Diesen Monat war ich überall: in Italien mit den Mann-Brüdern, in Israel mitten in einer moralischen Zwickmühle, in einem japanischen Teehaus mit Franka Potente – und sogar auf Großwildjagd im Kongo – ein Hörbuch, das mich völlig überrascht hat. Truman Capote nahm mich mit in ein sonniges Baumhaus. Mit Deniz Ohde sah ich den Industrieschnee fallen, und die poetischen Worte und Bilder von Robert Macfarlane und Jackie Morris ließen mich staunen.
Welche Bücher davon kennt ihr und welche landen vielleicht auf eure Leseliste?
Beteigeuze – Barbara Zeman erschienen im dtv Verlag
Barbara Zemans „Beteigeuze“ ist ein sprachgewaltiger Roman, der mich wirklich komplett in seinen Bann gezogen hat. Ich habe in den letzten Tagen quasi in dem Buch gewohnt. Ein Buch, das man nicht nur liest, sondern erlebt – funkelnd, irrlichternd, poetisch. So unfassbar wie schön. Ohne zu zögern habe ich ihm fünf Sterne gegeben, denn es ist ein Werk, das auf eine Weise leuchtet, die in der Literatur selten geworden ist.
Beteigeuze, der rote Riesenstern im Sternbild Orion, trägt den Hauch der Vergänglichkeit in sich. Er ist ebenso flimmernd, poetisch und irrlichternd wie dieser Roman.
Das letzte Mal, dass ich ihn hier an dieser Stelle sah, da stand er höher. Rotes Scheibchen Beteigeuze, links unterhalb des Mondes. Wie ich mich auf den Winterhimmel freue. Da machen sich die Sterne in der Dunkelheit groß wie die Goldäpfel im Märchen, dass ich sie mir aus dem Himmel brocke und einen nach dem anderen verspeise, wenn ich denn einen essen will.
Wenn der rote Riese schließlich explodiert, wird der Himmel für Wochen in einem überirdischen Leuchten erstrahlen. Ein kosmischer Abgang, ein letztes Feuerwerk. Doch noch glimmt sein Feuer. Noch trotzt er der Dunkelheit. Und genau diese Vergänglichkeit, dieses Flackern und Leuchten spiegelt sich in Zemans Roman wider. Die Protagonistin Theresa Neges, deren Name übersetzt „Du solltest Nein sagen“ bedeutet, lebt in einer kleinen blauen Wohnung in Wien. Ohne festen Beruf, ohne Geld, mit einem Freund, den sie vielleicht liebt, aber nicht wirklich besitzt. In ihrem großen grauen Mantel streift sie durch die Stadt, legt sich im Hallenbad auf den Beckengrund und übt das Luftanhalten, sucht den Schwindel auf einem Karussell – sie möchte ins Leichte, ins Schwebende, näher an Beteigeuze, diesen brennenden Riesen, der ihr seit ihrer Kindheit vertraut ist.
Immer zärtlicher nimmt sie den Schnee wahr als etwas zur ihr Gehöriges. Ihre Adern, die sind winzige, eisig blaue Flüsse. Gefrierend knisternd. Und ihre Gedanken sind schwer, verlieren alle Schnelligkeit. Welch schöne Muster der Frost ihnen gibt. Wie von Zauberhand sind sie zu Kristallen gereiht.
Zeman schreibt nicht einfach eine Geschichte. Sie erschafft ein Sprachkunstwerk, aufgespannt zwischen Weltraum und Unterwasserwelt, zwischen Absturz und Schweben. Es funkelt in hell und dunkel, im Zentrum ein tanzender Stern. Die Sprache vibriert, schillert, greift nach den Lesenden. Es ist einer dieser seltenen Romane, bei denen es mir komplett egal ist, worum es geht – weil jeder einzelne Satz schon Grund genug ist, das Buch zu lieben. Barbara Zeman, geboren 1981 im Burgenland, lebt in Wien. Sie ist Historikerin, Journalistin und erhielt 2012 den Wartholzpreis. Ihr Debüt „Immerjahn“ erschien 2019, und mit einem Auszug aus „Beteigeuze“ war sie 2022 für den Ingeborg-Bachmann-Preis nominiert.
