Lektüre Februar 2023

Meine Februar Lektüre war geprägt von einer Arbeits/Urlaubsreise nach Paris, daher mag ich damit starten und habe dieses Mal keine Lust auf alphabetische Reihenfolge. Steigt ein, der Zug fährt in wenigen Minuten ab und wir treffen uns dann am Gare de L’Est 🙂 Wie der große Walter Benjamin schon sagte: Paris ist ein großer Bibliothekssaal, der von der Seine durchströmt wird – wir haben also einiges zu besprechen:

Becoming Beauvoir – Kate Kirkpatrick auf deutsch unter dem Titel „Simone de Beauvoir – ein modernes Leben“ im Piper Verlag erschienen, übersetzt von Erica Fischer, Christine Richter-Nilsson

„Becoming Beauvoir“ ist eine Biografie der französischen existenzialistischen Philosophin und Feministin Simone de Beauvoir von Kate Kirkpatrick die auf bislang unveröffentlichte Tagebücher und Briefe zurückgreift. Kate Kirkpatrick, Dr. phil., unterrichtete an der University of Hertfordshire, am St Peter’s College, University of Oxford, sowie am King’s College in London. Aktuell ist sie Fellow in Philosophie am Regent’s Park College, University of Oxford. Das Buch untersucht Beauvoirs Leben und ihre intellektuelle Entwicklung, von ihrer Kindheit in einer bürgerlichen Familie in Paris bis zu ihrem Aufstieg zu einer bedeutenden Feministin und existenzialistischen Denkerin. Kirkpatrick untersucht die wichtigsten Themen und Ideen in Beauvoirs Werk, darunter ihre Kritik am Patriarchat und den Geschlechterrollen, ihre Vorstellungen von Freiheit und Authentizität sowie ihre Beziehung zu Jean-Paul Sartre. Die Biografie beleuchtet auch Beauvoirs persönliches Leben, einschließlich ihrer langjährigen Liebesbeziehung zu Sartre und ihrer Erfahrungen als Frau im Frankreich der Mitte des 20. Jahrhunderts.

Ich bekam die Biografie bereits vor 2 Jahren zu Weihnachten geschenkt, wollte sie aber unbedingt in oder auf dem Weg nach Paris lesen und dann vor Ort de Beauvoirs Spuren folgen. Sie ist eine wahnsinnig spannende Frau über die ich schon sehr viel gelesen habe und obwohl das bei Weitem nicht meine erste Biografie war, hat mir Kirkpatricks Biografie mit Abstand am besten gefallen. Sie setzt vieles noch mal in Relation, findet immer wieder spannende, neue Perspektiven. Ganz große Empfehlung! Eine gut verständliche, tiefblickende intellektuelle Lektüre.

But that is my way. I have (sic) rather not things at all as doing them mildly.

She didn’t believe that any single point in her life showed „the“ Simone de Beauvoir because „there is no instant in a life where all moments are reconciled

Die schwarzen Fahnen von Paris – Leonard Fuest erschienen im Corso Verlag

Die „Stadt der Liebe“ in einem anderen Licht. Leonhard Fuest geht auf besonderen Spuren: Er folgt Dichtern und Denkern ins Labyrinth ihrer Gedanken und Texte. Der Leser begegnet dem verstörten Flaneur Charles Baudelaire, dem schlaflosen Aphoristiker E. M. Cioran, dem melancholischen Intellektuellen Roland Barthes, dem deprimierten Zyniker Michel Houllebecq – sie und andere tauchen die Stadt an der Seine in das Licht der schwarzen Sonnen.

Immer wenn ich Paris besucht habe, überkommen mich Zweifel. Bin ich wirklich dort gewesen? Aber ja, ich bin doch durch viele Straßen gelaufen, habe Menschen und Plätze und Gebäude gesehen und allerlei erfahren, wovon ich erzählen könnte. Indes: Wo genau in Raum und Zeit habe ich mich denn aufgehalten? War es nicht so, dass ich an jedem Tag durch die verschiedensten Epochen und Zeitläufe gegangen bin?

The Paris Bookseller – Kerri Maher auf deutsch unter dem Titel „Die Buchhändlerin von Paris“ im Suhrkamp Verlag erschienen, übersetzt von Claudia Feldmann

Eine Buchhandlung mitten in Paris. Für die junge Amerikanerin Sylvia Beach ist ein Traum in Erfüllung gegangen. Dass sie mit »Shakespeare & Company« in die Geschichte der Weltliteratur eingehen wird, ahnt sie bei der Eröffnung 1919 nicht. Schon bald wird »Shakespeare & Company« zum literarischen Treffpunkt in Paris: Hemingway, Gide, Valéry und Gertrude Stein gehen hier ein und aus – und nicht zuletzt aber James Joyce. Als nach Abdruck einzelner Episoden die vollständige Publikation seines umstrittenen Romans Ulysses verboten wird, ist es die unerschrockene Sylvia Beach, die ihn gegen alle Widerstände veröffentlicht  – und damit ihre ganze Existenz aufs Spiel setzt.

Doch in der gleichgesinnten französischen Buchhändlerin Adrienne Monnier findet Sylvia Beach nicht nur eine wagemutige Mitstreiterin, sondern auch die Liebe ihres Lebens.

Ein Roman über zwei starke Frauen, das »gefährlichste Buch des Jahrhunderts« und eine Liebe im Paris der zwanziger Jahre.

Paris? Check – Lesbische Buchändlerinnen? Check – die literarische haute volée der 20 Jahre? Check und ja, ich mochte das Buch sehr, ABER es war mir stellenweise einen Hauch zu schmalzig. Habe vor einer ganzen Weile Sylvia Beachs „Shakespeare & Company“ gelesen, ihr autobiografischer Bericht über den Buchladen und das Buch gefiel mir ein kleines bißchen besser, weil eben nicht ganz so schmonzettig, aber das ist Jammern auf hohem Niveau – ich mochte das Buch ansonsten schon sehr.

I hold it true, whate’er befall; I feel it, when I sorrow most; ’Tis better to have loved and lost than never to have loved at all.

Madame de Staël – Maria Fairweather erschienen bei Carroll & Graf Publishers New York

Zu ihren Lebzeiten wurde allgemein gesagt, dass es in Europa drei politische Mächte gab – Großbritannien, Russland und Madame de Stäel. Byron beschrieb sie als „die erste weibliche Schriftstellerin dieses, vielleicht jedes Zeitalters“. Germaine de Stäel war zweifellos die bemerkenswerteste Frau ihrer Zeit, und sie bleibt einzigartig – sowohl wegen des Umfangs ihrer künstlerischen und intellektuellen Leistungen als auch wegen der Kraft ihres politischen Einflusses, der zum Sturz Napoleons beitrug. Germaine de Stäel wurde 1766 in Paris als Tochter von Jacques Necker, dem einflussreichen und reformorientierten Finanzminister Ludwigs XVI. geboren und wuchs im Salon ihrer Mutter inmitten der Philosophen der französischen Aufklärung auf. Mit ihrem erstaunlichen und disziplinierten Intellekt, ihrem Bedürfnis nach Liebe und ihrer Freiheitsliebe sowie ihrem bemerkenswerten Mut im öffentlichen wie im privaten Leben setzte sich Germaine de Stäel über Gefahren und Konventionen hinweg, oft um den Preis eines hohen Preises.

Ihre Bücher waren meist schon wenige Monate nach ihrem Erscheinen ausverkauft. Immer wieder bewies sie Skeptikern (milde ausgedrückt) wie Lord Byron und schließlich sogar Napoleon, dass sie besser zuhören und ihre Ideen berücksichtigen und sie sich besser nicht zum Feind machen sollten.

Mir hat die Biografie gut gefallen, ich habe eine Menge gelernt und erfahren über eine ganz und gar ungewöhnliche Frau, die ich sehr gerne kennengelernt hätte. Nichtsdestotrotz hätte das Buch für mich gerne ein ganzes Stück kürzer sein dürfen.

Lord Byron: „‘I do not love Madame de Staël but depend upon it – she beats all your natives hollow as an Authoress – in my opinion – and I would not say this if I could help it.’ In his diary he admitted: ‘she is a woman by herself and has done more than the rest of them together, intellectually – she ought to have been a man’“

A history of wild places – Shea Ernshaw erschienen bei Atria / Schuster & Schuster

Travis Wren hat ein ungewöhnliches Talent für das Aufspüren vermisster Personen. Oft von Familien als letzter Ausweg angeheuert, übernimmt er den Fall von Maggie St. James – einer bekannten Autorin düsterer, makabrer Kinderbücher – und wird bald an einen Ort geführt, den viele nur für eine Legende hielten.

Diese zurückgezogene Gemeinschaft mit dem Namen Pastoral wurde in den 1970er Jahren von Gleichgesinnten auf der Suche nach einer einfacheren Lebensweise gegründet. Allem Anschein nach sollte die Kommune nicht mehr existieren, und kurz nachdem Travis über sie gestolpert ist… verschwindet er. Genau wie Maggie St. James.

Jahre später entdeckt Theo, ein lebenslanges Mitglied von Pastoral, Travis‘ verlassenen Truck jenseits der Grenze der Gemeinschaft. Niemand darf rein oder raus, nicht, wenn die Gefahr besteht, dass eine Krankheit – eine Seuche – nach Pastoral eingeschleppt wird. Die Enträtselung des Geschehens bringt Geheimnisse ans Licht, die Theo, seine Frau Calla und ihre Schwester Bee voreinander verbergen. Geheimnisse, die beweisen, dass ihre perfekte, isolierte Welt nicht so sicher ist, wie sie glaubten – und dass die Dunkelheit

Die Zeichnung der Charaktäre war richtig gut, die spannende Atmosphäre unheimlich gelungen. Eine kluge, düstere, spannende und sehr empfehlenswerte Reise, die man nicht verpassen sollte! Es ist der erste Roman der Autorin den sie nicht für ein „Young Adult“ Publikum geschrieben hat und er hat auch in unserem sonst oft sehr strengen Bookclub ordentlich Punkte eingefahren. Volle Empfehlung!

There is no history in a place until we make it, until you live a life worth remembering.

