März Lektüre

10 Geschichten, 10 Welten – und jede einzelne hat mich auf ihre Weise bewegt. Von deutschen Exilautor:innen über mysteriöse Pilzen in China bis hin zu den dunklen Kapiteln Südkoreas mit Han Kang. Ich habe Porzellanwege mit Edmund de Waal erkundet, mit Yaa Gyasi nach Wahrheit gesucht und mit Tolstoy über Besitz und Gier nachgedacht. Besonders beeindruckt hat mich Katharina Köllers „Wild wuchern“ – ein literarischer Wirbelsturm! Bin gespannt, welche ihr kennt, wie ihr sie fandet oder ob ich euch auf das eine oder andere Buch hier neugierig machen kann.

Habt ein besseres Gedächtnis – Wolfgang Eckert/Jürgen Seul erschienen in der Büchergilde Gutenberg und Deutsche Hörer! – Thomas Mann mit Vorwort von Mely Kiyak erschienen im S. Fischer Verlag

Manchmal fügt es sich, dass zwei Bücher zur selben Zeit in die Hände fallen und sich zu einem größeren Bild verknüpfen. So geschehen mit Thomas Manns „Deutsche Hörer!“ und „Habt ein besseres Gedächtnis“ von Wolfgang Eckert und Jürgen Seul. Zwei Werke, die sich auf unterschiedliche Weise mit innerer und äußerer Emigration auseinandersetzen, mit Widerstand gegen den Faschismus und der Erinnerung an jene, die sich gegen ihn stellten. Beide Bücher beeindrucken zutiefst und zeigen auf, wie wichtig es ist, die Stimmen der Vergangenheit nicht verstummen zu lassen.

Thomas Manns „Deutsche Hörer!“ – Ein literarischer Widerstandskampf

Die Neuauflage von „Deutsche Hörer!“ kommt zur richtigen Zeit. In einer Welt, in der faschistische Tendenzen erneut auf dem Vormarsch sind, erhalten die Rundfunkansprachen Thomas Manns an die Deutschen eine bedrückende Aktualität.

Zwischen 1940 und 1945 sendete die BBC Manns eindringliche Worte nach Deutschland, aufgenommen in seinem kalifornischen Exil. Seine Reden sind eine Mischung aus analytischer Schärfe und emotionaler Dringlichkeit. Der Literaturnobelpreisträger beschimpft Adolf Hitler als „die abstoßendste Figur, auf die je das Licht der Geschichte fiel“, als „schlecht ausgefallenes Individuum“ und „blödsinnigen Wüterich“. Gleichzeitig ist er sich der deutschen Mitläufer und ihrer fatalen Mischung aus Gehorsam und Leichtgläubigkeit bewusst.

(…) der deutsche Name zum Inbegriff gemacht allen Schreckens, aller geilen Raubsucht, schandbaren Grausamkeit, erbarmungslosen Gewalt, so dass das Gedächtnis der Völker an vieles Gute, Große und Liebenswerte, womit der deutsche Geist einst die Menschheit beschenkt hat, unterzugehen droht in einem Meer von Hass

Manns Hoffnung auf ein besseres Deutschland ist ungebrochen. Er appelliert an das „wahre“ Deutschland, an die Kultur von Dürer, Bach, Goethe und Beethoven, und setzt den Gräueltaten der Nationalsozialisten Ideale wie Recht, Freiheit und Gerechtigkeit entgegen. Dabei bleibt seine Kritik messerscharf: Er erkennt früh den Holocaust als das, was er ist – ein bestialischer Massenmord.

Mely Kiyaks Vor- und Nachwort rahmen die Neuauflage ein und zeigen, warum Thomas Manns Worte auch heute noch von Bedeutung sind. Dass diese Reden in Deutschland weitgehend unbekannt geblieben sind, ist erstaunlich – und erschreckend. Ein Werk, das gelesen werden muss.

„Habt ein besseres Gedächtnis“ – Drei Erichs und ihr Erbe

Ebenso aufrüttelnd ist „Habt ein besseres Gedächtnis“ von Wolfgang Eckert und Jürgen Seul. Das Buch widmet sich den Lebenswegen von Erich Knauf, Erich Ohser (alias e.o. plauen) und Erich Kästner – drei Männern, die in der Weimarer Republik zu Freunden wurden, künstlerisch eng verbunden waren und die in den 1930er- und 1940er-Jahren unterschiedliche Schicksale erlitten. Während Kästner – der bekannteste der drei – als „innerer Emigrant“ überlebte, wurden Knauf und Ohser von den Nationalsozialisten ermordet.

Erich Knauf (1895-1944): Schriftsteller und Widerstandskämpfer

Knauf war Journalist, Autor und Lektor bei der Büchergilde Gutenberg. Schon früh geriet er mit den Nazis in Konflikt. Sein offener Widerspruch gegen das Regime wurde ihm zum Verhängnis: 1944 verhaftete ihn die Gestapo wegen regimekritischer Äußerungen und ließ ihn unter Volksverhetzungsvorwürfen hinrichten.

Erich Ohser (1903-1944): Der Zeichner hinter „Vater und Sohn“

Ohser, bekannt durch die liebevollen „Vater und Sohn“-Bildergeschichten, konnte seine politische Haltung lange verbergen. Doch sein kritisches Denken war den Nazis ein Dorn im Auge. Als sein Freund Knauf verhaftet wurde, nahm man auch ihn fest. 1944, am Abend vor seiner Verhandlung vor dem Volksgerichtshof, beging er in seiner Zelle Selbstmord.

Erich Kästner (1899-1974): Kritischer Chronist seiner Zeit

Kästner, berühmt für „Emil und die Detektive“, durfte nach 1933 nicht mehr veröffentlichen, da seine Werke als „undeutsch“ galten. Trotz Schreibverbots blieb er in Deutschland und dokumentierte die NS-Zeit als kritischer Beobachter. Seine Wahl des inneren Exils wurde ihm nach dem Krieg oft vorgeworfen, doch sein Engagement für die Erinnerung an seine gefallenen Freunde zeigt seine tiefe moralische Haltung.

Eckert und Seul zeichnen in „Habt ein besseres Gedächtnis“ ein lebendiges Bild dieser drei Männer, ihrer Freundschaft, ihrer künstlerischen Arbeit und ihres Widerstands gegen die Diktatur. Besonders Knauf und Ohser drohen heute in Vergessenheit zu geraten, während Kästner wenigstens als Kinderbuchautor weiterhin präsent ist. Doch ihre Geschichte ist eng verwoben – und es ist höchste Zeit, dass sie wieder erzählt wird. Hervorheben möchte ich auch die unglaublich schöne Gestaltung des Buches, Büchergilde at its best!

