Sommerliche Juli Lektüre

Mein Lesemonat Juli – der war richtig gut. Gute Mischung, ein paar Kracher waren dabei, Neuentdeckungen für mich und keine wirklichen Ausfälle.
Wie war Euer Juli und welche Bücher hier habt ihr schon gelesen bzw möchtet ihr lesen?

Nochmal von vorne – Dana von Suffrin erschienen im Kiepenheuer & Witsch Verlag

Ich mochte den Roman „Noch mal von vorn“ von Dana von Suffrin sehr. Er schafft es, ein ernstes Thema leicht und humorvoll zu präsentieren. Besonders interessant war die Veranstaltung im Literaturhaus, moderiert von Sascha Chaimowicz, bei der Dana von Suffrin erklärte: „Ja, Humor ist natürlich ein Bewältigungsmechanismus, aber auch die einzige Waffe, die ich habe.“

Dana von Suffrin, die bereits für ihren Debütroman „Otto“ (2019) ausgezeichnet wurde, erzählt in ihrem neuen Werk die Geschichte von Rosa Jeruscher. Rosa versucht, die eigene komplizierte Familiengeschichte zu rekonstruieren und die vielen Kratzer im Familien Furnier zu glätten. Die Handlung beginnt, als Rosa am Arbeitsplatz vom Tod ihres Vaters erfährt. Obwohl sie mit seinem Tod gerechnet hatte, stellt die Endgültigkeit des Abschieds vom Vaters eine bedeutende Zäsur dar – vor allem in ihrem Kopf. Jetzt muss sie sich allein mit der komplizierten Familiengeschichte auseinandersetzen.

Erinnerungen an die heftigen Diskussionen ihrer Eltern, die sie passiv, aber aufmerksam verfolgt hat, tauchen auf: „So tat ich, was ich meistens tat: überhaupt nichts, ich bewegte mich nicht und merkte mir alles.“ Die schwierige und belastete deutsch-israelische Beziehung der Eltern lastet wie ein Felsbrocken auf der Familie.

Dana von Suffrin verzichtet auf eine lineare Handlung und flicht fragmentarische Ereignisse aus der Weltgeschichte ein. Sie springt in die Vergangenheit, baut überlieferte Erinnerungen des Vaters und imaginierte Träume in die Handlung ein, und wechselt zurück zu Monologen nach dem Tod des Vaters. So entsteht ein vielschichtiges Bild einer Familie, deren Geschichte von persönlichen Enttäuschungen und Vorwürfen geprägt ist.

„Später beklagte die beauftragte Kommission, dass Hitler es versäumt hatte, seinen Bleistift anzuspitzen. Er war stumpf, und eine viel zu dicke Linie wurde nun zur Grenze, im Maßstab der Karte war sie sechs Kilometer breit geraten“, heißt es in einer historischen Anekdote.

Dana von Suffrin erzählt dieses ihre jüdische Familiengeschichte überraschend leicht, ohne Pathos, aber mit einer Affinität zum schwarzen Humor.

Im Nachhinein, sagte meine Mutter, würde man sich an Tage, an denen etwas besonders Schlimmes oder auch etwas besonders Schönes geschah, immer so erinnern, als hätte etwas in der Luft gelegen, aber das stimmte nicht, in der Luft lag nie etwas.

Rosa sucht nach Normalität, Unbeschwertheit und vielleicht sogar Lebensfreude. Die Autorin zeigt, wie Geschichte in uns weiterlebt und transportiert wird.
Große Empfehlung – unbedingt lesen!

No one is talking about this – Patricia Lockwood auf deutsch unter dem Titel „Und keiner spricht darüber“ im btb Verlag, übersetzt von Anne-Kristin Mittag

Unser Juli Bookclub-Treffen geriet dieses Mal eher zu „No one is reading about this“ Selten habe ich erlebt, dass ein Buch so wenig Anklang fand, besonders der erste Teil, den die meisten wirr und undurchdringlich fanden. Es finden sich sonst fast immer ein paar Fans, ein paar die ein Buch gar nicht mochten und ein paar zwischendrin. Aber dieses Mal war das ungewöhnlich krass. Ich war noch eine von denen die (wie man im Foto sehen kann) durchaus ein paar interessante Absätze und Beobachtungen fand, aber auch ich als damit schon „Fan“ im Bookclub, konnte mich gerade mal zu 3 Sternen durchringen.
Trotzdem hatten wir einen gelungenen Abend im Bookclub, und es entwickelte sich eine lebhafte Diskussion. Viele fühlten sich allerdings „zu alt“ für das Buch weil sie Twitter noch nie genutzt hatten daher insgesamt wenig Berührungspunkte mit dem Buch und seiner Protagonistin hatten.