Silence can hold a thousand untold stories.

Die Welt geht unter, und ich muss trotzdem arbeiten – Sara Weber erschienen im Kiepenheuer & Witsch Verlag

Im März 2020 änderte sich alles. Homeoffice war plötzlich die neue Norm. Alle mussten sich digitalisieren und transformieren – ob sie wollten oder nicht. Die Arbeit drängte weiter ins restliche Leben, zur Erwerbsarbeit kam noch mehr Carearbeit. Die Schere zwischen systemrelevanten Berufen und Bürojobs ging weiter auf. Covid hat uns gezeigt, was in der Arbeitswelt nicht mehr funktioniert.

Und da ist nicht nur die Pandemie. Überschwemmungen, Waldbrände, Inflation, Krieg – unsere Welt steht in Flammen, im wahrsten Sinne des Wortes. Und wir? Brennen aus, um bloß keine Deadline zu reißen. Was zur Hölle machen wir da eigentlich? Warum tun wir uns das an?

Immer mehr Menschen stellen sich diese Fragen, einige ziehen Konsequenzen. In den USA hat der Trend sogar schon einen Namen: „The Great Resignation“, das große Kündigen. Es bricht eine neue Ära an, aber weder durch agile Methoden noch durch Yoga im Alltag wird es gelingen, ein für uns alle und für den Planeten verträgliches Wirtschaften zu realisieren. Wir müssen uns überlegen, wie Arbeit heute und morgen wirklich funktionieren kann – mit einem Fokus auf Gerechtigkeit, Zukunftsfähigkeit und den Menschen.

Ein Buch das ich bereits mehr als einmal verschenkt habe und das die Fragen und Probleme unserer Zeit einfängt und auf den Punkt bringt. Mein Hörbuch des Monats!

„Am Anfang klatschten wir noch für die Pflegekräfte vom Balkon, trugen brav unsere selbst genähten Masken. Aber irgendwann wurde das Klatschen leiser. Viele Menschen waren einfach viel zu müde vom Home-schooling und all den Meetings und der zwölften Diskussion über die Impfung. Wir hatten uns nichts mehr zu erzählen, denn niemand erlebte irgendwas – außer Arbeit.“

Darm mit Charme – Giulia Enders erschienen im Ullstein Verlag

Unser Darm ist ein fabelhaftes Wesen voller Sensibilität, Verantwortung und Leistungsbereitschaft. Wenn man ihn gut behandelt, bedankt er sich dafür. Das tut jedem gut: Der Darm trainiert zwei Drittel unseres Immunsystems. Aus Brötchen oder Tofu-Wurst beschafft er unserem Körper die Energie zum Leben. Und er hat das größte Nervensystem nach dem Gehirn. Allergien, unser Gewicht und eben auch unsere Gefühlswelt sind eng mit unserm Bauch verknüpft. In diesem Buch erklärt die junge Wissenschaftlerin Giulia Enders, was die medizinische Forschung Neues bietet und wie wir mit diesem Wissen unseren Alltag besser machen können. Die dazu gehörigen Illustrationen stammen aus der Feder ihrer Schwester Jill. Die aktualisierte Neuauflage wird um ein Kapitel ergänzt: Die Schwestern Enders geben hier ein Update zu neuen Forschungsergebnissen und der Welt der Mikroben

Wer mehr über eines unserer wichtigsten Bereiche unseres Körpers lernen will sei Enders Buch auf jeden Fall empfohlen. Sie hat nicht nur Tipps zum richtigen Kacken auf Lager, sondern auch eine ganze Menge Hintergrundwissen über ein Organ, das einem in der Regel eher unangenehm ist und das nicht gerade das beste Image hat.

Übergewicht, Depressionen und Allergien hängen mit einem gestörten Gleichgewicht der Darmflora zusammen und wir tun alle gut daran uns ein kleines bißchen mehr mit diesem hochkomplexen Organ zu beschäftigen und es in Schwung zu halten. Gelegentlich hat mich die etwas bemüht lustige Sprache genervt, aber insgesamt ein gelungenes Buch.

Die Wissenschaft hat mit dem Mikrobiom ein Problem, dass die Generation Google gerade auch hat: Wir stellen eine Frage – und sechs Millionen Quellen antworten uns gleichzeitig. Da sagt man nicht einfach „Jetzt jeder nocheinmal einzeln“. Wir müssen kluge Bündel packen, deftig aussortieren und wichtige Muster erkennen.

Der Inselmann – Dirk Geiselmann erschienen im Kiepenheuer & Witsch Verlag

Anfang der Sechziger in einem entlegenen Teil Deutschlands. Das Ehepaar Roleder zieht auf eine unbewohnte Insel inmitten eines großen Sees. Es ist eine Flucht nach innen, vor der Stadt und der Wirklichkeit. Mit dabei ist ihr Sohn Hans, der auf der Insel ein neues Zuhause findet. Und noch so viel mehr. Denn mit der Zeit scheint der schüchterne Junge geradezu mit der Insel, den Bäumen, dem Laub, dem Moos und dem Gestein zu verwachsen. Hans wird zum König der Insel. Bis, mit dem Bescheid der Schulbehörde, die Realität in seine kleine große Traumwelt einbricht und ihn von Insel und Eltern trennt. Es ist der Beginn einer beschwerlichen Odyssee, gelenkt zunächst von gnadenlosen Institutionen des Staates und schließlich dem einen großen, pochenden Wunsch: zurückzukehren auf seine Insel, in die ersehnte Einsamkeit im Schatten der Welt. Doch: Wie wird die Insel, wie werden die Eltern ihn empfangen?

Dirk Gieselmanns Debüt ist die faszinierende literarische Studie eines Insellebens und erzählt von der Sehnsucht nach Einsamkeit in einer Gesellschaft, die das Individuum niemals alleine lässt, im Guten wie im Schlechten. »Der Inselmann« ist ein Roman, der nachhallt, voller berückender Bilder, leuchtender Sätze und magischer Kulissen.

„Hans wollte sie beide umarmen, den Vater, die Mutter, damit sie und diese Welt nicht gleich wieder zerbräche, ganz fest umarmen, damit alles heil bliebe und eins.“

Eine ruhige, poetische Geschichte mit wunderschönen Naturbeschreibungen – habe ich sehr gerne gelesen.

Der Ursprung der Welt – Liv Strömquist erschienen im Avant Verlag übersetzt von Katharina Erben

In „Der Ursprung der Welt“ zeichnet die Autorin Liv Strömquist die Kulturgeschichte der Vulva nach – von der Bibel bis Freud, vom unbeholfenen Biologieunterricht bis hin zur aktuellen Tamponwerbung. Sie bedient sich des Mediums Comic, um in sieben Episoden auf nonchalante und scharfsinnige Art die noch immer geltenden patriarchalen Machtverhältnisse in Frage zu stellen und bestehende Probleme pointiert zu benennen.

Die studierte Politikwissenschaftlerin Liv Strömquist ist nicht nur eine umtriebige Künstlerin, sondern auch eine über die Grenzen der schwedischen Comic-Szene hinaus viel beachtete Stimme, die ihre politische Haltung und das soziologische Interesse zu feministischen und popkulturellen Phänomenen in den Fokus ihres Schaffens stellt. In ihren beliebten TV- und Radioformaten geht sie mit bissigem Humor und vernichtender Kritik gegen bestehende gesellschaftliche Machtstrukturen an.

Sieben Nächte – Simon Strauss erschienen im Aufbau Verlag

Es ist Nacht, ein junger Mann sitzt am Tisch und schreibt. Er hat Angst. Davor, sich entscheiden zu müssen. Für eine Frau, einen Freundeskreis, einen Urlaubsort im Jahr. Er hat Angst, dass ihm das Gefühl abhandenkommt. Dass er erwachsen wird. Doch ein Bekannter hat ihm ein Angebot gemacht: Sieben Mal um sieben Uhr soll er einer der sieben Todsünden begegnen. Er muss gierig, hochmütig und wollüstig sein, sich von einem Hochhaus stürzen, den Glauben und jedes Maß verlieren. »Sieben Nächte« ist ein Streifzug durch die Stadt, eine Reifeprüfung, die vor zu viel Reife schützen soll, ein letztes Aufbäumen im Windschatten der Jugend.

Dieses Büchlein steht zu Recht ganz am Ende – puh ist mir das auf die Nerven gegangen. Das jammerige Mimimi des Jungmannes der rumheult weil er bald 30 wird und dem die Welt nicht romantisch genug ist, hab ich nicht ganz so gut ertragen. Es gab ein paar schöne Sätze und es war ja auch nicht wirklich lang, daher kann man das schon lesen, aber für mich war das nix. Simon Strauß habe ich vor meinem geistigen Auge als Baby gesehen der schon mit Wildleder-Patches am Ellbogen auf die Welt gekommen ist…

Ich, der ich von Anfang an dicht bei der warmen Heizung gesessen habe, immer schon satt gefüttert, mit allen Chancen versehen. Das Opernabo gleich bei der Geburt abgeschlossen. Ich bin schon als Schwächling auf die Welt gekommen, und meine Privilegien haben mich nur noch weiter geschwächt. Was Gefahr heißt, habe ich nie gespürt….

So meine Lieben, das war es für diesen Monat. Ich hoffe es war etwas dabei für euch! Worauf konnte ich euch Lust machen, welche der vorgestellten Bücher kennt ihr oder möchtet ihr gerne gelesen. Ich hoffe, ihr habt jetzt wenigstens ein Taxi nach Paris bestellt 😉

Nächsten Monat wird es wissenschaftlich-physikalisch, soviel verrate ich schon mal. Ich freue mich sehr von Euch zu hören!

Naxos by the Book

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Das Erste, was auf Naxos überrascht, ist der Wind. Ein stürmischer Wind, der schon Odysseus im Ägäischen Meer so einigen Ärger bereitete, uns aber überwiegend wohltuende Abkühlung brachte und der so ganz anders ist, als die Stürme hier bei uns, ohne dunkle Wolken, Regen und bei strahlend blauem Himmel.

