Read around the World: Sri Lanka

Je verrückter die Welt wird – mit Kriegen, schwelenden Konflikten, Autokratien und einem brennenden Klima –, desto mehr meide ich Flugreisen. Das bedeutet leider, dass viele Orte für mich physisch unerreichbar bleiben. Glücklicherweise eröffnet mir die Literatur und das Kino Wege, diese fernen Länder zumindest geistig zu bereisen. Heute reisen wir gemeinsam nach Sri Lanka.

Bis vor Kurzem wußte ich kaum etwas über das Land: Ceylon, die Tamil Tigers, ein Inselstaat im Indischen Ozean – das war’s. Doch kaum beginnt man zu lesen und zu sehen, tauchen faszinierende Facetten auf.

Sri Lanka, die „Träne Indiens“ oder auch „Perle des Indischen Ozeans“, ist ein Inselstaat südlich des indischen Subkontinents. Seit 1948 unabhängig von Großbritannien, nennt sich das Land seit 1972 offiziell Demokratische Sozialistische Republik Sri Lanka.

Mit rund 65 600 km² ist Sri Lanka nur etwa ein Fünftel so groß wie Deutschland, etwas größer vielleicht als Rheinland-Pfalz, aber mit über 23 Millionen Menschen deutlich dichter besiedelt. Die Bevölkerung setzt sich mehrheitlich aus Singhales*innen (etwa 75 %) und Tamil*innen (etwa 15 %) zusammen – eine demografische Realität, die über Jahrzehnte hinweg zu tiefen Spannungen führte.

Ein zentrales Kapitel der jüngeren Geschichte – und auch ein wichtiges Thema in der Literatur über Sri Lanka – ist der blutige Bürgerkrieg zwischen der sri-lankischen Regierung und den sogenannten Tamil Tigers (LTTE, Liberation Tigers of Tamil Eelam). Diese militante Organisation kämpfte ab 1983 für einen unabhängigen Tamilenstaat im Norden und Osten der Insel, nachdem Tamil*innen über Jahre hinweg Diskriminierung durch die singhalesisch dominierte Regierung erfahren hatten.

Der Krieg dauerte fast drei Jahrzehnte und forderte über 100 000 Menschenleben, darunter viele Zivilisten. Besonders grausam war der „Schwarze Juli“ 1983 – ein Pogrom gegen Tamil:innen, der als Auslöser für den bewaffneten Konflikt gilt. Die LTTE verübte Selbstmordanschläge, rekrutierte Kindersoldaten und kontrollierte teilweise große Landesteile – bis sie 2009 militärisch besiegt wurden. Seitdem herrscht zwar offiziell Frieden, doch viele Wunden sind geblieben, und Aufarbeitung findet nur zögerlich statt.

Neben dieser bewegten Geschichte hat Sri Lanka eine jahrtausendealte Kultur vorzuweisen: buddhistische Königreiche mit beeindruckenden Ruinen in Anuradhapura, Polonnaruwa und Kandy; der sagenumwobene Felsen Sigiriya mit seinen Fresken; oder die Höhlentempel von Dambulla – allesamt UNESCO-Welterbe. Auch die Natur begeistert: wilde Elefanten in Minneriya, Leoparden im Yala-Nationalpark, Blauwale vor der Südküste. Die Artenvielfalt pro Quadratkilometer gehört zu den höchsten in ganz Asien.

Kulturell prägt der Buddhismus (etwa 70 % der Bevölkerung) das öffentliche Leben. Daneben gibt es starke hinduistische, muslimische und christliche Minderheiten. In Adam’s Peak, einem heiligen Berg im zentralen Hochland, überlagern sich diese Religionen: Der Fußabdruck auf dem Gipfel wird je nach Glaube Buddha, Shiva, Adam oder dem Apostel Thomas zugeschrieben – ein faszinierendes Bild religiöser Vielschichtigkeit.

Sri Lanka ist außerdem Heimat einer stolzen Teekultur – Ceylon-Tee zählt zu den besten der Welt. Auch kulinarisch bietet das Land Vielfalt: von Kiribath (Kokosmilchreis) über würzige Currys und Dhal bis hin zu Hoppers (knusprige Reismehlpfannkuchen). Colombo, die Hauptstadt, hat sich zu einem spannenden urbanen Zentrum entwickelt – mit Rooftop-Bars, kolonialer Architektur und kreativen Kulturorten.

