Stimmen die bleiben: Marie-Luise Kaschnitz

Marie Luise Kaschnitz gehört zu jenen Stimmen der deutschen Nachkriegsliteratur, die leise sprechen und doch lange nachhallen. Sie, die 1901 in Karlsruhe als Freiin Marie Luise von Holzing-Berstett geboren wurde, wuchs in einer Welt auf, die von Hierarchien und Distanz bestimmt war. Die Mutter – schön, eitel, unnahbar – ließ sich, wie sie später schrieb, „nur durch den Schleier küssen“. Der Vater – melancholisch, vergeistigt, ein Mann des 19. Jahrhunderts – blieb die stille Mitte, um deren Aufmerksamkeit Mutter und Töchter konkurrierten. Besonders die ältere Schwester Helena, genannt Lonja, war die Rivalin im Schatten – ein Konflikt, der das Verhältnis der Schwestern dauerhaft prägte und sich in vielen ihrer Texte als unterschwelliger Schmerz wiederfindet.

Kaschnitz’ Herkunft war konservativ, großbürgerlich, preußisch im besten und im schlechtesten Sinne. Sie lernte früh, sich zurückzunehmen, eine Beobachterin zu sein. Vielleicht erklärt das ihre eigentümliche Haltung während der NS-Zeit: keine aktive Gegnerin, aber auch keine Mitläuferin. Sie schrieb weiter, hielt sich bedeckt, und was sie notierte, zeugt von innerer Distanz – und von Angst. In ihren später veröffentlichten Tagebüchern liest man, wie sehr sie den Krieg, den Hunger, das moralische Verstummen um sie herum als Verstörung empfand, die nie ganz abklingen sollte. Es war, als hätte sie den Schock in sich konserviert. Nach 1945 wurde dieses Verstummen zu ihrem poetischen Thema: das Weiterleben nach dem Zusammenbruch, das langsame Wiederauftauchen aus Schutt und Asche.

An der Seite ihres Mannes, des Archäologen Guido Kaschnitz von Weinberg, führte sie ein bewegtes, weltoffenes Leben. Er war ihre große Liebe, ihr Gegenüber, ihr Maßstab. Gemeinsam reisten sie nach Italien, Griechenland, Ägypten – ein Leben zwischen Ausgrabungsstätten und Bibliotheken, voller Gespräche, voller gegenseitiger Achtung. Als Guido 1958 stirbt, stürzte sie in eine tiefe Einsamkeit. In ihren Gedichten klingt die Trauer unüberhörbar nach: „Seit du fort bist, bin ich eine, die wartet, ohne zu wissen, worauf.“ Dieser Satz ist mehr als privater Schmerz – er ist auch ein Echo jener kollektiven Verlorenheit, die das Nachkriegsdeutschland prägte.

Der Dichter ist das Sprachrohr der Ratlosigkeit seiner Zeit.

Die „Dame Kaschnitz“, wie man sie halb ehrfürchtig, halb spöttisch nannte, mochte diesen Titel nicht. Doch was konnte sie dafür, dass sie so wirkte – korrekt, beherrscht, mit jenem unaufdringlichen Stil, den man sich nicht aneignet, sondern mit der Kinderstube erbt. Ihre Herkunft ließ sich nicht verleugnen, ihre Haltung auch nicht. Sie gehörte zu den wenigen Frauen, die sich in die männlich dominierten literarischen Zirkel wagten, als klassische Erscheinung mit doppelter Perlenkette, mit diesen faszinierend schimmernden Augen unter dunklen, buschigen Brauen. Sie rüttelte nicht an den sprachlichen Konventionen, sie erfand die Literatur nicht neu. Aber sie machte sich das zu eigen, was sie kannte, und schrieb daraus Sätze von solcher Klarheit und Würde, dass sie auch heute noch frisch und zeitlos klingen. Sie scheute sich aber auch nicht von ihren Gewissensqualen zu sprechen, als Mutter versagt und in der Nazizeit geschwiegen zu haben.