Beide Bücher sind dringende Lektüre. Thomas Manns Radioansprachen und die Geschichte der drei Erichs zeigen, wie Widerstand aussehen kann – und wie leicht Stimmen des Widerstands in Vergessenheit geraten können. Dass Thomas Manns „Deutsche Hörer!“ in Deutschland kaum bekannt sind, ist ebenso erschreckend wie die Tatsache, dass Erich Knauf und Erich Ohser langsam aus dem kollektiven Gedächtnis verschwinden.

Umso wichtiger ist es, sich dieser Stimmen wieder zu erinnern. Denn die Mechanismen der Diktatur, die Thomas Mann mit so schneidender Schärfe analysierte, sind nicht vergangen. „Habt ein besseres Gedächtnis!“ fordert nicht nur der Buchtitel, sondern die gesamte Lektüre beider Werke. Wer sich mit der Vergangenheit auseinandersetzt, versteht die Gegenwart besser – und kann die Zukunft hoffentlich klüger gestalten.

Beide Bücher erhalten von mir eine uneingeschränkte Leseempfehlung. Sie sind Mahnung und Inspiration zugleich.

Dann bleiben wir doch noch ein bißchen bei der Büchergilde und ich stelle euch den Jubiläumsband vor, der aus Anlaß der 100 Jahre Büchergilde erschienen ist:

Vorwärts – mit heiteren Augen – Björn Biester erschienen in der Büchergilde Gutenberg

Die Festschrift „Vorwärts mit heiteren Augen“ zum 100-jährigen Bestehen der Büchergilde Gutenberg bietet eine faszinierende Zeitreise durch die Geschichte dieser einzigartigen Buchgemeinschaft. Björn Biester gelingt es, die bewegte Vergangenheit der Büchergilde lebendig werden zu lassen – von den wilden Gründerjahren in den 1920ern über das Exil in der Schweiz während des Zweiten Weltkriegs bis hin zu den Herausforderungen und Erfolgen der Gegenwart.

Die Büchergilde wurde 1924 von engagierten Buchdruckern in Leipzig gegründet, mit dem Ziel, hochwertige Literatur für ein breites Publikum erschwinglich zu machen. Ihr besonderes Markenzeichen: bibliophile Ausstattung mit Leinenbindung und Illustrationen. Von Beginn an prägte die Idee, Bildung und Kultur in Arbeiterkreise zu tragen, das Programm. Ein Konzept, das sich bewährte – die Büchergilde ist heute die letzte verbliebene Buchgemeinschaft dieser Art in Deutschland.

Persönlich verbinde ich mit der Büchergilde eine lange und buchreiche Geschichte. Seit 32 Jahren bin ich Mitglied und kann mir ein Leseleben ohne sie nicht mehr vorstellen. Dabei hat mich unsere Beziehung schon mehrfach finanziell an den Rand des Bankrotts gebracht – nicht wegen der Preise, sondern wegen meiner chronisch leeren Geldbörse. Doch es hat immer wieder funktioniert, und wie froh bin ich darüber! Denn wer einmal erlebt hat, wie es sich anfühlt, ein gut gemachtes, leinengebundenes Buch in den Händen zu halten, der weiß: Das ist unbezahlbar.

Meine erste Begegnung mit der Büchergilde hatte ich auf einem Zeltlager der Gewerkschaftsjugend. Drei Bücher für 5 DM – ein unschlagbares Angebot! Darunter war eine orangefarbene Erich-Kästner-Doppelausgabe, die ich geliebt habe. Leider ist sie irgendwann bei einem meiner vielen Umzüge verloren gegangen. Und was war das dritte Buch? Ich wünschte, ich könnte mich erinnern!

Besonders spannend in der Festschrift ist die Betrachtung der Rolle der Büchergilde in der Geschichte: Wie beeinflusste der politische Wandel die Programmausrichtung? Welche Bücher und Autor:innen prägten das Profil der Büchergilde? Diese Fragen werden kenntnisreich und unterhaltsam beantwortet.

Auch die Besonderheiten des Mitgliedschaftsmodells, das bis heute ohne klassische Mitgliedsbeiträge auskommt, werden anschaulich dargestellt. Stattdessen wählen die Mitglieder pro Quartal aus einer kuratierten Auswahl ein Buch. Früher wurden diese sogar per Fahrrad direkt an die Arbeitsplätze geliefert – ein charmantes Detail, das die besondere Verbindung zwischen der Büchergilde und ihren Leser:innen verdeutlicht.

„Vorwärts mit heiteren Augen“ ist eine Hommage an die Beständigkeit der Büchergilde, ihre leidenschaftliche Hingabe zur Literatur und ihren Beitrag zur Lesekultur in Deutschland. Ein Muss für alle bibliophilen Leser:innen und Geschichtsinteressierten! Und überlegt euch doch, ob ihr nicht auch Mitglied werden möchtet – ich kann es aus tiefstem Herzen empfehlen 🙂

Transcendent Kingdom – Yaa Gyasi auf deutsch unter dem Titel „Ein erhabenes Königreich“ im Dumont Verlag erschienen, übersetzt von Anette Grube

Yaa Gyasis zweiter Roman Transcendent Kingdom ist ein leiser, aber eindringlicher Roman über Wissenschaft, Glauben und den Versuch, inmitten von Schmerz und Verlust Sinn zu finden. Die Geschichte folgt Gifty, einer ghanaisch-amerikanischen Neurowissenschaftlerin, die an der Stanford University an den neurologischen Mechanismen von Sucht und Depression forscht. Doch ihre Arbeit ist nicht nur ein akademisches Unterfangen, sondern eng mit ihrem eigenen Leben verknüpft: Ihr Bruder Nana starb an einer Opioid-Überdosis, ihre Mutter leidet an schweren Depressionen, und Gifty selbst ringt mit den widersprüchlichen Lehren der Wissenschaft und des tief verwurzelten Glaubens ihrer Kindheit.

Gyasi erzählt die Geschichte in fragmentarischen Rückblenden, die nach und nach das Schicksal von Giftys Familie enthüllen. Diese narrative Struktur spiegelt Giftys eigene innere Zerrissenheit wider: Während sie nach empirischen Antworten sucht, holen sie ihre Erinnerungen und Gefühle immer wieder ein. Besonders stark ist Gyasis Darstellung der Mutter-Tochter-Beziehung, die zwischen distanzierter Strenge und tiefer, wortloser Liebe schwankt. Die Mutter bleibt lange eine undurchdringliche Figur, doch gerade in dieser Zurückhaltung liegt die emotionale Wucht des Romans.

But the memory lingered, the lesson I have never quite been able to shake: that I would always have something to prove and that nothing but blazing brilliance would be enough to prove it.