Sie versteht es, mit Sprache umzugehen, wie es nur wenige tun. Ihre Sätze sind ein Kaleidoskop aus Bildern und Tönen, manchmal messerscharf, manchmal melancholisch verwaschen – eine Supernova von einem Roman.
„Beteigeuze“ ist ein Roman, der in mir nachglüht wie sein namensgebender Stern. Er schwankt zwischen Explosion und Erlöschen, zwischen Schönheit und Schmerz. Ein poetisches Meisterwerk, das man vermutlich entweder nach ein paar Seiten entnervt in die Ecke wirft oder feiert.
Die Grasharfe – Truman Capote erschienen im Suhrkamp Verlag, übersetzt von Friedrich Podszus und Annemarie Seidel
Truman Capote war ein Meister der poetischen Prosa, ein Schriftsteller, der mit wenigen Worten ganze Welten erschaffen konnte. Sein Roman „Die Grasharfe“ ist ein gutes Beispiel dafür. Capote, bekannt für Werke wie „Frühstück bei Tiffany“ und „Kaltblütig“, schöpft hier aus seinen eigenen Erinnerungen an seine Kindheit im Süden der USA. Der Roman trägt eine autobiografische Note, denn Collin Fenwick, der Erzähler, weist deutliche Parallelen zu Capotes eigenem Werdegang auf: ein vaterloser Junge, der bei exzentrischen Verwandten aufwächst und in der Natur eine Zuflucht findet.
Dieses kleine Buch ist ein sonnendurchfluteter Spätsommerroman, voller Nostalgie und Lebensweisheit. Es erzählt die Geschichte von Dolly Talbo, einer sanften, intuitiven Frau, die sich von ihrer dominanten Schwester Verena abwendet, um mit ihrer Catherine, die sie ein Leben lang begleitet sowie ihrem Neffen Collin in einem Baumhaus Zuflucht zu suchen. Sie werden bald von zwei weiteren Außenseitern begleitet: Riley Henderson, ein draufgängerischen Jungen aus der Stadt, und Richter Charlie Cool, einem alten Mann, der nach einem Leben voller Urteile endlich Freiheit sucht. Gemeinsam bilden sie eine provisorische Familie, eine Gemeinschaft jenseits gesellschaftlicher Zwänge.
Was mich an Die Grasharfe am meisten berührt hat, ist die Atmosphäre. Capote gelingt es, die Natur als einen lebendigen, atmenden Raum darzustellen – ein Ort des Friedens, aber auch der Erkenntnis. Die leise flüsternden Grashalme, die Titel gebende „Grasharfe“, scheinen Geschichten aus der Vergangenheit zu erzählen, Geschichten von Verlorenen und Suchenden. Es ist ein Buch über Zugehörigkeit, über Liebe und die Wahl, seinen eigenen Weg zu gehen. Dabei bleibt die Erzählung immer leicht, schwebend, durchzogen von einem feinen Humor, aber auch von einer tiefen Melancholie.
Es war ein Schiff, und wenn man dort oben saß, konnte man die wolkengesäumten Küsten aller Träume entlangsegeln.
Jedes Wort dieses kleinen Romans ist mit Bedacht gewählt, jeder Satz trägt eine poetische Kraft. Man spürt man die Wehmut in jeder Zeile. Man möchte wieder Kind sein, durch Felder streifen, sich in den Ästen eines Baumes verstecken und den Stimmen der Natur lauschen. Der Roman ist kein großes Drama, kein aufwühlendes Epos – er ist eine kleine stille Meditation über das Leben und die Menschen, die es prägen. Dennoch bleibt er spannend, weil Capote es versteht, dass die Leser*innen sich den Figuren verbunden fühlen. Besonders Dolly ist eine sehr faszinierendste Figur, herzlich mit einer fast tiefen Verbindung zur Natur. Es gibt eine Szene, in der Collin beschreibt, wie Dolly das Wetter vorhersagen, Pilze und Wildhonig finden und die süßesten Früchte aufspüren kann – als wäre sie selbst ein Teil des Waldes. Diese sanfte Weisheit ist es, die sie so unvergesslich macht.