Nach dem eher abenteuerlustigen Urlaub in Kanada im letzten Jahr wollten wir dieses Jahr wieder einfach ein kleines weißes Häuschen am Meer mieten, jede Menge Bücher einpacken und planlos in den Tag hineinleben.

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Naxos ist die größte der Kykladen-Inseln mit etwa 6500 Einwohnern, sie ist recht bergig und da es an den Berggipfeln regelmäßig Niederschläge gibt, ist die Insel auch verhältnismäßig grün. Schon Herodotus (zu dem gibt es in den nächsten Tagen einen gesonderten Beitrag hier) beschrieb die Insel als eine der Reichsten.

Berühmt sind insbesondere die Kartoffeln auf Naxos und ich muss ehrlich zugeben, die haben wirklich sehr gut geschmeckt, denn eigentlich mag ich Kartoffeln überhaupt nicht und habe die Bingereader-Gattin ziemlich überrascht, als ich freiwillig des Öfteren Kartoffeln bestellte.

Es gedeihen aber nicht nur Kartoffeln sehr gut auf Naxos, auch sonst gibt es sehr leckeres Obst, Gemüse und frische Kräuter, daher erschien uns ein Kochkurs eine überaus gute Idee. Die Zutaten kamen direkt von Dimitris Farm und seine bezaubernde Mama, die Kochlehrerin, freute sich sehr über die Erfolge ihrer Kochschützlinge – diese wurden großzügig mit Umarmungen und Bussis belohnt. Wir kochten:

Yemista: mit Reis gefülltes Gemüse
Kolokythokeftedes: Zucchinibällchen mit Feta
Sfougata: Zucchini-Omelette
Tzatziki und
Hühnchen in Tomatensauce

Wir haben gelernt, das Geheimnis guter Küche ist auf jeden Fall immer eine Menge Olivenöl 😉

 

Naxos hat traumhafte Strände, wir fühlten uns teilweise fast in die Karibik versetzt und es gab auch ein paar interessante antike Ruinen zu erwandern. Insgesamt ein rundum perfekter Urlaub.

 

Die passende Lektüre kam auch nicht zu kurz – dieser Urlaub war für mich auch zeitgleich meine Entdeckung der Christa Wolf und die beiden Bücher die ich las – Medea und Kassandra – haben mich umgehend in ein riesiges Christa Wolf-Fangirl verwandelt – ich möchte unbedingt alle Bücher dieser großartigen und von mir viel zu spät entdeckten Autorin lesen.

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Was für eine tragische unheimliche Geschichte – unglaublich wild und brutal, die einem noch lange nachgeht. Die Handlung ist eine Nacherzählung der alten Geschichte des Apollonius von Rhodos und Euripides. Medea, die sonst immer als rachsüchtige Hexe, Kindsmörderin und Inbegriff abgrundtiefen Hasses präsentiert wird erfährt bei Christa Wolf eine Wandlung. Sie zeigt Medea als Opfer politischer Intrige, die einem paranoiden Idioten als Feindbild dienen musste. Ja sie ist wütend – auch in dieser Geschichte – aber immer rational und kein bisschen durchgeknallt.

„Weiß ich doch lange: In dem großen Getriebe spielt auch der seine Rolle, der es verhöhnt..“

„Für den gewöhnlichen Menschen mit seinen Schwächen lebt es sich besser unter Menschen, die auch ihre Schwächen haben“

Das Buch ist eine Reihe von elf Monologen, eine Mischung verschiedener Stimmen doch Medea beherrscht das Narrativ und ist verzweifelt darum bemüht, die letztgültige Version ihres eigenen Lebens zu erzählen.

Christa Wolf schrieb dieses Buch nach dem Zusammenbruch der DDR, Anfang der 1990er Jahre, nach einigen Jahren der Depression und Stille, verursacht wohl durch den Schock über die untergegangene Heimat und die kurz danach einsetzende Hexenjagd, die durch arrogante westdeutsche Journalisten auf sie veranstaltet wurde.

„So ist es Brauch gewesen in den alten Zeiten, auf die auch wir uns ja berufen hatten, weil wir uns einen Vorteil davon versprachen. Und seitdem ist mir ein Schauder geblieben vor diesen alten Zeiten und vor den Kräften, die sie in uns freisetzen und derer wir dann nicht mehr Herr werden können.“

Medea scheint ihre Katharsis gewesen zu sein, ihre Art, den Schmerz darüber zu verarbeiten, keine wirkliche Heimat mehr zu haben. Die alte Heimat – Kolchis im Roman – ist untergegangen im brutalen Showdown omnipotenten männlichen Egos. Ihre neue Heimat – Korinth – braucht einen Sündenbock, um von ihren eigenen immanenten Problemen abzulenken.

Die wilde Frau, die sich weigert, ihre Ambitionen zu beschränken und sich arroganten Männern zu unterwerfen wird gejagt und verurteilt… Das gilt für Medea wie auch für Christa Wolf.

Was ist Wahrheit? Wahrheit ist vermutlich das, was die Leute glauben wollen.
Medea, die versucht wahrhaftig zu leben, muss ihre Heimatlosigkeit akzeptieren in einer Welt voller kindischer egomanischer Männer, die von skrupellosen Beratern voller Opportunismus umringt sind.

„Große schreckliche Kinder, Medea. Das nimmt zu, glaub mir. Das greift um sich.“

Christa Wolfs Sicht auf die Welt (und das Patriarchat) ist kristallklar, desillusioniert und ehrlich. Diese Version der Medea ist schrecklicher als die antike Version, da sie erschreckend aktuell, das Oper einer Fake News Maschine erster Güte wird.

Agameda meint, es sei eine Form von Hochmut, auf Haß nicht mit Haß zu antworten und sich so über die Gefühle der gewöhnlichen Menschen zu erheben, die Haß genauso brauchen wie Liebe, eher mehr.“

Chapeau Christa Wolf – wilde Frau!

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Direkt weiter ging es mit einer weiteren Neufassung eines antiken Klassikers. Kassandra, die Seherin, in einer Welt voll blindem Patriotismus und Machismo, die Kämpferin für die Rechte der Frauen in einer Gesellschaft, die Frauen per Tauschgeschäft gegen Gold oder Ehre eintauscht. Kassandra ist ein zeitloser Mythos und gleichzeitig so aktuell, wie ein Protagonist nur sein kann.

„Wann Krieg beginnt, das kann man wissen, aber wann beginnt der Vorkrieg. Falls es da Regeln gäbe, müßte man sie weitersagen. In Ton, in Stein eingraben, überliefern. Was stünde da?
Da stünde, unter andern Sätzen: Laßt euch nicht von den Eignen täuschen.“

Kassandra ähnelt der Autorin sehr, die zu ihren Lebzeiten ebenfalls gegen  desillusionierende machthungrige Politik ankämpfte, die versuchte, der Stimme der Vernunft Gehör zu verschaffen und die damit genauso wenig Erfolg hatte wie Kassandra.

„Das alte Lied: Nicht die Untat, ihre Ankündigung macht die Menschen blaß, auch wütend, ich kenn es von mir selbst. Und daß wir lieber den bestrafen, der die Tat benennt, als den, der sie begeht: Da sind wir, wie in allem übrigen, alle gleich. Der Unterschied liegt darin, ob mans weiß.“

Am Ende sieht Kassandra die Mauern ihrer Gesellschaft von innen her zerstört und wie die trojanische Prinzessin so sah auch Christa Wolf, dass ihre eigene Gesellschaft dabei war, zu zerbrechen. Der Roman erschien 1983 und die DDR zeigte bereits jede Menge Anzeichen des beginnenden Zerfalls.

Kassandra beklagt, wie die Rhetorik der Herrschenden lauter und lauter wird, je schwächer Troja wird, ein Spiegelbild zur DDR Propaganda und mit Eumelos hatte Troja sogar seinen eigenen fanatischen Stasi-Agenten.

„… auf einmal war es nicht mehr ratsam für uns Frauen, alleine unterwegs zu sein. Wenn man es recht betrachtete – nur traute niemand sich, es so zu sehn – , schienen die Männer beider Seiten verbündet gegen unsere Frauen. Entmutigt zogen die sich in die winterlichen Höhlen der Häuser, an die glimmenden Feuer und zu den Kindern zurück.“ 

Sie hat mich auch sehr überrascht mit der Wendung der Geschichte, dass Helena gar nicht in Troja ist. Das der ganze Grund für den Trojanischen Krieg auf einer Illusion, einem Betrug beruht. Aber egal, ob Helena da ist oder nicht, zwei kriegswütige Demagogen brauchen keinen wirklichen Grund für einen Krieg. Helena ist einfach nur eine Ausrede.

Fake News treffen auf griechische Mythen. Christa Wolf hat mich wirklich umgehauen. Ein Roman, der wieder und wieder gelesen werden muss, denn die Trojanischen Kriege werden auch heute noch geführt. Und sie werden solange weitergehen, bis gewalttätige Helden nicht mehr angesagt sind. Bis Frauen nirgendwo auf der Welt mehr als Objekte gesehen werden, die man als Kriegsbeute erobert oder die man beim Spiel gewinnen oder verlieren kann.

„Was dann kam, sah ich vor mir, als wär ich dabeigewesen. Achill der Griechenheld schändet die tote Frau. Der Mann, unfähig, die Lebende zu lieben, wirft sich, weiter tötend, auf das Opfer. Und ich stöhne. Warum. Sie hat es nicht gefühlt. Wir fühlen es, wir Frauen alle. Was soll werden, wenn das um sich greift. Die Männer, schwach, zu Siegern hochgeputscht, brauchen, um sich überhaupt noch zu empfinden, uns als Opfer. Was soll da werden.“

Noch bleiben die Stimmen von Frauen wie Kassandra weiterhin zu oft ungehört.

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Aus Vernunftgründen hatte ich auf Stephen Frys „Mythos“ verzichtet, da der Stapel an Reiselektüre schon beachtlichen Umfang hatte. Um so mehr habe ich mich gefreut, das Buch in der Bibliothek unseres Ferienhauses zu entdecken.

“Gaia visited her daughter Mnemosyne, who was busy being unpronounceable.” 

