Mai Lektüre

Der Mai war ein toller Lesemonat – mit berührenden Geschichten, diversen Perspektiven, unerwarteten Fundstücken und viel literarischer Reiselust. Besonders bewegt haben mich zwei Bücher über ungewöhnliche Berufe: Schwere Lasten und Marzahn, mon Amour. So sehr, dass ich jetzt ernsthaft darüber nachdenke, Kranfahrerin zu werden (Fußpflegerin aber eher nicht). Beide Bücher waren für mich klare 5-Sterne-Titel Ein echtes Highlight war auch die Lesung von Annett Gröschner, von der ich sogar eine persönliche Widmung bekommen habe: „Für die künftige Kranfahrerin.“ 🧡

Einen völlig anderen, aber gleichfalls eindrucksvollen Ton schlug Andrew O’Hagan in „Caledonian Road“ an – ein moderner Gesellschaftsroman à la Dickens, der das Leben entlang einer Londoner Straße in all seinen Facetten einfängt. Mit Christine Frohmanns „Vier Wochen“ kam schon ein erster Hauch Italien auf, während mich Monique Roffey mit „Die Meerjungfrau von Black Conch“ auf die karibische Insel Trinidad und Tobago entführte.

Ein überraschender Fund aus dem Bücherschrank war Bernard Berensons „One Year’s Reading for Fun“ – eine kleine literarische Zeitreise. Weniger überzeugt hat mich hingegen Christine Brückners „Wenn du geredet hättest, Desdemona“ das mich leider nicht richtig gepackt hat und das ich abgebrochen habe. Schade, hatte mich sehr darauf gefreut.

Auch auf die Ohren gab’s im Mai einiges: Olga Ravns „Die Angestellten“ als Hörbuch war eine faszinierende, leicht verstörende Mischung aus Science-Fiction, Poesie und Gesellschaftskritik. Und mit Neil deGrasse Tysons „Astrophysics for People in a Hurry“ habe ich zwischendurch einen kleinen Ausflug ins Weltall gemacht.

Was ihr hier noch nicht findet, sind die Bücher, die mich Ende Mai mit auf meine Reise nach Italien begleitet haben – die stelle ich euch bald in einem separaten Beitrag vor: Read Around the World: Italien.

Schwere Lasten – Annett Gröschner erschienen im C. H. Beck Verlag

Schwere Lasten ist eines dieser Bücher, die man aufschlägt und dann plötzlich das Gefühl hat, man würde einer Stimme lauschen, die man schon lange kennt. Vielleicht, weil sie einen an die eigene Oma erinnert. Vielleicht, weil sie aus einer Zeit erzählt, die einem trotz aller historischen Distanz so schmerzlich gegenwärtig vorkommt. Bei mir war es beides. Ich habe die Autorin auf einer Lesung erlebt, war von ihrer Art zu erzählen sofort gepackt – und wusste: Dieses Buch brauche ich in meinem Leben.

Im Mittelpunkt steht Hannah, eine Frau mit einem Leben, das man kaum fassen kann: geboren noch unter dem Kaiser, überlebt sie zwei Diktaturen, zieht sechs Kinder groß (zwei davon kann sie nicht begraben), betreibt einen Blumenladen, wird dann Kranführerin in der DDR – und lebt zuletzt in Hellersdorf, wo es für den Traum vom Garten nur zum Beet unter dem Fenster reicht. Eine Figur, so dicht und dreidimensional gezeichnet, dass man das Gefühl hat, sie könnte gleich zur Tür hereinkommen.

Was Gröschner gelingt, ist ein literarisches Kunststück: Die politische Geschichte des 20. Jahrhunderts wird nicht nacherzählt, sondern durchlebt – in Hannahs Alltag, in ihrer Arbeit, in ihren Verlusten und kleinen Hoffnungen. Besonders die Kapitel zu den Bombardierungen während des Zweiten Weltkriegs haben mich tief getroffen. Sie haben Erinnerungen an die Geschichten meiner Großmutter geweckt, die die Kriegsjahre in Quedlinburg überlebt hat. Weniger Bomben vielleicht, aber dieselbe Angst, dieselbe Ungewissheit. Und heute? Wieder Menschen in Kellern und U-Bahn-Schächten. Wieder Kriege. Wie krass lernresistent sind wir Menschen eigentlich?

Je besser sie den Kran beherrschte, desto mehr Gefallen fand sie an ihrer Position. Bald nannte sie ihren Kran Mimi. Sie redete mit Mimi, wie sie mit den Blumen geredet hatte. Und nicht selten dachte sie, dass sie mehr mit ihrem Arbeitsgerät redete als mit Karl.

Was dieses Buch auch ist: ein Denkmal für die Frauen der Arbeiterklasse. Für die, die gearbeitet haben, bis nichts mehr ging – und trotzdem nie wirklich Teilhabe bekamen. Für die, die sich alles vom Mund absparen mussten, während man heute mit blanker Selbstverständlichkeit fordert, sie mögen doch bitte länger arbeiten, länger schuften. Schwere Lasten zeigt, wie viel Menschen tragen müssen – und wie wenig sie dafür häufig bekommen.

