düster-melancholischer Stil, kombiniert mit hypnotischen Synth-Melodien und monotonem, fast lethargischem Gesang, hat sie zu einer Kultband im Darkwave-Revival gemacht. Seit 2020 stehen sie bei Sacred Bones Records unter Vertrag, was ihre internationale Popularität weiter gesteigert hat.

Hört unbedingt mal rein:

https://domamolchat.bandcamp.com/album/etazhi-2018

Ich hoffe, der Stopp in Belarus hat euch gefallen und ich konnte euch ein paar Einblicke in ein Land geben, in dem vermutlich so einige von uns noch nicht waren. Oder seid ihr schon mal da gewesen und könnt eure Eindrücke mit uns teilen? Fände ich sehr spannend!

Falls ihr Lust habt, noch mal an die eine oder andere vorherige Station zu reisen dann klickt bitte hier:

Unser nächster Stopp ist knapp 4500 km entfernt und ein Land das ich zur Abwechslung bereits bereist habe. Ich hoffe, ihr seid dann auch wieder dabei.

Read around the world: Japan

Im Jahr 2016 reisten wir für drei unvergessliche Wochen durch Japan – ein Land, das uns immer wieder überrascht und manchmal auch vor Herausforderungen gestellt hat. Taxifahren war zum Beispiel jedes Mal ein kleines Abenteuer. Aus irgendeinem Grund schien es, als wären sämtliche Taxifahrer mindestens 80 Jahre alt. Sie trugen stets makellose weiße Handschuhe, und die Autos waren mit weißen Häkeldeckchen auf den Sitzen dekoriert. Schon das Einsteigen war besonders, da die Türen automatisch öffneten – ein Detail, das uns jedes Mal aufs Neue verblüffte.

Was die Navigation anging, wurde es allerdings kurios: Statt moderner Navigationssysteme griffen die Fahrer zu Papierkarten und teilweise riesigen Lupen, um die Adressen zu finden. In Kyoto erlebten wir gleich zwei skurrile Taxifahrten hintereinander: Der erste Fahrer war so verloren, dass er uns höflich wieder aus dem Auto bat. Der zweite machte sich immerhin auf den Weg, hielt aber nach kurzer Zeit bei einer Polizeistation an, um sich den Weg zu unserem AirBnB erklären zu lassen. Dieser Mischung aus Höflichkeit, Improvisation und Entschlossenheit begegneten wir des Öfteren auf unserer Reise

Kulinarisch gesehen war Japan eine Offenbarung. Wir haben durchweg gut gegessen – von Sushi, Kobe Rind und Ramen bis hin zu weniger bekannten lokalen Spezialitäten. Allerdings mögen die Japaner ihr Essen offensichtlich sehr frisch. So frisch, dass es uns manchmal die Sprache verschlug.

Ein Erlebnis, das wir nicht so schnell vergessen werden, war in einem Restaurant, in dem am Nachbartisch ein noch lebender Fisch serviert wurde. Der Fisch war in einer speziellen Halterung fixiert und zappelte noch, während ihm bei lebendigem Leib Sushi-Stücke herausgeschnitten wurden. Wir saßen mit offenem Mund da und mussten uns wirklich zusammenreißen, nicht ohnmächtig zu werden. Es war ein Moment, der uns tief verstörte – kulturelle Unterschiede hin oder her.

Auch die Auswahl an Snacks war… eigenwillig. Das rosafarbene Zeug, das auf einem Bild oben zu sehen ist, waren vermutlich dünn geschnittene und getrocknete Quallen, die in Bars oft als kleine Häppchen auf der Theke standen. Der Geschmack? Fischig-würzig, nicht schlecht, aber definitiv gewöhnungsbedürftig.

Die Bars in Japan sind oft winzig – manche kaum größer als ein Handtuch – und haben eine unverwechselbare Atmosphäre. Besonders beeindruckt hat uns die Auswahl an hochwertigen lokalen Whiskys, die an vielen Orten serviert wurde. Einzig der ständig dudelnde Jazz, der oft recht chaotisch klang, ging mir manchmal ein bisschen auf den Zwirn. Es war, als ob die Musik das Gegenteil der japanischen Perfektion widerspiegelte, die wir in anderen Bereichen des Lebens erlebten.

Eine weitere Entdeckung, die uns faszinierte, waren die Buchläden. Egal, welche Stadt wir besuchten – Tokio, Kyoto oder Kobe – Buchhandlungen waren allgegenwärtig, und noch beeindruckender war die schiere Größe der Manga-Abteilungen. Mangas sind in Japan ein Massenphänomen, das sich durch alle Altersgruppen und sozialen Schichten zieht. Manche Manga-Bände waren so dick wie Telefonbücher, und in der U-Bahn konnte man leicht einen Blick über die Schulter der anderen Passagiere werfen, die in ihre Geschichten vertieft waren.

Allerdings waren wir überrascht, wie brutal und explizit viele der Mangas sind – sowohl was Gewalt als auch Sexualität betrifft. Manche Inhalte hätten bei uns wahrscheinlich ganze Debatten ausgelöst, in Japan gehören sie jedoch zum Alltag.

Ein Highlight der Reise war eine mehrtägige Wanderung im Hinterland von Kyoto. Die üppige Natur, die uralten Wälder und die ruhige Atmosphäre entlang der Wege boten einen faszinierenden Kontrast zu den pulsierenden Städten. Übernachtet haben wir in traditionellen Ryokans, den japanischen Herbergen, die einen tiefen Einblick in die Kultur des Landes geben. Der Aufenthalt in einem Ryokan folgt einem festen Ritual: Nach der Ankunft nimmt man ein heißes Bad in einem Onsen, legt anschließend den bereitgelegten Yukata (eine Art leichter Kimono) an und genießt das Abendessen zusammen mit anderen Gästen. Dabei sitzt man auf den klassischen niedrigen Tatami-Matten, die zunächst ungewohnt, aber erstaunlich bequem sind. Die Mahlzeiten, ein Kunstwerk aus regionalen Spezialitäten, waren durchweg köstlich – bis auf das rohe Pferdefleisch, auf das wir rückblickend gerne verzichtet hätten. 😉

Was uns besonders überraschte, war die Tatsache, dass selbst in einer kosmopolitischen Stadt wie Tokio nur wenige Menschen Englisch sprechen. Außerhalb der Hauptstadt war es fast unmöglich, sich verbal zu verständigen. Und doch klappte alles erstaunlich gut, denn in Japan scheint alles darauf ausgelegt zu sein, intuitiv verstanden zu werden. Das U-Bahn-Netz in Tokio ist beispielsweise so gut durchdacht, dass man sich mit etwas Orientierungssinn selbst ohne Sprachkenntnisse zurechtfindet. Auch die Plastikmodelle der Gerichte vor den Restaurants waren ein wahrer Segen: Man wusste immer, was man bestellte – zumindest, wie es aussehen würde!

Ein unerwartetes kulturelles Hindernis stellten Tätowierungen dar. In Japan sind sie nach wie vor stark stigmatisiert, da sie traditionell mit der Yakuza (japanische Mafia) assoziiert werden. Viele Onsen verweigern daher den Zutritt, wenn man sichtbare Tätowierungen trägt. Auch wenn es nachvollziehbar ist, dass diese Regel tief in der Geschichte verwurzelt ist, fanden wir es dennoch etwas befremdlich, dass keinerlei Unterschiede zwischen harmlosen Touristen und Mitgliedern der Unterwelt gemacht werden. Aber gut – andere Länder, andere Sitten.

Eine Sache, die uns nachhaltig beeindruckt hat, war der unglaubliche Perfektionismus, der in so vielen Aspekten des japanischen Alltags sichtbar wird. Der Shinkansen, der Hochgeschwindigkeitszug, fährt buchstäblich auf die Sekunde genau ab und bringt einen in Windeseile von Tokio nach Kyoto. Dabei ist er nicht nur effizient, sondern auch durchdacht: Die Sitze lassen sich drehen, sodass man stets in Fahrtrichtung sitzt, und der Service an Bord ist makellos. Auch der Umgang mit Müll war bemerkenswert: Die Menschen nehmen ihren Abfall überall selbstverständlich mit nach Hause oder händigen ihn auf dem Bahnsteig dem warttenden Personal aus.

Japan fasziniert durch seine Gegensätze: die pulsierende Hektik in Tokio und die meditative Ruhe eines Ryokans; die futuristische Technologie des Shinkansen und die zeitlose Tradition der Teezeremonie. Es ist ein Land, das uns nicht nur zum Staunen brachte, sondern auch eine Lektion darin lehrte, wie harmonisch Gegensätze miteinander koexistieren können.