Das Schwermütige war ein Wesenszug ihrer Dichtung ebenso wie die verspielte Leichtigkeit, die aber, wie Kaschnitz einmal bekannte, Produkt künstlerischer Anstrengung war. Das Geheimnisvolle, Rätselhafte, ein unauflöslicher, ungeklärter Rest sind kennzeichnend für ihre Erzählungen. Surrealistische, gespenstische, unheimliche Elemente erzeugen eine Spannung, die hineinzieht ins Geschehen der scheinbar realistisch erzählten Geschichten. Dieser rational nicht ganz aufzulösende Rest eröffnet eine andere Dimension, die wohl für Marie Luise Kaschnitz lebens- und werkimmanent ist: die Welt der Phantasie. Dass gerade eine Autorin, die mit Perlenkette, Handtasche und hochtoupierter Dauerwelle auftrat, solche Abgründe zu öffnen verstand, gehört zu den schönsten literarischen Überraschungen des 20. Jahrhunderts. Hinter der gepflegten Fassade lauerte stets ein Abgrund – und Kaschnitz sah genau hin.

Als 2000 ihre Tagebücher veröffentlicht wurden, war das kein literarischer Skandal, sondern ein stiller Einblick in ein Leben zwischen Anpassung und Zweifel, Liebe und Verlust. Zehn Jahre nach ihrem Tod wurde der Marie-Luise-Kaschnitz-Preis ins Leben gerufen, der das Lebenswerk deutschsprachiger Schriftstellerinnen und Schriftsteller ehrt – ein passendes Vermächtnis für eine Autorin, die zeitlebens nach der Wahrheit in den Zwischenräumen suchte.

Marie Luise Kaschnitz ist eine Stimme, die bleibt. Weil sie uns daran erinnert, dass Literatur, wenn sie ehrlich ist, kein Trostpflaster ist – sondern eine Form von Widerstand sein kann.

Ich würde mich so freuen, wenn mehr Menschen Lust bekämen Marie-Luise Kaschnitz wieder zu entdecken. Mich erinnern Kaschnitz Erzählungen an Muriel Spark oder Shirley Jackson. Gerade heute, an Halloween, wäre doch ein guter Tag mit einer ihrer unheimlichen Geschichten wie unter anderem „Vogel Rock“, „Das dicke Kind“ oder „Die Füße im Feuer“. Im Suhrkamp Verlag kann man ihre gesamten Werke auch als Taschenbuchausgaben für kleines Geld bekommen.

Stimmen die bleiben: Carry Brachvogel

Wer heute durch Schwabing geht, ahnt kaum, dass sich hier um 1900 Salons voller Debatten, Gedichte und Streitgespräche fanden. Einer der berühmtesten Treffpunkte lag in der Ludwigstraße, gleich beim Siegestor. Dort empfing Carry Brachvogel – Schriftstellerin, Netzwerkerin, Kämpferin für die Rechte von Frauen – die geistige Elite ihrer Zeit.

Carry Brachvogel, geboren 1864, war Schriftstellerin, Salonnière und Mitglied im „Verein für Fraueninteressen“, den Ika Freudenberg gegründet hatte – eine Organisation der bürgerlichen Frauenbewegung, die sich bewusst von radikaleren Positionen etwa von Anita Augspurg distanzierte, aber dennoch wichtige gesellschaftliche Veränderungen anstieß. 1911 hielt Brachvogel dort ihren Vortrag „Hebbel und die moderne Frau“, in dem sie das Frauenbild der deutschen Klassik dem neuen Typus der selbstbestimmten Frau gegenüberstellte; 1912 erschien der Text im Druck. Ein Jahr später wurde sie in den Vorstand gewählt, setzte sich für bessere Arbeitsbedingungen von Bühnenschauspielerinnen ein und gründete im Verein eine Kommission für Bühnenangelegenheiten.

Ihr Schwabinger Salon in den 1920er Jahren war ein Zentrum des kulturellen Lebens der Stadt. Ernst von Wolzogen kam, Max Haushofer Jr., Oskar Mysing, Hugo Steinitzer, Rainer Maria Rilke, Lou Andreas-Salomé – Namen, die heute wie aus einem Literaturlexikon klingen, damals aber einfach ihre Gäste waren. Brachvogel kultivierte gezielt ein Image, das ihr Respekt als Schriftstellerin sichern sollte: kühl, unnahbar, scharfzüngig. Sie wusste, wie schnell Frauen in der Literatur in die Schublade „nett, aber nicht ernst zu nehmen“ gesteckt wurden.