Meine letzte Stephen Fry Lektüre liegt lange zurück, aber meine Erwartung an beste Unterhaltung mit viel Witz wurde absolut erfüllt.  Seine Nacherzählungen der griechischen Mythen sind einfach brillant. Ich habe sehr viel über die griechische Mythologie gelernt und einiges an verschüttetem Wissen aus der Kindheit wieder ausgegraben.

Er ist ein geborener Geschichtenerzähler, nie langweilig oder dröge und man verliert nie den Faden. Er schreibt mit viel Witz, seine Kommentare sind sehr hilfreich und sorgen dafür, dass man viel mitnimmt und den Kosmos der Götter besser versteht.

“For the world seems never to offer anything worthwhile without also providing a dreadful opposite.”

Das Buch enthält ein paar meiner liebsten Mythen, insbesondere Persephone und Hades fand ich spannend. Die Geschichte um Arachne hat leider nicht geholfen, mich mit den zahlreichen großen Arachne-Vertretern auf Naxos anzufreunden, ich mag sie immer noch nicht.

Ich kann Stephen Frys Nacherzählungen nur jedem empfehlen. Ein großartiger Spaß.

“Brooding, simmering and raging in the ground, deep beneath the earth that once loved him, Ouranos compressed all his fury and divine energy into the very rock itself, hoping that one day some excavating creature somewhere would mine it and try to harness the immortal power that radiated from within. That could never happen, of course. It would be too dangerous. Surely the race had yet to be born that could be so foolish as to attempt to unleash the power of uranium?”

Hier die Bücher noch einmal in der Übersicht:

Medea und Kassandra von Christa Wolf erscheinen heute im Suhrkamp Verlag
Mythos von Stephen Fry erschein auf deutsch im Aufbau Verlag.

Große gemischte Tüte

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Rendezvous mit Rama – Arthur C. Clarke

Als ein riesiges mysteriöses zylindrisches Objekt im Orbit auftaucht, senden die Bewohner des Sonnensystems ein Raumschiff, um herauszufinden, was oder wer zur Hölle das ist. Die Menschen sind mittlerweile zwar multiplanetar, aber nach wie vor die einzigen Lebewesen im All – sollte sich das jetzt ändern? Und falls ja, ist das Objekt in friedlicher Absicht da oder droht Gefahr?

Die Astronauten, die mit der Aufgabe der Erkundung des riesigen Hohlzylinders beautragt sind, können zwar einige, aber längst nicht alle der Rätsel lösen, die ihnen das mysteriöse Raumschiff aufgibt. Es ist komplett leer, woher kommt es? Wer hat es gebaut und was war die Absicht dahinter?

Rama behält seine Geheimnisse erst einmal für sich, aber klar ist schnell, man hat es mit einer weit überlegenen Zivilisation zu tun.

“But at least we have answered one ancient question. We are not alone. The stars will never again be the same to us.” 

Rendezvous with Rama ist ein spannender, faszinierender Science Fiction Roman, der auch fast 50 Jahre nach seinem Erscheinen noch ungemein fesselt. Ich freue mich schon auf den nächsten Band „Rama II“.

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Convenience Store Woman – Sayaka Murata

Keiko Furukura war schon ein seltsames Kind und ihre Eltern hatten stets Sorge, wie und ob sie später in der richtigen Welt zurecht kommen würde. Als sie während ihres Studiums einen Job in einem kleinen Supermarkt annimmt, freuen ihre Eltern sich sehr und hoffen, es ist der erste Schritt in die Normalität.

Vom ersten Moment an liebt Keiko den Supermarkt, in dem sie eine vorhersehbare routinierte Welt findet, die streng nach dem Supermarkt-Handbuch gelebt wird. Dort wird genaustens festgelegt, wie die Mitarbeiter sich zu verhalten haben, was sie anziehen sollen, was sie sagen sollen und wann neue Ware bestellt wird.

Alles, was nicht im Handbuch festgelegt ist bzw. was den Feierabend betrifft, erarbeitet sich Keiko, in dem sie ihre Kollegen kopiert. Sie ahmt ihre Sprachmuster nach, ihre Art sich zu kleiden und zu essen. Kurzum, sie spielt die Rolle einer normalen Person im Supermarkt und in ihrer Freizeit.

“This society hasn’t changed one bit. People who don’t fit into the village are expelled: men who don’t hunt, women who don’t give birth to children. For all we talk about modern society and individualism, anyone who doesn’t try to fit in can expect to be meddled with, coerced, and ultimately banished from the village.” 

Doch langsam machen ihre Eltern sich wieder Sorgen. Denn sie arbeitet auch mit 36 noch im Supermarkt, hatte noch nie eine Beziehung und auch nur ein paar wenige Freunde. Keiko gefällt ihr Leben so wie es ist, doch sie merkt, dass sie etwas tun muss, damit die ständigen Nachfragen aus ihrem Umfeld aufhören…

The normal world has no room for exceptions and always quietly eliminates foreign objects. Anyone who is lacking is disposed of. So that’s why I need to be cured. Unless I’m cured, normal people will expurgate me.”

Sayaka Murata hat die Atmosphäre der kleinen japanischen Supermärkte perfekt eingefangen, die eine große Rolle in Japan spielen. Sie wirft einen scharfen Blick auf die japanische Gesellschaft und den unmenschlichen Druck, sich stets anzupassen und bloß nicht aufzufallen. Das Buch ist stellenweise irre komisch und man schließt Keiko sehr schnell tief ins Herz.

Convenience Store Woman ist ein ungewöhnlicher Roman mit einer unvergesslichen Protagonistin. Für alle Fans von Banana Yoshimoto oder Han Kang.

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Der Klavierschüler – Lea Singer

Im Frühling 1986 plant ein Mann seinen Selbstmord, doch ein bestimmtes Musikstück (Schumanns Träumerei) verhindert die Vollendung. Danach wandelt sich der Roman in ein Road Movie, in dem ein Barpianist den Mann auf eine Reise in seine Vergangenheit mitnimmt.

Hat der geplante Selbstmord etwas mit dem ängstlich gehüteten Geheimnis des weltberühmten Pianisten Vladimir Horowitz zu tun? Dieser hatte 1937 in der Schweiz eine Affäre begonnen, die sowohl seine Ehe mit der Tochter des Dirigenten Toscanini aufs Spiel setzte sowie seine gesamte Karriere.

„Aber Ehefrauen von schwulen Männern vermännlichen fast immer. Proust hat das erkannt, sagte Kaufmann. Ich weiß nicht mehr genau in welchem Teil aber irgendwo steht es in der Suche nach der Verlorenen Zeit. Wenn eine Frau auch zunächst keine männlichen Züge hat, nimmt sie die nach und nach sogar unbewusst an, um ihrem Mann durch jene Art von Mimikry zu gefallen, wie gewisse Blumen sich das Aussehen von Insekten geben, die sie anlocken wollen.“

„Angst kommt von eng, sagte mein Großvater, sie verengt den Blick und hindert einen dran, den Ausweg zu sehen. Deswegen wetterte er ein Leben lang gegen die Kirche mit ihrer Höllendrohung und ihrem Sündenhammer.“

Lea Singer stieß vor einigen Jahren auf brisante unveröffentlichte Briefe von Vladimir Horowitz an einen jungen Schweizer namens Nico Kaufmann.

50 Jahre später erzählt Kaufmann dem Barpianisten von dieser Liebe, zu der sich Horowitz nie bekennen sollte. Er sicherte damit eventuell seine Karriere, vergab sich aber auch die Chance, jemals zu sich selbst zu stehen.

Wie viel Mut fordert die Liebe? Und was geschieht mit dem, der seine Sehnsucht verleugnet?

Ein eleganter Roman, der mir sehr gefallen hat und den man ganz unbedingt bei klassischer Musik und mit einem Glas Rotwein in der Hand genießen sollte.

 

 

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Frida – Sébastien Pérez

Dieses Buch ist ein Festschmaus für die Augen. Ein Buch, das den Leser in die Welt der großen Frida Kahlo entführt. Wunderschön wie dieses Buch es schafft, den Leser in den künstlerischen Schaffensprozess der Malerin einzubinden und dabei die Themen, die Kahlo so wichtig waren (wie Leben, die Liebe, Mutterschaft, Schmerz und Tod) zu durchdringen.

 

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Dieses Buch ist ein Augenschmaus, den man sich auf gar keinen Fall entgehen lassen sollte.

 

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Sandra Petrignani – Wo Dichterinnen zu Hause sind

Sollte ich einmal im Lotto gewinnen, wäre genau das mein Plan: so wie die italienische Autorin und Journalistin Sandra Petrignani um die Welt reisen und die Häuser und Wohnungen von großen Autorinnen und Dichterinnen besuchen und erkunden.

Durch die Beschreibung der Wohn- und Arbeitsräume von Grazia Deledda, Marguerite Yourcenar, Colette, Alexandra David-Néel, Tanja Blixen und Virginia Woolf gelingt ihr ein spannender Einblick in das Leben und die Gefühlswelten dieser einzigartigen Autorinnen.

Für alle Fangirls und -boys der oben genannten Autorinnen natürlich ein absolutes Muss – welche Autorinnen oder Autoren hättet ihr gerne besucht?

Hier noch mal alle Bücher im Überblick:

Arthur C. Clarke – „Rendezvous mit Rama“ erschienen im Heyne Verlag.
Sayaka Murata – „Die Ladenhüterin“ erschienen im Aufbau Verlag.
Lea Singer – „Der Klavierschüler“ erschienen im Kampa Verlag.
Sébastien Pérez – „Frida“ erschienen im Jacoby & Stuart Verlag.
Sandra Petrignani – „Wo Dichterinnen zu Hause sind“ erschienen im btb Verlag.

Menschenwerk – Han Kang

Als in den 1980er Jahren in Korea ein Studentenaufstand losbricht, wird dieser mittels einer unglaublichen Gewaltorgie niedergeschlagen. Die Studenten werden niedergeschossen, geschlagen und vom Militär nahezu gänzlich ausgerottet. Das Ereignis geht später als das Gwangju-Massaker in die Geschichte ein und ist tatsächlich eines der verstörensten und heftigsten Gewaltakte des an brutalen Gewaltakten nun wahrlich nicht armen 20. Jahrhunderts. Viele wurden einfach tot oder schwer verletzt in den Straßen liegen gelassen, der klägliche Rest wurde ins Gefängnis geworfen. Wer sich über das Ausmaß ein Bild machen will, kann auf YouTube Aufnahmen finden, man sollte allerdings hart im Nehmen sein.