Während Capote oft mit seinen düsteren Reportagen und Charakterstudien in Kaltblütig oder Frühstück bei Tiffany in Verbindung gebracht wird, zeigt er hier seine lyrische Seite. Es war sein zweiter Roman und sein erster kommerzieller Erfolg. Die Grasharfe liest sich fast wie ein langes Gedicht, voller Bilder, die nachhallen. Und ja – es macht Lust, ein Baumhaus zu bauen, einen Ort der Freiheit zu schaffen, an dem man den Zwängen der Welt entfliehen kann.
Wer dieses Buch liest, sollte sich Zeit nehmen. Es ist kein Roman, den man hastig konsumiert. Er will in der Sonne gelesen werden, mit dem Wind in den Haaren und dem Rascheln der Blätter im Hintergrund. Es ist ein literarisches Kleinod, das von Freiheit, Freundschaft und den Geschichten erzählt, die in uns weiterleben.
Längst fällige Verwilderung – Simone Lappert erschienen im Diogenes Verlag
In Simone Lapperts Lyrik vermoosen Gedanken und leuchtet der Mond siliziumhell. Die Liebe schmeckt nach Quitte, die Katastrophe nach Erdbeeren, und die Dichterin fragt sich, fragt uns: ›sag, wie kommt man noch gleich ohne zukunft durch den winter?‹ Gedichte über Aufbrüche, Sehnsüchte, Selbstbestimmung und die fragile Gegenwart. Alle Sinne verdichten sich, aller Sinn materialisiert sich in diesen Texten voller Schönheit, Klugheit und Witz.
Ein sehr schöner Gedichtband, den ich gerne gelesen habe. Habe noch zwei Romane im Regal stehen von Simone Lappert, auf die freue ich mich jetzt noch mehr. Eine Autorin die wunderbar mit Sprache spielen kann, die einen Gedichtband verfasst hat, den ich vielleicht auch Leuten in die Hand drücken würde, die sich sonst nicht wirklich an Lyrik herantrauen. Wirklich schön.
Teufels Bruder – Matthias Lohre erschienen im Piper Verlag
Matthias Lohres Roman „Teufels Bruder“ ist die Geschichte über die beiden Brüder Thomas und Heinrich Mann, die gemeinsam eineinhalb Jahre in Italien verbringe. Das wird nicht nur spannend, sondern auch atmosphärisch dicht erzählt und es scheint so viel italienische Sonne durch den Roman, man möchte direkt los reisen.
Lohre gelingt es unwahrscheinlich gut, historische Fakten mit literarischer Fiktion zu verweben. Er zeichnet die Beziehung der beiden Brüder in all ihren Facetten: die Rivalität, die Bewunderung, die unterschiedlichen Lebensentwürfe. Heinrich, der ältere, bereits als Schriftsteller anerkannte Bruder, der sich in die Schauspielerin Lina verliebt, und Thomas, der suchende, schwankende jüngere Bruder, der sich immer wieder in seiner Faszination für einen lockigen melancholischen Jüngling verliert. Gerade diese Passagen fand ich anfangs faszinierend, irgendwann aber etwas zu ausschweifend. Das ständige Hinterherschleichen und die intensiven Grübeleien hätten für meinen Geschmack etwas gestrafft werden können – aber das ist Jammern auf hohem Niveau.
Was Lohre besonders gut macht, ist die psychologische Tiefe seiner Figuren. Thomas Mann wird nicht als der überlebensgroße Literat dargestellt, sondern als junger Mensch, der seinen Platz in der Welt sucht, zwischen bürgerlichen Erwartungen und künstlerischer Ambition. Man spürt seinen inneren Zwiespalt, die Bewunderung für den älteren Bruder, die Unsicherheit, das Staunen über die eigene wachsende Schaffenskraft. Dass diese Reise nicht nur einen literarischen, sondern auch einen persönlichen Wendepunkt für ihn darstellt, wird immer deutlicher, je weiter der Roman voranschreitet.