Habe seitdem echt mal gegoogelt, was man braucht, um diesen Beruf zu ergreifen. Zwischen all den Bullshit Jobs, die uns umgeben und oft nur um sich selbst kreisen, erscheint mir der der Kranführerin unter Umständen realer, sinnvoller, vielleicht sogar erstrebenswerter als Beruf. Verantwortung, Übersicht, etwas bewegen – ganz buchstäblich. Und vielleicht auch ein bisschen Würde. Genau wie bei Hannah. Die mir allerdings berechtigt in den Hintern treten würde ob meiner romantisierenden Gedanken. Hanna Krause blieb bis zu ihrem Tod eine, die das Leben nimmt, wie es kommt. Ihr einziges Credo: „anständig bleiben.“ Große Empfehlung für dieses Buch – das habe ich sicherlich nicht zum letzten Mal gelesen.

Marzahn Mon Amour – Katja Oskamp erschienen im Hanser Verlag


Ich muss zugeben, ich war überrascht, wie sehr mich dieses Buch berührt hat. Katja Oskamp, geboren 1970 in Leipzig, hat ursprünglich Theaterwissenschaft und später am Leipziger Literaturinstitut studiert. Nach einigen literarischen Veröffentlichungen wechselte sie irgendwann beruflich völlig die Spur – und wurde medizinische Fußpflegerin in Berlin-Marzahn. Berlin Mon Amour basiert auf ihren Erlebnissen in diesem Beruf, mitten in einer Plattenbausiedlung, fernab vom hippen Mitte und Prenzlauer Berg – und genau das macht das Buch so besonders.

Ich hatte beim Lesen immer wieder Flashbacks an einen Sommer in den frühen 90ern, als ich Ferien bei einer Freundin in Hellersdorf in „der Platte“ gemacht habe. Damals stand gefühlt in jedem Treppenhaus ein Berg aus ausrangierten DDR-Möbeln, und es gab diese älteren Damen mit Berliner Schnauze, die den ganzen Tag das Treiben draußen vom Fensterbrett aus kommentierten – herrlich direkt, witzig und ohne Blatt vorm Mund. Einige dieser Damen hätten auch wunderbar bei Katja Oskamp im Fußpflegesalon Platz nehmen können. Genau diese Lebensnähe macht das Buch so stark.

Ich mochte besonders die Dynamik zwischen den drei Frauen im Salon – da schwingt Solidarität, Humor und viel Lebenserfahrung mit. Oskamp schafft es, Menschen zu porträtieren, die sonst eher durchs Raster der Literatur fallen. Keine Hochglanzfiguren, keine Dramen à la Netflix – sondern echte, manchmal schrullige, immer aber würdevolle Persönlichkeiten. Und ganz ohne diesen voyeuristischen Blick, den man aus dem Reality-TV kennt.

Unsere Arbeit ist kostbar! Unsere Kundschaft ist Spitze! Marzahn, mon amour!“
„O Gott, sie dichtet wieder“, sagt Flocke und grinst.
„Muss ick doch, Schnuffelpuppe“, sage ich, von die Füße alleene kann ja keen Mensch leben.“

Ganz nebenbei habe ich auch realisiert, wie wenig Aufmerksamkeit wir eigentlich unseren Füßen schenken. Kaum ein Lifestyle-Ratgeber redet drüber, dabei tragen sie uns doch jeden Tag durchs Leben – und Katja Oskamp gibt ihnen (und denen, die sie pflegen) endlich die Aufmerksamkeit, die sie verdienen.

Ein warmherziges und ehrliches Buch, das dieses Jahr auch als Miniserie verfilmt und in der ARD Mediathek abrufbar ist – absolut empfehlenswert – beides.

Vier Wochen – Christine Frohmann erschienen im mikrotext Verlag

Vier Wochen hat mir richtig gut gefallen – ein Buch, das auf unaufgeregte Weise eine ganz besondere Stimmung einfängt. Perfekt, um sich auf den Italienurlaub einzustimmen: Sonne, Olivenbäume, ein bisschen Chaos – und das alles durch die Augen einer Patchworkfamilie mit Teenagern, die unterschiedlicher kaum sein könnten.

Besonders mochte ich wie die Autorin die Gefühlswelt der Jugendlichen einfängt – eine Welt, die mir mittlerweile echt fremd ist, aber hier so authentisch und sensibel erzählt wird, dass ich fast das Gefühl hatte auf die künftige Teenagerzeit meines Neffen vorbereitet zu sein. Die Konflikte, Unsicherheiten und Einstellungen der Jugendlichen wirkten absolut authentisch auf mich.