Schon die Lektüre des Buches ist brutal und absolut kompromisslos, es beginnt mit der Beschreibung von krassen Gemetzteln und einer Blutorgie, die mich trotz entsprechender Vorwarnungen dennoch in seiner Härte unvorbereitet getroffen hat. Das Buch erzählt die Verheerung die das Massaker hinterlassen hat bei denen, die überlebt haben, in dem wir die Geschichte aus den unterschiedlichen Perspektiven der Protagonisten erzählt bekommen, was die eigentliche Brillianz des Buches ausmacht.

Hang Kang vermeidet es, über das Geschehnis selbst konkret zu berichten und beginnt ihre Geschichte mit den Leichenbergen, den ganzen Ozeanen aus Blut und der Beschreibung der toten Studenten, die niedergemetzelt wurden, als sie die Nationalhymne singend durch die Straßen marschierten und dann von den Soldaten ihrer eigenen Regierungen vernichtet wurden. Als sie sich in den Straßen versammelten, mit ihren Flaggen und ihrem Kampf für Demokratie, trafen sie auf die unbarmherzige Härte der südkoreanischen Diktatur.

„Was letztendlich ausschlaggebend für die Moral von größeren Gruppen ist, darüber weiß man noch noch nicht viel. Interessant ist jedoch, dass die ethischen Werte an Ort und Stelle der Geschehnisse einer Eigendynamik unterworfen sind, unabhängig von den üblichen Moralvorstellungen der einzelnen Individuen in der Gruppe. Unter dem Einfluss der Gruppe stehlen, vergewaltigen und töten manche. Andere entwickeln plötzlich einen ungewöhnlich starken Altruismus oder außerordentlichen Mut, zu dem sie normalerweise nie fähig wären. Nach Meinung des Autors handelt es sich bei der zweiten Kategorie nicht um besonders edle Menschen, die Gruppe fördert lediglich den Edelmut zutage, der in jedem Einzelnen steckt. Auch seien die Menschen aus der ersten Kategorie nicht besonders unmenschlich, denn auch bei ihnen bringt erst die Gruppe eine genetisch angelegte Gewaltbereitschaft zum Vorschein.“

Han Kang  beschreibt mit einzigartiger Sprache und Poesie die Verwüstung die dieses Ereignis in den Überlebenden angerichtet hat. Ihre verzweifelten Versuche, irgendwie danach ein halbwegs normales Leben zu führen. Nichts würde für diese Menschen jemals wieder sein wie vor dem Ereignis.

„Menschenwerk“ liest sich mehr wie lose miteinander verknüpfte Kurzgeschichten, die in der Leichenhalle beginnen, wo sich ein paar junge Menschen Tag und Nacht um die Identifizierung der Leichen kümmert. In der nächsten Geschichte dringen wir ins Bewußtsein eines gerade getöteten Jungen ein, der versucht zu verstehen, wo er jetzt hingehört, nachdem er getötet worden ist. In der nächsten Geschichte reisen wir 5 Jahre in die Zukunft und treffen auf Studenten, die das Massaker im Gefängnis und die schreckliche Folter, die sie über sich ergehen lassen mussten, überlebten. Schließlich zeigt Kang wie die Überlebenden auch 20 Jahre später noch unter dem Ereignis leiden und sie bei jedem Schritt verfolgt werden von dem Vermächtnis der Vergangenheit.

Ein Buch, das zeigt wie ein einziges Ereignis letztendlich das Gesicht einer ganzen Nation verändern kann. Wie schaffen es Menschen, sich weiterhin als Teil einer Gesellschaft zu sehen, die so derart bösartig mit ihnen umgegangen ist? Man verzagt im Angesicht des Terrors, zu dem Menschen oder auch die eigene Regierung fähig sind. Was wird aus diesen Menschen? Eine ganze Nation leidet und die Menschen sind verloren, desillusioniert, entfremdet und entwurzelt.

Was mir einzig fehlte bei diesem grandiosen Buch war vielleicht eine Stimme, die die Sicht der Männer beschreibt, die „nur Befehlen folgten“, die den Abzug drückten, weil man ihnen auftrug, das zu tun. Wie fühlten sie sich danach? Das war die Perspektive über die ich auch gerne etwas erfahren hätte.

Ich hätte nie geglaubt, dass man derart poetisch, knapp einfach grandios über solche Greueltaten schreiben kann. Das Buch ist gefühlsgeladen, bitter und stellenweise ziemlich bissig.

Auf dieses Buch muss man sich einlassen. Es ist nicht sehr dick, aber ich mußte es immer wieder einmal auf Seite legen. Ich habe selten ein derart raues, authentisches und mächtiges Buch gelesen. Ich war schon von „Die Vegetarierin“ überaus begeistert, ich habe mit Han Kang definitiv eine Autorin gefunden, die sich zu einer meiner Lieblingsautorinnen entwickelt.

Weitere spannende Besprechungen findet ihr zum Beispiel bei wissenstagebuch und letusreadsomebooks

Hier noch ein sehr interessantes Interview mit Han Kang:

http://www.thewhitereview.org/feature/interview-with-han-kang/

Ich danke dem Aufbau Verlag für das Rezensionsexmplar.

The Vegetarian – Han Kang

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Ich bin üblicherweise kein Fan von ellenlangen Rezensionen, die ähnlich wie Kino-Trailer nahezu alles verraten und man das Gefühl bekommt, den größten Teil der Story bereits zu kennen. Unser Dezember Bookclub Buch ist allerdings eines, bei dem es mir schwerfällt nicht zu spoilern, daher bitte ich spoiler-ängstliche Menschen um Vorsicht.

Bevor Yeong-hye von einem Alptraum geweckt wird und mitten in der Nacht beginnt, sämtliche Fleisch- und Fischvorräte aus dem Kühlschrank wegzuwerfen, führte sie mit ihrem Mann ein relativ unspektakuläres, geregeltes Leben. Die Träume mit heftigen Bildern von Blut und Brutalität quälen sie, sie beginnt, sich vor tierischen Produkten zu ekeln, kann selbst den Geruch ihres Mannes nicht ertragen, der weiterhin Fleisch isst.

“The feeling that she had never really lived in this world caught her by surprise. It was a fact. She had never lived. Even as a child, as far back as she could remember, she had done nothing but endure. She had believed in her own inherent goodness, her humanity, and lived accordingly, never causing anyone harm. Her devotion to doing things the right way had been unflagging, all her successes had depended on it, and she would have gone on like that indefinitely. She didn’t understand why, but faced with those decaying buildings and straggling grasses, she was nothing but a child who had never lived.”

Für ihre Familie und ihren Ehemann symbolisiert der Fleischverzicht einen Akt der Rebellion, der ihre Ehe aufs Spiel setzt und immer grotesker anmutende Folgen hervorbringt. Je mehr ihre Umwelt versucht, Yeong-heyes Willen zu brechen und sie zum Fleisch essen zu zwingen, desto mehr zieht sie sich ins sich selbst zurück.

Die Geschichte „The Vegetarian“ ist in vielerlei Hinsicht ungewöhnlich. Sie wird aus drei verschiedenen Perspektiven erzählt, ohne die Protagonistin selber wirklich zu Wort kommen zu lassen. Ursprünglich wurden die drei Kapitel als einzelne unabhängige Kurzgeschichten veröffentlicht, die in dieser Novelle jetzt zusammengefasst wurden.

Yeong-hyes Entscheidung, vegetarisch zu Leben, führt zu heftigen Reaktionen. Ihre eigene Familie versucht sie mit Gewalt zum Fleisch essen zu bringen, ihr immer schon sehr liebloser Ehemann schreckt auch vor einer Vergewaltigung nicht zurück, um seinen Willen zu bekommen und auch ihr Schwager ist irgendwann vollkommen besessen von ihr und ihrem Geburtsmal.

Jegliches Ausbrechen aus der Norm wird von der koreanischen Gesellschaft umgehend bestraft. Die Arbeitskollegen und deren Gattinnen fallen wie Hyänen über Yeong-hye her für ihre Weigerung, Fleisch zu essen und keinen BH zu tragen.

Wer die Norm nicht verletzt und das Gesicht wahrt, kann so ziemlich machen, was er will. Der gewalttätige Vater oder auch der Ehemann von Yeong-hye werden nahezu selbstverständlich toleriert, was immer sie tut wird im Gegenzug als Staatsakt betrachtet, der umgehend bestraft werden muss.

Wirklich glücklich erscheint einem Yeong-hye eigentlich nur, als sie alleine in ihrer kleinen Wohnung lebt, nachdem ihr Ehemann sich von ihr getrennt hat. Endlich kann sie rumlaufen wie und essen was sie will,  sich nackt in die Sonne setzen und Photosynthese betreiben. Hält aber nicht lange, weil dann will wieder jemand was von ihr. Diesmal der Schwager, der sie malen und in der Folge auch mit ihr schlafen möchte.

Im Bookclub habe ich dann erfahren, dass das „Mongolian Birthmark“, auf deutsch „Mongolenfleck“, ein Geburtsmal ist, das 99% aller asiatischer Kinder haben und bei den meisten bis zur Pubertät wieder verschwindet. Wer mehr darüber wissen will, kann hier nachlesen.