Patricia Lockwood beschreibt in ihrem Roman „No one is talking about this“ zwei sehr unterschiedliche Lebenswelten. Im ersten Teil geht es um eine Protagonistin, die quasi auf Twitter lebt. Sie denkt ständig darüber nach, welche witzige Bemerkung sie als nächstes twittern kann und wie jede noch so kleine Begegnung in ihrem Alltag zum nächsten viralen Tweet wird. Der zweite Teil hingegen ist sprachlich und emotional auf einer ganz anderen Ebene und hat allen, die es bis dahin geschafft haben (oder die dann nur den 2. Teil gelesen haben), tatsächlich gut gefallen.

Bekannt wurde Patricia Lockwood durch ihr Gedicht „The Rape Joke“, das 2013 viral ging, und ihre Memoiren „Priestdaddy“, in dem sie von ihrer Jugend in einer streng katholischen Familie erzählt, in der ihr Vater durch Sondergenehmigung als Priester ordiniert wird, trotz Ehefrau und seiner drei Kinder.

White people, who had the political educations of potatoes – lumpy, unseasoned, and biased towards the Irish – were suddenly feeling compelled to speak out about injustice. This happened once every forty years on average, usually after a period when folk music became popular again. When folk music became popular again, it reminded people that they had ancestors, and then, after a considerable delay, that their ancestors had done bad things.

Im ersten Teil des Romans führt Lockwood uns in die Gedankenwelt einer namenlosen Protagonistin ein, die durch ihre witzigen Tweets berühmt geworden ist. Sie wird eingeladen, in Städten weltweit über „die neue Kommunikation, den neuen Informationsstrom“ zu sprechen. Der Humor und die Ironie des „Portals“ – so nennt sie das Internet – dominieren ihr Leben. Der zweite Teil des Buches verändert den Ton komplett als die Protagonistin mit einer familiären Tragödie konfrontiert wird. Plötzlich ist der vorher dominierende Humor nicht mehr ausreichend, um mit der Realität umzugehen.

Lockwood’s Fähigkeit, die absurde und oft triviale Natur des Internets zu beobachten und zu beschreiben, ist beeindruckend. Ihre Protagonistin kämpft mit „Ironie-Vergiftung“, und ihre Gedankenwelt ist ein chaotisches Durcheinander von absurden Internet-Memen und ernsthaften Gefühlen. Der Roman ist in zwei Hälften geteilt: Die erste ist eine Studie über ein statisches Leben, das ständig in den Abgrund des „Portals“ starrt. Im zweiten Teil jedoch nimmt das Buch an Tiefe und Komplexität zu, als eine persönliche Tragödie die Protagonistin und ihre Familie trifft.

Ein Buch das polarisiert, aber eigentlich durchweg sehr gute Kritiken bekommt. Nicht jedes Buch passt zu jede*r Leser*in.
Da es so viele Bücher gibt, die noch warten von mir gelesen zu werden, wird es vermutlich keine weiteren Romane von Ms Lockwood für mich geben, aber auf der anderen Seite: sag niemals nie 😉

Einige Herren sagten etwas dazu – Nicole Seifert erschienen im Kiepenheuer & Witsch Verlag

Ich habe dieses Buch so so gerne gelesen! Eines, das endlich den Scheinwerfer auf die zu Unrecht zum großen Teil vergessenen und wieder zu entdeckenden Autorinnen richtet. Meine Leseliste ist auf jeden Fall um Welten länger geworden: Nicole Seiferts „Einige Herren sagten etwas dazu“ ist ein beeindruckendes Werk, das eine wichtige Lücke in der literarischen Aufarbeitung der Nachkriegszeit schließt. Die Autorin beleuchtet die Rolle der Schriftstellerinnen der Gruppe 47, die stets im Schatten ihrer männlichen Kollegen standen und deren Beiträge zur Literaturgeschichte ungerechtfertigt in Vergessenheit gerieten.