Transcendent Kingdom unterscheidet sich stilistisch und thematisch von Gyasis gefeiertem Debüt Homegoing. Während Homegoing eine epische, generationenübergreifende Geschichte erzählt, ist Transcendent Kingdom eine intime Innenansicht einer zerrissenen Familie. Der Fokus auf Wissenschaft und Religion gibt dem Roman eine intellektuelle Tiefe, die manchmal fast klinisch wirkt. Wer auf der Suche nach einer mitreißenden Handlung ist, wird hier vielleicht weniger fündig, aber Gyasis fein nuancierte Sprache und ihre Präzision in der Figurenzeichnung machen den Roman dennoch zu einer lohnenden Lektüre.

Obwohl mich die starke religiöse Thematik nicht immer vollkommen abgeholt hat, beeindruckt Gyasis Fähigkeit, die existenziellen Fragen ihrer Protagonistin mit großer Sensibilität zu behandeln. Transcendent Kingdom mag nicht die epische Wucht von Homegoing haben, aber es ist ein stilles, kluges Buch, das lange nachhallt.

Weiß und Unmöglicher Abschied – Han Kang erschienen im Aufbau Verlag, übersetzt von Ki-Hyang Lee

Han Kangs Romane „Unmöglicher Abschied“ und „Weiß“ greifen auf unterschiedliche Weise tief in die schmerzhaften, oft verdrängten Winkel südkoreanischer Geschichte und der persönlichen Erinnerung. Während „Unmöglicher Abschied“ ein emotional aufwühlendes Porträt des Jeju-Massakers ist, hebt sich „Weiß“ durch seine introspektive, fast meditative Auseinandersetzung mit Verlust und Erinnerung hervor.

In „Unmöglicher Abschied“ gelingt Han Kang eine eindrucksvolle Annäherung an das Jeju-Massaker von 1948, bei dem mehr als 30.000 Menschen ihr Leben verloren. Die Erzählerin, eine Schriftstellerin, träumt von einem merkwürdigen Bild aus Baumstämmen und Erdhügeln, das sie später als Metapher für die Opfer des Massakers verwendet. Han Kang führt den Leser durch einen verschlungenen Erzählstrom, in dem sich Traum und Wirklichkeit, historische Erinnerung und persönliches Erleben untrennbar verbinden. Besonders prägnant sind die Bildwelten des Schnees, der als Symbol für die Grausamkeit und das Vergessen dient. Es ist eine zutiefst eindringliche Geschichte, die, ähnlich wie „Die Vegetarierin“, eine fast kafkaeske Atmosphäre von Unmenschlichkeit und Entfremdung schafft. Ich habe das Buch als Hörbuch gehört – das war eine ganz besondere Erfahrung und ich habe es innerhalb kürzester Zeit durchgehört. Irgendwann möchte ich es aber auch noch einmal lesen.

A thought comes to me. Doesn’t water circulate endlessly and never disappear? If that’s true, then the snowflakes Inseon grew up seeing could be the same ones falling on my face at this moment. I am reminded of the Inseon’s mother described, the ones in the schoolyard,[…] Who’s to say the snow dusting my hands now isn’t the same snow that had gathered on their faces.

Im Gegensatz dazu ist „Weiß“ ein sehr persönlicher, introspektiver Text, der sich mit der eigenen Familiengeschichte der Autorin auseinandersetzt, insbesondere mit dem Tod ihrer Schwester kurz nach der Geburt. Die Farbe Weiß zieht sich als rotes Band durch das Buch – von der klinischen Reinheit des Neugeborenen, das in weiße Tücher gehüllt wird, bis zu den Erinnerungen der Erzählerin, die eine schmerzliche Verbindung zwischen Tod, Krankheit und Verlust spürt. Die reflektierenden, poetischen Passagen sind dabei oftmals sehr emotional, beinahe pathetisch. Han Kang ergründet, wie die Farbe Weiß in ihrer Kindheit allgegenwärtig war und dabei sowohl als Symbol der Unschuld als auch des Todes erscheint.

Obwohl „Weiß“ weniger greifbar ist als „Unmöglicher Abschied“, da es sich mehr in symbolischen und atmosphärischen Ebenen bewegt, ist es dennoch ein sehr kraftvolles Buch. Es öffnet eine Tür zur tiefen psychologischen Auseinandersetzung mit Verlust und Erinnerung. „Unmöglicher Abschied“ wirkt dagegen fast schon dokumentarisch in seiner Schilderung des Traumas einer ganzen Nation, jedoch ebenso poetisch und eindrucksvoll.

Sobald der Tag ihrer Abreise näher rückt,
wird sie der dunklen Stille dieses Hauses,
in dem sie nicht mehr länger ohnen darf,
etwas zu sagen haben.
Sobald die unendlich scheinende Nacht
zur Neige geht und sich in dunkelblaue Dämmerung
in dem vorhanglosen Nordostfenster zeigt,
sobald sich die glatten Äste der Pappeln
allmählich vor dem Ultramarinblau
des Himmels abzeichnen,
wird sie am frühen Sonntagmorgen,
solange sich in dem Mietshaus noch nichts rührt,
der Stille etwas zu sagen haben.

Insgesamt zeigen diese beiden Werke auf unterschiedliche Weise Han Kangs Fähigkeit, literarisch tiefgründige Themen wie Schmerz, Verlust und die Verarbeitung von Geschichte auf eine sehr intime und zugleich universelle Weise zu erfassen. Beide Bücher habe ich für meinen Südkorea Stop auf der literarischen Weltreise gelesen und den kompletten Artikel könnt ihr hier lesen.

Wild wuchern – Katharina Köller erschienen im Penguin Verlag

Katharina Köllers „Wild wuchern“ hat mich mitgerissen, von der ersten bis zur letzten Seite. Es ist ein Roman, der keine Pause zulässt, der rast und drängt, genau wie seine Protagonistin Marie. Auf der Flucht vor einem Leben, das sie nicht mehr ertragen kann, sucht sie Zuflucht bei ihrer Cousine Johanna, die sich auf einer abgeschiedenen Alm ein neues, kompromissloses Leben geschaffen hat. Zwei Frauen, die nicht unterschiedlicher sein könnten, aber doch eine gemeinsame Geschichte und eine unausgesprochene Verbindung teilen.

Marie ist eine scharfzüngige Wienerin, aufgewachsen in einer Welt des Scheins und der Oberflächlichkeit, verwöhnt und zugleich gefangen in den Erwartungen anderer. Johanna dagegen hat sich früh aus allem herausgezogen, lebt abseits der Gesellschaft und folgt nur noch ihren eigenen Regeln. Ihr erstes Wiedersehen nach Jahren ist mehr ein Kräftemessen als eine warme Umarmung. Doch mit jeder Seite entfaltet sich ein faszinierendes Spiel zwischen Annäherung und Abgrenzung, zwischen Verstehen und Missverstehen.