Auch als Netzwerkerin unter Autorinnen war sie prägend. 1913 gründete sie mit Emma Haushofer-Merk den Münchner Schriftstellerinnen-Verein, um gegen „gewissenlose Verleger“ und für angemessene Bezahlung von Frauen zu kämpfen. Innerhalb eines Jahres zählte der Verein schon 70 Mitglieder, darunter Ricarda Huch, Annette Kolb, Frieda Port. Ab 1925 stand Brachvogel dem Verein allein vor, richtete in den wirtschaftlich schwierigen 1920er Jahren einen Hilfsfonds für bedürftige Mitglieder ein und lehnte immer wieder Anfragen ab, für andere Verbände kostenlos Texte zu liefern – Solidarität hieß für sie, dass Frauenarbeit nicht entwertet wird.

Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 änderte sich alles. Ihre jüdische Herkunft rückte ins Zentrum, und in vorauseilendem Gehorsam setzte der Schriftstellerinnen-Verein sie ohne ihr Wissen vor die Tür. Wenige Monate später beschloss die Hauptversammlung die Auflösung. Sie erhielt Berufsverbot, musste ihren Salon schließen. Ihr Bruder Siegmund Hellmann verlor ebenfalls seine Arbeit. Die beiden zogen sich in die Wohnung in der Herzogstraße 55 zurück. Trotz Verbots veröffentlichte Brachvogel noch einzelne Essays, erwog zeitweise ein Exil, doch blieb. Am 21. Juli 1942 holte die Gestapo sie und ihren Bruder ab, am nächsten Tag wurden sie nach Theresienstadt deportiert. Carry Brachvogel starb dort am 20. November 1942 im Alter von 78 Jahren, Siegmund am 7. Dezember.

Ihr Schicksal ist tragisch und eine Mahnung. Das viel beschworene „Nie wieder“ bedeutet nichts, wenn es nicht im Heute gelebt wird. Hätte man sich Anfang der 1920er Jahre entschlossen gegen den aufkeimenden Faschismus gestellt, vielleicht hätte er gebremst werden können. Genau wie heute wo (zu viele) Konservative lieber mit den Faschisten paktieren – aus Angst vor den „bösen woken linksgrün Versifften“ unserer Zeit. Der Gedanke ist erschreckend vertraut: Lieber mit denen paktieren, die menschenfeindlich sind, als das eigene Weltbild in Frage zu stellen. Hauptsache, man kann „noch alles sagen“.

Umso wichtiger sind heute die Zeichen der Erinnerung. Seit 1992 erinnert der „Carry-Brachvogel-Salon“ in der Seidlvilla an die einst so berühmte Münchnerin, 2012 wurde in Bogenhausen eine Straße nach ihr benannt. Und im Juli 2024 wurde an der Herzogstraße 55 eine Gedenktafel angebracht – ein fester Ort im Stadtbild, an dem ihr Name nicht nur in Archiven weiterlebt.

Vieles von Carry Brachvogels Werk ist heute nur antiquarisch greifbar – umso wichtiger die in den letzten Jahren von der Edition Monacensia in Zusammenarbeit mit dem Allitera Verlag verantworteten Neuausgaben. Aktuell lieferbar sind vier zentrale Titel: ihr Debütroman Alltagsmenschen (1895), der satirische München-um-1900-Roman Der Kampf um den Mann (1910), der den Ersten Weltkrieg entzaubernden Roman Schwertzauber (1917) und ihre Reportage Im Weiß-Blauen Land (1923). Diese Ausgaben, jeweils editorisch betreut (u. a. mit Nachworten von Ingvild Richardsen), holen Brachvogels Stimme zurück ins heutige Lesen – und machen sichtbar, wie modern ihre gesellschaftliche Beobachtung war. Andere ihrer einst vielgelesene Bücher wie die historischen Porträts Die Marquise de Pompadour (1905) oder Katharina II. von Russland (1906) sind derzeit fast nur als Print-on-Demand- oder Antiquariatstitel zu haben, ihre essayistische Schriften wie Eva in der Politik (1919/1920) sind dagegen noch schwerer aufzutreiben, wenn dann nur antiquarisch. Wer also heute mit Brachvogel beginnen will, findet im Allitera-Programm den besten Einstieg – und zugleich den verlässlichsten Weg, ihr Werk wieder im öffentlichen Bewusstsein zu verankern