Was mir ebenfalls sehr gefallen hat: Die gesellschaftskritischen Aspekte, die immer wieder ganz selbstverständlich und klug mit einfließen. Ob es um Klassenunterschiede, familiäre Strukturen oder Erwartungshaltungen geht – Frohmann beobachtet genau und bringt diese Themen ganz natürlich in ihre Erzählung ein, ohne sie mit dem Holzhammer zu präsentieren.

„… denn in Italien war alles schön und wahr und gut, außer der Neigung zum Faschismus, die sie hier leider auch hatten, aber sie war schon voll auf Überidentifikation, eine Droge, die sie beide liebten.“

Ein ruhiges, atmosphärisches Buch über das Zusammenleben, das Sich-Finden und den Sommer – ohne große Dramen, aber mit viel Herz und klarem Blick. Wer ein Buch sucht, das nach Ferien schmeckt und trotzdem etwas zu sagen hat, ist hier genau richtig.

Die Meerjungfrau von Black Conch – Monique Roffey erschienen im Tropen Verlag übersetzt von Gesine Schröder

Das Buch habe ich euch ja bereits im Rahmen meiner literarischen Weltreise vorgestellt. Wer also Lust hat auf einen leicht fantastischen Ausflug nach Trinidas & Tobago der klickt jetzt bitte hier.

One year’s reading for fun – Bernard Berenson nur antiquarisch erhältlich

Dieses kleine Buch war ein echter Zufallsfund aus dem öffentlichen Bücherschrank – und ein überraschend unterhaltsamer Begleiter. Bernard Berenson, eigentlich berühmter Kunsthistoriker und Experte für italienische Renaissancekunst, hat darin seine Lektüregewohnheiten aus dem Jahr 1954 festgehalten – in kurzen Notizen, Reflexionen und Empfehlungen.

Was das Ganze besonders macht: In diesem Jahr versteckte sich Berenson, aufgrund seines jüdischen Hintergrunds, vor den Faschisten in Italien. Gemeinsam mit seiner Frau und seiner langjährigen Sekretärin verbrachte er diese Zeit in seiner Villa I Tatti bei Florenz – abgeschottet von der Welt, aber umgeben von Kunst, antiken Skulpturen, einem prachtvollen Garten und natürlich: unzähligen Büchern.

Die Vorstellung, wie die drei dort leben – lesend, Rotwein oder Champagner trinkend, sich gegenseitig vortragend – hatte für mich beim Lesen fast etwas Filmisches. Ich musste ganz oft an Call Me by Your Name denken. So stell ich mir die Atmosphäre dort vor.

Und doch ist der Titel „A Year’s Reading for Fun“ fast ironisch: Die Lektüreliste ist alles andere als leichte Kost. Es wird überwiegend griechische und römische Philosophie gelesen, daneben Kunstgeschichte, Theologie und Klassiker der Literatur – auf Englisch, Italienisch, Altgriechisch, Deutsch. Die drei waren echt polyglott! Neben Goethe, Schelling und dem heute kaum noch gelesenen Jakob Burckhardt liest Berenson sogar Mein Kampf – um, wie er schreibt, den Feind zu verstehen.

Desultory reading was always a favorite pastime at ‚I Tatti‘.

Ein Buch für alle, die sich wie ich für Lesebiografien interessieren, für Geschichte, Kunst, Sprachen – und für das Lesen als Lebensform. Ich möchte das auch sehr gerne mal, ein Jahr in einer hübschen Villa mit Garten vor mich hin lesen – nur bitte komplett ohne Faschismus!

Caledonian Road – Andrew O’Hagan auf deutsch unter dem gleichen Titel im Ullstein Verlag erschienen, übersetzt von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié

Ich muss gestehen, der erste Blick in Caledonian Road hat mich fast erschlagen – nicht nur wegen des Umfangs (über 600 Seiten!), sondern auch wegen der Vielzahl an Figuren, die gleich zu Beginn auf mich einprasselten. Doch zu meiner eigenen Überraschung war ich sofort drin. Ich musste kaum je zurückblättern, um zu klären, wer wer ist – was ich allein schon als beachtliche Leistung werte. O’Hagan gelingt es, jedem seiner Charaktere Tiefe und Kontur zu verleihen, ohne den Überblick zu verlieren.

Der Roman hat eine Dickens’sche Qualität: London – insbesondere die titelgebende Caledonian Road – wird zum atmenden, lebendigen Organismus. Die Straße ist nicht nur Kulisse, sondern Protagonist. Sie fängt die Extreme der britischen Gesellschaft ein: Armut, Reichtum, alte Eliten, neue Medien, Aktivismus, Migration, Ausbeutung – alles auf engstem Raum.

We participate in the systems that oppress people, we thrive on them, and we think that by going on festive marches and tweeting slogans to our like-minded friends we are somehow cleansed. Welcome to the orgy of white contrition.