Das Buch beginnt mit einem Einblick in die Strukturen und Mechanismen der Gruppe 47, die von Männern dominiert und geprägt wurde. Seifert zeigt, wie Frauen, trotz ihrer Talente und literarischen Leistungen, oft auf ihre äußere Erscheinung oder ihre Rolle als Ehefrauen oder „Tänzerinnen“ reduziert wurden. Seifert konfrontiert die sexistischen Kommentare mit den eigenen Aussagen der betroffenen Frauen, wodurch die Diskrepanz zwischen der öffentlichen Wahrnehmung und der tatsächlichen literarischen Arbeit deutlich wird.

Bevor ich sie kennenlernte, sagte mir jemand, sei sei ein „Pummelchen““, beginnt Richter seine Beschreibung Ilse Aichingers. Tatsächlich habe er dann „eine schöne Frau“ vor sich gehabt, „die einige meiner Tagungsmitglieder so stark anzog, dass sie ganz außer sich gerieten und für meine Begriffe ein wenig an Contenance verloren.

Nicole Seifert startet jedes Kapitel mit Zitaten von Männern und Frauen der Gruppe 47. Diese Gegenüberstellungen verdeutlichen nicht nur die unterschiedlichen Perspektiven, sondern auch die vorherrschenden Vorurteile und die systematische Ausgrenzung der Frauen. Besonders ergreifend ist die Darstellung von Ilse Schneider-Lengyel, einer vielseitigen Künstlerin, die trotz ihrer umfangreichen Bildung und ihrer einzigartigen literarischen Stimme von ihren männlichen Kollegen kaum anerkannt wurde.

Ein weiteres starkes Kapitel widmet sich Gisela Elsner, einer Gesellschaftskritikerin, deren scharfsinnige Satiren über patriarchale Strukturen und Gewaltverhältnisse auch heute noch relevant sind. Elsner spielte bewusst mit ihrem Äußeren, um die Erwartungen der Männer zu unterlaufen und ihre eigene literarische Identität zu betonen.

Seiferts Buch ist nicht nur eine Sammlung von Biografien und literarischen Analysen, sondern auch eine fundierte Kritik am literarischen Kanon und der Rolle, die Frauen darin spielen oder vielmehr nicht spielen dürfen. Das Vergessen von Schriftstellerinnen ist kein Zufall, sondern das Ergebnis systematischer Benachteiligung. Es ist an der Zeit, diese ungerecht behandelten Stimmen wiederzuentdecken und zu würdigen.

Drei ostdeutsche Frauen betrinken sich und gründen den idealen Staat – Annett Gröschner / Peggy Mädler / Wenke Seemann erschienen im Hanser Verlag

Der Titel verspricht schon einiges – und das Buch hält es auch. Was passiert, wenn eine Dramaturgin, eine Journalistin und eine Soziologin zusammenkommen, um über den idealen Staat zu philosophieren? Genau: Ein witziger, tiefgründiger und höchst unterhaltsamer Trialog!

Die drei Frauen nehmen uns mit auf eine Reise durch ihre Gedankenwelt, gespickt mit persönlichen Anekdoten und scharfsinnigen Beobachtungen. Sie werfen einen kritischen Blick auf die Wendezeit, den heutigen Stand der deutschen Einheit und die bestehenden gesellschaftlichen Strukturen. Dabei schrecken sie nicht davor zurück, auch mal ordentlich auszuteilen – sei es gegen alte DDR-Nostalgiker oder die kapitalistische Realität im vereinten Deutschland.

Ein zentraler Punkt des Buches ist die Frage nach der Solidarität, die in der DDR ein hohes Gut war und heute oft vermisst wird. Die Autorinnen diskutieren, wie diese verloren gegangen ist und warum sie heute wichtiger denn je ist. Besonders spannend wird es, wenn die drei sich mit einem Gläschen Wodka (oder auch mal einem Bier) in der Hand über die Möglichkeit einer besseren Gesellschaft austauschen. Man spürt regelrecht die Energie und Leidenschaft, mit der sie ihre Visionen und Ideen teilen.

Annett Gröschner erinnert uns an den Satz von Gerhard Gundermann: „Der Trabi und der Mercedes fahren auf den Abgrund zu. Der Trabi fällt halt nur schneller runter als der Mercedes – der fliegt noch eine Weile.“ Dieses Bild benutzen sie, um den unaufhaltsamen Wandel von Systemen zu beschreiben und um die Frage zu stellen, was danach kommen könnte. Besonders beeindruckend ist ihre Überzeugung, dass Veränderungen möglich sind – nicht durch Abwickeln, sondern durch aktives Gestalten.