Im dritten Teil dann die Sicht der Schwester, deren Motivation meines Erachtens in diesem Zitat am besten zur Geltung kommen:

“Though the ostensible reason for her not wanting Yeong-hye to be discharged, the reason that she gave the doctor, was this worry about a possible relapse, now she was able to admit to herself what had really been going on. She was no longer able to cope with all that her sister reminded her of. She’d been unable to forgive her for soaring alone over a boundary she herself could never bring herself to cross, unable to forgive that magnificent irresponsibility that had enabled Yeong-hye to shuck off social constraints and leave her behind, still a prisoner. And before Yeong-hye had broken those bars, she’d never even known they were there…”

In der streng reglementierten kollektivistischen Gesellschaft ist kein Platz für individuelle Bedürfnisse und jeder Hauch von Individualismus wird umgehend geächtet. Ich selbst war noch nicht in Korea, nach meinem Aufenthalt in Japan glaube ich allerdings, dass sich die beiden Gesellschaften sehr ähneln. Wenn man einige Zeit in Japan verbracht hat, wird einem noch einmal klarer, wie „anders“ Autoren wie Haruki Murakami, Banana Yoshimoto und wahrscheinlich auch Han Kang im Gegensatz zur breiten Bevölkerung sind.

Kein Wunder, dass es zunehmend schwieriger wird in solchen Gesellschaften geistig gesund zu bleiben. In Japan gibt es Gruppen, die sich regelmässig zum öffentlich begleiteten Weinen treffen, weil die Menschen in einer Gesellschaft, die Gefühlsregungen verpönt, verlernt haben mit ihren Emotionen umzugehen.

„The Vegetarian“ ist eine sinnliche beunruhigende Geschichte die surrealistisch an Kafka und Murakami erinnert. Die Emanzipation einer Frau, die einzig über mikroskopisch kleine Verweigerungen gelingt. Die sich weigert teilzuhaben und fast Bartleby-mässig „I would rather not“… jegliches Mitwirken verweigert.

Faszinierend fand ich auch die Geschichte hinter der Übersetzung von Han Kangs Novelle ins Englische. Der Man International Booker Prize ist der einzige Literaturpreis, der sowohl Autor als auch Übersetzer ehrt. Die Übersetzerin von „The Vegetarian“, die 29jährige  Deborah Smith, begann 2010 sich selbst koreanisch beizubringen, ohne eine großartige Verbindung zu Korea zu haben.

„I had no connection with Korean culture – I don’t think I had even met a Korean person – but I wanted to become a translator because it combined reading and writing and I wanted to learn a language.

„Korean seemed like a strangely obvious choice, because it is a language which practically nobody in this country studies or knows.“

Die 50,000 GBP Preisgeld teilen sich Autorin und Übersetzerin. Deborah Smith hat seitdem noch weitere Bücher aus dem Koreanischen übersetzt und kürzlich einen eigenen not-for-profit Verlag gegründet, der sich auf Asiatische und Afrikanische Literatur spezialisiert hat.

Hier ein kurzes Interview der Autorin und ihrer Übersetzerin:


“Why, is it such a bad thing to die?”

Der Wunsch, sterben zu wollen, erschien mir soviel normaler, als um jeden Preis und um jeder Norm willen weiterzuleben…

Ein dunkel poetisches Buch, das Lust macht, mehr von Han Kang zu lesen und überhaupt die koreanische Literatur besser kennenzulernen.

Das Buch wurde 2009 von einem Bekannten der Autorin in Korea verfilmt. Die Kritiken sind etwas durchwachsen, mir hat er ganz gut gefallen (inbesondere die 18+ Version):

Das Buch ist auf deutsch unter dem Titel „Die Vegetarierin“ im Aufbau Verlag erschienen.

Nachts – Mercedes Lauenstein

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Sollte es morgens um halb 3 oder halb 4 mal bei uns klingeln, werde ich künftig wohl immer mit Frau Lauenstein vor der Tür rechnen. Ihre Erzählerin besuchte Menschen, die nachts wach waren, bei denen Licht brannte und ließ sich die Gründe erklären, warum sie nicht schlafen.

Was für eine grandiose Idee. Dazu hätte ich auch große Lust, es gibt für mich wenig schöneres, als nachts durch Städte zu laufen und in erleuchtete Fenster zu gucken, nur zu klingeln habe ich mich nie getraut. Hätte nicht gedacht, dass so viele überhaupt aufmachen. Es sei denn wir haben es hier natürlich unverschämterweise mit einem Fall von unzuverlässiger Erzählerin zu tun. Bestimmt nicht, hab Frau Lauenstein im Literaturhaus ja getroffen, die lügt nicht.

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Spannend waren die Geschichte, ich konnte gar nicht genug davon bekommen. Tür auf und man wußte nie, was einen erwartet. Junge und alte Leute mit Angst vor der Dunkelheit mit aufgeräumten Wohnungen oder müffelnden Socken, Menschen die zufällig noch wach sind, andere, die Angst vorm Einschlafen haben, eindeutig verrückt sind oder berufsbedingt einen anderen Rhythmus haben.

„Gibt es nur noch ein einziges erleuchtetes Fenster in einer ganzen Straße, bleibe ich stehen, blicke hoch und bete, dass es jetzt nicht erlischt. Einer muss übrig bleiben, einer muss immer übrig bleiben.“

Die Personen gehen mir noch immer im Kopf herum und es ist mir ziemlich piepegal, ob es eine tiefere Botschaft gibt, die vermittelt werden sollte, ich habe diese ungewöhnlichen Portraits einfach sehr gerne gelesen.

Lauenstein hat dem Format der Kurzgeschichte einen frischen Anstrich verpasst, ähnlich wie Karen Köhler mit ihren wunderbaren Raketen. Die Sprache ist reduziert, die Stimmung melancholisch wie eine einsame schlaflose Nacht. Sie gingen mir zu Herzen diese ganz normalen Menschen mit ihren Fragen, Sehnsüchten und Wünschen.

Wenn ich das nächste Mal nicht schlafen kann, dann geh ich vielleicht auch mal irgendwo klingeln, ich packe aber auf jeden Fall ein Buch ein und biete an, den Leuten vorzulesen bis sie eingeschlafen sind.

Nachts“ ist im Aufbau Verlag erschienen.

Herbstmix im Literaturhaus München

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Die Aussicht auf spannende neue Literatur PLUS Musik UND interessante Drinks hatte meine Herzdame dann doch überzeugt, mich trotz nasskalter Oktobernacht ins Literaturhaus zu begleiten. Der Mix war dieses Mal nicht wie gewohnt im Foyer im 3. Stock, sondern in der Bibliothek des Literaturhauses. Das war in meinen Augen eher ein Gewinn, denn der Raum hat eine tolle Atmosphäre und man wirkt nicht so verloren wie im 3. Stock, auch wenn der Blick dort oben über das nächtliche München natürlich ziemlich umwerfend ist.

Besonders gespannt war ich auf Mercedes Lauenstein, über deren Debüt „Nachts“ ich schon das eine oder andere gelesen und gehört hatte. Als Eule mit Vorliebe für nächtliche Spaziergänge schien das Buch wie für mich geschrieben. Mercedes war dann auch die erste, die die schummrig beleuchtete „Bühne“ betrat und war soooo unglaublich nervös, es war irgendwie entzückend. Sie startete ihre Lesung mit Pink Floyds „Hey You“ und einem sehr leckeren Gin Fizz. Sie liest nicht gerne vor, gab sie selbst freimütig zu, dafür kann sie um so schöner erzählen. Ich war von den nächtlichen Geschichten gefangen und nur kurz besorgt, ob der zweite Gin Fizz nicht das Vorlese-Tempo eventuell noch erhöhen würde.

Es waren eine spannende und unterhaltsame Tour mit ihr durch die Vorstadt-Slums Münchens, auch wenn man über die Autorin selbst erstaunlich wenig erfahren hat. Sie ist aus Kappeln, hält Spaghetti-Eis für eine wahnsinnig wichtige Mahlzeit und schreibt in der jetzt Redaktion der Süddeutschen Zeitung und als freie Autorin für verschiedene Zeitungen und Magazine. Ihre Webseite ist ziemlich hässlich, die Texte darauf allerdings wirklich spannend. Grund genug, das Buch zu kaufen und mit einem Glas Rotwein auf die zweite Autorin zu warten.

IMG_4448 Verena Boos stellte ihr Debüt „Blutorangen“ und leitete ihre Lesung mit der Ouvertüre aus Tschaikowskys „Eugen Onegin“ ein. Das einzige, was Verena Boos und Mercedes Lauenstein zu verbinden scheint, ist der Aufbau-Verlag, mit dem beide debütiert haben. Boos schien gar nicht aufgeregt, hatte als Absolventin der Bayerischen Akademie des Schreibens auch ein Stückchen weit Heimspiel und schien durch ihre Lesungen beim „Open Mike“ auch Vorlese-Routine gewonnen zu haben.

Sie verknüpft in ihrem Roman „deutsche und spanische Geschichte über einen Zeitraum von achtzig Jahren hinweg, mit Eindringlichkeit und narrativer Vielfalt“ (Zitat Thomas Lehr). Die Lesung machte durchaus Lust auf mehr, aber momentan ist mein SUB so hoch, ich muss wirklich selektiv sein, obwohl mich ihre geniale Musikauswahl zum Ausklang mit Policas „Lay your cards out“ fast noch in letzter Sekunde umgestimmt hätten.

Nach Orangenpapier, Spanien und Rotwein ging es dann zum letzten Debütanten, Marcus Lucas, aktuell stellvertretender Chefredakteur des Lifestyle Magazins GQ (und ja, er war auch irgendwie hübsch angezogen), der das Music-Comic „Ice Ice Baby. One Hit Wonders 1955 – 2015“ zusammen mit der Illustratorin Carolin Löbbert, im avant-Verlag veröffentlicht hat.

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Er brachte neben dem interessant klingenden Jägermeister-Mate-Getränk, an das ich mich dann doch nicht mehr herangetraut habe, einen ganzen Sack voll One-Hit-Wonders mit. Von The La’s „There she goes„,  über Maurice Williams & The Zodicas „Stay“ bis hin zu Nenas „99 Red Balloons“ und noch so einige andere, an die ich mich nicht erinnern kann.

Zu jedem Künstler gab es  witzige, traurige, überraschende Geschichten und ich kann mir das Buch als tolles Geschenk unter vielen Weihnachtsbäumen vorstellen.