Japan besteht aus insgesamt 6.852 Inseln, von denen die vier größten – Honshu, Hokkaido, Kyushu und Shikoku – etwa 97% der Gesamtfläche ausmachen. Eine Besonderheit Japans ist seine Gebirgslandschaft: Rund 75% der Landesfläche sind von Bergen oder Wäldern bedeckt. Der höchste Gipfel, der ikonische Mount Fuji, ragt 3.776 Meter in die Höhe und wird von Einheimischen und Besuchern gleichermaßen verehrt.

Mit einer Bevölkerung von etwa 126 Millionen Menschen (Stand 2023) ist Japan das 11. bevölkerungsreichste Land der Welt. Die Bevölkerungsdichte liegt bei etwa 333 Einwohnern pro Quadratkilometer, was deutlich über der Dichte Deutschlands liegt, die bei etwa 232 Einwohnern pro Quadratkilometer liegt. Japan ist allerdings auch von einem demografischen Wandel geprägt: Die Bevölkerung schrumpft und altert rapide, was Herausforderungen für die Wirtschaft und das soziale Gefüge des Landes mit sich bringt.

Japan blickt auf eine über 2.000-jährige Geschichte zurück, die von Kaiserdynastien, Samurai-Traditionen und einer außergewöhnlichen Mischung aus Isolation und Offenheit geprägt ist. Im 19. Jahrhundert gelang Japan mit der Meiji-Restauration ein beispielloser Modernisierungssprung, der das Land zu einer der führenden Industrienationen der Welt machte.

Traditionen spielen trotz des technologischen Fortschritts eine zentrale Rolle. Rituale wie die Teezeremonie oder das Hanami (Betrachten der Kirschblüte) sind tief in der japanischen Kultur verwurzelt. Auch die japanische Religion, eine Mischung aus Shintoismus und Buddhismus, prägt den Alltag vieler Japaner.

Japan gehört zu den größten Volkswirtschaften der Welt und ist insbesondere für seine Technologie- und Automobilindustrie bekannt. Marken wie Toyota, Sony und Nintendo haben das Land zu einem Synonym für Innovation gemacht. Trotz dieser Modernität bewahrt Japan eine starke Verbindung zu seinen handwerklichen Traditionen, sei es in der Herstellung von Katana-Schwertern, Keramik oder Seide.

Trotz seiner dichten Besiedlung hat Japan atemberaubende Naturlandschaften zu bieten. Neben dem Mount Fuji sind die heißen Quellen (Onsen), die Wälder von Yakushima und die malerischen Dörfer in den japanischen Alpen besonders sehenswert. Japan ist auch ein Land der Extreme: Es liegt am sogenannten Pazifischen Feuerring und ist regelmäßig von Erdbeben, Vulkanausbrüchen und Tsunamis betroffen.

Japan ist ein Land der Gegensätze und Harmonie: Moderne Megastädte wie Tokio und Osaka stehen im Kontrast zu den stillen Schreinen und Tempeln, während die Hightech-Wirtschaft durch tiefe Traditionen ergänzt wird. Mit seiner reichen Kultur, faszinierenden Geschichte und beeindruckenden Natur ist Japan nicht nur ein beliebtes Reiseziel, sondern auch ein Land, das in vielerlei Hinsicht einzigartig ist.

Hier noch ein paar Fakten:

  • Fläche: Japan (377.975 km²) ist etwas größer als Deutschland (357.022 km²).
  • Bevölkerung: Japan hat etwa 125 Millionen Einwohner, während Deutschland rund 84 Millionen zählt.
  • Bevölkerungsdichte: Japan (334 Personen/km²) ist dichter besiedelt als Deutschland (233 Personen/km²).
  • Wirtschaft: Japan ist die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt (nach den USA und China), während Deutschland auf Platz 4 folgt.

Die japanische Literaturszene ist vielfältig und reich an Stimmen, die weltweit Anerkennung finden. Ich lese wahnsinnig gerne Literatur aus Japan und sie ist auch weit verbreitet in deutschen Buchläden. Ich würde sagen Literatur aus Japan erlebt einen wahnsinnigen Boom (neben Südkorea) und Autor*innen wie Haruki Murakami, Banana Yoshimoto, Yogo Ogawa, Syaka Murate, Fuminori Nakamura um nur ein paar zu nennen, sind auch aus der deutschen Literaturlandschaft nicht mehr wegzudenken. Literatur hat in Japan einen hohen Stellenwert; Buchhandlungen und Lesekultur sind tief in der Gesellschaft verankert, und Autoren genießen großes Ansehen, insbesondere für ihre Fähigkeit, die menschliche Erfahrung in poetischer Klarheit darzustellen.

Da ich ein Buch vorstellen wollte, das ich bisher noch nicht gelesen habe, entschied ich mich für Butter von Asako Yuzuki.

Butter – Asako Yuzki erschienen im Blumenbar Verlag, übersetzt von Ursula Gräfe

Ich habe Butter von Asako Yuzuki fast in einem Rutsch gelesen – was irgendwie passend ist, wenn man bedenkt, wie sehr Essen und Genuss im Mittelpunkt dieses Romans stehen. Die Geschichte kombiniert Elemente eines Krimis mit tiefgehender Sozialkritik und ich bewundere jeden, der es schafft diesen Roman zu lesen ohne permanent hungrig zu sei. Ich mußte sogar die Lektüre unterbrechen um mir Reis mit Butter zu kochen.

Die Handlung dreht sich um Rika Machida, eine ehrgeizige Journalistin, die sich an einem spektakulären Fall die Zähne ausbeißt: die mysteriöse Manako Kajii, die mehrere Männer umgebracht haben soll. Kajii ist eine faszinierende Figur – talentierte Köchin, Femme fatale und zugleich Ziel von unerbittlicher medialer Hetze wegen ihres Aussehens und ihrer Lebensweise.

Was mich besonders an Butter beeindruckt hat, ist, wie Yuzuki den Fokus auf die Themen Misogynie, Körperbild und gesellschaftliche Erwartungen richtet. Während Rika Kajii immer wieder im Gefängnis besucht, verschwimmen die Grenzen zwischen Recherche und persönlicher Obsession. Die Gespräche der beiden Frauen sind mal provokativ, mal tiefsinnig, und sie zeigen, wie Essgewohnheiten und Selbstwahrnehmung oft von Kindheitstraumata und gesellschaftlichen Zwängen geprägt sind.

Essen war ein zutiefst persönliches und egoistisches Verlangen. Gourmets waren im Prinzip Suchende. Sie waren Tag für Tag mit ihren Bedürfnissen beschäftigt und auf Entdeckungsreise. Je aufwändiger sie kochten, desto besser gelang es ihnen, die Außenwelt auszuschließen und eine innere Festung zu errichten. Mit Klingen und Flammen rückten sie den Zutaten zu Leibe, um sie nach ihrem Willen zu formen.

Die Parallelen zwischen Rika und Kajii fand ich dabei spannend, aber auch beklemmend. Während Rika immer tiefer in die Welt von Kajii eintaucht, wird sie selbst zur Zielscheibe ähnlicher Kritik: Ihr wachsender Appetit und die Gewichtszunahme werden von ihrem Umfeld kommentiert und abgewertet – ein Spiegel dessen, was Kajii erlebt hat. Das macht die Geschichte nicht nur persönlich, sondern auch universell, denn es geht um viel mehr als einen Mordfall: Es geht darum, wie Frauen in Japan (und weltweit) zwischen widersprüchlichen Erwartungen zerrieben werden. Ich konnte es gar nicht fassen, dass die Protagonistin mehrfach als unfassbar fett betitelt wird und dabei kaum 60kg auf die Waage bringt.

Asako Yuzuki, geboren 1981 in Tokio, ist eine recht bekannte japanische Autorin, die sich durch ihre scharfsinnigen gesellschaftlichen Analysen einen Namen gemacht hat. Bevor sie ihre Karriere als Schriftstellerin begann, arbeitete sie selbst als Journalistin, was man in Butter spürt: Die Recherche, die Tiefe und die Präzision in ihrer Darstellung von Medien und Gesellschaft wirken authentisch und fundiert. Butter wurde in Japan zu einem Bestseller und zeigt, wie Yuzuki mit feministischen Themen auf leise, aber eindringliche Weise umgeht.