Im Zentrum steht Campbell Flynn, gefeierter Intellektueller, politischer Kommentator und ganz klar ein Alter Ego des Autors. Besonders faszinierend fand ich seine Beziehung zu Milo, einem jungen Aktivisten und Hacker. Es war ziemlich offensichtlich, dass Milo Flynn finanziell ausnutzt – aber ich hatte das Gefühl, Campbell weiß das, akzeptiert es fast. Es wirkt wie eine Art moderner Ablasshandel: Er zahlt dafür, die Welt erklärt zu bekommen, die seine Generation mitgestaltet (und ziemlich verbockt) hat. Milo, bei aller Skrupellosigkeit, bleibt dabei erstaunlich offen – das Spiel zwischen ihnen ist eines auf Augenhöhe. Und obwohl Campbell letztlich alles verliert, war ich sehr berührt davon, dass Milo ihn nicht fallen lässt. Trotz aller Differenzen erkennt man: Da ist echte Menschlichkeit im Spiel.

Ein besonders emotionaler Strang war für mich die Geschichte des jungen polnischen Emigranten, der versucht, seinen Partner nach England zu bringen – und was es ihn kostet. Dieser Teil war sehr bewegend und hat mich lange beschäftigt. Auch weil dieser Fall auf wahren Begebenheiten beruht.

And now, in the North of England, just as in Kansas or Illinois, people vote against their own interests, because they detest a culture that sees them as needy, they hate the caring elites who like to tell them what is good for them. In the modern world, William told himself, people don’t mind being exploited so long as they can choose it themselves.

Die Darstellung der russischen Oligarchen war für mich etwas überzeichnet – fast schon klischeehaft. Aber vielleicht ist die Realität da tatsächlich so überdreht, wie O’Hagan sie zeichnet. Campbells Frau, mit all ihrer Ambivalenz, hat mir gut gefallen, während sein stinkreicher Schwager mir fast schon klischeehaft unsympathisch war – ein klassischer Repräsentant des alten Geldes, das sich jede Schuld und Verantwortung elegant vom Hals hält.

Schön fand ich auch, dass Campbell seinem alten Freund – trotz zunehmender Zweifel an dessen Integrität – nicht den Rücken kehrt. Das hat ihn für mich menschlicher gemacht, auch wenn man ihm an vielen Stellen seine Eitelkeit und sein moralisches Schwanken anmerkt. Caledonian Road ist ein Buch voller Reibung, voller Ambivalenzen. Es geht um Macht und Moral, Generationenkonflikte, Klasse, Migration, Liebe und Verlust – und es schafft es dabei, trotz der vielen Themen nie den erzählerischen Fokus zu verlieren. Man spürt, dass O’Hagan ein exzellenter Beobachter ist – und dass er seine Figuren liebt, selbst die, an denen er scharfe Kritik übt.

Für mich ein kluges, vielschichtiges Buch mit einem spannenden, manchmal wütend machenden, aber immer lebendigen Blick auf unsere Gegenwart.

Die Angestellten – Olga Ravn erschienen im März Verlag

Dieses Hörbuch war eine absolute Entdeckung für mich – Die Angestellten von Olga Ravn ist ein faszinierender, sprachlich dichter Text, der sich irgendwo zwischen Science-Fiction, Poesie und philosophischem Gedankenexperiment bewegt. Ich habe es in der ARD Mediathek gehört, die ich inzwischen wirklich zu schätzen gelernt habe – tolle Produktionen, großartige Sprecher:innen, und Die Angestellten war da ein echtes Highlight.

Das Buch spielt auf einem Raumschiff und besteht aus einer Sammlung von Berichten und Aussagen der dort tätigen Menschen und humanoiden Mitarbeiter:innen. Die Grenze zwischen „echt“ und „künstlich“, zwischen Körper und Funktion, zwischen Erinnerung und Programmierung verschwimmt dabei immer mehr – und genau darin liegt die große Stärke dieses Textes: Er stellt existenzielle Fragen in einer ganz ruhigen, fast lyrischen Sprache.

Was heißt es, ein Mensch zu sein? Was bedeutet Arbeit, wenn der Körper zur Maschine wird? Und: Was bleibt von uns, wenn alles effizient, aber seelenlos ist?

Die Umsetzung als Hörspiel war absolut gelungen – atmosphärisch, verstörend schön, mit Stimmen, die perfekt zur kühlen, gleichzeitig melancholischen Stimmung passten. Für alle, die Sci-Fi jenseits von Action suchen, und sich auf ein intensives, fast meditatives Hörerlebnis einlassen wollen: große Empfehlung.

Astrophysics for People in a hurry – Neil de Grasse Tyson auf deutsch unter dem Titel „Das Universum für Eilige“ im Hanser Verlag erschienen, übersetzt von Hans-Peter Remmler

Dieses Hörbuch war genau das Richtige für zwischendurch: Neil deGrasse Tyson nimmt uns in „Astrophysics for People in a Hurry“ mit auf eine rasante, aber gut verständliche Reise durch Raum, Zeit, Dunkle Materie und all die anderen kosmischen Rätsel, die uns normalerweise einschüchtern könnten.