Bislang habe ich noch keinen Film aus Sri Lanka gesehen und konnte auch keinen finden, den ich für diesen Stopp hätte sehen können. Vielleicht habt ihr da eine Empfehlung?

Aber musikalisch bin ich fündig geworden. Besonders gefällt mir Nevi’im aus Colombo. Das könnte allen gefallen, die Explosions in the sky, Mogwai oder God is an Astronaut etc mögen:

Literarisch bin ich natürlich auch fündig geworden. Die Literatur Sri Lankas ist reich und vielfältig, geprägt von den kulturellen Einflüssen der singhalesischen, tamilischen und kolonialen Geschichte. Traditionell spielte die singhalesische Literatur, insbesondere Poesie und religiöse Texte in Pali, eine zentrale Rolle. Auch tamilische Literatur, oft mit starken spirituellen und politischen Themen, hat tiefe Wurzeln.

Zu den bekanntesten Autor*innen Sri Lankas gehört Michael Ondaatje, der international für Werke wie Der englische Patient bekannt wurde. Obwohl er lange in Kanada lebt, reflektiert seine Literatur oft seine sri-lankischen Wurzeln.

In der tamilischen Literatur ist Shobasakthi (Pseudonym des ehemaligen Tamil-Tiger-Kämpfers Antonythasan Jesuthasan) ein wichtiger zeitgenössischer Autor, der in seinen Werken Krieg, Migration und Identität thematisiert.

Sri Lankas Literaturszene ist lebendig und international vernetzt, wobei auch jüngere Stimmen wie Shehan Karunatilaka (Booker-Preis 2022 für The Seven Moons of Maali Almeida) weltweite Beachtung finden. Habe lange zwischen Karunatilakas und Ganeshananthans Buch hin und her überlegt, mich letztendlich dann aber für „Brotherless Night“ entschieden.

Brotherless Night – V. V. Ganeshananthan auf deutsch unter dem Titel „Der brennende Garten“ im Tropen Verlag erschienen, übersetzt von Sophie Zeitz

„Brotherless Night“ ist absolut keine Wohlfühllektüre – und gerade das macht es zu einem so wichtigen Buch. Mit großer erzählerischer Kraft und eindringlicher Sprache folgt der Roman der jungen Sashi, die in den 1980er Jahren in Sri Lanka aufwächst und miterlebt, wie ihre Welt zunehmend von Gewalt, Angst und politischem Fanatismus zersetzt wird. Als angehende Ärztin und Schwester verliert sie nicht nur ihre Brüder, sondern auch zunehmend den Glauben an eine glückliche Zukunft. Der Bürgerkrieg zwischen der sri-lankischen Regierung und den Tamil Tigers zerreißt Familien und ganze Gemeinschaften – das Buch zeigt dies schmerzhaft klar und erschütternd eindringlich.

Im Rahmen meiner literarischen Weltreise ist dieses Buch ein weiteres Beispiel für eine traurige Konstante: Immer wieder stoße ich auf Geschichten von Ländern, in denen sich Bevölkerungsgruppen gegenseitig zu vernichten versuchten. Es ist deprimierend, beinahe zermürbend, wie oft sich dieses Muster zeigt – als sei der Mensch einfach nicht fähig, dauerhaft friedlich zusammenzuleben. Stattdessen wiederholen sich Hass, Misstrauen und Gewalt in immer neuen Formen. Auch in Sri Lanka war es nicht anders – und „Brotherless Night“ verdeutlicht, wie aus Nachbarn Feinde wurden, wie Hoffnung in Ideologie und Ideologie in Terror umschlägt. Und doch – trotz der Schwere – ist das Buch wirklich lesenswert, gerade weil es ein tieferes Verständnis für die komplexe Geschichte Sri Lankas und besonders der tamilischen Bevölkerung ermöglicht. Es stellt keine einfachen Schuldzuweisungen auf, sondern zeichnet ein nuanciertes Bild von Menschen, die im Strudel des Krieges ihre Überzeugungen, ihre Angehörigen und oft auch sich selbst verlieren.

Die aktuelle Lage in Sri Lanka macht klar, dass der Konflikt auch nach dem offiziellen Ende des Bürgerkriegs im Jahr 2009 keineswegs wirklich überwunden ist. Noch immer werden Tamilen diskriminiert, enteignet oder in ihrer kulturellen und religiösen Identität unterdrückt. Zwar gab es jüngst ein wichtiges Urteil des Obersten Gerichtshofs, das die Enteignung tamilischen Landes stoppte, und es bestehen zaghafte Hoffnungen auf Rückgabe und Aufarbeitung – aber die tiefer liegenden Ungleichheiten bleiben bestehen. Viele warten weiter auf Gerechtigkeit, auf eine echte gesellschaftliche Versöhnung, auf Anerkennung des erlittenen Unrechts. Auch internationale Ermittlungen zu Kriegsverbrechen kommen kaum voran.