So bin ich. So bin ich, dass ich schon weiß, die Watschen kommt, und trotzdem renn ich mitten rein. Wie die Opfer in den Horrorfilmen zielsicher in ihren Tod rennen, so renn ich hinein in die Watschen.

Köller schreibt mit einer Wucht, die mich umgehauen hat. Ihre Sprache ist poetisch, direkt, oft ironisch und voller Bildgewalt. Es gibt keine Kapitel, keine Verschnaufpausen – der Text zieht einen hinein in Maries fiebrige Gedanken, ihre panische Flucht, ihre Selbstfindung. Dieser Erzählstil macht den Roman unglaublich intensiv. Ich konnte gar nicht anders, als weiterzulesen.

Besonders beeindruckt hat mich, wie der Roman zwischen Gesellschaftskritik, poetischer Erzählung und fast märchenhafter Stimmung balanciert. Die Natur der Tiroler Alpen ist nicht nur Kulisse, sondern ein eigener Charakter, unbändig, fordernd, schön und gnadenlos zugleich. Hier gibt es keine einfachen Lösungen, keine harmonische Versöhnung mit der Vergangenheit. Aber es gibt Entwicklung, Selbsterkenntnis, leise Veränderung.

Was bleibt, ist ein Roman, der wirklich nachhallt. „Wild wuchern“ ist kompromisslos, klug und voller Emotionen. Eine Geschichte über zwei Frauen, die lernen, sich selbst und einander neu zu sehen. Ich habe Marie und Johanna mit all ihren Stärken und Schwächen ins Herz geschlossen. Und ich kann nur sagen: Lesen! Unbedingt.

The God of the Woods – Liz Moore unter dem Titel „Der Gott des Waldes“ im C. H. Beck Verlag erschienen, übersetzt von Cornelius Hartz

Ich möchte euch gar nicht allzu viel über The God of the Woods erzählen – gefühlt hat sowieso schon jeder (und deren Tante) dieses Buch auf dem Schirm. 😉 Aber falls ihr bisher nichts davon gehört habt oder noch unsicher seid, ob ihr es lesen wollt: Tut es!

Lange habe ich nicht mehr dieses Gefühl gehabt, vollkommen in eine Geschichte einzutauchen – dieses Sommerferien-Gefühl, wenn man stundenlang liest und die Welt um sich herum vergisst.

Nur so viel: The God of the Woods ist ein unglaublich kluger und fesselnder Roman über ein Mädchen, das eines Nachts aus einem Ferienlager im Wald verschwindet – genau wie Jahre zuvor ihr kleiner Bruder. Liz Woods erzählt diese Geschichte meisterhaft, verwebt geschickt verschiedene Zeitebenen, ohne dass man je den Überblick verliert, und liefert ein Ende, mit dem ich wirklich zufrieden war.

Rich people, thought Judy—she thought this then, and she thinks it now—generally become most enraged when they sense they’re about to be held accountable for their wrongs.

Ihr Roman Long Bright River steht hier auch noch ungelesen im Regal – und jetzt freue ich mich darauf umso mehr. Wir waren gestern abend auf einer Lesung von ihr im Amerikahaus in München (moderiert von Günter Keil). Sehr schöne Lesung und eine überaus symphatische Autorin. Falls ihr mal die Gelegenheit habt eine Lesung von ihr zu besuchen – unbedingt hingehen!

Ghost Music – An Yu bislang nicht auf deutsch erschienen

Manche Bücher klingen nach, wie ein Echo, das nicht verhallt. Ghost Music von An Yu ist genau so ein Roman – leise, melancholisch und voller surrealer Schönheit.

Song Yan lebt in einer Ehe, die sich anfühlt wie ein gut eingespieltes Musikstück – vorhersehbar, fast mechanisch. Doch als ihre Schwiegermutter einzieht und geheimnisvolle Pakete mit seltenen Yunnan-Pilzen eintreffen, beginnt sich ihr Leben zu verändern. Ihr Mann Bowen entzieht sich ihr immer mehr, und Song Yan wird von Erinnerungen an ihre verlorene Karriere als Konzertpianistin heimgesucht. Dann taucht ein toter Pianist auf – oder doch nicht? – und ein sprechender, leuchtender Pilz, der ein bestimmtes Klavierstück hören will. Realität und Traum verschwimmen.

We pour a bit of ourselves into everything we do, every note we play and, unwittingly, one fragment at a time, we leave ourselves in the past.

Ghost Music ist eine leise, aber eindringliche Geschichte über verpasste Chancen, unerfüllte Sehnsüchte, die Frage wie gut man jemanden kennen kann und die Musik des Lebens – manchmal laut, manchmal nur ein kaum hörbares Flüstern. An Yu schreibt mit einer poetischen Präzision, die unter die Haut geht.

Ich habe das Buch für China auf meiner literarische Weltreise gelesen. Wer Lust hat kann hier den Rest des Artikels über China lesen.

Die weiße Straße – Edmund de Waal erschienen im Hanser Verlag / Büchergilde Gutenberg, übersetzt von Brigitte Hilzensauer

Edward de Waal ist ein faszinierender Erzähler mit einer tiefen Leidenschaft für Porzellan, und das zeigt sich auch in „Die weiße Straße“. Doch während mich „The Hare with Amber Eyes“ mit seiner persönlichen, fast intimen Familiengeschichte völlig in den Bann gezogen hat, konnte mich dieses Buch nicht in gleichem Maße fesseln.

De Waal nimmt uns mit auf eine Reise zu den Ursprüngen des Porzellans – nach Jingdezhen in China, nach Dresden und nach Cornwall. Es ist eine Mischung aus Reisebericht, Historie, Selbstreflexion und Materialkunde. Dabei folgt er der Idee eines „weißen Pfades“, der ihn von den Anfängen des Porzellans bis zu seiner eigenen Werkstatt führt.

Es gibt Passagen in diesem Buch, die von einer beinahe magischen Atmosphäre durchzogen sind – etwa wenn De Waal eine 12. Jahrhundert-Scherbe aus der roten Erde aufliest oder die verschlungenen Wege der europäischen Porzellanherstellung nachzeichnet. Besonders spannend fand ich den Teil über Dresden und Allach bei München, wo sich die Geschichte der deutschen Porzellanmanufaktur mit den düsteren Kapiteln der Nazi-Zeit verbindet. Hier berührt De Waal auch das Thema Besitz, Macht und Zwangsarbeit, was dem Buch Tiefe verleiht.