Gegenüber, in der Mietwohnanlage der Deutschen Wohnen, die inzwischen Vonovia gehört, schreit einer laut und betrunken nach seiner Freundin, solche Eskapaden kann man sich hier noch leisten, anders als auf der anderen Seite der Ringbahn, wo der Kredit für die Eigentumswohnung zu mehr Disziplin und Selbstbeherrschung zwingt. Dort ist es nicht die Leber, die belastet wird, sondern das Herz, das viel Jogging (oder andere Formen der Selbstoptimierung), Arbeit, Vernetzung und späte Elternschaft managen muss.

Peggy Mädler betont, dass Privatisierung von Wohnraum ein Verrat am Sozialstaat ist und fragt, ob die Dogmen des Kapitalismus nicht genauso fatal sind wie die des Sozialismus. Sie fordert ein weniger moralisierendes, mehr dialektisches Denken: „Das, was uns an der Dialektik so gefällt, ist diese Form von ’nach-Erkenntnis-streben‘, Widersprüche auszuhalten und zu akzeptieren, dass Dinge gleichzeitig sein können, obwohl sie sich widersprechen.“

Die drei Autorinnen sind sich einig, dass es im Leben keine einfachen Antworten gibt und dass man stets in Bewegung bleiben muss – geistig und gesellschaftlich. Sie sehen das Leben als einen nimmer endenden Widerspruch, den man aushalten und durch den man wachsen kann.

„Drei ostdeutsche Frauen betrinken sich und gründen den idealen Staat“ ist ein Buch, das zum Nachdenken anregt, zum Lachen bringt und den Leser immer wieder überrascht. Ich habe richtig viel gelernt. Ich kannte die DDR aus diversen Besuchen, habe aber nie dort gelebt. Habe viel nachgelesen und insbesondere den Verfassungsentwurf für die DDR 89/90 fand ich sehr spannend.

Hier ist eine Einladung, sich auf die Widersprüche des Lebens einzulassen und aus ihnen zu lernen. Ein Buch, für alle, die sich für gesellschaftliche Fragen interessieren und die Freude an klugen, humorvollen Dialogen haben.

Reise im Mondlicht – Antal Szerb übersetzt aus dem ungarischen von Christa Viragh, erschienen im dtv Verlag

Antal Szerb ist eine schillernde Figur der ungarischen Literaturgeschichte. Geboren 1901 in Budapest, war er nicht nur Schriftsteller, sondern auch Literaturwissenschaftler und ein brillanter Kopf. Bevor er mit „Reise im Mondlicht“ 1937 ein Meisterwerk der Weltliteratur schuf, hatte Szerb bereits als Autor und Literaturkritiker für Aufsehen gesorgt. Seine Schriften und seine Leidenschaft für die Literatur prägten nicht nur seine Zeit, sondern beeinflussten auch Generationen nach ihm. Leider wurde sein Leben durch die Schrecken des Zweiten Weltkriegs abrupt beendet; 1945 wurde er von den Nationalsozialisten ermordet. Doch seine Werke, insbesondere „Reise im Mondlicht“, leben weiter und verzaubern Leser*innen weltweit.

Ich habe mich von Anfang an in die Atmosphäre des Romans verliebt. Die Geschichte beginnt mit einem unglücklichen ungarischen Geschäftsmann, Mihály, der sich mit seiner Frau in Venedig auf Hochzeitsreise befindet. Diese Szenerie mag auf den ersten Blick als ein einfaches Klischee erscheinen, doch Szerb gelingt es meisterhaft, eine tiefere, vielschichtige Erzählung zu entwickeln. Mihály, der sich von seiner Vergangenheit befreien möchte, wird bald von Erinnerungen eingeholt, die ihm zeigen, dass er seine eigene Geschichte und die seiner Mitmenschen nie ganz durchdringt und es stets ein tiefer liegendes Geheimnis gibt.