Wie auch in seinen TV Dokus gelingt es ihm, auch komplexe Themen greifbar und unterhaltsam zu vermitteln – ohne sie zu banalisieren. Ob Urknall, Quantenphysik oder das Ende des Universums: Tyson erklärt so, dass man Lust bekommt, tiefer einzusteigen, statt sich erschlagen zu fühlen. Ein kleiner Bonus: Er liest das Hörbuch selbst – und seine Stimme trägt viel zur Wirkung bei finde ich.

Perfekt für alle, die sich für die großen Fragen interessieren, aber (noch) keinen Doktortitel in Physik haben – oder einfach etwas klüger aus dem nächsten Spaziergang oder Pendelweg zurückkehren wollen. Universum to go sozusagen.

Was waren eure Highlights im Mai und welche der vorgestellten Bücher habt ihr auch gelesen/gehört? Wie fandet ihr sie?

Read around the world: Trinidad und Tobago

Nach meinem letzten literarischen Abstecher nach Nigeria geht es heute in die Karibik – genauer gesagt nach Trinidad & Tobago, den südlichsten Inselstaat der Region. Zwei Inseln, zwei Persönlichkeiten, und ein faszinierender kultureller Mix, der mich nicht nur literarisch, sondern auch musikalisch und historisch ganz schön fasziniert hat. Ich war bisher noch nicht in der Karibik und ich bin auch nicht sicher, ob es mich jemals dorthin verschlagen sollte, es wäre aber auf jeden Fall interessant.

Trinidad & Tobago liegt direkt vor der Küste Venezuelas und besteht aus der größeren, quirligeren Insel Trinidad und der kleineren, entspannteren Schwesterinsel Tobago. Während Trinidad als wirtschaftliches und kulturelles Zentrum gilt – inklusive Hauptstadt Port of Spain – punktet Tobago mit weißen Sandstränden, üppigem Regenwald und einem gemächlichen Lebensrhythmus.

Trinidad & Tobago ist seit seiner Unabhängigkeit von Großbritannien im Jahr 1962 eine parlamentarische Demokratie nach dem Westminster-Modell. Staatsoberhaupt ist ein*e Präsident*in – derzeit Christine Kangaloo – während die Regierungsgewalt beim Premierminister*in liegt – derzeit Keith Rowley. Das politische System ist relativ stabil, mit einer aktiven demokratischen Kultur. Die ethnische Vielfalt des Landes schlägt sich auch in der Politik nieder, was immer wieder zu Spannungen, aber auch zu einem bemerkenswert hohen Maß an politischer Teilhabe führt.

Trinidad & Tobago gehört zu den wohlhabenderen Ländern der Karibik, was vor allem auf große Erdöl- und Erdgasvorkommen zurückzuführen ist. Der Energiesektor ist der Motor der Wirtschaft und macht einen großen Teil des Exports und BIP aus. Das Land ist einer der größten Exportnationen für Flüssigerdgas (LNG) in der westlichen Hemisphäre. Es gibt aber auch einige Herausforderungen wie hohe Jugendarbeitslosigkeit, soziale Ungleichheit, Korruption und Klimawandel der den Inselstaaten insgesamt starke Probleme bereitet. Das Land hat sich jedoch auch bemüht, in Bildung und Digitalisierung zu investieren, um langfristig wirtschaftlich breiter aufgestellt zu sein.

In den letzten Jahren war das Wirtschaftswachstum eher verhalten, auch durch die Pandemie und sinkende Energiepreise. Gleichzeitig wird versucht, neue Branchen wie die kreative Industrie, Tourismus und erneuerbare Energien zu stärken.

Fläche:
Trinidad & Tobago (ca. 5.130 km²) ist deutlich kleiner als Deutschland (über 70-mal kleiner) und zählt zu den kleineren Staaten der Karibik.

Bevölkerung:
Mit etwa 1,5 Millionen Menschen (Stand 2024) hat Trinidad & Tobago weniger Einwohner als beispielsweise Hamburg oder München.

Bevölkerungsdichte:
Rund 292 Personen/km² – damit dichter besiedelt als Deutschland (ca. 237 Personen/km²).

Das Land ist ein wahrer Schmelztiegel: Die Bevölkerung setzt sich aus Nachfahren afrikanischer Sklavinnen, indischer Vertragsarbeiter*innen, Europäer*innen, Chines*innen und indigenen Gruppen zusammen. Diese Vielfalt spiegelt sich überall wider – in der Küche, der Musik, den Feierlichkeiten und natürlich in der Literatur.