Endlich habe ich nun auch meinen ersten Roman von Carry Brachvogel gelesen: Alltagsmenschen, erschienen 1895. Elisabeth, verheiratet mit einem gut situierten Mann in München, lebt ein Leben voller Leere und Langeweile. Auch die Geburt eines Kindes ändert nichts an ihrem Drang nach Aufbruch, sie beginnt eine Affäre mit einem Legationsrat. Mit psychologischem Feingespür, großer Scharfsichtigkeit und poetischem Können porträtiert Brachvogel nicht nur eine junge Frau, sondern zeichnet ein exaktes Sittenbild des Münchens um 1900. Was mich besonders beeindruckt hat, sind die präzisen Einblicke in den Alltag eines wohlsituierten Paares jener Zeit – der Tagesrhythmus, die Konversationen, die unterschwelligen Machtspiele. Man spürt den scharfen Blick und die sprachliche Eleganz einer Frau, die mitten in den Debatten ihrer Epoche stand.

Dabei war Elisabeth gescheidt, hatte sich von jeher gemüht, ihre etwas oberflächliche Institutsbildung aus eigenen Kräften zu erweitern und zu vertiefen, und gerade deshalb erschien ihr dies alles, das den Freundinnen den Lebenszweck bildette, doppelt nichtig und leer, ungefähr nur wie wertlose Zwischentaktsmusik, die sie über das Verzögern der eigentlichen Handlung wegtrösten sollte. Zuweilen befiel sie ein Grauen, wenn sie überlegte, wie viele Tage jetzt schon so dahingeglitten waren, an denen sie nichts geleistet hatte, nichts für sich, nichts für andere. „Lilienaufdemfelddasein“ bedrückte sie schwer – sie wäre gerne ein Mann gewesen, der nutzbringend lebend und arbeiten, all seine Kräfte freudig und befriedigend bethätigen konnte.

Carry Brachvogel ist eine Stimme, die bleibt – trotz aller Versuche, sie zum Schweigen zu bringen. Heute liegt es an uns, sie wieder hörbar zu machen. Lest (mehr) Carry Brachvogel!

Eine weitere – sehr sehr schöne Besprechung findet ihr hier bei Anna vom Blog Buchpost, die schon 2014 auf Carry Brachvogel aufmerksam gemacht hat!

Stimmen die bleiben: Anna Seghers

Neue Reihe auf dem Blog: Weibliche Stimmen die bleiben

Manchmal bleiben einem Autorinnen ein Leben lang nah – ohne dass man es gleich merkt. Sie schleichen sich ins Herz über eine zufällig entdeckte Erzählung, ein biografisches Detail, ein Ton, der hängen bleibt. In dieser neuen Reihe möchte ich Schriftstellerinnen vorstellen, die mir viel bedeuten – sei es, weil ich mit ihnen aufgewachsen bin, weil ich sie spät entdeckt habe oder weil sie mir das Gefühl geben, dass Literatur eben doch mehr ist als bloß Worte auf Papier, ein Rettungsanker in sich verdunkelnden Zeiten.

Dabei soll es nicht nur um die großen Namen gehen – sondern auch um jene, die heute vielleicht nicht mehr so oder noch nicht so präsent sind, obwohl ihr Werk es verdient hätte, gelesen (und/oder wiederentdeckt) zu werden. Es geht um politische Stimmen, poetische Wahrheiten, radikale Gedanken, leise Töne. Und immer auch um die Frage: Was macht eine Autorin eigentlich bedeutsam – für mich, für uns, für die Gegenwart?

Den Anfang macht eine Frau, die mir nicht nur literarisch nah ist – sondern auch geografisch. Denn wie ich stammt Anna Seghers aus Mainz.

Manchmal begegnet einem eine Autorin im Leben nicht durch Zufall. Bei mir war das so mit Anna Seghers. Als „Meenzer Mädche“ war mir ihr Name schon früh vertraut – allein, weil die Stadtbibliothek ihren Namen trägt. Und obwohl sie lange Zeit für mich irgendwie im Kanon der „Schulpflichtlektüre“ abgehakt war, hat sie sich still und nachhaltig in mein literarisches Herz geschrieben. Mit einem ganz eigenen Ton, zwischen großer politischer Überzeugung und tief persönlicher Verletzlichkeit, zwischen klarer Haltung und innerer Zerrissenheit.