Heinrich leerte sein Glas in wenigen Zügen und ließ sich den Weg zu den Waschräumen zeigen. Auch wenn der Verlegersohn nur aussprach, wovon er selbst überzeugt ar, war dessen Gestus doch anstössig. Junior schien unter der Schlechtigkeit der Menschen nicht zu leiden, sondern sie zu genießen.
Die Atmosphäre des südlichen Italiens fängt Lohre hervorragend ein. Man fühlt sich in die Hitze Neapels versetzt, hört das geschäftige Treiben Roms und spürt die Melancholie Venedigs. Gerade die Szenen in Palestrina, wo Thomas Mann dem „Bösen schlechthin“ begegnet, haben eine fast unheimliche Intensität. Es bleibt unklar, was genau dort geschah, aber die Andeutungen reichen aus, um die Schwere dieses Erlebnisses zu erahnen.
Besonders gelungen fand ich die literarischen Bezüge. Wer Thomas Manns Werk kennt, wird hier viele Motive und Anklänge wiederfinden – sei es an „Buddenbrooks“, „Tod in Venedig“ oder „Doktor Faustus“. Doch auch ohne Vorkenntnisse funktioniert der Roman, denn Lohre erzählt eine eigenständige Geschichte, die sich nicht in literarischen Anspielungen verliert, sondern ihre ganz eigene Kraft entfaltet.
Insgesamt ist „Teufels Bruder“ ein großartiger Roman, der sowohl als fiktionale Biografie als auch als eigenständige Erzählung überzeugt. Er hätte vielleicht 100 Seiten kürzer sein können, aber das ändert nichts daran, dass ich ihn sehr mochte. Eine klare Leseempfehlung und ich möchte nach „Felix Krull“ das mich letztes Jahr so begeistert hat dieses Jahr unbedingt die „Buddenbrooks“ lesen. Lohre hat mir da echt Lust drauf gemacht.
Antarctica – Claire Keegan auf deutsch unter dem Titel „Wo das Wasser am tiefsten ist“ im Steidl Verlag erschienen
Mit Claire Keegans Debüt Kurzgeschichten Band bin ich überhaupt nicht warm geworden. Die erste titelgebende Geschichte war krass, sehr düster und an die denke ich immer noch. Alle anderen haben nicht gefunkt bei mir und sind irgendwie alle ineinander geflossen. Ich mochte ihren Schreibstil, möchte auch gerne noch einen ihrer Romane lesen, aber bei den Kurzgeschichten bin ich raus.
Hat einer von euch etwas von Claire Keegan gelesen? Welchen Roman würdet ihr empfehlen?
Löwen wecken – Ayelet Gundar-Goshen erschienen im Kein & Aber Verlag übersetzt von Ruth Achlama
Der Roman den ich für den Stopp in Israel auf meiner literarischen Weltreise gelesen habe. Meine Rezension dazu könnt ihr hier nachlesen.
Zehn – Franka Potente erschienen im Piper Verlag
Wir hatten ein paar wirklich graue Tage in München und irgendwann habe ich beschlossen eine kleine „Reise nach Japan“ zu unternehmen und unser wunderschönes japanisches Teehaus zu besuchen. Entsprechende Reiselektüre habe ich auch eingepackt und Franka Potentes Kurzgeschichten haben mich gut unterhalten. Zehn feine kleine Geschichten mit Beobachtungen aus dem japanischen Alltag, viel Augenmerk auf Essen und Heizgeräte 😉
Besonders gern mochte ich die erste Kurzgeschichte „Götterwinde“ über eine Frau die einen Laden für handgemachte Fächer hat und eine besondere Begegnung mit einem Kunden hat. Perfekte Begleitlektüre für meinen Ausflug.