Mir hat der Roman gefallen, er hätte aber gut und gerne 1/3 kürzer sein können, er war stellenweise etwas repetitiv.

Mein Filmtipp für Japan dürfte wenig überraschend sein für alle, die mich ein bißchen kennen, denn ich habe diesen Film schon massig empfohlen und hochgelobt: „Perfect Days“ von Wim Wenders – einer meiner absoluten Lieblingsfilme 2024:

Perfect Days von Wim Wenders ist ein ruhiges, poetisches Porträt eines introvertierten Toilettenreinigers in Tokio, der durch die kleinen Momente des Alltags und seine Liebe zu Büchern und Musik die Schönheit des Lebens feiert.

Musikalisch kann es für mich nur eine Band aus Japan geben: MONO – eine ikonische Post-Rock-Band bekannt für ihre epischen, emotionalen Klanglandschaften. Seit ihrer Gründung im Jahr 1999 haben sie zahlreiche Alben veröffentlicht und ich hatte auch schon das Glück sie live zu erleben. Alben wie Hymn to the Immortal Wind (2009), eine Mischung aus orchestralen Arrangements und intensiven Gitarrenwänden, und You Are There (2006), ein Meisterwerk voller melancholischer Schönheit, gehören zu ihren wichtigsten Werken. Ihre Musik ist introspektiv, dramatisch und zeitlos – ein Erlebnis, das unter die Haut geht.

Habt ihr jetzt vielleicht Lust bekommen, euch noch mal auf die anderen Stationen der Weltreise zu begeben? Dann bitte hier entlang:

Großen Applaus für alle, die bis hier hin durchgehalten haben. Ich hoffe euch hat der Ausflug nach Japan Spaß gemacht – ich habe auf jeden Fall riesige Lust mal wieder hinzufahren. Eines meiner aufregensten Reiseerlebnisse bisher.

Möchtet ihr noch ein bißchen in Japan bleiben? Hier sind weitere japanische Bücher die ich hier rezensiert habe: Tatsuki Fujimoto – Goodbye Eri, Waka Hirako – My broken Mariko, Yasushi Inoue – Der Tod des Teemeisters, Natsu Miyashita – Der Klang der Wälder, Lucy Fricke – Takeshis Haut, Haruki Murakami – Mr. Aufziehvogel, Erste Person Singular, Von Beruf Schriftsteller, Sayaka Murata – Convenience Store Woman, Fuminori Nakamura – The Thief, Die Maske, Sosuke Natsukawa – The cat who saved books, Yoko Ogawa – The Memory Police, Marion Poschmann – Die Kieferninseln, Franka Potente – Zehn, Natsume Soseki – Der Bergmann, Rin Usami – Idol Burning, Edmund de Waal – Der Hase mit den Bernsteinaugen, Banana Yoshimoto – NP, Ein seltsamer Ort

Seid ihr schon mal nach Japan gereist? Wie hat es euch gefallen? Welche japanischen Autor*innen / Bands / Filme könnt ihr empfehlen? Ich freue mich sehr von euch zu hören.

Der nächste Stopp ist etwa 8000km entfernt – kommt ihr wieder mit?

Read around the world: DR & Republik Kongo

Der Kongo, ein Land, das mit seiner beeindruckenden Naturkulisse und seiner komplexen Geschichte gleichermaßen fasziniert, ist eine wahre Schatzkammer an Geschichten und Naturwundern. Beginnen wir mit der Geografie: Die Demokratische Republik Kongo, kurz DR Kongo, liegt im Herzen Afrikas und ist das zweitgrößte Land des Kontinents. Der gewaltige Kongo-Fluss, nach dem das Land benannt ist, durchzieht es in einem majestätischen Bogen. Mit seinen zahllosen Nebenflüssen ist er einer der größten Flusssysteme der Welt und wird nur vom Amazonas übertroffen, wenn es um den Wasserreichtum geht. Rund um den Fluss erstrecken sich dichte Regenwälder – ein riesiges Ökosystem, das als grüne Lunge Afrikas gilt.

Die Flora und Fauna dieses Landes sind von einer atemberaubenden Vielfalt. Hier leben Gorillas, Waldelefanten und Okapis, die auch als „Waldgiraffen“ bezeichnet werden. Viele dieser Tiere sind endemisch, was bedeutet, dass sie nirgendwo sonst auf der Welt vorkommen. Der Kongo-Regenwald selbst ist nach dem Amazonas der zweitgrößte der Welt und ein wahres Paradies für Biologen und Naturliebhaber.

Fotos: Wikipedia & Pixelbay

Die menschliche Geschichte des Kongo ist ebenso beeindruckend wie tragisch. Die Region war lange Zeit Heimat zahlreicher indigener Gruppen, darunter die Bantu-Völker, die sich vor etwa 2000 Jahren in der Gegend niederließen und die Basis für viele heutige Kulturen legten. Später, im Mittelalter, entstanden im Kongobecken bedeutende Reiche, darunter das Königreich Kongo, das im 14. Jahrhundert eine Blütezeit erlebte. Das Königreich war für seine gut organisierten Strukturen und seine Handelsbeziehungen mit Portugal bekannt, das im 15. Jahrhundert auf der Bildfläche erschien. Es war eine Zeit des kulturellen Austauschs, aber auch des beginnenden Kolonialismus.

Die dunkelste Stunde der Geschichte des Kongo schlug zweifellos im 19. Jahrhundert, als der belgische König Leopold II. das Land zu seinem persönlichen Besitz erklärte. Der sogenannte „Freistaat Kongo“ wurde zwischen 1885 und 1908 zur grausamen Bühne einer der schlimmsten Ausbeutungen der Kolonialzeit. Unter Leopolds Herrschaft wurden Millionen von Kongolesen versklavt und getötet, um Ressourcen wie Elfenbein und Kautschuk zu gewinnen. Der internationale Druck führte schließlich dazu, dass Belgien dem Kongo offiziell den Status einer Kolonie gab, doch die Ausbeutung und Unterdrückung gingen weiter.

Erst 1960 erlangte der Kongo seine Unabhängigkeit, doch die Euphorie war nur von kurzer Dauer. Das Land stürzte in politische Unruhen, und der erste Premierminister, Patrice Lumumba, wurde 1961 ermordet. Seine Ermordung, an der auch ausländische Mächte beteiligt waren, gilt als eines der symbolischen Ereignisse für die Schwierigkeiten postkolonialer Staaten. Es folgten Jahrzehnte der Diktatur unter Mobutu Sese Seko, der das Land in Zaire umbenannte und mit seinem autokratischen Regime für weitverbreitete Korruption sorgte. Der Sturz Mobutus in den 1990er Jahren markierte den Beginn einer neuen Ära, die jedoch von bürgerkriegsähnlichen Zuständen und internationalen Konflikten geprägt war.

Die Kongokriege, oft als „Afrikanischer Weltkrieg“ bezeichnet, involvierten zahlreiche Nachbarstaaten und forderten Millionen von Todesopfern, sei es durch direkte Gewalt, Hunger oder Krankheiten. Bis heute leidet das Land unter den Folgen dieser Konflikte. Doch es gibt auch Hoffnung: Die reiche Kultur des Kongo, mit ihrer Musik, Kunst und Literatur, blüht trotz aller Widrigkeiten auf. Kinshasa, die pulsierende Hauptstadt, ist bekannt für ihre lebendige Musikszene, insbesondere den Congolese Rumba, der weltweit Anerkennung findet.

Es ist wichtig zu erwähnen, dass es zwei Länder gibt, die den Namen Kongo tragen: Die Demokratische Republik Kongo (DR Kongo) und die Republik Kongo. Die DR Kongo, oft als „Kongo-Kinshasa“ bezeichnet, ist mit einer Fläche von rund 2,3 Millionen Quadratkilometern eines der größten Länder Afrikas und hat über 95 Millionen Einwohner. Politisch ist die DR Kongo eine Präsidialrepublik, doch die politische Lage bleibt aufgrund von Korruption und Konflikten instabil. Die Mehrheit der Bevölkerung ist christlich, wobei der Katholizismus eine dominierende Rolle spielt.

Die Republik Kongo, oft „Kongo-Brazzaville“ genannt, ist mit etwa 342.000 Quadratkilometern deutlich kleiner und hat rund 5,8 Millionen Einwohner. Auch hier handelt es sich um eine Präsidialrepublik, wobei die politische Lage vergleichsweise stabiler ist als in der DR Kongo. Brazzaville, die Hauptstadt, liegt direkt gegenüber von Kinshasa, nur durch den Kongo-Fluss getrennt. In der Republik Kongo ist das Christentum ebenfalls vorherrschend, jedoch spielen traditionelle Religionen und der Islam eine größere Rolle als in der DR Kongo.