Trinidad & Tobago ist ohne Zweifel die Heimat des Calypso und des Soca – Musikrichtungen, die sich mit Witz, Sozialkritik und Rhythmus tief in die nationale Identität eingeschrieben haben. Ebenso legendär ist der Karneval in Port of Spain: ein farbenfrohes, ekstatisches Fest, das zu den größten und beeindruckendsten der Welt zählt. Dazu kommt die Erfindung des Steelpans (aus Ölfässern geformte Blech-Trommeln), ein musikalisches Symbol der Inseln, das weltweit Beachtung findet.

Wer mehr über diesen Aspekt der Kultur erfahren will, dem emfehle ich Dokumentationen oder Musik von Künstler*innen wie Machel Montano, Calypso Rose oder dem verstorbenen Lord Kitchener anhören – wahre Ikonen der trinidadischen Musikszene.

Die Filmindustrie des Landes ist zwar klein, aber lebendig. Produktionen wie Green Days by the River oder The Cutlass greifen lokale Geschichten auf, oft mit einem Fokus auf Jugend, koloniale Geschichte und aktuelle soziale Themen.

Die Literatur des Landes ist so vielschichtig wie seine Bevölkerung. Einer der bekanntesten Namen ist sicherlich V.S. Naipaul, der 2001 den Nobelpreis für Literatur erhielt. Sein Blick auf das koloniale und postkoloniale Leben auf Trinidad hat die Weltliteratur stark geprägt – auch wenn er im Land selbst durchaus kontrovers diskutiert wird. Ich habe bislang noch nichts von ihm gelesen – könnt ihr was zu seinen Büchern sagen, mir etwas empfehlen oder ratet ihr eher ab?

Neben Naipaul gibt es noch eine ganze Reihe großartiger Autor*innen wie Earl Lovelace, Shani Mootoo, Kevin Jared Hosein (der gerade mit Hungry Ghosts international Furore macht) oder auch Monique Roffey, deren Roman „The Mermaid of Black Conch“ mein Buch für diesen Länder-Stop war.

Die Meerjungfrau von Black Conch – Monique Roffey erschienen im Tropen Verlag, übersetzt von Gesine Schröder

In Monique Roffeys Roman Die Meerjungfrau von Black Conch begegnen wir einer Meerjungfrau – aber ganz und gar nicht im Sinne von Disney und Glitzerflosse. Stattdessen entfaltet sich eine dichte, atmosphärische Erzählung, die tief in der Mythologie und Kolonialgeschichte der Karibik verwurzelt ist.

Die Geschichte spielt auf der fiktiven Insel Black Conch und beginnt, als zwei amerikanische Sportangler eine Meerjungfrau aus dem Wasser ziehen. Doch Aycayia, so ihr Name, ist keine romantisierte Meeresgöttin, sondern eine von Frauen verfluchte Gestalt aus einer anderen Zeit. Als sie sich langsam in eine menschliche Form zurückverwandelt, nimmt die Geschichte eine überraschend intime, feministische und zugleich politische Wendung.

Ich mochte den poetischen, fast hypnotischen Schreibstil Roffeys sehr – sie wechselt gekonnt zwischen karibischem Englisch, Tagebucheinträgen und mythischer Erzählweise. Die Sprache allein war für mich schon ein Highlight des Romans. Auch das Setting wirkt lebendig und spanennd: tropisch, rau, melancholisch. Der Übersetzerin Gesine Schröder möchte ich an dieser Stelle noch mal ein ganz besonderes Kompliment machen. Das war sicherlich keine einfache Aufgabe und ich fand den Roman fabelhaft übersetzt.

Mit der Meerjungfrauen-Thematik bin ich persönlich nicht ganz warm geworden – teils, weil sie sich mir als Figur etwas entrückt blieb, teils, weil ich beim Lesen manchmal zwischen Faszination und Distanz schwankte. Aber genau das ist vielleicht auch Teil der Intention: Aycayia ist keine Heldin, sondern ein Produkt von Trauma, Verwandlung und Ausgrenzung – und steht damit auch symbolisch für die Geschichte der Insel(n).

Ein ungewöhnlicher, literarisch starker Roman, der Mythen neu erzählt und dabei postkoloniale, feministische und emotionale Tiefen auslotet – nicht immer leicht zugänglich, aber definitiv interessant und kraftvoll.

Das war sowohl filmisch, musikalisch als auch literarisch mein bisher erster Ausflug nach Trinidad und Tobago. Habt ihr schon etwas gelesen und/oder seid ihr schon einmal dort gewesen?

Wer noch mal die zurückliegenden Stationen besuchen will, der geht bitte hier entlang.

China
Vietnam
Afghanistan
Chile
Polen
USA
Kongo
Japan
Belarus
Israel
Südkorea
Nigeria

Für unseren nächsten Stopp müssen wir nicht so weit reisen. Es geht nach Bella Italia 🙂 Habt ihr Lust?