Streulicht – Deniz Ohde erschienen im Suhrkamp Verlag
Industrieschnee markiert die Grenzen des Orts, eine feine Säure liegt in der Luft, und hinter der Werksbrücke rauschen die Fertigungshallen – Deniz Ohde entwirft in ihrem Debütroman Streulicht eine Kulisse, die mir seltsam vertraut ist. Ich bin und bleibe wohl eine Identifikationsleserin. Und selten habe ich mich einer Protagonistin so nahe gefühlt wie hier.
Ohde erzählt von einer jungen Frau, die in einem westdeutschen Arbeiterhaushalt aufwächst, deren Vater tagein, tagaus Aluminiumbleche beizt, deren Mutter irgendwann ihre Koffer packt und verschwindet, deren Großvater an seiner eigenen Stille und Unbeweglichkeit fast erstickt. Sie erzählt von einem Mädchen, das sich in einem Bildungssystem behaupten muss, das Chancengleichheit verspricht, aber (unsichtbare) Hürden aufbaut, die für manche kaum zu überwinden sind. Vom frühen Schulabbruch, von der Anstrengung, sich durchzukämpfen, von der Angst, nicht zu genügen, und der Scham, wenn man doch immer wieder zurückverwiesen wird auf den Platz, den andere für einen vorgesehen haben.
Ich kenne dieses Gefühl so gut. Es ist das Gefühl, mit jedem Schritt, den man geht, gegen eine unsichtbare Wand zu laufen. Das Gefühl, dass der eigene Hintergrund sich wie ein bleierner Schatten über alle Ambitionen legt. Deniz Ohde hat es geschafft, all das in eine Sprache zu fassen, die so unfassbar präzise ist, dass man das Gefühl hat sich manchmal blutige Schrammen zu holen. Ihre Sätze sind zurückgenommen und gleichzeitig eindringlich, jede Beobachtung sitzt, jedes Detail erzählt eine eigene Geschichte.
Und während ich lese, denke ich auch zurück. Ich bin nicht schaumgeboren, sondern ölofendunstgeboren. Der Geruch, der mich sofort in meine Kindheit zurückkatapultiert, ist der von Öl, das aus der Kanne in den Ofen gegossen wird. Dieser alles durchdringende, stechende Geruch, der nicht nur im Keller bei den riesigen Öltanks vorherrschte, sondern sich auch in unser Essen schlich. Denn meine Oma lagerte aus Platzmangel unsere Vorräte im Keller – Kartoffeln, Karotten, Kohl, direkt neben den Tanks.
Der eingebaute Schrank, in dem die Ölkannen standen. Heizungsölgeruch in den Klamotten und immer die Sorge, andere können das an einem riechen. Wir lebten in einer Reihe von vier Mietskasernen, doch nur unsere Reihe hatte keine Heizung. Sie war für die Aussiedler und Flüchtlinge vorgesehen. Heute sind es Eigentumswohnungen – ein absurdes Schicksal für diese Bauten, oder? Krass, wie sehr die Orte, in denen wir aufwachsen, uns formen, wie tief sich ihre Geschichten in unsere Körper einschreiben.
Ohde beschreibt diese Welt ohne Pathos, aber mit einer Wahrhaftigkeit, die manchmal schwer auszuhalten ist. Sie zeigt, was es bedeutet, wenn Herkunft nicht nur eine Tatsache, sondern ein Stigma ist. Wie Klassismus sich in feinen, kaum sichtbaren Rissen im Selbstbewusstsein eingräbt. Wie er sich als verinnerlichte Abwertung manifestiert – und wie schwer es ist, sich davon zu befreien. Und dann sind da noch die anderen Linien der Ausgrenzung: subtiler Rassismus, Armut, psychische Krankheiten, alles ineinander verschränkt, alles spürbar in jeder Begegnung, jedem Blick, jeder Geste.
Wenn einem etwas angetan wird, dann ist er nicht selbst schuld daran; wenn einer in einem System versagt, das von vornherein auf sein Versagen angelegt ist, liegt die Schuld nicht bei ihm. Für wen ist das Netz gebaut. Für wen ist es ein Fangnetz, und für wen ist der Abgrund darunter bestimmt.