Geboren wurde Anna Seghers 1900 als Netty Reiling in Mainz, in eine wohlhabende, jüdische Familie, die im orthodoxen Glauben verankert war. Dass sie sich früh von Religion lossagte und sich später der Kommunistischen Partei anschloss, wirkt rückblickend wie ein klarer Bruch. Aber gerade in dieser Entscheidung steckt auch etwas ganz Menschliches: der Wunsch, an eine Sache unbedingt glauben zu können – auch dann noch, als dieser Glaube längst Risse bekommen hatte. Der Hitler-Stalin-Pakt von 1939 war ein Schock für viele linke Intellektuelle, auch für Seghers, die sich zeitlebens dennoch nicht öffentlich von der Sowjetunion lossagte. Vielleicht war das politische Festhalten auch Selbstschutz – oder eine Weigerung, sich den eigenen Illusionen stellen zu müssen.

Als Jüdin, Kommunistin und Intellektuelle war sie früh gefährdet. Sie gehörte zu den ersten Autorinnen, die ins Exil gingen. Zuerst floh sie nach Paris, wo ihr Mann, der Ungar László Radványi, jedoch nach dem Einmarsch der Nazis in Südfrankreich interniert wurde. Anna Seghers floh mit ihren beiden Kindern in den unbesetzten Süden Frankreichs, nach Marseille – wo das Bangen und das Warten begannen: auf Papiere, auf eine Ausreisemöglichkeit, auf Rettung. Und dabei war da ständig die Angst vor Bespitzelung. Sie hatte sich nicht – wie andere Exilantinnen – für die Sowjetunion entschieden, sondern für Frankreich und später Mexiko. Und das bedeutete: kein richtiger Schutz, aber auch kein klares Feindbild. Sondern dieses gefährliche Dazwischen.

In Marseille kämpfte sie unermüdlich um die Freilassung ihres Mannes und um Ausreisepapiere. Es war das mexikanische Generalkonsulat unter Gilberto Bosques, das schließlich Hoffnung brachte – nicht nur für sie, sondern für viele Intellektuelle und Verfolgte. 1941 konnte sie mit ihren Kindern an Bord der Capitaine Paul-Lemerle nach Martinique ausreisen. Eine bizarre Fahrt, fast surreal, mit Mitreisenden wie André Breton und Claude Lévi-Strauss – ein Schiff voller Literatur, Theorie und Überlebenswillen. Auf der Weiterreise, als sie mit ihrer Familie New York erreichte und schon die Freiheitsstatue sehen konnte, wurde ihnen die Einreise in die USA unter fadenscheinigen Vorwänden verwehrt. Ein Bild, das hängen bleibt: Freiheit zum Greifen nah – und doch unerreichbar. Die mexikanische Hauptstadt wurde ihr schließlich zur neuen Heimat.

Mexiko wurde aber nie Heimat im eigentlichen Sinne. Der Schmerz blieb: Sie hatte es nicht geschafft, ihre Mutter aus Mainz zu retten. Die alte Frau starb in einem Konzentrationslager, und Seghers hat sich diesen Verlust, diese Schuld, nie verziehen. Es war eine Wunde, die auch durch literarischen Ausdruck nicht verheilte.

In Mexiko engagierte sich Seghers weiterhin politisch: Sie gründete den Heinrich-Heine-Klub, war eine treibende Kraft im antifaschistischen Widerstand im Exil und gab gemeinsam mit anderen die Zeitschrift Freies Deutschland heraus. In dieser Zeit entstand auch ihr bekanntestes Werk: Das siebte Kreuz. Der Roman erschien 1942 parallel in Mexiko (im Exilverlag El libro libre) und in einer englischen Ausgabe in den USA – ein Jahr später wurde er von Fred Zinnemann verfilmt. Die Geschichte eines Häftlings, der aus einem Konzentrationslager flieht, berührte einen Nerv – weltweit. Besonders in den USA wurde der Roman ein großer Erfolg. In einer Zeit, in der ein erheblicher Teil der amerikanischen Bevölkerung noch gegen einen Kriegseintritt der USA eingestellt war, trug Das siebte Kreuz entscheidend dazu bei, die Wahrnehmung des NS-Regimes zu verändern. Der Roman öffnete vielen die Augen – und half mit, die öffentliche Stimmung in Richtung eines entschlossenen Kampfes gegen den Nationalsozialismus zu wenden.