Dennoch hatte ich oft das Gefühl, dass sich der Text verliert. De Waal mäandert – er reiht Anekdoten, Namen und Beobachtungen aneinander, springt von einer Reflexion zur nächsten und wechselt mitunter zwischen Erzählperspektiven. Während dieser Stil in „The Hare with Amber Eyes“ für mich perfekt funktionierte, weil er dort eine vielschichtige Familiengeschichte entfaltet, fühlte es sich hier manchmal anstrengend an. Der Wechsel zwischen der minutiösen Beschreibung von Porzellanherstellung und persönlichen Gedanken war nicht immer harmonisch.

Hinzu kommt, dass man am Ende des Tages doch sehr viel über Porzellan erfährt – vielleicht mehr, als man eigentlich wissen wollte. Zwar macht De Waal das Thema mit seiner Begeisterung greifbar, doch nicht jeder Leser wird sich für die chemischen Prozesse und technischen Details gleichermaßen begeistern können.

Ich habe vor, drei Orte aufzusuchen, wo das Porzellan erfunden oder wiedererfunden wurde, drei weiße Berge in China und Deutschland und England. Jeder von ihnen ist mir wichtig. Seit Jahrzehnten kenne ich sie durch ihre Keramik, durch Bücher und Geschichten, aber ich war nie dort. Ich muss an diese Orte fahren, muss sehen, wie Porzellan unter anderen Himmeln aussieht, wie Weiß sich mit dem Wetter verändert. Weiß sind auch andere Dinge auf dieser Welt, aber für mich kommt Porzellan an erster Stelle.

Trotzdem ist „Die weiße Straße“ ein beeindruckendes Buch. De Waals Talent für obsessive Recherche und seine Fähigkeit, Geschichte mit Kunst zu verknüpfen, sind unbestreitbar. Wer sich für Porzellan, Handwerkskunst und die historischen Zusammenhänge interessiert, wird hier viele spannende Einblicke gewinnen. Wer aber eine ähnlich fesselnde, emotional tiefgehende Erzählung wie in „The Hare with Amber Eyes“ erwartet, könnte sich ein wenig erschlagen fühlen.

Vielleicht hätte eine straffere Struktur oder eine klarere Fokussierung das Buch noch stärker gemacht. Doch De Waal ist eben ein Sammler – von Geschichten, Details und Eindrücken. Und genau diese Sammelleidenschaft prägt auch dieses Werk.

How much land does a man need? – Leo Tolstoy auf deutsch unter dem Titel „Wieviel Erde braucht der Mensch“ im Penguin Verlag erschienen

Die Kurzgeschichten „How Much Land Does a Man Need?“ und „What Men Live By des russischen Schriftsteller Leo Tolstoi sind zwei kurze Erzählungen, die beide starke moralische und philosophische Botschaften vermitteln. Sie sind typisch für Tolstois späten Stil, in dem er häufig die Bedeutung von Menschlichkeit, Spiritualität und ethischem Verhalten thematisiert.

In „Wieviel Erde braucht der Mensch?“ geht es um den Bauern Pahom, der nach immer mehr Land strebt, um seinen Wohlstand zu sichern. Die Geschichte ist eine scharfsinnige Allegorie auf Gier und den unstillbaren Drang des Menschen nach Besitz. Nach dem ewigen schneller, weiter, höher und die darin inherente Verhängnis. Der tragische Ausgang dieser Erzählung zeigt, dass wahre Zufriedenheit nicht im materiellen Besitz zu finden ist. Wissen wir doch eigentlich, aber…

In „Was der Mensch lebt“ geht es um einen Mann namens Michael, der in einer schwierigen Lebenssituation Liebe, Barmherzigkeit und die wahre Bedeutung des Lebens erkennt. Tolstoi belschäftigt sich in dieser Geschichte mit den Themen Nächstenliebe und das menschliche Streben nach innerer Erfüllung. Die zweite Geschichte war mir eine Spur zu spirituell.

Diese Erzählungen sind als Teil der Little Black Classics-Reihe von Penguin erschienen. Diese besondere Buchreihe wurde anlässlich des 80. Geburtstags von Penguin ins Leben gerufen und umfasst mittlerweile mehr als 100 Bände, die die Vielfalt und literarische Reichweite der Penguin Classics feiern. Von Indien bis Griechenland, von Dänemark bis Iran – die Sammlung beamt Leserinnen und Leser durch Zeit und Raum. Ob Fiktion, Poesie, Essays oder Bonmots von Schriftstellern wie Tschechow, Balzac, Ovid, Austen, Sappho und Dante – hier findet sich für jede Stimmung das passende Buch. Ich sammle eifrig, habe aber noch lange nicht alle 😉

Geschafft! Ein großartiger Lesemonat geht zu Ende. Jetzt würde ich gern euer Feedback hören? Welche davon kennt ihr? Habt ihr auch gemocht oder auch nicht? Was waren eure Highlights im März?

März by the Book

Willkommen zum Rückblick auf meinen Lesemonat März. Es war ein echtes Lesefest mit neun Büchern! Ich habe literarische Reisen durch Deutschland, Nordmazedonien, die USA, Japan und Israel unternommen, manchmal verbunden mit einer tatsächlichen Reise aber meist ohne meine gemütliche Leseecke zu verlassen.

Ich habe mich durch die Straßen von Athen, Konstantinopel, Paris, Leipzig und London bewegt, auf der Suche nach alten Manuskripten aus der Antike, habe ich eine dystopische Welt entdeckt, in der die Menschheit möglicherweise (oder auch nicht) durch einen Roboter gerettet wird und eine ganze Menge Postkarten gelesen.

Ich stelle euch die Bücher wieder in alphabetischer Reihenfolge vor und hoffe, ich kann euch auf das eine oder andere Buch neugierig machen.

Am Strand von Bochum ist allerhand los – Jurek Becker erschienen im Suhrkamp Verlag

„Am Strand von Bochum ist allerhand los“ ist eine Sammlung von Postkarten, die Jurek Becker im Laufe seines Lebens an Freunde und Verwandte geschickt hat. In diesen Postkarten teilt Becker seine Gedanken, Erlebnisse und Beobachtungen auf humorvolle und oft ironische Weise. Die Postkarten bieten einen Einblick in Beckers persönliche Welt und sein literarisches Schaffen und sind ein faszinierendes Dokument seines Lebens.

Wollte eigentlich nur kurz ins Buch reinlesen und zack komplett hängengeblieben. Das hat riesigen Spaß gemacht, seine lustigen, verrückten ganz bezaubernden Karten zu lesen und ihm durch die Welt und sein Leben zu folgen.