Ich habe diesen Roman nicht nur gelesen – ich habe ihn durchlebt. Ich saß mit der Protagonistin im Klassenzimmer und habe die Lehrer verflucht, ich sah mit ihr auf den Industriepark mit seinen hohen Schloten, ich spürte ihre Resignation auf meinen eigenen Schultern lasten. Und ich ging mit ihr mühevolle Schritte mit dem Gefühl, falsch zu sein, selbst schuld zu haben, durchs Raster gefallen zu sein – in einem Land, das gleiche Bildungschancen proklamiert.
Deniz Ohde hat meinen tiefsten Respekt für diesen Roman. Es ist eine Geschichte, die bleiben wird, weil sie nicht nur erzählt, sondern auch entblößt. Weil sie einen nicht nur an die Hand nimmt, sondern einem auch einen Spiegel vorhält. Und weil sie mich – und sicher viele andere – an Dinge erinnert, die sonst oft unsichtbar bleiben. Ich bin gespannt auf alles, was sie noch schreiben wird. Denn wenn Streulicht eines bewiesen hat, dann das: Es gibt Literatur, die uns nicht nur etwas über andere erzählt, sondern uns mit jedem Wort mehr über uns selbst verrät. Was für ein Roman!
Die verlorenen Wörter – John Macfarlene & Jackie Morris erschienen bei Naturkunden im Matthes & Seitz Verlag, übersetzt von Daniela Seel
Es gibt Bücher, die man liest, bewundert und dann wieder ins Regal stellt. Und es gibt Bücher wie „The Lost Words/Die verlorenen Wörter“ von Robert Macfarlane und Jackie Morris, die man nicht nur liest, sondern immer wieder zur Hand nimmt, weil sie einen ganz tief berühren. Dieses Buch ist mehr als eine Sammlung von Versen und Illustrationen – es ist ein Zauberbuch, das verlorene Worte und damit verlorene Welten zurückruft.
Die Geschichte hinter diesem Buch ist ein bißchen traurig, hat enthält aber auch einen Hauch Hoffnung: Als das Oxford Junior Dictionary 2007 Wörter wie „Eichel“, „Dachs“ und „Königsfischer“ strich, um Platz für Begriffe wie „Broadband“ und „Voicemail“ zu machen, war das ein bezeichnendes Zeichen unserer Zeit. Ein Kind, das keine Worte für die Natur hat, verliert nicht nur die Fähigkeit, sie zu benennen, sondern auch, sie wirklich wahrzunehmen. Sprache formt unsere Vorstellungskraft, und wenn uns die Worte für das Wilde, das Ursprüngliche fehlen, wird es Stück für Stück unsichtbar.
Macfarlane und Morris haben darauf mit einer poetischen „Rebellion“ geantwortet. Sie haben nicht einfach ein Kinderbuch geschaffen – sie haben eine Sammlung von „Zaubersprüchen“ geschrieben, Verse, die die verlorenen Worte zurückholen und ihnen neues Leben einhauchen. Jackie Morris’ Illustrationen sind wunderschön, detailverliebt und von einer tiefen Liebe zur Natur durchdrungen. Würde so gerne so zeichnen können! Jedes Bild, jede Seite ist ein kleiner Zauber, der die Magie der Sprache und der Wildnis feiert.




Ja, es ist eigentlich ein Kinderbuch – aber es weckt eine tiefe Sehnsucht nach der Natur, egal wie alt man ist. „Die verlorenen Wörter“ sollte vielleicht vom Arzt als Antidepressiva verschrieben werden, als Gegenmittel gegen Doom-Scrolling, Betontristesse und die allgemeine Entzauberung der Welt.
Dieses Buch zaubere ich jetzt in jedes Klassenzimmer, jede Bibliothek, jedes Zuhause. Es ist eine Einladung, die Natur wieder zu entdecken. Denn nur was wir benennen können, können wir auch lieben. Und nur was wir lieben, werden wir bewahren.
Geschafft! Was waren eure Februar Highlights? Freue mich von euch zu hören!