Ich liebe diese Mix-Veranstaltungsreihe und freue mich schon jetzt auf den Wintermix. Immer wieder neue Eindrücke, neue Autoren, neue Mischgetränke – einfach wunderbar. Für alle Münchner – unbedingt hingehen, macht wirklich riesigen Spaß,  für alle Nicht-Münchner die beste Entschuldigung, endlich mal (wieder) anzureisen.

So – jetzt ab in die Nacht mit Gin Fizz oder vielleicht auch einfach Kamillentee 😉

The Paris Wife – Paula McLain

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Unsere Juni Bookclub Lektüre beamt uns ins Paris der frühen 20 Jahre und beleuchtet die Zeit, die Hemingway in „A moveable Feast“ beschrieben hat, hier aus der weiblichen Perspektive seiner ersten Frau Hedley. Der blutjunge, gerade von seinen Verletzungen aus dem 1. Weltkrieg genesene Hemingway trifft in St. Louis die ein paar Jahre ältere, schüchterne Hadley Richardson.

Nach einer kurzen aber intensiven Werbe- und Balzphase heiraten die beiden und segeln schon kurze Zeit später nach Paris, wo sie nach anfänglichen Schwierigkeiten mitten ins dekadent lebendige Jazz Paris der explosiv sprunghaften trinkfesten „Lost Generation“ rund um Gertrude Stein, Alice Toklas, Ezra Pound, Scott und Zelda Fitzgerald und anderen geraten.

Die Hemingways scheinen lange die sesshaftesten und „normalsten“ zwischen all den wunderschönen Menschen, konkurrierenden Egos und leidenschaftlich Liebenden in ihrem Künstler-Freundeskreis zu sein.

McLain erzählt die bekannte Geschichte des sich quälenden unbekannten Künstlers, der eine ihn umsorgende, sich aufopfernde, ebenfalls unbekannte Frau heiratet und diese verlässt, als irgendwann aus dem unbekannten Künstler ein bekannter wird und sie nicht mehr interessant genug ist.

Auch wenn das nach Herzschmerz und Liebesschmonzette klingt und das Cover des Buches auch gefährlich danach aussieht, McLain schafft es mit ihrer ausgesprochen schönen Sprache, ein sich verfestigendes Bild zu zeichnen einer Beziehung, die nicht andauern konnte und gerade diesen Untergang der Beziehung beschreibt sie schneidend aber doch zärtlich, mit all seinen unschönen und schwierigen Phasen stets auf der Suche nach der absoluten Wahrheit.

Mir hat besonders gefallen, dass das hier eben keine Hemingway Biografie ist, sondern es sich um Hadley’s Geschichte handelt. Man spürt die tiefe Traurigkeit und auch ihre Hilflosigkeit.

“It gave me a sharp kind of sadness to think that no matter how much I loved him and tried to put him back together again, he might stay broken forever.”

Hemingway war schon bei seiner ersten Frau, wie auch bei allen anderen, stets auf der Suche nach einer vertrauensvollen Stütze, einem Menschen, der ihm die Kraft gibt, sich voll und ganz auf die Literatur zu stürzen. Als Hadley sein bis dahin komplettes literarisches Werk auf einer Zugfahrt verliert, beginnen sich für ihn erste Risse in seinem Vertrauen ihr gegenüber zu zeigen. Er brauchte uneingeschränkte Aufmerksamkeit und vollstes Vertrauen, beim geringsten Zweifel begann er sich nach der nächsten Frau umzuschauen, die ihm das bieten konnte und wollte.

“Sometimes I wish we could rub out all of our mistakes and start fresh, from the beginning,‘ I said. ‚And sometimes I think there isn’t anything to us but our mistakes.”

Hier ein Audio Clip in dem Hadley selbst über die verlorenen Manuskripte spricht:

Ich glaube, dass das einfach der Preis war, den Hemingway bereit war für seinen schriftstellerischen Erfolg zu zahlen und hat dafür die Frauen geopfert, wenn sie ihn nicht mehr unterstützen konnten oder wollten. Ich glaube nicht, dass er das böswillig getan hat, er war großzügig, insbesondere auch Hadley gegenüber, die sich nach der Scheidung nie mehr wiedergesehen haben, aber zumindest telefonisch in Kontakt blieben.

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Hemingway hat letzendlich einen hohen Preis gezahlt für seinen Erfolg, unglückliche Beziehungen, Süchte, Selbstmorde findet man ohne Ende in seiner Familie. Wer Hemingway und das Paris der 20er Jahre etwas besser verstehen will, dem kann ich „The Paris Wife“ nur empfehlen.

“He was such an enigma, really – fierce and strong and weak and cruel. An incomparable friend and a son of a bitch. In the end, there wasn’t one thing about him that was truer than the rest. It was all true.”

“Not everyone out in a storm wants to be saved”

Habe das Buch vor ein paar Jahren bereits als Hörbuch auf unserem Rucksack-Trip durch Laos gehört, Carrington MacDuffie war großartig und es war ein seltsames, aber spanenndes Gefühl gleichzeitig in Paris und in Luang Prabang zu sein.

Noch mehr 20er Jahre Feeling beschert im Übrigen Woody Allen’s „Midnight in Paris“, den man sich begleitend zum Buch unbedingt anschauen sollte.

Das Buch erschien auf deutsch unter dem Titel „Madame Hemingway“ im Aufbau Verlag.

The Susan Sontag Read-athon

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Vor ein paar Wochen habe ich mich auf einen Susan Sontag Read-athon begeben, eine Autorin, Essayistin, Welt-Intellektuelle die ich schon sehr lange bewundere und über die ich nach einer kürzlich gesehenen Dokumentation gerne noch mehr erfahren wollte. Als mir Daniel Schreibers Biografie „Susan Sontag. Geist und Glamour“ in die Hände fiel, beschloss ich dieses „Mehr erfahren“ großflächig in Angriff zu nehmen.

Neben der Biografie besorgte ich mir die Tagebücher „Reborn. Early Diaries 1947 – 1963“ und „As Consciousness is Harnessed to Flesh: Diaries 1964 – 1980“ sowie das Rolling Stone Interview „The Doors and Dostojewski“ und begann, diese parallel zu lesen.

Ein sehr intensives Eintauchen in das Leben und die Gedanken eines anderen Menschen.

Besonders fasziniert hat mich in den frühen Tagebüchern (von 14 bis 30) wie unglaublich reif und erwachsen Sontag schon als Jugendliche denkt und schreibt. Sie scheint sich direkt aus ihrem Hirn heraus entwickelt zu haben und die Kindheit einfach wie eine lästige Hülle abgestreift zu haben, um sich voll und ganz ihrem Lebensziel, der Intellektualisierung ihrer selbst, zu widmen. Ernsthaftigkeit ist bei ihr Programm und unnachgiebig sich selbst und anderen gegenüber treibt sie ambitioniert ihr Ziel, eine ernstzunehmende Intellektuelle zu werden, voran.

Neben dem intellektuellen Erwachen zeugen ihre frühen Tagebücher auch von ihrer sexuellen Erweckung und ihrer Erkenntnis mit sechzehn in Berkely:  „I feel that I have lesbian tendencies (how reluctantly I write this).“

Viele der Einträge sind extrem persönlich, teilweise Beichten ähnlich und ich habe mich des Öfteren beim Lesen gefragt, ob sie wirklich gewollt hätte, dass diese Tagebücher in der Form veröffentlicht werden. Viele Einträge sind kurze Notizen, viele Listen (wooohooo – noch ein Listomaniac), die es nicht immer einfach machen, sie zu verstehen und es ist auch nicht immer einfach, sie zu mögen.

Sie ist eine herausfordernde Liebende, sie erwartet 100% Aufmerksamkeit, sie ist unglaublich „needy“ und anstrengend. Sie liebt heftig und hat einen Hang zu desaströsen Beziehungen.

Der erste Band ihrer Memoiren folgt ihrer intellektuellen und emotionalen Entwicklung vom Schulmädchen zur cleveren Studentin, von New York nach Paris und von ersten lesbischen Affären, über ihre Heirat und die Geburt ihres Sohnes bis hin zu Liebhaberinnen während und nach ihrer Ehe. Beruflich folgt ihrem Studium die Professur an der Columbia University und der Beginn ihrer schriftstellerischen Tätigkeit.

Der Band endet 1961 – ein Jahr, in dem sie den Eindruck hat, sich selbst nicht zu mögen und auch dem Leser fällt das nicht immer leicht. Aber man ist stets und ständig fasziniert. Ihr Sohn kommt verhältnismässig wenig vor in ihren Tagebüchern. Mich hätte das wahrscheinlich ziemlich verletzt an seiner Stelle.

Susan Sontag. Reborn: Early Diaries 1947 – 1963

Der zweite Tagebuch-Band beginnt mit Sontags Abkehr von der akademischen Welt. In ihren Dreissigern lebt sie hauptsächlich in einer Welt des Schreibens und dem rauschhaften Kultur-Konsum, den New York im Überfluss zu bieten hat. Die Tagebücher sind endlose Auflistungen von Filmen, Büchern, „Happenings“ Besuchen in Kunstgalerien usw.

Sie hat eine unglaubliche Energie, sieht teilweise 3 Filme an einem Tag und schafft es nahezu täglich ein Buch zu lesen. Das ist im übrigen etwas was ich unglaublich mag, denn ich leide ja auch unter diesem nie stillbaren Kulturhunger, der einem auch oft genug den Vorwurf einhandelt, man lese nicht tief genug, könne doch unmöglich „richtig“ lesen und verstehen.

Ihre Einträge beschäftigen sich häufig mit ihren Betrachtungen, Analysen ihrer Umwelt. Diese Band ist noch weitaus fragmentierter, kürzere Notizen, Buchzitate und wieder jede Menge Listen. Listen der gesehen oder noch zu sehenden Filme oder der Bücher die sie gelesen hat oder lesen will und Bemerkungen über ihre Therapie.

Nach ihrer schmerzvollen Trennung von der kubanischen Dramatikerin Maria Irene Fornés („I am frozen, paralysed, the gears are jammed … „) stürzt sie sich in eine Beziehung mit Carlotte del Pezzo, einer italienischen Adligen mit großem Appetit auf Heroin. Die Affäre dauert nur etwa 10 Monate, aber im Tagebuch nimmt sie viel Platz ein und bringt Sontag fast an den Rand eines Zusammenbruchs “God help me – help me – to stop loving her if she doesn’t love me any more.