Was die Ressourcen angeht, so ist der Kongo sowohl gesegnet als auch verflucht. Er besitzt einige der weltweit größten Reserven an Kupfer, Kobalt und Diamanten. Insbesondere Kobalt, das für die Herstellung moderner Batterien unverzichtbar ist, macht den Kongo zu einem Schlüsselland in der globalen Wirtschaft. Doch der Ressourcenreichtum hat oft mehr Konflikte als Wohlstand gebracht, da zahlreiche Akteure um die Kontrolle dieser Schätze kämpfen.

Der Kongo ist ein Land der Extreme. Seine Geschichte erzählt von den Höhen und Tiefen menschlicher Errungenschaften und Tragödien. Gleichzeitig ist es ein Ort unglaublicher natürlicher Vielfalt und eine Erinnerung daran, wie eng das Schicksal der Menschheit mit der Natur verbunden ist. Wer den Kongo bereist, begegnet nicht nur einer faszinierenden Landschaft, sondern auch einer ungebrochenen menschlichen Widerstandskraft und Kreativität, die in jedem Lied, jeder Geschichte und jedem Lächeln der Menschen spürbar ist.

Hier noch ein paar Fakten:

Demokratische Republik Kongo (DR Kongo):

  • Fläche: 2,3 Millionen km² (ca. 6,5-mal so groß wie Deutschland)
  • Bevölkerung: ca. 95 Millionen
  • Bevölkerungsdichte: ca. 41 Einwohner/km²

Republik Kongo:

  • Fläche: 342.000 km² (etwa so groß wie Deutschland)
  • Bevölkerung: ca. 5,8 Millionen
  • Bevölkerungsdichte: ca. 17 Einwohner/km²

Deutschland:

  • Fläche: 357.000 km²
  • Bevölkerung: ca. 84 Millionen
  • Bevölkerungsdichte: ca. 235 Einwohner/km²

Für die Weltreise habe ich dieses Mal gleich zwei Bücher gelesen. Einmal unser Januar Bookclub Buch „The Poisonwood Bible“ von Barbara Kingsolver das im Kongo spielt und Fiston Mwanza Mujilas „Tram 83“ das ich bereits im Regal stehen hatte.

The Poisonwood Bible – Barbara Kingsolver auf deutsch unter dem Titel „Die Giftholzbibel“ im Piper Verlag erschienen, übersetzt von Ruth Frank

The Poisonwood Bible von Barbara Kingsolver ist ein fesselnder Roman, der die komplexe Geschichte der Familie Price erzählt, die 1959 aus den USA in den Belgisch-Kongo zieht. Nathan Price, ein starrköpfiger und fanatischer Missionar, will das Christentum in eine kleine Dorfgemeinschaft bringen, doch seine Ignoranz gegenüber der lokalen Kultur und Umwelt bringt unvorhersehbare Konflikte und tiefgreifende Tragödien mit sich.

Erzählt wird die Geschichte aus den Perspektiven von Nathans Frau Orleanna und ihren vier Töchtern – Rachel, Leah, Adah und Ruth May. Besonders Adah, die durch ihre poetische, introspektive Sichtweise hervorsticht, hat mich tief berührt. Ihre Wortspiele und ihr besonderer Blick auf die Welt, geprägt von ihrem körperlichen Handicap und ihrer Intelligenz, machen sie zu einer einzigartigen Erzählerin. Auch ihre Zwillingsschwester Leah, die zwischen Loyalität zu ihrem Vater und der Liebe zum Kongo hin- und hergerissen ist, hat mich beeindruckt. Beide Schwestern spiegeln die inneren Konflikte und das Spannungsfeld zwischen Kolonialismus, Familie und persönlicher Identität eindrucksvoll wider.

Everything you’re sure is right can be wrong in another place.

Der erste Teil des Romans, der überwiegend im Kongo spielt, hat mich besonders fasziniert. Kingsolver schildert die Landschaft und das Leben im Dorf so lebendig, dass ich mich mitten in der Wildnis wiederfand. Leider empfand ich die Zeitsprünge in der zweiten Hälfte des Buches als zu groß und etwas abrupt. Während die Schwestern in alle Winde verstreut werden und ihre Mutter zunehmend in den Hintergrund rückt, geht der Zusammenhalt der Familie verloren – etwas, das ich als sehr schmerzlich empfand. Dieser Verlust an Nähe und Vertrautheit, der durch die Erzählstruktur noch verstärkt wird, hat mich beim Lesen melancholisch gestimmt.

As long as I kept moving, my grief streamed out behind me like a swimmer’s long hair in water. I knew the weight was there but it didn’t touch me. Only when I stopped did the slick, dark stuff of it come floating around my face, catching my arms and throat till I began to drown. So I just didn’t stop.

Trotz dieser Kritik bleibt The Poisonwood Bible ein beeindruckendes Werk, das auf vielschichtige Weise die Themen Kolonialismus, kulturelle Missverständnisse und die Dynamik von Macht und Familie beleuchtet. Für meine literarische Weltreise in den Kongo ist dieses Buch ein bewegender, wenn auch bittersüßer Halt, der noch lange nachklingt.

Tram 83 – Fiston Mwanza Mujila erschienen im Zsolnay Verlag, übersetzt von Katharina Meyer und Lena Müller



Tram 83 von Fiston Mwanza Mujila ist ein wilder Fiebertraum, ein literarisches Abenteuer, das mich anfangs fast überforderte – und dann vollständig in seinen Bann zog. Der Roman spielt in einer heruntergekommenen Großstadt, die stark an Kinshasa erinnert, und führt uns mitten hinein in das pulsierende Herz dieser Welt: den Nachtclub „Tram 83“. Hier treffen sich Ex-Kindersoldaten, Glücksritter, Kleinkriminelle, Babyhuren, Touristen und Schriftsteller, alle auf der Suche nach Ablenkung, Überleben oder schnellem Geld. Der Club ist laut, chaotisch, voller Musik und Wortfetzen – und genauso fühlt sich auch das Buch an.

Anfangs fragte ich mich immerzu: Hä? Wer spricht? Worüber? Doch genau in diesem Durcheinander liegt der Reiz. Der Roman vermittelt ein Gefühl von Überforderung, von Orientierungslosigkeit – als ob man selbst zum ersten Mal in diese Stadt kommt, den Stimmen lauscht, die Leuchtreklamen betrachtet, aber nicht alles versteht. Mujilas Sprache hat einen fieberhaften Rhythmus, der wie eine Jazzimprovisation immer wiederkehrende Motive und Melodien aufgreift. Es ist chaotisch, manchmal schwer fassbar, aber gleichzeitig unglaublich lebendig.

Requiem war noch immer nicht zurück. Der Mann mit den Dampflokschuhen kam nur nach Hause, um Kohlen abzuladen oder welche zu holen

Im Zentrum der Geschichte stehen Lucien, ein idealistischer Schriftsteller, und sein Freund Requiem, ein charmanter Gauner. Während Lucien versucht, inmitten von Korruption und Gewalt seiner Berufung treu zu bleiben, bewegt sich Requiem geschickt durch die Abgründe dieser „Bordellstadt“. Ihre Dynamik, eingebettet in die explosive Atmosphäre von „Tram 83“, verleiht dem Buch eine erzählerische Tiefe, die hinter der scheinbaren Oberflächlichkeit der Kulisse überraschend vielschichtig ist.

Die Nacht trug Bikini und Unterwäsche, die sie nicht ausgewrungen hatte

Mujila zeichnet ein groteskes, schillerndes Porträt eines postkolonialen Afrikas, das von Kriegen, Korruption und Globalisierung geprägt ist. Dabei wird die Stadt selbst zu einem Charakter – lebendig, gewalttätig und unvergesslich. Der Roman ist nicht leicht zugänglich, aber gerade das macht ihn so aufregend. Am Ende fühlte ich mich, als hätte ich tatsächlich einen Abend im „Tram 83“ verbracht – überwältigt, ein wenig verloren, aber fasziniert und voller Eindrücke, die noch lange nachhallen.

Wenn du Familie bei der Bahn hast, arbeitest du bei der Bahn, ansonsten zerschellst du wie ein Schiff am Ufer der Hoffnung.