Was mich besonders an diesem Roman gefesselt hat, ist Szerbs brillante Art, Charaktere zu zeichnen und insgesamt mochte ich den Ton des Buches sehr. Mihály, der sich als Außenseiter fühlt, wird in Wirklichkeit von seiner Frau und den Menschen um ihn herum oft falsch eingeschätzt. Die scharfsinnigen Beobachtungen und die subtile Ironie machen das Buch zu einem Werk in dem ich aus dem Markieren spannender Sätze gar nicht mehr rauskam. Es ist eine Geschichte über die Suche nach Identität, über das Spannungsfeld zwischen Konvention und Rebellion, zwischen Mystik und Rationalität. Szerb verbindet Humor mit Tragik, und das auf eine Art und Weise, die mich immer wieder zum Staunen brachte.

Der Roman enthält eine Reihe von seltsamen Zufällen und Wendungen, die fast an einen moderne Schelmenroman oder Road Movie erinnern. Warum es umso erstaunlicher ist, wie gut mir dieser Roman gefallen hat, denn beides sind eigentlich nicht unbedingt meine Lieblings Themen in Romanen.

„Reise im Mondlicht“ ist ein Buch, das mich nachhaltig beeindruckt hat, und ich kann gar nicht anders, als es allen, die ich kenne, zu empfehlen. Lest dieses Buch! Ich würde mich freuen, wenn Antal Szerb noch viel mehr Menschen ein Begriff wäre. Besonders freue ich mich schon auf Szerbs Fantasy-Roman „Die Pendragon Legende“, der mir wärmstens ans Herz gelegt wurde.

Die seligen Jahre der Züchtigung – Fleur Jaeggy aus dem Italienischen übersetzt von Barbara Schaden, erschienen im Suhrkamp Verlag

Diese kleine Novelle hat es in sich“ „Die seligen Jahre der Züchtigung“ von Fleur Jaeggy wurde von Barbara Schaden übersetzt aus dem Italienischen übersetzt und spielt in einem Mädcheninternat im Appenzell der sechziger Jahre. Jaeggy schafft es, in einer relativ schmalen, aber unglaublich dichten Erzählung eine Atmosphäre zu erzeugen, die mich ziemlich in seinen Bann gezogen hat.

Die Geschichte wird von einer vierzehnjährigen Ich-Erzählerin erzählt, deren Alltag von Gehorsam und Disziplin geprägt ist. Die heitere Landschaft vor den Fenstern des Internats steht im krassen Gegensatz zu der strengen Ordnung des Hauses. Die Erzählerin verbringt stundenlange, einsame Spaziergänge in dieser idyllischen Umgebung. Doch dann betritt Frédérique die Szene – schön, streng und voller Überdruss. Frédérique hat eine gewisse Aura um sich, etwas Leises und Schreckliches, das die Erzählerin sofort fasziniert.

Wie man sieht, hatte ich damals noch nicht die Kunst des Vermittelns gelernt, ich glaubte noch, um etwas zu bekommen, müsse man geradewegs das Ziel ansteuern; in Wahrheit aber sind es nur die Ablenkungen, die Unbestimmtheit, der Abstand, die uns dem Vorhaben näherbringen – das Ziel trifft uns, nicht umgekehrt.

Die Beziehung zwischen den beiden Mädchen ist komplex und tiefgründig. Die Erzählerin fühlt sich immer stärker zu Frédérique hingezogen, nicht nur wegen ihrer Schönheit, sondern auch wegen ihrer Disziplin und Perfektion. Es ist fast wie eine morbide Anziehungskraft, die sie nicht loslässt. Erst viele Jahre später kann die Erzählerin ihre abgründige Liebe zu Frédérique in Worte fassen.

Jaeggy beschreibt diese düstere, fast surreale Welt mit einer solchen Präzision und Klarheit, dass man als Leser*in förmlich die beklemmende Atmosphäre des Internats spüren kann. Die Landschaft ist dunkel, die Stimmung melancholisch, und die Beziehungen zwischen den Mädchen sind von einer „keuschen Promiskuität“ geprägt, wie Jaeggy es nennt.

In den Internaten, zumindest in denen, die ich kennengelernt habe, wurde eine senile Kindheit in die Länge gezogen, bis an die Grenze des Schwachsinns.

Was mich besonders an diesem Buch fasziniert hat, ist Jaeggys Fähigkeit, komplexe Gefühle und Stimmungen in kurzen, prägnanten Sätzen einzufangen. Ihre Prosa ist kühl und präzise, fast chirurgisch, und sie schafft es dennoch, eine tiefe emotionale Wirkung zu erzielen. Man merkt, dass Jaeggy selbst eine Art Einsiedlerin ist, die sich in ihre eigene Welt zurückzieht und die vielen Spaziergänge in der Novelle und der Anfang der Geschichte lassen auch auf eine Hommage an Robert Walser schließen.