Jurek Becker wurde 1937 in Łódź, Polen, und verstorben am 14. März 1997 in Sieseby, Deutschland. Becker emigrierte 1945 nach Ost-Berlin und studierte dort Philosophie und Literaturwissenschaft. Seine literarische Karriere begann er in den 1960er Jahren mit Kurzgeschichten und Theaterstücken. Bekannt wurde er vor allem durch seinen Roman „Jakob der Lügner“, der auch verfilmt wurde. Beckers Werke zeichnen sich durch ihre einfühlsame Darstellung des menschlichen Lebens und ihre subtile Ironie aus.

Seine Kindheit und Jugend fielen in eine Zeit großer Unsicherheit und Gefahr für Juden in Europa während des Zweiten Weltkriegs. Als Jude musste Becker zusammen mit seiner Familie die Schrecken des Holocausts und der Verfolgung durch die Nationalsozialisten erleben.

Während des Krieges und der deutschen Besatzung Polens musste die Familie Becker zahlreiche Entbehrungen und Gefahren durchstehen. Sie wurden in das Ghetto von Łódź deportiert, das zu den am dichtesten bevölkerten Ghettos im von Deutschland besetzten Polen gehörte. Dort herrschten extreme Bedingungen, darunter Armut, Hunger und Krankheiten.

Becker verlor während des Krieges viele Angehörige und Freunde durch die Gräueltaten des Holocausts. Seine Erfahrungen als Jude während dieser dunklen Zeit prägten sein späteres Leben und sein literarisches Schaffen tiefgreifend. Sie beeinflussten seine Sichtweise auf die Welt und sein Verständnis für die menschliche Natur.

Nach dem Krieg emigrierte Becker mit seiner Familie nach Ost-Berlin, wo er aufwuchs und seine Ausbildung absolvierte. Seine Erlebnisse während des Krieges und seine jüdische Identität hatten einen nachhaltigen Einfluss auf sein Schreiben und fanden in vielen seiner Werke ihren Niederschlag. Beckers literarisches Werk zeugt von einem tiefen Verständnis für die menschliche Tragödie und die Suche nach Identität in einer von Konflikten geprägten Welt.

„Am Strand von Bochum ist allerhand los“ ist ein wunderbares Buch, das riesige Lust macht mal wieder Postkarten zu schreiben und vor allen Dingen auch welche zu bekommen. Also schreibt mir bitte Postkarten – ich verspreche, ich antworte auch!

North Woods – Daniel Mason auf deutsch unter dem Titel „Oben in den Wäldern“ im C. H. Beck Verlag erschienen, übersetzt von Cornelius Hartz

Daniel Masons „North Woods“ ist eine faszinierende fragmentarische Geschichte die sich über mehrere Jahrhunderte erstreckt, beginnend in den 1760er Jahren bis in eine undatierte Zukunft. Das Zentrum des Romans bildet ein entlegener Ort in den Wäldern von Massachusetts und ein gelbes Haus, das durch die Jahrhunderte hinweg verschiedenste Bewohner beherbergt. Mason wählt eine ungewöhnliche Erzählstruktur in der er durch Textfragmente, Briefe, Gedichte und andere Textformen eine reiche, facettenreiche Welt erschafft.

Die Natur, in Form von Wald, Flora und Fauna, ist nicht nur Kulisse, sondern integraler Bestandteil der Geschichten. Der Roman zeigt, wie menschliches Schicksal und natürliche Prozesse miteinander verwoben sind, wodurch eine tiefe Verbindung zwischen den Charakteren und ihrer Umgebung entsteht.

Die Erzählungen verfolgen das Leben verschiedener Charaktere, angefangen bei einem jungen Paar, das einer puritanischen Kolonie entflieht, bis zu einem schizophrener Mann namens Robert, der die Natur akribisch dokumentiert und glaubt, sie durch sein Gehen „reparieren“ zu können.

“The only way to understand the world as something other than a tale of loss is to see it as a tale of change.”

Die Verwendung von unterschiedlichen Textformen und Bildern war anfangs herausfordernd, doch das kreative Risiko zahlt sich aus. Auch wenn nicht mir einige Kapitel/Kurgeschichten besser als andere gefallen haben. Mason schafft eine literarische Welt, in der die Grenzen des Romans erweitert werden. Der Leser erlebt nicht nur die individuellen Geschichten der Charaktere, sondern auch die sich verändernde Landschaft und die Auswirkungen der Zeit auf Natur und Mensch.

„North Woods“ ist nicht nur ein historischer Roman, sondern auch eine Meditation über das Wesen der Zeit, über Veränderung und das unaufhörliche Spiel von Leben und Tod.

Insgesamt ist „North Woods“ ein kühner und origineller Roman, der seine eigene Form findet und den Leser dazu anregt, die Welt und ihre Geschichten auf neue Weise zu betrachten.

Ein spannendes literarisches Abenteuer, die Figuren im Roman sind aber distanziert geblieben, daher gute 3 Sterne für mich.

The Cat who saved books – Sōsuke Natsukawa auf deutsch unter dem Titel „Die Katze die von Büchern träumte“ im C. Bertelsmann Verlag erschienen, übersetzt von Sabine Mangold

Ein kleiner Buchladen in Japan, hohe Holzregale mit seltenen Erstausgaben, eine Tasse Tee, zubereitet nach traditioneller Zeremonie: Das ist das Reich von Rintaro und seinem Großvater. Als der alte Herr stirbt, ist der stille Schüler auf sich allein gestellt. Was soll er mit dem Laden anfangen, der schon lange keinen Gewinn mehr abwirft? Was mit sich selbst, mit seinem Leben ohne den Großvater und dessen Ruhe und Lebensweisheit? Rintaro versteckt sich vor der Welt, verkriecht sich zwischen den fast vergessenen Buchschätzen. Auch seine Klassenkameradin Sayo, die sich Sorgen macht, vermag es nicht, ihn aus seinem Schneckenhaus herauszulocken. Bis eines Tages eine Katze im Buchladen auftaucht – eine sprechende Katze, die Rintaro eindringlich um Hilfe bittet: Die Bücher sind in Gefahr – und nur ein wahrer Buchliebhaber wie er, der die Liebe zum gedruckten Wort von seinem Großvater verinnerlicht hat, kann sie retten …

Großvater sagte immer: »Bücher besitzen eine besondere Macht. Wenn du sie liest, wirst du immer einen Freund zur Seite haben.

Eine zauberhafte Hommage an die Macht der Literatur und der Fantasie – ein Buch das mir wirklich gut gefallen hat und dass zum Glück ein ganzes Stück weniger schmalzig war, als ich es befürchtet hatte.

Die Odyssee des Fälschers – Rüdiger Schaper erschienen im Siedler Verlag

Die Odyssee des Fälschers“ von Rüdiger Schaper ist ein Roman, der die faszinierende Geschichte von Konstantinos Simonides erzählt, einer realen historischen Figur des 19. Jahrhunderts. Simonides war ein griechischer Schriftsteller und Fälscher, der für seine geschickte Manipulation von antiken Texten bekannt war.