Mai Lektüre

Heute habe ich mir beim Wandern ziemlich das Fell verbrannt, war anscheinend doch nicht vollumfänglich eingecremt. Daher verstecke ich mich jetzt auf der schattigen Terrasse vor der Sonne und schreibe jetzt endlich mal meinen Mai Rückblick, aufgrund der – nach wie vor nicht behobenen – Internetprobleme zu Hause war das vor dem Urlaub ja nicht mehr möglich.

Jetzt wieder im Sauseschritt und in alphabetischer Reihenfolge die Kurzvorstellungen der von mir im Mai gelesenen und zum Teil gehörten Bücher.

Birnam Wood – Eleanor Catton bislang noch nicht auf deutsch erschienen.

Es geht auch direkt mit einem Hörbuch los, einem das zu meinen bisherigen Jahres-Highlights gehört.

Vor fünf Jahren gründete Mira Bunting eine Guerrilla-Gartengruppe: Birnam Wood. Als nicht angemeldeter, nicht regulierter, manchmal krimineller, manchmal philanthropischer Zusammenschluss von Freunden pflanzt dieses Aktivistenkollektiv Pflanzen dort an, wo sie niemand bemerkt: an Straßenrändern, in vergessenen Parks und vernachlässigten Hinterhöfen. Seit Jahren kämpft die Gruppe darum, die Kosten zu decken. Dann stößt Mira auf eine Lösung, eine Möglichkeit, die Gruppe endlich langfristig aufzustellen: Ein Erdrutsch hat den Korowai-Pass geschlossen und die Stadt Thorndike abgeschnitten. Die Naturkatastrophe hat eine Gelegenheit geschaffen: eine große, scheinbar verlassene Farm.

Aber Mira ist nicht die einzige, die sich für Thorndike interessiert. Robert Lemoine, der rätselhafte amerikanische Milliardär, hat sich die Farm geschnappt, um dort seinen Endzeitbunker zu bauen – zumindest erzählt er das Mira, als er sie auf dem Grundstück erwischt. Er ist fasziniert von Mira, Birnam Wood und ihrem Unternehmergeist und schlägt ihnen vor, das Land zu bewirtschaften. Aber können sie ihm vertrauen? Und können sie sich gegenseitig vertrauen, während ihre Ideale und Ideologien auf die Probe gestellt werden?

“There’s something so joyless about the left these days,’ Tony continued, ‘so forbidding and self-denying. And policing. No one’s having any fun, we’re all just sitting around scolding each other for doing too much or not enough – and it’s like, what kind of vision for the future is that? Where’s the hope? Where’s the humanity? We’re all aspiring to be monks when we could be aspiring to be lovers.”

Birnam Wood ist ein fesselnder psychologischer Thriller des mit dem Booker Prize ausgezeichneten Autors von The Luminaries, der in seinem Witz, seiner Dramatik und der Vertiefung der Charaktere an Shakespeare erinnert. Es ist eine brillant konstruierte Betrachtung von Absichten, Handlungen und Konsequenzen und eine unnachgiebige Untersuchung des menschlichen Impulses, unser eigenes Überleben zu sichern.

Ein Buch bei dem ich teilweise bereut habe, dass ich es „nur“ als Hörbuch höre, denn ich hätte jede Menge Sätze anstreichen wollen. Ein überaus kluges, zum Nachdenken anregendes Buch mit dem ich mich noch immer beschäftige. Wird sich garantiert bei meinen Highlights 2023 wiederfinden.

Der Komponist und seine Richterin – Patricia Duncker übersetzt von Barbara Schaden erschienen im Berlin Verlag

Am Neujahrstag werden die Leichen entdeckt: sechzehn Tote im frisch gefallenen Schnee. Die Erwachsenen liegen steif im Halbkreis, die Kinder in Pyjamas und Mänteln zu ihren Füßen.

Als er den Bericht erhält, weiß Kommissar Andre Schweigen genau, wen er anrufen muss: Richterin Dominique Carpentier, auch bekannt als „Sektenjägerin“. Sie ist die anerkannte Expertin auf diesem Gebiet, brillant und unerbittlich rational, aber Schweigen hat seine eigenen Gründe, warum er sie für seinen Fall haben möchte. In dem verlassenen Chalet entdecken die Ermittler ein verschlüsseltes Buch mit Himmelskarten, das sie zu dem ungastlichen Komponisten Friedrich Gross führt. Doch während die skeptische Sektenjägerin das Vertrauen des Komponisten gewinnt, wird sie in eine Welt komplexer Familienbande und uralter kosmischer Überzeugungen hineingezogen, aus der sie nicht entkommen kann – und zunehmend auch nicht will -.

Der seltsame Fall des Komponisten und seines Richters ist ein metaphysisches Mysterium von außerordentlicher Kraft, das Glauben, Unsterblichkeit und Leidenschaft in Frage stellt.