Tram 83 ist ein Buch wie Musik: chaotisch, rhythmisch und unverwechselbar. Ein literarisches Erlebnis, das den Leser fordert – und belohnt.

So – jetzt kommen wir zu weiteren kulturellen Empfehlungen aus dem Kongo. Mein Filmtipp für den Kongo ist der Film „Félicité“ von Alain Gomis

Der Film erzählt die Geschichte von Félicité, einer selbstbewussten Sängerin aus Kinshasa, die alles daran setzt, das Geld für eine lebensrettende Operation ihres Sohnes aufzutreiben. Félicités Reise durch die lebendige, chaotische Stadt bietet nicht nur einen tiefen Einblick in die Lebensrealität in Kinshasa, sondern wird auch durch eindrucksvolle musikalische Szenen untermalt. „Félicité“ verbindet kongolesische Musik, Alltag und die Stärke einer Frau in einer herausfordernden Umgebung. Der Film wurde international gefeiert und zeigt ein authentisches Bild des kongolesischen Lebens.

Musikalisch fand ich die Band Staff Benda Bilili klasse:

Während der Lektüre der beiden Bücher habe ich es unglaublich genossen, kongolesische Radiosender über Radio Garten zu hören. Es war, als hätte ich eine authentische Klangkulisse direkt aus dem Kongo, die die Geschichten noch lebendiger gemacht hat. Radio Garten ist wirklich eine fantastische Plattform, um sich mit Musik, Nachrichten und Stimmen aus der ganzen Welt zu verbinden – perfekt, um jeder Lektüre eine einzigartige Atmosphäre zu verleihen. Das hat so viel Spaß gemacht, dass ich mir fest vorgenommen habe, künftig regelmäßig damit meine Lesereisen zu begleiten.

Falls ihr Lust auf die anderen Etappen habt, hier die Links zu den bisherigen Stationen:

Wer noch mehr Lust auf Literatur hat die im Kongo spielt, hier meine Empfehlungsliste:

  • Heart of Darkness – Joseph Conrad
  • Pandora im Kongo – Albert Pinol Sánchez
  • Trophäe – Gesa Schöter

Ich hatte sooo viel Spaß auf meinem ersten Stopp in Afrika – auch weil ich hier die allermeisten riesigen weißen Flecken habe und es mir Spaß machte so viel über ein Land zu erfahren, dass ich höchstwahrscheinlich nie besuchen werde.
Wie sieht das bei euch aus? Seid ihr schon mal dort gewesen oder habt ihr Pläne den Kongo mal zu besuchen? Kennt ihr Bücher die dort spielen, die ihr mir empfehlen könnt? Freue mich sehr auf eure Rückmeldung und ich hoffe ihr habt Lust auf den nächsten Stopp? So viel verrate ich schon mal – wir wechseln wieder den Kontinent…

Read around the World: USA

Ich hatte bei meiner Reihe „Read around the World“ natürlich viel an ferne Länder gedacht, von denen ich selten bis nie Bücher lese. Aber da ich einen Zufallsgenerator nutze, um die nächsten Länder auszuwählen, über die ich schreiben möchte, traf es mich recht früh in der Reihe – die USA. Ich lese ohnehin viel Literatur aus den USA, so dass ich mir nicht sicher war, ob ich hier Neues entdecken könnte. Doch dann fiel mir Tommy Oranges Roman „There There“ ein, der schon länger auf meiner To-Read-Liste stand. Es erschien mir plötzlich unglaublich passend, dieses Buch im Rahmen dieser Reihe zu lesen.

Die USA – ein Land, das jedem irgendwie bekannt ist. Selbst wer noch nie persönlich dort war, hat unzählige Eindrücke über Filme, Serien, Musik und Bücher gesammelt. Als ich das erste Mal die USA besuchte, speziell New York, war ich erstaunt darüber, wie vertraut mir alles vorkam. Ich hatte das Gefühl, bereits dort gewesen zu sein. Doch abseits der Großstädte änderte sich mein Eindruck. Da spürte ich zum ersten Mal die schiere Größe dieses Landes. Wir wissen natürlich alle, dass die USA riesig sind. Aber das Gefühl, zB am Ufer des Michigansees zu stehen – einem Gewässer, das fast so groß wie die Schweiz ist – war einfach surreal.

Die Geschichte der Vereinigten Staaten ist eine Geschichte der Kontraste: von Expansion und Unabhängigkeit, aber auch von Kolonialismus und tiefgreifender Ungerechtigkeit. Ursprünglich war das heutige Gebiet der USA von zahlreichen indigenen Stämmen besiedelt, deren Kulturen sich über Jahrtausende entwickelten. Die ersten bekannten Kontakte mit Europäern erfolgten Ende des 15. Jahrhunderts, doch es dauerte bis zum 17. Jahrhundert, bis europäische Kolonialmächte wie England, Frankreich und Spanien hier dauerhaft Fuß fassten. 1776 erklärten 13 britische Kolonien entlang der Ostküste ihre Unabhängigkeit – ein mutiger Schritt, der zur Gründung der Vereinigten Staaten von Amerika führte.

Anfang der 2000er verbrachte ich mal eine Weile in New York und hatte auch die wahnwitzige Idee meine Abfindung dazu zu nutzen dort einen Buchladen aufzumachen. Nun ja, das ist alles schon an die Wand gefahren, bevor es richtig Fahrt aufnehmen konnte und zeugt vermutlich von meinen großartigen unternehmerischen Talenten und praktischen Fähigkeiten. Aber es ist immer eine coole Geschichte, die man auf Parties erzählen kann.

Die Unabhängigkeitserklärung von 1776 gilt als Geburtsstunde der amerikanischen Demokratie. Sie basierte auf den Prinzipien der Aufklärung, insbesondere den Ideen von Gleichheit, Freiheit und dem Recht auf das Streben nach Glück. Doch die Umsetzung dieser Ideale war von Anfang an unvollkommen. Die Verfassung von 1787, die bis heute das Fundament der amerikanischen Demokratie bildet, war ein bahnbrechendes Dokument, das ein System von Checks and Balances schuf, um die Macht zwischen Exekutive, Legislative und Judikative zu verteilen. Dennoch blieben Frauen, indigene Bevölkerungen und versklavte Menschen von diesen Rechten ausgeschlossen.

Im Laufe der Jahrhunderte wurde das demokratische System der USA weiterentwickelt, oft durch harte Kämpfe um bürgerliche Rechte und soziale Gerechtigkeit. Die Abschaffung der Sklaverei, das Frauenwahlrecht und die Bürgerrechtsbewegung des 20. Jahrhunderts sind Meilensteine auf dem Weg zu einer inklusiveren Demokratie. Doch die Spannungen zwischen Idealen und Realitäten der Demokratie bestehen weiterhin.

In der jüngeren Vergangenheit wurden die Grundpfeiler der amerikanischen Demokratie zunehmend in Frage gestellt. Die Wahl von Donald Trump im Jahr 2016 war ein Wendepunkt, der tiefe gesellschaftliche und politische Gräben offenbarte. Trumps Rhetorik und Politik haben die Institutionen der Demokratie auf die Probe gestellt. Besonders besorgniserregend war sein Umgang mit der Wahlniederlage 2020 und die darauf folgende Erstürmung des Kapitols am 6. Januar 2021. Dieses Ereignis, ein Angriff auf den Sitz der amerikanischen Demokratie, unterstrich die Fragilität des Systems.

Gleichzeitig haben Polarisierung, Desinformation und Angriffe auf die Pressefreiheit die demokratische Kultur geschwächt. Viele Beobachter*innen sind besorgt, dass das Vertrauen in die Wahlen und die Unabhängigkeit der Gerichte abnimmt. Doch es gibt auch Zeichen der Hoffnung: Bewegungen für soziale Gerechtigkeit, Klimaschutz und Menschenrechte zeigen, dass viele Amerikanerinnen und Amerikaner weiterhin für die Werte ihrer Demokratie einstehen.

Die Geschichte der indigenen Völker Nordamerikas reicht weit vor die Ankunft europäischer Kolonisatoren zurück. Vor der Kolonialisierung lebten schätzungsweise bis zu 10 Millionen Menschen auf dem Gebiet der heutigen USA, organisiert in hunderten verschiedenen Stämmen mit eigenen Sprachen, Traditionen und Lebensweisen. Diese Kulturen waren tief mit der Natur verwoben und oft durch komplexe soziale Strukturen geprägt.