Der Roman folgt Simonides auf seiner Reise durch verschiedene Städte und Zeiten, während er antike Manuskripte sucht und reproduziert. Seine Abenteuer führen ihn von Athen über Konstantinopel nach Paris, Leipzig und London, wo er auf historische Persönlichkeiten trifft und in mysteriöse Situationen gerät.

Durch die Darstellung von Simonides‘ Leben und seinen Fähigkeiten als Fälscher wirft der Roman wichtige Fragen nach Authentizität, Wahrheit und Identität auf. Simonides steht im Zentrum eines Netzwerks von Intrigen, Geheimnissen und unerwarteten Wendungen, die die Grenzen zwischen Realität und Fiktion verschwimmen lassen.

In gewisser Weise hat er dem jungen Griechenland gegeben, wonach es dürstete: eine zugleich antike und moderne Identität. Aus einem ähnlichen Impetus schafft zur gleichen Zeit Richard Wagner im „Ring des Nibelungen“ für die Deutschen einen synthetisch-mythologischen Götterkosmos. Eine seltsame Koinzidenz: Wie Griechenland mit seinem bayrischen König ist auch Deutschland eine späte Nation. Dafür braucht es zurückeilende Erfindung und Phantasie.

„Die Odyssee des Fälschers“ bietet eine faszinierende Mischung aus historischen Fakten und literarischer Fantasie. Durch die Darstellung von Konstantinos Simonides‘ Abenteuern wird der Leser auf eine spannende Reise durch die Geschichte der antiken Manuskripte mitgenommen, die sowohl unterhaltsam als auch erhellend ist.

Das Liebespaar des Jahrhunderts – Julia Schoch erschienen im dtv Verlag

In einer Welt, die sich im raschen Wandel befindet, scheint die Liebe oft wie ein ferner Traum aus vergangenen Zeiten. Julia Schoch, eine etablierte Stimme in der deutschsprachigen Literatur, führt uns in ihrem jüngsten Werk „Das Liebespaar des Jahrhunderts“ durch die Wirren einer Beziehung, die mit Leidenschaft begann und im alltäglichen Trott zu erkalten droht.

Der Roman erzählt die Geschichte eines Paares, das sich kurz nach dem Zusammenbruch der DDR kennenlernt. In einer kleinen Plattenbauwohnung in Potsdam erlebt ihre Liebe ihre erste Blüte, bevor sie sich auf spannende Reisen und Auslandsaufenthalten in Paris und Bukarest begeben. Doch selbst inmitten der Intensität und des Glücks scheint das Schicksal der Trennung ständig über ihnen zu schweben.

Schochs Prosa ist klarsichtig und von einer enormen Dringlichkeit durchdrungen. Sie stellt die Frage nach der Funktionalität der Liebe, während sie uns durch die Höhen und Tiefen einer langjährigen Beziehung führt. Die Ich-Erzählerin offenbart ihre Gedanken und Emotionen auf eine Weise, die den Leser*in unweigerlich mitnimmt. Man fühlt sich fast wie ein stiller Beobachter im innersten Zirkel dieser Beziehung.

Die Geschichte entfaltet sich nicht linear, sondern springt zwischen verschiedenen Zeitpunkten und Erinnerungen hin und her. Dadurch entsteht das lebendige Bild einer Liebe, die sich im Laufe der Zeit wandelt und transformiert. Von den bescheidenen Anfängen auf einem sonnigen Balkon bis hin zu den belastenden Verpflichtungen des Familienlebens – Schoch zeigt uns die verschiedenen Facetten der Liebe, die sowohl euphorisch als auch erschütternd sein können.

Besonders faszinierend ist die Art und Weise, wie die Autorin die Stagnation und Entfremdung in der Beziehung darstellt. Die zunehmende Distanz zwischen den Partnern wird mit jeder Seite spürbar, während die Ich-Erzählerin sich in einem Strudel aus ungesagten Worten und unausgesprochenen Sehnsüchten verfängt. Es ist ein leises Drama, das sich vor unseren Augen entfaltet, und doch so fesselnd in seiner Einfachheit.

Durch geschickte Beobachtungen und trockenen Humor gelingt es Schoch, die Alltäglichkeit des Lebens mit all ihren Höhen und Tiefen einzufangen. Von den kleinen Freuden des Elternseins bis hin zu den bitteren Momenten der Einsamkeit – nichts bleibt ungesagt in diesem Buch.

Doch trotz aller Tragik und Melancholie, die in den Seiten dieses Romans mitschwingen, gibt es auch einen Funken Hoffnung. Die Erzählerin erkennt schließlich die Muster ihres Unglücks und findet den Mut, einen neuen Weg einzuschlagen. Es ist ein Akt der Befreiung, der zeigt, dass es nie zu spät ist, sich selbst zu finden und sein eigenes Glück zu verfolgen.

Glauben sie ernsthaft, Trennung ist eine Lösung? Sich dauernd zu trennen und wieder zu verlieben ist, als sähe man Hunderte Filmanfänge, aber keinen Film zu Ende

„Das Liebespaar des Jahrhunderts“ ist ein Buch, das die Tiefen der menschlichen Seele erkundet und dabei die universelle Frage nach Liebe und Verlust aufwirft. Es ist eine Geschichte, die uns daran erinnert, dass die Liebe zwar kompliziert sein mag, aber immer noch die Kraft hat, uns zu transformieren und zu erneuern. Julia Schoch hat mit diesem Roman ein Meisterwerk geschaffen, das noch lange nach dem Lesen in unseren Gedanken nachhallt.

Ich sag es immer wieder: 2023 ist ein unfassbar gutes Lesejahr. Wieder 5/5 Punkten – wie ihr auf dem Bild seht, kam ich aus dem Markieren gar nicht mehr raus. Ganz großes Lesevergnügen. Ich möchte unbedingt noch viel mehr von Frau Schoch lesen!

Zeit der Ziegen – Luan Starova erschienen im Unionsverlag, übersetzt aus dem Makedonischen von Robert Mantovani

„Zeit der Ziegen“ ist ein Roman von Luan Starova, übersetzt von Roberto Mantovani, erschienen im Unionsverlag, der die Geschichte einer albanischen Familie im ehemaligen Jugoslawien während des Zweiten Weltkriegs und der kommunistischen Ära erzählt. Der Roman konzentriert sich auf das Leben der Familie Gjonbalaj, die sich mit den Herausforderungen und Veränderungen in ihrem Land während dieser turbulenten Zeiten auseinandersetzen muss. Dabei werden Themen wie Identität, politische Unterdrückung und die Suche nach Freiheit behandelt. „Zeit der Ziegen“ ist ein berührender und fesselnder Roman, der die Leser*innen durch die historischen Ereignisse und persönlichen Geschichten einer Familie führt, die um ihr Überleben und ihre Selbstbestimmung kämpft. Der Roman hat mir richtig gut gefallen, würde auf jeden Fall auch noch weitere Romane von Starova lesen.