„Brotherless Night“ ist deshalb nicht nur ein Roman über die Vergangenheit, sondern auch ein Kommentar zur Gegenwart – er zwingt uns, hinzusehen, wo wir vielleicht lieber weggeschaut hätten. Für mich war es ein bedrückendes, aber notwendiges Kapitel meiner Weltreise durch die Literatur. Und auch wenn ich weiter hoffe, irgendwann ein Land zu lesen, in dem das friedliche Zusammenleben nicht durch Massaker, Vertreibung oder systematische Gewalt erschüttert wurde, so war dieses Buch ein würdiger und wertvoller Beitrag zum Verständnis jener Orte, an denen der Friede nach wie vor fragil ist.

V.V. Ganeshananthan, oft auch als Sugi Ganeshananthan bekannt, ist eine US-amerikanische Schriftstellerin mit srilankisch-tamilischen Wurzeln. Sie wurde in den USA geboren, ihre Familie stammt jedoch aus Sri Lanka – diese kulturelle und politische Spannung durchzieht ihr Schreiben auf kraftvolle Weise. Ganeshananthan ist nicht nur Romanautorin, sondern auch Journalistin, Hochschullehrerin und Mitgestalterin des renommierten Literatur-Podcasts Fiction/Non/Fiction.

Mit Brotherless Night gelang ihr 2023 der literarische Durchbruch: Das Buch wurde u. a. für den Women’s Prize for Fiction nominiert. Ganeshananthan verbindet präzise Recherche mit erzählerischer Tiefe – ihr Stil ist ebenso politisch wie poetisch, und sie schafft es, komplexe Konflikte durch individuelle Schicksale erfahrbar zu machen.

Neben ihrer schriftstellerischen Tätigkeit ist sie Professorin für kreatives Schreiben an der University of Minnesota und engagiert sich regelmäßig zu Fragen politischer Gewalt, Erinnerungskultur und der Rolle der Diaspora in der Literatur.
Wer noch mal zu den vorigen Stationen reisen möchte, bitte hier entlang:

China
Vietnam
Afghanistan
Chile
Polen
USA
Kongo
Japan
Belarus
Israel
Südkorea
Nigeria
Trinidad & Tobago
Italien

Kennt ihr Sri Lanka? Habt ihr Tipps für entsprechende Autor*innen / Filme / Bands?

Juni Lektüre

Still Life war für mich eines dieser Bücher, bei denen man schon beim Lesen weiß: das wird bleiben. Großartig geschrieben, voller Wärme und leiser Schönheit.

Und Beklaute Frauen von Leonie Schöller, das mich gleichermaßen wütend, bewegt und tief beeindruckt zurückgelassen hat – so wichtig, so stark.

Enttäuschung des Monats war leider Zadie Smiths The Fraud – trotz großer Vorfreude konnte es mich (und auch meinen Bookclub) nicht abholen.

Ansonsten: ein spannender Mix – mal politisch, mal literarisch, mal laut, mal leise.
Den Stopp in Sri Lanka mit Brotherless Night stelle ich in den nächsten Tagen im Rahmen meines Read Around the World noch ausführlicher vor.

Beklaute Frauen – Leonie Schöler erschienen im Penguin Verlag

Leonie Schölers Beklaute Frauen ist ein dringendes, wütendes und klug recherchiertes Buch, das zeigt, wie systematisch Frauen in der Geschichte der Arbeiter*innenbewegung unsichtbar gemacht, ausgebremst und vergessen wurden. Ob Rosa Luxemburg, Clara Zetkin oder weniger bekannte Aktivistinnen – Schöler spürt Biografien nach, die aus den großen Erzählungen gestrichen wurden, obwohl sie maßgeblich geprägt haben.

Der Ton ist kämpferisch, auch mal wütend aber nie beliebig. Die Autorin gibt sich nicht mit bloßer Empörung zufrieden, sondern liefert historische Fakten, verwebt persönliche Reflexionen mit politischen Analysen und zeigt: Die Geschichte der Linken ist ohne Frauen nicht nur unvollständig – sie ist falsch erzählt.