Eine Geschichte über Einsamkeit, Disziplin und die unergründliche Anziehungskraft zwischen zwei jungen Mädchen. Wer sich auf dieses Buch einlässt, wird mit einer tiefgründigen und bewegenden Lektüre belohnt, die man so schnell nicht vergisst.

Faserland – Christian Kracht erschienen im S. Fischer Verlag

Mich hat das Buch etwas ratlos zurückgelassen. Normalerweise gehe ich dann davon aus, dass ich irgendetwas nicht verstanden habe, besonders wenn es von Menschen, deren Geschmack und Empfehlungen ich schätze, hoch gelobt wird. Insgesamt bin ich auch kein großer Fan von Roadmovies (wie nennt man das bei Büchern? Roadbook?) und das ständige Erbrechen des Protagonisten war schwer zu ertragen. Aber jetzt möchte ich eine Barbour-Jacke (ich hatte mal eine Wachsjacke von Marks & Spencer, die leider bei einem Umzug verloren ging).

Das Buch schildert die abgründigen Seiten des Party-Deutschlands – von Fisch-Gosch, Champagner und Scampis auf Sylt, über bunte Pillen, schwule Burschenschaftler, Models und Yuppies in Hamburg, Frankfurt und Heidelberg, vom P1 in München und Parties in der Schweiz. Diese unterhaltsam klingenden Geschichten werden oft als Popliteratur bezeichnet, aber ist „Faserland“ eigentlich Popliteratur? Die oberflächliche Zärtlichkeit, mit der Kracht die Dinge beschreibt, scheinen das Leiden an der Welt des Protagonisten auszudrücken. Die Welt ekelt ihn an und er erbricht sich pausenlos.

Das Buch ist eine Topographie des Hedonismus im Verfallsstadium, wobei Kracht prätentiös, aber durchaus stilsicher vorgeht. „Faserland“ ist ein sehr deutsches Buch, denn es dreht sich um die alles durchdringende Angst. Diese Dynamik treibt die Erzählung voran, gekoppelt mit einem Hass auf dieses Land, der auf eine bislang kaum gesehene Weise in eine kosmopolitische und episch ergiebigere Form gegossen wird: Es ist ein Buch des Ekels.

Wie auch schon in Krachts Untergangsphantasie „1979“ ist „Faserland“ die Geschichte einer Reise, die im Verschwinden oder in der Selbstauslöschung endet. Der Ekel vor der Welt ist auch ein Ekel vor sich selbst, was dem markenbewussten Nihilismus des Buchs einen poetischen, fast schon ethischen Kern verleiht. Krachts Weg, sich der Welt zu nähern, ist die Flucht.
Seine permanenten Vorurteile und Ablehnungen scheinen seine Art zu sein sich die Welt zu erschließen. Tief in seinem Herzen ist der Protagonist wohl ein Romantiker.

Also zahle ich dem Taxifahrer seinen Fahrpreis und gebe ihm noch ein dickes Trinkgeld, damit er in Zukunft weiß, wer der Feind ist.

Krachts Sehnsucht nach der Schauspielerin Isabella Rosselini beschreibt die feine Distanz, mit der er sich die Welt vom Leib hält, obwohl er sich so danach sehnt: „Ich meine, ich berühre sie nicht, ich denke auch nicht direkt an sie, sondern lasse sie am Rand meiner Gedanken auftauchen, ohne ihr näherzutreten oder mit ihr zu sprechen, ohne sie anzusehen.“

Es ist eine Reise ohne offensichtlichen Grund, ein Vaterland, das er wie von außen betrachtet und das ihm dabei immer mehr anekelt. Freunde mit mottenzerfressenen Pullis oder grünen Barbourjacken tauchen auf und verschwinden wieder. Erinnerungen verblassen im Taumel aus Alkohol und Drogen. Das Bild, das er von Deutschland zeichnet, ist präzise und einseitig zugleich, und spiegelt eine Wahrheit wider: das vom Ende einer Welt, noch bevor die Mehrheut überhaupt erkannte, dass diese Welt überhaupt existierte – geschweige denn, dass sie bereits wieder vorbei war. Kracht hat eine Erzählung geschaffen, die einem mit das Gefühl von totaler existenzieller Verlassenheit vermittelt.