Aber außer den wenigen ehern überzeugten Parteikadern versorgten sich alle anderen, einschließlich der höheren und untergeordneten Beamten, heimlich, wenn es niemand sah, mit Ziegenmilch und Milchprodukten. Einige der weniger hohen Kader bezahlten, bei den höheren drückte man ein Auge zu. An Feiertagen schickte Tschanga dem Parteisekretär und dem Bürgermeister je einen Bottich hochwertigen Ziegenkäse. Und so schwiegen alle in der Hauptstadt der südlichen Republik, gefangen in den Netzen der „Ziegenmafia“, so brummten zumindest die rechtgläubigen Parteiideologen still vor sich hin.

Wer Lust hat mehr über meine Reise nach Skopje zu lesen: bitte hier entlang.

Mockingbird – Walter Tevis auf deutsch unter dem Titel „Die letzten der Menschheit“ im Moewig Verlag erschienen

Wenn es um zeitlose Sci-Fi-Klassiker geht, ist Walter Tevis Mockingbird definitiv ein Juwel. Dieses meisterhafte Werk entführt den Leser in eine düstere Zukunft, in der die Menschheit an den Rand des Untergangs gedrängt wurde. Tevis schafft es, eine Welt zu entwerfen, die gleichzeitig faszinierend und erschreckend realistisch ist, eine Welt, die einen nicht mehr so schnell loslässt.

In „Mockingbird“ präsentiert uns Tevis eine dystopische Gesellschaft, die von einem mechanisierten System regiert wird. Eine Welt, in der die Menschen zu Sklaven ihrer eigenen Technologie geworden sind, in der die Kunst des Denkens und Fühlens verloren gegangen ist. Die Protagonisten sind gebrochene Seelen, die in einer Welt voller Leere und Entfremdung gefangen sind. Doch inmitten dieser Trostlosigkeit findet sich ein Funken Hoffnung, der durch die Seiten des Romans glimmt und den Leser auf eine Reise der Selbstfindung und Erlösung mitnimmt.

Die Charaktere in „Mockingbird“ sind so tiefgründig und facettenreich, dass man sie noch lange nach dem Lesen des Buches nicht vergessen kann. Der Bibliothekar Bentley, der in seiner Einsamkeit und Verlorenheit nach Bedeutung sucht; die junge Frau Mary Lou, die in einer Welt der Maschinen ihre Menschlichkeit bewahrt; und der Roboter Spofforth, der nach Liebe und Verständnis strebt – sie alle hinterlassen einen bleibenden Eindruck und machen „Mockingbird“ zu einer unvergesslichen Lektüre.

When literacy died, so had history.

Tevis‘ Schreibstil ist zugleich poetisch und nüchtern, voller tiefer Emotionen und existenzieller Fragen. Mit jeder Seite zieht er den Leser tiefer in die Welt von „Mockingbird“ hinein, bis man das Gefühl hat, selbst ein Teil dieser beklemmenden Zukunft zu sein. Tevis‘ Fähigkeit, eine so komplexe und faszinierende Welt zu erschaffen, zeugt von seinem außergewöhnlichen Talent als Autor.

Tevis ist ein spannender Autor, der zwar nur 5 Romane schrieb, die aber sehr erfolgreich waren und fast alle verfilmt wurden. Kürzlich erst der riesige Netflix Erfolg „The Queens Gamit“ oder das Juwel „The Man who fell to earth“ mit David Bowie in der Hauptrolle.
Geboren 1928 war sein Leben geprägt von persönlichen Herausforderungen und Kämpfen.

Gewässer im Ziplock – Dana Vowinckel erschienen im Suhrkamp Verlag

Gewässer im Ziplock“ von Dana Vowinckel ist ein einfühlsamer Debütroman, der die Geschichte einer deutsch-jüdischen Familie erzählt, die durch ihre jüdische Herkunft verbunden ist, aber von inneren Konflikten zerrissen wird. Die fünfzehnjährige Margarita verbringt ihre Ferien bei den Großeltern in den USA, sehnt sich jedoch nach Deutschland, wo ihr Vater als Kantor arbeitet. Als sie nach Israel geschickt wird, um ihre Mutter kennenzulernen, werden alte und neue Wunden aufgerissen, und Konflikte eskalieren während einer gemeinsamen Reise durch das Heilige Land. Zurück in Chicago muss Margarita am Krankenbett ihrer Großmutter eine folgenreiche Entscheidung treffen.

Der Roman wird für seine Aktualität und tiefgründige Darstellung der familiären Dynamik gelobt. Die „Stakkato“-Sätzen verdeutlichten stark die Spannungen innerhalb der Familie, die Charaktere entwickeln sich und bleiben nicht starr.

Ich konnte kaum glauben, dass ich es hier mit einem Debütroman zu tun habe. Wirklich großartig was die Autorin hier abliefert. Das Glossar am Ende mit jüdischen Begriffen fand ich sehr hilfreich, habe viel gelernt!

Insgesamt für mich eine sehr gelungene Darstellung des jüdischen Lebens in Deutschland (soweit ich das überhaupt beurteilen kann)

Die Differenz zwischen dem stark religiösen Vater und der pubertären Tochter habe ich als sehr reizvoll empfunden, ebenso wie die verschiedenen Perspektiven, aus denen die Geschichte erzählt wird.

Ich war von meinem hohen Lesevergnügen selbst überrascht, denn als wenig spirituelle Person, geht mir zuviel Religion und Esoterik schnell auf den Keks.

Auch Margarita würde gehen. Ihm das klägliche Herz brechen. Wenn man nur sich selbst verlassen könnte, dachte er, er täte es.

Insgesamt ist „Gewässer im Ziplock“ ein einfühlsamer Roman, der wichtige Themen wie Familienbeziehungen, Identität und kulturelle Zugehörigkeit auf sensible Weise behandelt. Gelegentlich waren mir etwas zu viele Körperflüssigkeiten im Spiel 😉

Große Leseempfehlung und ich habe mich sehr gefreut, dass Dana Vowinckel kürzlich im Literaturhaus München aus ihrem Roman vorgelesen hat und ich die Gelegenheit hatte mir das Buch signieren zu lassen.

Tolles Debut, spannendes Thema – unbedingt lesen!

So, geschafft! Jetzt ihr wieder: worauf konnte ich euch Lust machen? Welche Bücher kennt ihr? Wie war euer Lesemonat – ich möchte von euch hören 🙂