Die Ankunft der Europäer brachte nicht nur Gewalt, sondern auch Krankheiten, gegen die die indigenen Bevölkerungen keine Immunität hatten. Pocken, Masern und andere Seuchen dezimierten die Bevölkerung innerhalb weniger Jahrzehnte drastisch. Während der Kolonialzeit und später im jungen US-amerikanischen Staat wurden indigene Gemeinschaften systematisch marginalisiert. Landraub und Assimilationspolitik bestimmten das Verhältnis der US-Regierung zu den indigenen Völkern.

Im 20. Jahrhundert änderten sich die Ansätze. Zwar wurden indigene Gemeinschaften weiterhin diskriminiert, doch ab den 1960er Jahren kam es zu einer Renaissance indigener Kulturen. Aktivisten kämpften für Landrechte, politische Autonomie und kulturelle Anerkennung. Heute leben über fünf Millionen Menschen indigener Abstammung in den USA, die Mehrheit davon in Städten. Tommy Oranges Roman „There There“ thematisiert genau diese städtische indigene Erfahrung – eine Perspektive, die in der Literatur selten zu finden ist.

Hier noch ein paar Fakten zu den USA

  • Fläche: 9,8 Millionen km², damit etwa 27 mal so groß wie Deutschland
  • Bevölkerung ca. 332 Millionen, in Deutschland etwa 84 Millionen
  • Bevölkerungsdichte USA: 36 Einwohner/km², Deutschland: 235 Einwohner/km²

Für die Weltreise habe ich wie oben schon erwähnt Tommy Oranges Roman „There There“ ausgewählt, der 2019 im Hanser Verlag unter dem Titel „Dort, Dort“ veröffentlicht wurde.

„There There“ hat mich hat mich wirklich sehr berührt – ein Buch, das mir nicht nur neue Perspektiven eröffnet, sondern auch einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen hat. Schon beim Hören des Hörbuchs war ich überwältigt von der Kraft und Schönheit seiner Sprache. Ständig hatte ich den Wunsch, Sätze zu markieren, sie zu unterstreichen und immer wieder zu lesen. Dieses Buch, das zu Recht so viel Aufmerksamkeit und Hype erhalten hat, ist eines, das ich unbedingt noch einmal in Buchform lesen möchte.

Der Titel des Romans bezieht sich auf Gertrude Steins berühmte Bemerkung über Oakland, Kalifornien: „There is no there there“. Oakland, Oranges Heimatstadt, bildet den Schauplatz des Romans und wird zu einem Symbol für das Erbe und die Erfahrung indigener Gemeinschaften in den USA. Orange, selbst ein Mitglied der Cheyenne und Arapaho, erzählt die Geschichten einer Gruppe indigener Menschen, deren Leben auf komplexe Weise miteinander verflochten sind. Schon das Eröffnungsprolog, das nüchtern und zugleich tief erschütternd die koloniale Unterdrückung und Gewalt gegenüber indigenen Völkern schildert, setzt den Ton für das, was folgt.

Was dieses Buch für mich so besonders macht, ist die Balance zwischen Schmerz, Verzweiflung aber auch Hoffnung. Orange verzichtet bewusst auf romantisierte Darstellungen indigener Kultur oder nostalgische Bilder von offenen Prärien. Stattdessen zeigt er das Leben indigener Menschen in städtischen Räumen – in all seiner Widersprüchlichkeit, Zerbrechlichkeit und Schönheit. Figuren wie der durch fetales Alkoholsyndrom gezeichnete Tony Loneman, der Dokumentarfilmer Dene Oxendene oder der junge Orvil Red Feather, der sich mit gestohlener Regalia auf ein Powwow vorbereitet, sind so lebendig und greifbar, dass sie mir während des Lesens regelrecht ans Herz gewachsen sind.

Besonders beeindruckt hat mich, wie Orange es schafft, die Geschichte und Gegenwart der indigenen Bevölkerung der USA miteinander zu verbinden. Das Powwow in Oakland, das den zentralen Schauplatz der Handlung bildet, steht nicht nur für den Versuch, kulturelle Traditionen zu bewahren, sondern auch für die Herausforderungen und Spannungen, die damit einhergehen. Die unterschiedlichen Perspektiven und Lebenswege der Charaktere verdichten sich hier zu einem explosiven Finale, das irgendwie schockierend und zugleich unvermeidlich wirkt. Es ist ein Ende, das beschäftigt – ein Spiegel der Realität, in der Gewalt und Ungleichheit allgegenwärtig sind.

Die Beziehung zwischen Jacquie und ihrer Schwester Opal, die versuchen, alte Wunden zu heilen und sich einander wieder anzunähern, hat mich besonders bewegt. Ihre Geschichte, die bis zur Besetzung von Alcatraz in den späten 1960er Jahren zurückreicht, zeigt, dass auch inmitten von Verlust und Schmerz die Möglichkeit besteht, etwas Neues zu schaffen. Dieses Spannungsfeld zwischen Resignation und Widerstand, zwischen Zerstörung und Wiederaufbau durchzieht das gesamte Buch und nimmt einen wirklich mit.

We are the memories we don’t remember, which live in us, which we feel, which make us sing and dance and pray the way we do, feelings from memories that flare and bloom unexpectedly in our lives like blood through a blanket from a wound made by a bullet fired by a man shooting us in the back for our hair, for our heads, for a bounty, or just to get rid of us.

Ich habe bei der Lektüre unglaublich viel über die Geschichte und Gegenwart indigener Gemeinschaften gelernt. Es war eine harte, aber notwendige Auseinandersetzung mit einer Realität, die oft verdrängt wird. Oranges Buch zwingt uns, hinzusehen und zuzuhören. Es gibt denjenigen eine Stimme, die zu lange überhört wurden, und fordert uns auf, die Komplexität und Menschlichkeit indigener Erfahrungen anzuerkennen.

There There ist für mich ein Meisterwerk – eines der Bücher, das man nicht nur liest, sondern das einen verändert. Es hat mich dazu gebracht, über meine eigenen Vorstellungen von Identität, Geschichte und Gemeinschaft nachzudenken. Tommy Orange hat mit diesem Roman etwas Großes geschaffen, das nicht nur unterhält, sondern auch berührt und inspiriert. Ich kann diesen Roman nur jedem wärmstens empfehlen.

Mein Filmtipp ist der herausragende Film „The new World“ aus dem Jahr 2005 von einem meiner Lieblingsregisseure Terrence Malick:

Falls ihr Lust auf die anderen Etappen habt, hier die Links zu den bisherigen Stationen:

Unser nächster Stopp führt uns wieder in entferntere Gefilde, aber ich bin trotzdem gespannt von euch zu hören. Wie ist euer Verhältnis zu den USA? Habt ihr es schon bereist, dort gelebt oder lässt es euch eher kalt und ihr habt wenig Interesse an einem Besuch?

Read around the world: Polen

Unser erster Stopp in Europa und wir besuchen heute das schöne Polen – kann gar nicht glauben, dass ich unser Nachbarland noch nie besucht habe, das sollten wir schleunigst mal ändern.

Polen, im Herzen Europas gelegen, ist ein Land mit einer bewegten Geschichte, einer reichen Kultur und einer starken literarischen Tradition. Seine Anfänge als politisches Gebilde lassen sich bis ins Jahr 966 zurückverfolgen, als Mieszko I., der erste historische Herrscher, das Christentum annahm. Damit wurde Polen Teil der westlichen christlichen Welt und etablierte sich in den folgenden Jahrhunderten als bedeutende Macht in Mitteleuropa. Unter der Jagiellonen-Dynastie, die vom 14. bis zum 16. Jahrhundert herrschte, erlebte das Land eine Blütezeit. In dieser Zeit formte die enge Verbindung mit Litauen die Polnisch-Litauische Union, die zeitweise das größte Staatsgebilde Europas war und kulturell wie wirtschaftlich aufblühte.

Fotos: Pixabay

Doch das 18. Jahrhundert brachte mit den drei Teilungen Polens durch die Nachbarmächte Russland, Preußen und Österreich das Ende der staatlichen Unabhängigkeit. Über 123 Jahre war Polen von der Landkarte verschwunden, doch der Widerstand der polnischen Bevölkerung blieb lebendig, insbesondere in der Kultur und Literatur, die zur Bewahrung der nationalen Identität beitrugen. Nach dem Ersten Weltkrieg gelang Polen 1918 die Wiedererlangung der Souveränität, nur um diese wenige Jahrzehnte später im Zweiten Weltkrieg erneut zu verlieren. Das Land wurde von Deutschland und der Sowjetunion besetzt und erlebte während des Krieges unvorstellbares Leid, darunter den Holocaust, der Millionen jüdischer Polen das Leben kostete. Nach 1945 wurde Polen Teil des sowjetisch geprägten Ostblocks, bevor es 1989 durch die friedlichen Reformen der Solidarność-Bewegung zur Demokratie zurückfand und 2004 Mitglied der Europäischen Union wurde.