The Driver Seat – Muriel Spark auf deutsch unter dem Titel „Töte Mich“ im Diogenes Verlag erschienen, übersetzt von Matthias Fienbork

Ich habe gerade Muriel Spark’s „The Driver’s Seat“ gelesen und bin immer noch völlig fasziniert von dieser kurzen Geschichte. Es ist ein atemloses, spannendes, hypnotisches und verrücktes Werk, das mich von Anfang bis Ende gefesselt hat.

Die Geschichte beginnt mit Lise, einer eher unscheinbaren Frau, die eines Tages aus ihrem Büro spaziert, sich ein auffälliges neues Outfit zulegt und einen mädchenhafteren Tonfall annimmt. Sie macht sich auf den Weg zum Flughafen, um in den Süden zu fliegen. Im Flugzeug nimmt sie Platz zwischen zwei Männern: Der eine ist erfreut über ihre Gesellschaft, der andere zutiefst beunruhigt. So beginnt eine unheimliche Reise in die dunkleren Bereiche der menschlichen Natur.

Muriel Spark, die Autorin dieses faszinierenden Romans, wurde 1918 in Schottland geboren. Sie war 2x shortlisted für den Booker Prize, hat ihn aber leider nie gewonnen.Ihr Erzählstil ist knapp und drängend, ma ist sofort in einer extravaganten Szene, die die fragile, extravagante Natur von Lise, einer 36-jährigen Frau, zeigt. Die Geschichte nimmt immer düsterere Wendungen, und früh wird uns klar, dass Lise ein schreckliches Schicksal ereilen wird. Diese düstere Geschichte entfaltet sich zu einer unerbittlichen Marschroute in den Tod.

Her lips are slightly parted: she, whose lips are usually pressed together with the daily disapprovals of the accountants‘ office where she has worked continually, except for the months of illness, since she was 18, that is to say, for 16 years and some months. Her lips, when she does not speak or eat, are normally pressed together like the ruled line of a balance sheet, marked straight with her old-fashioned lipstick, a final and judjing mouth, a precision instrument.

„The Driver’s Seat“ ist ein Buch voller Grausamkeit und enthält nur wenige flüchtige Momente des Mitgefühls. Es ist kaum mehr als 100 Seiten lang, doch jede Seite ist randvoll mit intensiven, verstörenden Szenen, die mich total fasziniert haben. Absolut verrückte Geschichte.
Wer nach einer packenden und ungewöhnlichen Lektüre sucht, liegt hier genau richtig. Muriel Spark hat ein Meisterwerk geschaffen, das trotz seiner Dunkelheit und Absurdität tief beeindruckt.
Es gibt auch eine faszinierende Verfilmung mit Elizabeth Taylor in der Hauptrolle namens „Identikit“ aus dem Jahr 1974.

Ich mach mich jetzt auf die Suche nach weiteren Büchern von Ms Spark. Kannte bislang nur „The Prime of Miss Jean Brodie“ – welche ihrer Bücher könnt ihr mir empfehlen?

Meine Woche

Gesehen: Love lies bleeding (2024) von Rose Glass mit Kristen Stewart und Katy O’Brien. Romantischer Thriller mit vielen Leichen, tollem Soundtrack und witziger Story. Absolut sehenswert!

My roots – Wer sind meine Eltern (2024) Was bedeutet es, wenn die Suche nach der eigenen Identität ein offenes Kapitel bleibt – vielleicht für immer? In der vierteiligen Dokuserie stellen sich vier Menschen ihrer eigenen Familiengeschichte und suchen nach ihren unbekannten Vätern und Müttern. Puh das hat mich ordentlich aufgewühlt.

Gehört: Reaching out – Beth Gibbons, Miss Flower – Emiliana Torrini, New London Boy – The Pet Shop Boys, Dream of You – Lionlimb ft Angel Olsen

Gelesen: From London to New York: Can quitting cars be popular?, Colin Farrell and Emma Thompson on Loneliness and Legacy und How to die in good health und über kommunikativen Kontrollverlust

Getan: eine Lesung mit Dana von Suffrin im Literaturhaus besucht, das Fantasy Filmfest besucht, mit lieben Freund*innen gegessen, eine etwas größere Runde gelaufen, eine schöne Wanderung zur Ilkahöhe gemacht und meinen Ehering reparieren lassen

Gefreut: endlich Frühling!

