Mexiko ist ein Land voller Gegensätze – faszinierend, widersprüchlich, oft von außen auf Klischees reduziert. Die Bilder reichen von Traumstränden und farbenfrohen Festen bis hin zu Schlagzeilen über Gewalt und Migration. Doch dazwischen liegt ein Land mit einer tief verwurzelten Geschichte, einer vielfältigen Kultur und einer Gegenwart, die nicht in einfachen Erzählungen aufgeht.
Für mich war Mexiko lange ein Ort, den ich vor allem aus Filmen, Musik und Schlagzeilen kannte. Erst mit der Lektüre wurde mir zumindest etwas klarer, wie viele Schichten dieses Land prägen: die Spuren präkolumbischer Hochkulturen, die Brüche der Kolonialisierung, die Hoffnungen und Enttäuschungen der Revolution, die Kämpfe um Gerechtigkeit heute. Ich war noch nie dort und könnte ich mich beamen, würde ich vielleicht mal eine Reise dorthin machen, aber ich fliege immer weniger gern, von daher wird es wohl bei diesem Stopp hier bleiben.





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Ich beginne mal direkt mit den vergleichenden Daten:
- Fläche: Mit etwa 1,964 Millionen km² ist Mexiko rund fünfmal so groß wie Deutschland (≈ 357.000 km²).
- Bevölkerung: Rund 130 Millionen Menschen leben in Mexiko (Stand 2025), etwa eineinhalb Mal so viele wie in Deutschland (ca. 84 Millionen).
- Bevölkerungsdichte: Mexiko ist (abhängig von Region) gemischt besiedelt — in Ballungszentren wie Mexiko-Stadt oder Monterrey sehr dicht, in dünn besiedelten Gebieten im Norden oder im Hochland weit weniger.
- Wirtschaft: Mexiko ist eine der größten Volkswirtschaften Lateinamerikas, mit bedeutendem industriellem Sektor (Automobilproduktion, Elektronik, Öl), starkem Dienstleistungssektor und zugleich großen Disparitäten zwischen armen und reichen Regionen und ausgeprägter Abhängigkeit vom Export, z. B. in die USA.
Die Geschichte Mexikos ist eine Geschichte von Eroberung, Widerstand und Erneuerung. Lange vor der Ankunft der Spanier existierten Hochkulturen wie die Olmeken, Maya, Zapoteken und Azteken — Gesellschaften mit beeindruckender Architektur, Astronomie, Schrift und Religion. Mit der Ankunft der Konquistadoren im 16. Jahrhundert begann eine gewaltsame Kolonialisierung, unter der indigene Bevölkerungen epidemisch dezimiert, Land enteignet und Kulturen unterdrückt wurden.
Im 19. Jahrhundert erkämpfte sich Mexiko die Unabhängigkeit (1821), doch politische Instabilität, Interventionen aus dem Ausland (z. B. der Amerikanisch-Mexikanische Krieg 1846–48) und interne Konflikte prägten das 19. Jahrhundert. Die Revolution von 1910–1920 brachte tiefgreifende soziale Umwälzungen, Landreformen, neue politische Bewegungen – aber auch Gewalt, Machtkämpfe und enttäuschte Hoffnungen.
Im 20. und 21. Jahrhundert ist Mexiko mit Herausforderungen wie Drogenkartellen, Korruption, sozioökonomischen Ungleichheiten, Umweltproblemen und Migration konfrontiert. Gleichzeitig erleben wir eine reiche kulturelle Vitalität. In Gesellschaft und Politik wachsen Spannungen: Indigene Rechte, Landansprüche, Fragen der Identität, Geschlechtergerechtigkeit und Gewalt gegen Frauen sind drängende Themen. Zugleich gibt es Hoffnungsträger*innen – Aktivist*innen, Künstler*innen, Intellektuelle, die mit Mut und Kreativität intervenieren.
Die rechtliche Situation der LGBTQ+ Community hat in den letzten Jahren deutliche Fortschritte gemacht: 2022 wurde die gleichgeschlechtliche Ehe in allen Bundesstaaten Mexikos legal, nachdem der letzte Staat (Tamaulipas) ein entsprechendes Gesetz verabschiedete.
Ein weiterer Schritt: Der mexikanische Senat hat ein Gesetz verabschiedet, das sogenannte “Conversion Therapy” untersagen will. Trotz dieser Fortschritte ist die Situation im Alltag für viele LGBTQ+ Menschen weiterhin schwierig. Gewalt, Diskriminierung und Hassverbrechen bleiben ein großes Problem. Besonders Trans-Personen sind überproportional von Morden betroffen: Zwischen Oktober 2023 und September 2024 wurden mindestens 71 Trans- oder gender-diverse Personen getötet.