Beklaute Frauen sich bewußt zu machen: Wer fehlt in den Geschichten, die wir erzählen? Ein schmerzhaft wichtiges Buch, das nachhallt – und dem ich von Herzen viele Leser*innen wünsche.

Erste Hilfe für Demokratie-Retter – Jürgen Wiebicke erschienen im Kiepenheuer & Witsch Verlag

Jürgen Wiebickes „Erste Hilfe für Demokratie-Retter“ ist ein engagiertes, handliches Plädoyer gegen politischen Fatalismus – und eine Anleitung für all jene, die sich fragen, was sie dem wachsenden Autoritarismus, der Polarisierung und der Demokratie-Müdigkeit entgegensetzen können.

In 100 kurzen Ideen, Impulsen und Appellen ruft Wiebicke dazu auf, Haltung zu zeigen, ins Gespräch zu gehen, Widerspruch zu leisten – und die eigene Wirksamkeit nicht kleinzureden. Der Ton ist zugänglich, oft persönlich, manchmal bewusst provokant. Dabei bleibt das Buch stets nah am Alltag und bietet eine niedrigschwellige Ermutigung zum politischen Handeln im Kleinen.

Allerdings wirkt die Form – 100 Tipps auf knappem Raum – mitunter etwas formelhaft und lässt Tiefe vermissen. Manche Gedanken bleiben an der Oberfläche, und komplexe gesellschaftliche Probleme werden mitunter etwas zu leicht abgehandelt.

Trotzdem: Ein guter Einstieg für alle, die nach Orientierung in politisch schwierigen Zeiten suchen.

Was soll aus dem Jungen bloß werden? – Heinrich Böll erschienen im dtv Verlag

Der Untertitel „Irgendwas mit Büchern“ war es, der mich sofort neugierig gemacht hat – und tatsächlich gewährt Heinrich Böll in diesem schmalen autobiografischen Text einen leisen, oft lakonischen Blick zurück auf seine Jugend im Köln der 1930er Jahre.

Mit trockenem Humor und melancholischer Distanz beschreibt Böll, wie er in einem zunehmend autoritären Deutschland zum Bücherliebhaber – und später zum Schriftsteller – wurde. Zwischen katholischer Prägung, schulischer Disziplin und ersten literarischen Träumereien bleibt der Ton zurückhaltend, manchmal fast spröde.

Der Text ist keine klassische Autobiografie, sondern eher eine Skizze, ein Erinnerungsfragment. Wer sich für Bölls Werk oder für die Atmosphäre der Vorkriegszeit interessiert, wird hier fündig. Große Erzählbögen oder emotionale Tiefe darf man nicht erwarten – dafür punktet das Buch mit stiller Selbstironie und einem feinen Gespür für Sprache und gesellschaftliche Zwischentöne.

Kein Must-read, aber ein kleiner Einblick in die frühen Jahre eines etwas in Vergessenheit geratenen Autors, – besonders für alle, die selbst immer „irgendwas mit Büchern“ machen (wollten).

Arturos Insel – Elsa Morante erschienen im Verlag Klaus Wagenbach, übersetzt von Susanne Hurni-Maehler

Die Rezension zu diesem ganz besonderen Roman könnt ihr hier beim Italien Stopp der literarischen Weltreise nachlesen.

Still Life – Sarah Winman auf deutsch unter dem Titel „Das Fenster zur Welt“ bei Klett Cotta erschienen, übersetzt von Elina Baumbach

Ich habe Still Life auf der Zugfahrt von Neapel nach München gelesen – und während der Zug durch die Toskana rollte und Florenz am Fenster vorbeizog, fühlte es sich an, als würde sich die Landschaft direkt mit dem Buch verbinden. Nicht nur, weil ein Großteil der Handlung in Florenz spielt, sondern auch weil der Ton des Romans so viel von dem trägt, was man mit dieser Gegend verbindet: Wärme, Geschichte, Schönheit – aber auch Brüche und Neuanfänge.

Die Geschichte beginnt 1944 in einem kleinen italienischen Dorf, als der junge britische Soldat Ulysses Temper auf Evelyn Skinner trifft, eine ältere, kluge Kunsthistorikerin, die Italien liebt und gerade auf der Suche nach verschollenen Kunstwerken ist. Ihre Begegnung ist kurz, aber bedeutungsvoll – und zieht sich wie ein unsichtbarer Faden durch die Jahrzehnte, die folgen.