Geweint: nein

Gelacht: über diesen SciFi Kurzfilm – sooo clever!

Geärgert: nö

Gegessen: sehr lecker im Gudrun 3

Getrunken: Espresso Martini

Geklickt: auf dieses Video von Marina Weisband, Frauen in der Wissenschaft sichtbar machen: Das ist das Ziel des Ausstellungsprojekts „Versäumte Bilder“

Gestaunt: über die Bilder des Vulkanausbruchs in Indonesien

Gewünscht: diese Hose, diese Bettwäsche, diesen Pool

Geplant: den Besuch von der lieben Schwiegermama

Gefunden: nix

Gekauft: Leinenhemden und ein gestreiftes Tshirt

Gedacht: Ich werde aufgrund meines Alters oft fälschlicherweise für einen Erwachsenen gehalten

Otto – Dana von Suffrin

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Um Familienromane mache ich in der Regel einen Bogen – insbesondere, wenn Patriarchen darin eine tragende Rolle spielen. Daher wollte ich „Otto“ schon gelangweilt auf Seite packen, doch klugerweise habe ich erst einmal in das Buch hineingelesen, bevor ich mich mit meinem vorschnellen Urteil um ein großes Lesevergnügen gebracht hätte.

Otto, besagter Familienpatriarch, ist tatsächlich ein sehr anstrengender Zeitgenosse, der selbst aus dem Krankenhaus heraus seine beiden Töchter noch ordentlich auf Trab hält. Er macht den beiden ganz selbstverständlich klar, solange er da ist, haben sich die beiden um ihn zu kümmern und sich für ihn auf zu opfern, das sei nun einmal so in einer Familie und in einer jüdischen Familie gleich dreimal.

So unvernünftig, aufbrausend und nervend Otto ist und sein kann, im Laufe des Buches schleicht er sich tatsächlich in mein Herz und ich leide mit seinen Töchtern Timna und Babi mit, denen es schwerfällt, ihren Vater loszulassen, so sehr sie ihn früher ganz gerne losgeworden wären. Und er geht ihnen ganz schön auf die Nerven mit seinen Marotten, seinem Geiz und den ständigen Anrufen. Seine Pflege stellt insbesondere Timna vor große Herausforderungen, aber gleichzeitig gibt es ihr auch die Möglichkeit, in ihre eigene Familiengeschichte einzutauchen.

„Jetzt musst du dich noch entschuldigen, sagte Otto, dann ist alles gut, und wir können bald wieder einen neuen Streit beginnen.“

Timna erzählt ihre Familiengeschichte, die voller Höhen und Tiefen steckt und die gleichzeitig saukomisch und tieftraurig ist. Otto war noch nie einfach, aber er hat es auch wirklich nicht leicht gehabt im Leben. Er wurde in Rumänien geboren, überlebte im Gegensatz zu großen Teilen seiner Familie den Holocaust, siedelte nach Israel um und mußte dort gleich viermal in den Krieg ziehen, um seine neue  Heimat zu verteidigen, bevor er beschloss ausgerechnet Deutschland, die Heimat seiner früheren Verfolger, zu seiner künftigen Heimat zu machen.

„Ich liebe euch, rief Otto, ihr seid alles was ich habe. Und ich bin alles, was ihr habt. Diesen Satz meinte er genau so, wie er ihn sagte.“

Dana von Suffrins gelang es mit viel Humor und auf wunderbare Weise, das Bild eines Lebens zu zeichnen, das voller Schrecken und Diskontinuitäten steckte. Eine Familiengeschichte, die mir in Erinnerung bleiben wird und die ich sehr gerne gelesen habe und bei der ich stellenweise schallend gelacht habe.

Einziger kleiner Kritikpunkt – mir war Otto manchmal fast ein wenig zu schablonenhaft und es wurde kaum ein Klischee ausgelassen. Aber wir reden hier von jammern auf hohem Niveau. Ich bin auf jeden Fall auf das nächste Buch von Dana von Suffrin gespannt, ein wirklich gelungenes Debüt.

Katharina hat den Roman ebenfalls auf ihrem Blog „Kulturgeschwätz“ sehr umfassend und großartig besprochen, den Link findet ihr hier.

Ich danke dem Kiepenheuer & Witsch Verlag für das Rezensionsexemplar.