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Ein Beispiel für ein positives Signal: In Mexiko-Stadt wurde ein Gesetz erlassen, das “Transfemizid” als Verbrechen anerkennt – also gezielte Tötungen von trans Frauen. Das ist ein wichtiger Schritt, um die oft bestehende Straflosigkeit solcher Gewalt besser zu bekämpfen.
Seit dem 1. Oktober 2024 ist Claudia Sheinbaum die Präsidentin Mexikos – die erste Frau, die dieses Amt innehat. Sie bringt eine ungewöhnliche Kombination aus wissenschaftlichem Hintergrund, politischer Erfahrung und sozialem Anspruch mit: Sie hat Energie- und Umweltwissenschaften studiert und war vorher u.a. bereits Regierungschefin von Mexico City.
Ein Bereich, in dem sie besonders aktiv ist, ist ihre Fokussierung auf soziale Programme und Armutsbekämpfung – sie setzt viele der Initiativen ihres Vorgängers fort, mit dem Ziel, Ungleichheiten zu verringern. Gleichzeitig versucht sie, politische Stabilität mit einer gewissen Rationalität und wissenschaftlicher Herangehensweise zu verbinden: Bei Themen wie Klimaschutz, nachhaltiger Entwicklung und öffentlicher Gesundheit sieht man bereits, dass sie nicht nur symbolische Politik macht, sondern versucht, konkrete Strukturen zu etablieren.
Auch in außen- und handelspolitischen Fragen zeigt sie sich selbstbewusst: Sie will Mexiko gegenüber den USA und anderen Partnern stärker vertreten sehen und technologische Innovation fördern. Natürlich gibt es auch Kritik und große Herausforderungen: Gewalt (insbesondere durch Kartelle), Ungleichheiten, Korruption, regionale Unterschiede in der Umsetzung von politischen Maßnahmen. Aber selbst Menschen, die ihre Politik skeptisch sehen, erkennen an, dass sie versucht, das Amt anders zu führen – mit Pragmatismus, mit Blick auf soziale Gerechtigkeit und mit dem Anspruch, Mexiko in seiner Komplexität gerecht zu werden.
Gelesen habe ich für diesen Stopp zwei Bücher, die ich euch vorstellen und beide auch ans Herz legen möchte:
The Illiac Crest – Cristina Rivera Garza erschienen im Verlag And Other stories, übersetzt von Sarah Booker (eine deutsche Übersetzung gibt es bislang nicht)
Cristina Rivera Garza, geboren 1964 in Matamoros im mexikanischen Bundesstaat Tamaulipas, ist eine der bedeutendsten Stimmen der zeitgenössischen lateinamerikanischen Literatur. Sie studierte Soziologie in Mexiko, promovierte in Geschichte in den USA und lehrt heute Creative Writing in Houston. Rivera Garza ist bekannt für ihre literarischen Experimente, in denen sie Genregrenzen überschreitet und Fragen nach Identität, Sprache und Macht in eindringliche Bilder übersetzt.
Ihr Roman The Iliac Crest ist dafür ein besonders gutes Beispiel. Die Geschichte beginnt mit einem klassischen, „gothic trope“: In einer stürmischen Nacht taucht eine geheimnisvolle Frau beim Erzähler auf, einem Arzt, der in einem Sanatorium arbeitet. Sie behauptet, die mexikanische Schriftstellerin Amparo Dávila zu sein, eine Autorin, die für ihre unheimlichen und fantastischen Erzählungen bekannt ist. Von diesem Moment an gerät die Realität ins Wanken: Die Besucherin stellt das Leben, die Identität und schließlich das Geschlecht des Erzählers infrage. Je tiefer er in ihr Spiel hineingezogen wird, desto mehr verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und Einbildung, zwischen Normalität und Wahnsinn.
Das Buch entfaltet eine düstere, rätselhafte Atmosphäre, die sich weniger durch spektakuläre Handlung als durch die subtile Verunsicherung trägt, die Rivera Garza meisterhaft erzeugt. Wiederholungen, Andeutungen, fragmentierte Bilder – alles scheint zu bedeuten und doch entzieht sich die Bedeutung. Der titelgebende Hüftknochen wird zum Symbol für Körperlichkeit, Identität und Verletzlichkeit, während das Schweigen und die Leerstellen ebenso viel Gewicht haben wie die Worte. In dieser Zwischenwelt aus Sturm, Nacht und verschobener Wahrnehmung entsteht ein Sog, der mich nicht losgelassen hat.
Besonders eindrucksvoll fand ich, wie Rivera Garza die Frage nach Geschlecht und Identität behandelt: nicht als These oder Statement, sondern als unheimliches, poetisches Gleiten, das den Leser zwingt, vertraute Kategorien infrage zu stellen. Gleichzeitig ist „The Iliac Crest“ eine Hommage an vergessene Schriftstellerinnen, an Stimmen, die aus Archiven und Randbereichen wieder ans Licht geholt werden.