Sontag liebt hart, heftig und häufig mit großem psychischen und physischen Einsatz, wenngleich häufig mit wenig Glück.

“It hurts to love. It’s like giving yourself to be flayed and knowing that at any moment the other person may just walk off with your skin.”

“Being in Love means being willing to ruin yourself for the other person.”

“I have always been full of lust – as I am now – but I have always been placing conceptual obstacles in my own path.”

Beruflich ist sie wesentlich erfolgreicher. In dieser Zeit entsteht ein Großteil ihres essayistischen Werks, unter anderem auch der in der Partisan Review erschienene Essay „Notes on Camp“, der wohl Sontags bekannteste Arbeit ist und zu einer Zeit entstand, als sie vom intellektuellen „It-Girl“ zu einer der wichtigsten öffentlichen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts wurde.

Eine Zeit auch, in der sie viel reist, sich mit Politik beschäftigt und dank schmerzhafter Chemotherapien eine Stage4-Brustkrebs-Diagnose überlebt.

“My library is an archive of longings.”

Ich denke, egal wieviel und was man über Sontag erfährt, am Ende bleibt, dass es ihre Arbeit und ihr publiziertes Werk ist, das zählt und die wichtigste Grundlage kritischer Beurteilungen sein muss.

“I am only interested in people engaged in a project of self-transformation.”

Susan Sontag – As Consciousness is harnessed to Flesh

Eine weitere spannende Besprechung ihrer Tagebücher findet ihr auch hier.

Daniel Schreiber, der sechs Jahre lang in New York lebte und dort auch die erste umfassende Biografie zu Susan Sontag schrieb, wirft einen distanzierten Blick auf ihr Leben. Schreiber beschäftigt sich überwiegend mit dem öffentlichen Bild Sontags, hat für seine Recherche mit vielen Freunden, Bekannten und Weggefährten Sontags gesprochen und stark ihr publiziertes Werk analysiert.

Sontag ist ein Mensch, der immer auf Mission ist. Sie hat einen Bildungsauftrag und nimmt diesen Ernst. Ihre Texte haben große Kraft. Sie ist ein Mensch, der sich gleichzeitig ständig in den Mittelpunkt stellt und doch wichtige Seiten ihrer selbst im Hintergrund lässt. Sie ist ein extrem privater Mensch, der meines Erachtens schon zu verstehen gibt, ich kann mich erst zeigen, wenn ihr als Gesellschaft toleranter wärt. Sie macht sich immer wieder angreifbar und zeigt sich auch verletzlich in ihren Selbstwidersprüchen, die ihr Werk durchziehen.

Er zeigt Sontag in all ihren Widersprüchen, nur der Mensch Sontag ist mir nach dem Buch irgendwie etwas fremd geblieben. Trotzdem kann ich die Biografie empfehlen, würde aber gerne noch eine Biografie lesen, die weniger den öffentlichen Menschen in den Mittelpunkt stellt, als die Person hinter der bekannten Intellektuellen.

Daniel Schreiber – Susan Sontag. Geist und Glamour

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Das Rolling-Stone Interview, das Jonathan Cott 1978 mit Susan Sontag führte, ist ein absolutes faszinierendes, vielseitiges Gespräch, das einem das Gefühl gibt, als Mäuschen bei einem Dinner-Date mit zwei extrem intelligenten Menschen dabeizusein und fasziniert mit offenem Mund sitzenzubleiben und zu hoffen, nicht entdeckt zu werden.

„Die meisten meiner Gedanken entwickle ich im Gespräch.“

Allein für diesen Satz liebe ich sie, denn mir geht es ganz genauso. Leider entwickel ich auch im Gespräch niemals auch nur annähernd so clevere Gedanken 😉

Das Interview entstand nicht in einer Sitzung, erst in Sontags Pariser Wohnung, dann einige Zeit später in ihrem New Yorker Loft. Das Gespräch zeigt ihre intellektuelle Spannkraft, ihr Interesse an den unterschiedlichsten Themen. Von Fotografie, Ästhetik, Politik, Nietzsche über Feminismus zu den Doors und zurück. Die weitverbreitete Trennung von Hoch- und Popkultur interessiert sich nicht im geringsten. Sie hat auf Kategorien verzichtet, alles gleich und zugleich behandelt, genau hingesehen einzig entscheidend ist der Qualitätsanspruch.

Jonathan Cott – The complete Rolling Stone Interview

Neben dem Read-a-thon hat zeitgleich in München ein dreitägiges Symposium zur Aktualität Susan Sontags stattgefunden. Im Rahmen dessen besuchte ich eine Forumsdiskussion zum Thema „Ethik des Sehens“, an der Daniel Schreiber, Carolin Emcke, Juliane Rebentisch und Stefan Hunstein teilnahmen.

Die Diskussion beschäftigte sich mit der Frage was zeigen wir? Wie zeigen wir Bilder? Mit der Ästhetik in der Ethik oder dem Fehlen von Ästhetik und Ethik?

Es kamen sehr interessante Fragen auf, ob es möglich ist, die affektive und emotionale Kraft in Bildern zu kanalisieren und zu kontrollieren. Sontag war der Ansicht, das Fotografien immer selektiv und interpretierbar und daher konstruiert sind. Sie hat Partei ergriffen für den Kontext und den narrativen Text, ohne den Bilder nicht verständlich sind. Bilder zeigen immer nur Fetzen von Wirklichkeit. Wer hat die Bedeutungskontrolle über Bilder?

Ihr Essay „Das Leiden anderer betrachten“ birgt Sontags Aufforderung in sich, genau hinzusehen und die Verpflichtung, sich moralisch kundig zu machen. Bilder nicht einfach zu konsumieren, sondern über das Gesehene nachzudenken und vom Nachdenken ins Handeln zu kommen.

Fotografie ist eine Waffe um Interesse zu manifestieren.

Als großer Fan von Sontag und der Electroband „Fischerspooner“ habe ich mich riesig gefreut zu erfahren, das Sontag kurz vor ihrem Tod einen Song für Fischerspooners Album „Odyssee“ geschrieben hat. Mit diesem Video beende ich jetzt erst einmal meinen Sontag-Marathon und widme mich meiner anderen Leseleidenschaft: Murakami. Aber keine Sorge, nur ein Roman, keine Read-a-thons momentan zu befürchten.

Hier noch mal in der Übersicht:

Susan Sontag – The Doors und Dostojewski, Hoffmann & Campe Verlag
Susan Sontag – Wiedergeboren. Tagebücher 1947-1963, Hanser Verlag
Suan Sontag – Ich schreibe, um herauszufinden was ich denke. Tagebücher 1964-1980
Daniel Schreiber – Susan Sontag. Geist und Glamour, Aufbau Verlag

Die hässliche Herzogin – Lion Feuchtwanger

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Meine Lieben – hier nun eine kurze Rezension aus der Rubrik “Schöner Scheitern an und mit Klassikern” – heute: „Die hässliche Herzogin“ von Lion Feuchtwanger.

Tief beschämt muss der Bingereader sich eingestehen, den historischen Betrachtungen zum Lebenswerk der Tiroler Herzogin Margarete in Tirol im ausgehenden Mittelalter nur mit Mühe die notwendige Aufmerksamkeit entgegengebracht zu haben. Ich habe wirklich gekämpft und mich durchgebissen, die Feuchtwanger Ausstellung im Literaturhaus besucht, viel über Herrn Feuchtwanger gelesen, aber der Zugang zu diesem Roman blieb mir irgendwie verwehrt.

Die Geschichte handelt von der Herzogin Margarete, die nach dem Tod ihres Vaters, Heinrich von Tirol, der ohne männlichen Erben gestorben ist, seine Nachfolgerin werden soll. Mit zwölf Jahren wird sie mit dem um einige Jahre jüngeren Johann von Luxemburg verheiratet. Liebe ist das natürlich nicht. Es gibt ein hin- und her um Macht und Einfluss rund um das kleine Herzogtum Tirol herum. Verschiedene gleichstarke Dynastien versuchen, die Herrschaft über Tirol zu erlangen. Die – von Herrn Feuchtwanger wiederholt ins Feld geführte außerordentliche Hässlichkeit Margaretes – ist eigentlich nicht die wichtigste Eigenschaft die sie hat, doch was fast alle übersehen ist, dass sie auch außerordentlich clever ist.

Das wäre schon durchaus interessant gewesen zu verstehen, wie sie sich behauptet als kluge und vermeintlich hässliche Frau, permanent von Aasgeiern umrundet, die sich das saftige Tirol gern unter den Nagel reissen würden, aber Feuchtwanger lässt einen der Herzogin nicht wirklich nahe kommen. Das hatte durchaus das Potential zur „Dynasty“-Soap im mittelalterlichen Tirol zu werden und wenngleich ich kein Soap-Niveau erwartet oder erhofft habe, es war – für meinen Geschmack – eher ein trockener Geschichtsbericht aus einem Sachbuch mit wenig Spannung, der mit Namen, Titeln, Herzogtümern nur so um sich gehauen hat.

Ich vermute aber, es liegt eher an mir als an Herrn Feuchtwanger, den ich mit meiner Kritik hier nicht in die Pfanne hauen möchte. Die Ausstellung „Erfolg“ im Literaturhaus war sehr interessant – ich kann sie nur jedem Münchner ans Herz legen. Die Ausstellung hat Lust auf diesen Schlüsselroman der 30er Jahre gemacht, nur die über 800 Seiten und mein nur mässig verlaufenes erstes Date mit Feuchtwangers Romanen lassen mich doch ein wenig zurückschrecken. Ich habe gesehen, dass es eine Verfilmung mit Bruno Ganz gibt , die wird es wohl – momentan zumindest – eher werden.

Die hässliche Herzogin war nicht meins, aber Leon Feuchtwanger ist mir durchaus näher gekommen. Auf ein neues – irgendwann vielleicht einmal.

erfolg

„Die häßliche Herzogin“ ist im Aufbau Verlag erschienen.