Kurz darauf, 1943, dann der schwere Autounfall in Mexiko. Seghers lag lange im Krankenhaus, erneut zwischen Leben und Tod. Es ist fast sinnbildlich für ihre Biografie – dieses ständige Schwanken zwischen Hoffnung und Bedrohung, zwischen Fortgehen und Festhalten.

Nach Kriegsende kehrte sie nach Europa zurück – nicht ins geliebte Mainz, sondern in die DDR. Sie wurde eine zentrale Figur im Kulturleben des neuen Staates, Präsidentin des Schriftstellerverbandes, eine Stimme des Sozialismus. Doch mit dieser Rolle ging auch ein Schweigen einher – etwa als ihr Verleger Walter Janka in Ungnade fiel und verhaftet wurde. Öffentlich schwieg Seghers. Sie blieb „auf Linie“. Hinter den Kulissen soll sie sich für seine Freilassung eingesetzt haben, aber öffentliches Eintreten? Fehlanzeige.

Und doch war da diese Sehnsucht. Nach Mainz, nach einer verlorenen Kindheit und sicherlich vor allem auch nach ihrer Mutter. Es dauerte bis 1981, ehe sie zur Ehrenbürgerin ihrer Heimatstadt ernannt wurde. Da war sie bereits eine alte, müde Frau. Sie starb 1983 in Berlin.

Anna Seghers war keine einfache Autorin. Keine, die sich auf ein Podest stellen lässt. Aber genau das macht sie so faszinierend. Sie hat geliebt, geglaubt, gezweifelt, gekämpft – und all das findet sich in ihrem Werk wieder.

Volker Weidermann – Brennendes Licht erschienen im Aufbau Verlag

Ein leises, beinahe tastendes Buch über Anna Seghers Zeit im mexikanischen Exil. Weidermann folgt ihr auf ihrer Flucht aus Nazi-Deutschland bis nach Mexiko – und erzählt nicht nur vom äußeren Weg, sondern auch von inneren Rissen. Freundschaften, Erfolge, Zweifel, Sehnsucht: alles ist da, aber nichts wird laut ausgesprochen. Alles bleibt immer irgendwie vage.

Spannend wird es, wenn Weidermann Seghers’ Welt in Mexiko ausleuchtet: der Heinrich-Heine-Club, die Begegnungen mit anderen Exilant*innen, der große Erfolg mit Das siebte Kreuz, der sie plötzlich weltberühmt machte. Und dann der Bruch – der schwere Unfall, die Zeit im Krankenhaus. Und doch wird Seghers später sagen: „Das waren die schönsten Jahre meines Lebens.“ Ein Satz, der hängen bleibt.

Besonders lebendig wird es, wenn er von den Menschen um sie herum erzählt: Kisch, Breton, Lévi-Strauss, über Exil und Eigensinn und furchtbar viel Spitzelei an jeder Ecke. Seghers selbst bleibt oft seltsam entrückt. Und der Stil – kurz, sehr leicht, manchmal fast zu sehr auf Wirkung geschrieben – hat mich ab und an ein bisschen rausgeworfen.

Trotzdem: ein kluges, empfindsames Porträt. Kein Denkmal, eher eine literarische Skizze – mit Licht, aber auch Schatten. Und genau das passt eigentlich ziemlich gut zu Anna Seghers finde ich.

Anna Seghers – Und habt ihr denn etwa keine Träume, Büchergilde Gutenberg


Der Erzählband, erschienen in der Büchergilde Klassik-Edition, ist für mich ein echtes Juwel – gerade weil er auch einige weniger bekannte Texte versammelt. Und ja, es ist keine leichte Lektüre. Die erste Geschichte, Die Ziegler, ist sprachlich fast expressionistisch, sprunghaft, fordernd. Man muss dranbleiben, sich einlassen, durchbeißen. Aber es lohnt sich.