Wer sich auf diese verschattete, vieldeutige Welt einlässt, findet in „The Iliac Crest“ ein Werk von fast schon hypnotischer Intensität – ein Buch, das weniger Antworten gibt als Fragen stellt und gerade darin seine Kraft entfaltet.
Die Schwerelosen – Valeria Luiselli erschienen im Kunstmann Verlag, übersetzt von Dagmar Ploetz
Valeria Luiselli, geboren 1983 in Mexiko-Stadt, gehört ebenfalls zu den spannenden literarischen Stimmen Mexikos. Sie wuchs in Südafrika, Indien und den USA auf, lebt heute in Mexiko und New York und schreibt auf Spanisch sowie auf Englisch. Ihre Werke bewegen sich an der Grenze zwischen Fiktion, Essay und Autofiktion, oft mit einer spielerischen Leichtigkeit im Ton, die sich mit einer präzisen, manchmal fast schon schmerzhaften Beobachtungskraft verbindet.
Die Schwerelosen ist ihr Debütroman – und schon darin zeigt sich, wie souverän Luiselli Sprache und Erzählform handhabt. Erzählt wird aus der Perspektive einer jungen Mutter und Schriftstellerin, die in New York lebt und versucht, über ihre Erfahrungen zu schreiben. Doch ihr Text öffnet sich in verschiedene Richtungen: hinein in ihre Erinnerungen an ihre Zeit als Lektorin, hinein in das Leben des mexikanischen Dichters Gilberto Owen, der in den 1920er Jahren ebenfalls in New York lebte, und hinaus in eine Art Zwischenraum, in dem Stimmen, Zeiten und Identitäten miteinander verschwimmen.
Der Roman spielt virtuos mit Spiegelungen und Überlagerungen. Die Erzählerin glaubt, Owen im U-Bahn-Fenster gesehen zu haben, während Owen wiederum eine Frau zu erkennen meint, die wie eine Erscheinung durch sein Leben streift. Es entstehen Dopplungen, Durchlässigkeiten, Verschiebungen – als würden Figuren und Erzählerinnen in der Schwebe gehalten, schwerelos, wie der Titel sagt.
Besonders gefallen hat mir auch hier die Atmosphäre des Romans: Sie ist zugleich leicht und melancholisch, schwebend aber auch verwirrend. Luiselli schafft es, in wenigen, fast skizzenhaften Szenen große Stimmungen aufzubauen. Ihr Schreiben ist voller literarischer Anspielungen, aber nie prätentiös, eher verspielt, neugierig, durchlässig.
„Die Schwerelosen“ ist ein Roman über Literatur, Erinnerung und Identität, aber auch über die fragile Balance zwischen Alltag und künstlerischem Schaffen, zwischen Familienleben und imaginativen Räumen. Wer sich auf die fragmentarische, poetische Struktur einlässt, bekommt ein Buch, das nicht linear erzählt, sondern wie in einem Schwebezustand Gedanken und Figuren miteinander verknüpft. Ein vielstimmiges, experimentierfreudiges Debüt, das eine ganz eigene Welt erschafft.
Natürlich dürfen auch musikalische und filmische Tipps nicht fehlen. Eine Band aus Mexiko die ich sehr gerne mag ist Hello Seahorse!
Eine Post-Rock Band darf natürlich auch nicht fehlen. Hier mag ich besonders die Band Austin TV:
Wenn ich jetzt noch meinen Film Tipp loswerde, habe ich es tatsächlich geschafft einen ganzen Artikel über Mexiko zu schreiben, ohne Frida Kahlo zu erwähnen…
„La región salvaje“ / The Untamed (2016) von Amat Escalante hab ich vor ein paar Jahren auf dem Fantasy Filmfest gesehen und sehr gemocht – Tantacle Lovers kommen hier besonders auf ihre Kosten 😉
Ansonsten habe ich tatsächlich bisher erst einen weiteren Roman mexikanischer Autor*innen gelesen und zwar:
- Bittersüße Schokolade – Laura Esquivel
Ein Roman der zumindest in Mexiko spielt und sich mit Anna Seghers und ihrer Zeit in Mexiko beschäftigt ist der Roman „Brennendes Licht“ von Volker Weidermann den ich ebenfalls sehr empfehlen kann.
Jetzt seid ihr dran – was verbindet ihr mit Mexiko? Seid ihr schon mal dagewesen, oder plant ihr eine Reise? Welche Bücher / Filme / musikalischen Tipps habt ihr für mich?
Wer noch mal zu den vorherigen Stationen (Sri Lanka, Italien, Trinidad & Tobago, Nigeria, Südkorea, China, Israel, Belarus, Japan, DR & Republik Kongo, USA, Polen, Chile, Afghanistan, Vietnam, Ukraine, Mauretanien) zurückreisen möchte wird in meiner Kategorie „Read around the World“ fündig.




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