Die polnische Kultur ist tief verwurzelt in Traditionen, Religion und einer facettenreichen Literatur. Zu den bedeutendsten Schriftstellern des Landes zählen Adam Mickiewicz, der mit seinem Werk „Pan Tadeusz“ den Freiheitskampf der Polen romantisch verklärt darstellte, auch beim Literaturnobelpreis war Polen beachtlich oft erfolgreich. Neben Olga Tokarczuk (2018) und Wisława Szymborska (1996) haben auch Czesław Miłosz (1980), Władysław Reymont (1924) und Henryk Sienkiewicz (1905) einen bekommen.

Geografisch erstreckt sich Polen über die Norddeutsche Tiefebene bis hin zu den Karpaten im Süden und ist geprägt von Flüssen wie der Weichsel, die das Land durchzieht. Die kulturelle Vielfalt zeigt sich in der Architektur von Städten wie Krakau, deren Altstadt zum UNESCO-Weltkulturerbe zählt, und in den landschaftlichen Highlights wie der masurischen Seenplatte. Polen ist ein Land, das trotz seiner oft tragischen Geschichte stets ein starkes kulturelles Erbe bewahrt und gleichzeitig den Blick nach vorn richtet.

Hier noch ein paar Fakten zu Polen:

  • Fläche: 312.696 km², damit etwas kleiner als Deutschland
  • Bevölkerung ca. 38 Millionen, also deutlich weniger als hier und mit deutlich mehr Platz für den Einzelnen wie man im nächsten Punkt klar erkennen kann
  • Bevölkerungsdichte Polen: 121 Einwohner/km², Deutschland: 235 Einwohner/km²

Für unsere Weltreise habe ich das neueste Werk Olga Tokarzuks „Empusion“ ausgewählt. Der Roman ist 2022 im Kampa Verlag erschienen und wurde von Lisa Palmes und Lothar Quinkenstein übersetzt.


Olga Tokarczuks Empusion ist nicht nur ein wirklich meisterhaft erzähltes Werk, sondern auch ein subtil subversiver feministischer Roman. Tokarczuk legt die tief verwurzelte Frauenverachtung offen, die die patriarchalischen Strukturen der damaligen Zeit durchzieht, und sie tut dies mit einer Mischung aus bitterem Ernst und ironischem Unterton. Das Sanatorium, in dem sich Mieczysław Wojnicz aufhält, wird zu einer Bühne, auf der die männlichen Protagonisten ihre Ansichten über die Welt – und insbesondere über Frauen – zum Besten geben. Tokarczuk entlarvt diese Perspektiven, indem sie den Figuren reale frauenfeindliche Zitate in den Mund legt und damit die grotesken Abgründe dieser Denkweisen sichtbar macht.

Ein besonders einprägsames Beispiel ist das berühmte Zitat von Platon: „Das Weib ist nichts anderes als ein missglückter Mann.“ Dieses philosophische Fundament der Misogynie wird im Roman nicht nur unkritisch von den männlichen Patienten zitiert, sondern auch in ihren Gesprächen auf erschreckend beiläufige Weise weitergesponnen. Die Männer betrachten Frauen oft als irrational, schwach oder gar als Bedrohung – eine Haltung, die von Tokarczuk scharf beobachtet und satirisch zugespitzt wird. Jean-Paul Sartres Satz „Die Hölle, das sind die anderen“ wird in diesem Kontext zu einem Ausdruck männlicher Angst vor der weiblichen Andersartigkeit, die die Protagonisten nicht verstehen und daher abwerten.

Tokarczuk gibt den Frauen jedoch eine leise, aber kraftvolle Gegenstimme. Die wenigen weiblichen Figuren, die im Sanatorium auftauchen – oft nur als Schatten oder mal als Krankenschwestern oder Patientinnen –, wirken zunächst marginalisiert, doch in ihren Handlungen und Reaktionen spiegeln sich Stärke und Widerstandskraft. Tokarczuk zeigt, wie Frauen trotz der sie umgebenden feindlichen Kultur ihren Platz behaupten und mit subtiler Macht agieren.

Die Art und Weise, wie Tokarczuk diese Frauenfeindlichkeit einbettet, ist meisterhaft: Sie karikiert die Männer in ihrer Selbstgewissheit und lässt ihre vermeintlich „hohen“ Gespräche immer wieder ins Lächerliche abgleiten. Dabei macht sie klar, dass die frauenfeindlichen Ideen nicht nur historische Relikte sind, sondern auch heute noch in subtilen Formen existieren. Der Roman wird so zu einem feministischen Kommentar, der die Leser*innen dazu bringt, sich mit den mysogynen Überzeugungen auseinanderzusetzen, die über Jahrhunderte hinweg fortgeschrieben wurden.

Empusion ist damit nicht nur ein Roman über Krankheit, Heilung und Risse in der Realität, sondern auch ein Werk, das die Machtstrukturen zwischen den Geschlechtern aufdeckt und dekonstruiert. Es fordert den Leser heraus, die patriarchalen Narrative zu hinterfragen, die nicht nur die Figuren im Sanatorium, sondern auch unsere eigene Gesellschaft prägen.

Ganz große Leseempfehlung. Der Roman regt nicht nur zum Denken an, er ist auch wahnsinnig atmosphärisch und Mieczysław Wojnicz ist ein Protagonist, den man nicht so schnell vergisst und den man unbedingt beschützen möchte.

Wer noch mehr Lust auf polnische Literatur hat, hier meine Empfehlungsliste:

Filmtipps habe ich dieses Mal zwei. Zum einen die Verfilmung von Olga Tokarzuks Buch „Gesang der Fledermäuse“ der unter dem Titel „Spoor / Pokot“ im Jahr 2017 von Agnieszka Holland und Kasia Adamik verfilmt wurde:

sowie das ziemlich abgefahrene Horror-Musical-MashUp „The Lure“ von Agnieszka Smoczyńska aus dem Jahr 2015:

Musikalisch bin ich ein großer Fan der polnischen Post Rock Band Spoiwo:

Das Kochen haben wir dieses Mal vergessen, aber nächstes Mal gibt es garantiert auch wieder kulinarische Tipps für unseren Stopp.

So jetzt ihr: Wart ihr schon mal in Polen und wenn ja, könnt ihr Empfehlungen für meinen ersten Trip dorthin machen. Welche Romane, Filme, Bands mögt ihr? Habt ihr Empusion schon gelesen oder etwas anderes von Olga Tokarzuk? Freue mich sehr von euch zu hören und ich hoffe ihr seid auch beim nächsten Stopp wieder dabei.

Falls ihr Lust auf die anderen Etappen habt, hier die Links zu den bisherigen Stationen:

Read around the World: Chile

Wir haben knapp 15.000 km hinter uns gelassen und sind in Chile gelandet. Ich hatte mit 17,18 eine heftige Isabell Allende Phase und wenn mich damals jemand gefragt hätte, welche Länder ich einmal im Leben garantiert bereist haben werde, hätte ich sicherlich ohne Zögern Chile gesagt. Ich wollte da so unbedingt hin, fand es faszinierend, landschaftlich total reizvoll und einfach spannend. Was soll ich sagen? Bin viel gereist in meinem Leben, aber nach Südamerika habe ich es leider nie geschafft. Hätte ich echt nicht gedacht.

Daher auch hier eine etwas umfassendere Einführung in Geschichte, Geographie und Kultur bevor wir uns mit dem Buch beschäftigen, das ich für Chile ausgewählt habe.

Chile erstreckt sich entlang der Westküste Südamerikas über eine Länge von etwa 4.300 Kilometern, während es an seiner schmalsten Stelle nur etwa 90 Kilometer breit ist. Diese außergewöhnliche Geografie umfasst atemberaubende Kontraste, von der trockensten Wüste der Welt, der Atacama, im Norden, über die fruchtbaren Täler Zentralchiles bis hin zu den eisigen Fjorden und Gletschern Patagoniens im Süden. Chile grenzt im Osten an die Anden und im Westen an den Pazifik.