„Der Ausflug der toten Mädchen“ ist sicherlich der emotionale Höhepunkt des Bandes. Die Geschichte bewegt sich zwischen Gegenwart und Vergangenheit, zwischen Erinnerung und Trauer. Seghers verarbeitet darin die Frage was ein junges Mädchen dazu bringt sich mutig gegen das Regime zu stellen und das andere sich dem Bösen hinzugeben. Es ist ein Text, der mich immer noch beschäftigt. Umso eindrücklicher, wenn man weiß, wie sehr er auch in Brennendes Licht reflektiert wird.

„Das Argonautenschiff“ hier schreibt Seghers 1947 in der Ostzone über „Schicksal, Heimat und Bindung“ sowie über die Suche nach einem Weg aus der Existenzkrise. Die Geschichte des Heimkehrers Jason, vormals Anführer der Argonauten, wurde seinerzeit ignoriert beziehungsweise war anscheinend auf Unverständnis gestoßen. Auch wieder keine einfache Kost diese Erzählung.

„Post ins gelobte Land“ erschienen 1944 erzählt sie die Geschichte des Juden Jakob Levi, der vor dem Kriege in Paris als geachteter Augenarzt Dr. Jacques Levi praktizierte.

„Reise ins Elfte Reich“ ist eine satirische Parabel in der Seghers konkrete Erfahrungen ihrer Flucht verarbeitet. Die Zeit der Handlung wird nicht genannt, die Orte der Handlung sind Berlin, das Innere eines zum Elften Reich fahrenden Zuges, die dortige Grenzstation sowie die Hauptstadt dieses fiktiven Landes.

Die 14 Erzählungen sind stilistisch sehr verschieden, von der Groteske über die Hymne bis zum Märchen ist gefühlt alles dabei. Sie erzählen oft von Flucht und Verlorenheit – in vielen Tonlagen. Mit manchen hatte ich durchaus meine Schwierigkeiten: „Wiedereinführung der Sklaverei in Gouadeloupe“ zB oder auch „Auf dem Weg zur amerikanischen Botschaft“, da wäre es ohne Sekundärliteratur gar nicht gegangen, musste mir bei dem Erzählband das eine oder andere Mal auf die Sprünge helfen lassen. Anna Seghers Sprache ist nicht gefällig, aber ehrlich. Kein Pathos, keine Pose. Literatur die man sich erarbeiten muss, die oft verwirrt, auch mal wehtut aber dafür auch mit Figuren und Gedanken belohnt, die einen lange beschäftigen.

Zwei Werke von Anna Seghers verdienen es, am Ende nicht unerwähnt zu bleiben – weil sie ihre literarische Kraft vielleicht am klarsten zeigen und auch den politischen Rahmen ihrer Zeit am eindringlichsten spiegeln: Transit (1944), ein Exilroman zwischen Fluchthorror, Wartesaalgefühl und Identitätsverlust, und Das siebte Kreuz (1942), das wohl bekannteste Werk, das nicht nur durch die Verfilmung weltweite Beachtung fand, sondern auch einfach ein wahnsinnig wichtiges antifaschistes Werk ist.

Beide Bücher werde ich in nächster Zeit (wieder)lesen und auf dem Blog besprechen – weil sie nicht nur literarisch spannend sind, sondern auch helfen, Anna Seghers als Autorin und Mensch besser zu verstehen. Ich würde auch empfehlen eher mit ihren Romanen zu beginnen, die Erzählungen können meiner Ansicht nach schon recht herausfordernd sein.

Transparenz-Hinweis:
Die beiden Bücher „Brennendes Licht“ sowie „Und habt ihr denn etwa keine Träume“ wurden mir im Rahmen einer Kooperation von Bookbot zur Verfügung gestellt. Ich mag an Bookbot besonders, dass man durch das Foto immer genau sieht, welche Ausgabe man tatsächlich bestellt – das ist gerade bei besonderen Ausgaben wie der Büchergilden-Edition für mich ein echter Pluspunkt. Der Bestellvorgang war unkompliziert, die Bücher kamen schnell und genau so an, wie beschrieben. Verkauft habe ich dort bisher noch nichts – aber beim nächsten Regal-Ausmisten ist das fest eingeplant.

Wie geht es euch mit Anna Seghers? Bin sehr gespannt auf eure Rückmeldungen zur Autorin und auch zu der neuen Reihe – ist das etwas was ihr gerne lesen wollt?