The responsibility of privilege must always be to raise others up.

Im Mittelpunkt steht Ulysses, der zurück in London versucht, in ein normales Leben zurückzufinden – und schließlich, gemeinsam mit einer bunt zusammengewürfelten Gruppe von Freund*innen, in Florenz ein neues Zuhause findet. Das Buch erzählt nicht in klassischer Dramaturgie, sondern in kleinen Episoden, Momentaufnahmen, in denen sich das Leben ganz leise entfaltet. Es gibt Verluste, Veränderungen, Umwege – aber alles in einem Ton, der nie resigniert, sondern immer den Blick nach vorn richtet.

Winmans Sprache ist zugänglich, dabei poetisch und oft sehr treffend. Sie beschreibt ihre Figuren mit viel Empathie, ohne sie zu idealisieren. Besonders schön ist, wie beiläufig und selbstverständlich queere Identitäten im Roman vorkommen. Es wird nichts erklärt, nichts betont – sie sind einfach Teil dieser Gemeinschaft, die sich jenseits traditioneller Familienstrukturen gefunden hat.

Still Life ist ein Roman über Freundschaft, über Lebensentscheidungen, über die Bedeutung von Kunst, Geschichte – und über das, was bleibt, wenn alles andere sich verändert. Er stellt keine großen Fragen laut in den Raum, aber beantwortet viele kleine, fast beiläufig: Wie leben wir mit anderen? Wo fühlen wir uns zugehörig? Und was macht ein gutes Leben aus?

Evelyn Skinner ist eine Figur, die ich nicht mehr vergessen werde. Sie erinnert mich sehr an Dulcie in „The Offing“

The Fraud – Zadie Smith auf deutsch unter dem Titel „Betrug“ im Kiepenheuer & Witsch Verlag erschienen, übersetzt von Tanja Handels

Zadie Smith gehört seit White Teeth zu meinen literarischen Favoritinnen – umso größer war die Vorfreude auf The Fraud. Leider blieb sie unerfüllt.

Der Roman spielt im viktorianischen London und verwebt reale historische Ereignisse mit fiktiven Figuren, allen voran die Schriftstellerin Eliza Touchet. Es geht um Wahrheit und Täuschung, um Klasse, Rassismus, Literatur und Kolonialismus – Themen, die zweifellos relevant sind. Doch Smith versucht, all das auf einmal zu erzählen, und genau darin liegt das Problem.

Man spürt die immense Recherche, das kluge Fundament – aber statt zu fokussieren, wollte Smith offenbar alles unterbringen. The Fraud wirkt dadurch überfrachtet, wie ein Gericht mit lauter guten Zutaten, das am Ende trotzdem nicht schmeckt. Die Figuren blieben für mich seltsam blass, der Erzählfluss stockte immer wieder, und auch im Bookclub wurde das Buch eher durchgekämpft als genossen.

Ambitioniert, aber unbefriedigend. Wer Smiths erzählerisches Können wirklich erleben will, greift besser zu „White Teeth“

Liebes Arschlosch – Virginie Despentes erschienen im Kiepenheuer & Witsch Verlag, übersetzt von Ina Kronenberger und Tatjana Michaelis

Liebes Arschloch ist ein literarischer Schlagabtausch, der sich liest wie ein wütender Briefwechsel unserer Gegenwart.

In E-Mails zwischen einem abgehalfterten Schauspieler und einer feministischen Autorin verhandelt Despentes Themen wie Cancel Culture, Macht, Sexismus, #MeToo und digitale Empörungskultur. Was dabei herauskommt, ist alles andere als schwarz-weiß: Beide Figuren sind kantig, verletzlich, widersprüchlich – und gerade deshalb glaubwürdig.

Despentes bleibt ihrem Stil treu: direkt, roh, laut, aber manchmal auch überraschend zärtlich. Ihr gelingt das Kunststück, Widerspruch auszuhalten und Ambivalenz nicht nur zu zeigen, sondern auszuhalten. Ein kluges, streitbares Buch voller Reibung – unbequem, provokant, pointiert aber absolut notwendig. Kein Roman zum Wohlfühlen, sondern zum Mitdenken und Aushalten.

Das war der Juni – krass schon wieder ein halbes Jahr um. Was war euer Juni Highlight und habt ihr von den vorgestellten Büchern schon was gelesen? Falls ja, wie ist eure Meinung oder konnte ich euch auf eines der Bücher Lust machen? Freue mich von euch zu hören.