Die Hauptstadt Santiago liegt zentral und ist das wirtschaftliche, politische und kulturelle Herz des Landes. Chiles besondere Lage macht es zudem anfällig für Erdbeben und Vulkanausbrüche, da es entlang des sogenannten Pazifischen Feuerrings liegt.

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Chile war ursprünglich Heimat verschiedener indigener Völker, darunter die Mapuche, die auch heute noch eine bedeutende kulturelle und politische Rolle spielen. Mit der Ankunft der Spanier im 16. Jahrhundert begann die Kolonialisierung, und Chile wurde ein Teil des spanischen Kolonialreichs. 1818 erlangte das Land seine Unabhängigkeit.

Im 20. Jahrhundert erlebte Chile eine wechselvolle politische Geschichte. Besonders prägend war die Zeit um Salvador Allende, der 1970 als erster demokratisch gewählter marxistischer Präsident der Welt in sein Amt trat. Seine Regierung setzte auf umfassende Sozialreformen und eine verstaatlichte Wirtschaft, was auf erheblichen Widerstand sowohl innerhalb Chiles als auch international, insbesondere seitens der USA, stieß. Am 11. September 1973 wurde Allende durch einen von General Augusto Pinochet angeführten Militärputsch gestürzt. Allende beging während des Angriffs auf den Regierungspalast angeblich Suizid.

Die anschließende Diktatur unter Pinochet dauerte bis 1990 und war geprägt von brutaler Unterdrückung, Menschenrechtsverletzungen und wirtschaftlicher Liberalisierung nach neoliberalen Prinzipien. Heute ist Chile eine stabile Demokratie, wenngleich die Gesellschaft weiterhin mit den Nachwirkungen der Diktatur und sozialen Ungleichheiten ringt.

Chile besitzt eine reiche literarische Tradition und hat zwei Literaturnobelpreisträger hervorgebracht: Gabriela Mistral (1945) und Pablo Neruda (1971). Isabel Allende, die Nichte von Salvador Allende, ist eine der bekanntesten zeitgenössischen Autorinnen des Landes. Sie ist durch Werke wie Das Geisterhaus, Die Geschichten der Eva Luna oder Paula international berühmt geworden. Die meisten ihrer Werke sind stark autobiografisch gefärbt. Meine Ausgabe von „Das Geisterhaus“ ist noch die original DDR-Ausgabe vom Aufbau-Verlag aus dem Jahr 1986 oder 1987 glaube ich (es steht tatsächlich kein Erscheinungsjahr im Buch) und wurde von Anneliese Botond übersetzt.

Die chilenische Küche ist geprägt von ihrer geografischen Lage: Fisch und Meeresfrüchte sind zentrale Bestandteile. Weitere traditionelle Gerichte sind empanadas, curanto (ein Eintopf aus Fleisch, Fisch und Gemüse). Wir haben versucht Empanadas zu basteln, aber irgendwie wollte es nicht klappen – daher gibt es dieses Mal leider Fotos aus der Pixabay-Konserve und nix selbstgekochten – ich gelobe Besserung! Gibt auch wirklich sehr selten chilenische Restaurants, oder?

Hier noch ein paar Fakten zu Chile:

  • Fläche: Chile ist etwa 756.000 km² groß, fast doppelt so groß wie Deutschland mit 357.000 km².
  • Einwohnerzahl: Chile hat etwa 19,5 Millionen Einwohner (Stand: 2023), deutlich weniger als Deutschland mit etwa 84 Millionen.
  • Bevölkerungsdichte: Mit etwa 25 Einwohnern pro km² ist Chile sehr dünn besiedelt, während Deutschland eine Bevölkerungsdichte von rund 235 Einwohnern pro km² aufweist.

Jetzt aber zu einem der wohl berühmtesten Romane des Landes: Isabel Allendes „Roman „Das Geisterhaus „(La Casa de los Espíritus, 1982) ist ein Meisterwerk des magischen Realismus und erzählt die Geschichte der Familie Trueba über vier Generationen hinweg. Der Roman verknüpft die persönlichen Schicksale der Figuren mit den politischen und sozialen Umwälzungen in einem fiktiven Land, das an Chile angelehnt ist.

Im Zentrum steht Esteban Trueba, ein patriarchaler, ehrgeiziger Großgrundbesitzer, dessen Leben und Handeln die Entwicklung der Familie prägen. Seine Ehefrau Clara, die über spirituelle Fähigkeiten verfügt, repräsentiert das Herz der Familie und den Kontrast zu Estebans Materialismus. Die Geschichte verfolgt die Schicksale ihrer Kinder und Enkelkinder, insbesondere ihrer Enkelin Alba, die sich in einer von politischen Unruhen geprägten Zeit für Gerechtigkeit und Freiheit einsetzt.

Der Roman schildert die zunehmende Politisierung der Gesellschaft, den Aufstieg einer sozialistischen Regierung (die an Salvador Allendes Präsidentschaft erinnert) und den darauffolgenden Militärputsch, der von einem brutalen Regime geprägt ist. Alba wird während der Diktatur verhaftet und gefoltert, überlebt jedoch durch ihre innere Stärke und die Hilfe ihres Großvaters Esteban, der schließlich Einsicht in seine Fehler gewinnt.

Das zentrale Thema des Romans ist der Konflikt zwischen Tradition und Wandel, zwischen persönlicher Schuld und gesellschaftlicher Verantwortung. Gleichzeitig steht die Familie als Mikrokosmos für die chilenische Gesellschaft, die in dieser Zeit durch tiefe Spaltungen geprägt war.

Der Putsch von 1973 und die anschließende Militärdiktatur unter Augusto Pinochet hatten einen direkten Einfluss auf Isabel Allende und ihr Schreiben. Viele der brutalen Ereignisse, die im Roman geschildert werden, spiegeln die politische Realität in Chile während und nach Salvador Allendes Präsidentschaft wider. Die Verhaftung und Folter Albas steht symbolisch für das Leid vieler Oppositioneller während der Diktatur. Allendes magischer Realismus dient dazu, die Verbindung zwischen individueller Erfahrung und historischen Prozessen auf eine poetische Weise auszudrücken.

Das Geisterhaus ist somit nicht nur eine Familiengeschichte, sondern auch ein literarisches Monument, das die Herausforderungen und Traumata einer ganzen Nation einfängt. Ein paar Jahre lang habe ich nahezu fanatisch jeden Roman gelesen, den Isabel Allende herausbrachte, aber irgendwann bin ich nicht nur aus ihr, sondern allgemein aus den lateinamerikanischen Romanen und dem Magic Realism herausgewachsen. Frau Allende ist aber nach wie vor eine großartige, spannende Frau und ich folge ihr gerne auf Instagram.

Auch wenn „Das Geisterhaus“ 1993 mit großer Starbesetzung verfilmt wurde, ist mein Film-Tipp für euch das Drama „Una Mujer Fantástica/A fantastic woman“ (Sebastián Lelio) der 2018 den Oscar für den besten fremdsprachigen Film erhielt und von Marina handelt, einer trans Frau, die nach dem plötzlichen Tod ihres Partners gegen Vorurteile und Diskriminierung kämpfen muss. Großartiger Film der einen ganz schön mit nimmt.

Musikalisch habe ich zwei Tipps für euch und zwar „Baikonur“ eine Post Rock Band aus Santiago die auch vor ein paar Jahren auf dem DUNK! Festival auftrat:

und die Trip Hop / Electronic Band Dënver, ein Duo das allerdings seit 2013 getrennt ist:

Kennt ihr das Geisterhaus oder andere Bücher von Isabel Allende? Habt ihr andere Lieblingsautor*innen aus Chile oder seid ihr vielleicht sogar schon mal dort gewesen? Könnt ihr es als Reiseland empfehlen? Was verbindet ihr mit dem Land? Bin sehr gespannt auf eure Rückmeldungen.

Danke schon mal für eure Rückmeldungen und ich werde auf die Kommentare auch noch separat eingehen. Fast hätte ich aber vergessen euch noch ein paar weitere Buchempfehlungen zu geben, denn ich habe ein paar richtig gute Bücher aus Chile gelesen. Hier meine Empfehlungen (außer dem Geisterhaus):

  • Maniac – Benjamin Labatut
  • When we cease to understand the world – Benjamin Labatut
  • Das Geisterhaus – Isabel Allende
  • Mit brennender Geduld – Antonio Skármeta