Patricia Duncker ist eine wirklich spannende Autorin, die meines Erachtens viel mehr Beachtung verdient hätte. Dieser Roman reicht für mich nicht ganz an „The Deadly Space between“ heran, ist aber auch ein origineller Roman mit starken Bildern. Ich freue mich schon auf mein nächstes Patricia Duncker Buch, das bereits bereitliegt: Die Germanistin

The Shards – Bret Easton Ellis unter dem gleichnamigen Titel erschienen im Kiepenheuer & Witsch Verlag, übersetzt von Stephan Kleiner

Mein erster Easton Ellis und ich war selten so hin- und hergerissen bei einem Buch ob ich es lesen soll oder nicht. Ja, denn ich mochte den Film „American Psycho“ – nein, weil Menschen auf deren Meinung ich viel Wert lege mir davon abhielten weil zu frauenfeindlich und blutrünstig. Ja, weil Buddy Donna Tartts die ich ungemein schätze, nein siehe oben. Die Entscheidung wurde mir dann abgenommen, da wir das Buch als Gastgeschenk mitgebracht bekamen und dann war es natürlich entschieden – ich wollte den Roman umgehend lesen und mir eine Meinung bilden.

Mir hat er ausgesprochen gut gefallen, man fällt beim Lesen in einen gruselig-wohligen 1980er Sommer, hat leichte Stephen King Assoziationen, aber nicht Kleinstadt sondern Los Angeles und das Buch hat einen ganz tollen Soundtrack.

Bret Easton Ellis‘ neuer Roman erzählt eine traumatische Geschichte: Während seiner eigenen Schulzeit war ein Serienmörder in L.A. eine Bedrohung für die Jugendlichen.

Der siebzehnjährige Bret ist in der Oberstufe der exklusiven Buckley Prep School, als ein neuer Schüler auftaucht. Robert Mallory ist intelligent, gutaussehend und charismatisch und zieht Bret magisch an. Bret ist sich sicher, dass Robert ein düsteres Geheimnis hat, und kann dennoch nicht verhindern, dass Robert Teil seiner Freundesgruppe wird. Als der Trawler, ein Serienmörder, der Jugendliche auf bestialische Weise umbringt, immer näher an ihn und seine Clique heranrückt, gerät Bret zunehmend in eine Spirale aus Paranoia und Isolation. Doch wie zuverlässig ist Bret als Erzähler?

Because movies were a religion in that moment, they could change you, alter your perception, you could rise toward the screen and share a moment of transcendence, all the disappointments and fears would be wiped away for a few hours in that church: movies acted like a drug for me. But they were also about control: you were a voyeur sitting in the dark staring at secret things, because that’s what movies were—scenes you shouldn’t be seeing and that no one on the screen knew you were watching.

„The Shards“ ist eine faszinierende Mischung aus Fakten und Fiktion, aus Realität und Fantasie, die auf brillante Weise das emotionale Gefüge von Brets Leben als Siebzehnjähriger auslotet – Sex und Eifersucht, Besessenheit und mörderische Wut. Fesselnd, raffiniert, spannend, eindringlich – nur wer seine Romane mit hübsch ordentlich sortierten Handlungsenden bevorzugt mag mit dem eher mehrdeutigen Ende vielleicht nicht ganz glücklich werden. Für mich war der Roman einer meiner Highlights.

Ewig Sommer – Franziska Gänsler erschienen im Kein & Aber Verlag

Eine junge Mutter kommt mit ihrer Tochter in ein Hotel, in dem schon lange keine Gäste mehr abgestiegen sind. Seitdem die Brände im benachbarten Wald toben, hat der einstige Kurort seinen Reiz verloren. Für Iris, die Besitzerin des Hotels, ist der unerwartete Besuch gleichzeitig willkommene Abwechslung und Grund zur Sorge: Irgendetwas scheint mit der Fremden nicht zu stimmen. Ist sie auf der Flucht vor ihrem Mann? Sollte sie der Frau, die sich nicht immer angemessen um ihre Tochter zu kümmern scheint, helfen? Oder müsste sie das Kind vor ihr schützen? Mit der Zeit kommen sich die beiden Frauen näher und fangen an, die Schatten ihrer Vergangenheit auszuleuchten. Iris ahnt, dass dieser Besuch früher oder später ein jähes Ende finden wird – unklar ist nur, aus welcher Richtung wirklich die Gefahr droht.

Eine Hitze. Das ist der Weltuntergang. So geht’s zu Ende mit uns

Franziska Gänsler schafft eine dystopische Atmosphäre in ihrem gelungenen Debüt, das einem dank der Hauptfiguren dennoch Zuversicht und Hoffnung vermitteln.

Mittagsstunde – Dörte Hansen erschienen im Penguin Verlag

Die Wolken hängen schwer über der Geest, als Ingwer Feddersen, 47, in sein Heimatdorf zurückkehrt. Er hat hier noch etwas gutzumachen. Großmutter Ella ist dabei, ihren Verstand zu verlieren, Großvater Sönke hält in seinem alten Dorfkrug stur die Stellung. Er hat die besten Zeiten hinter sich, genau wie das ganze Dorf. Wann hat dieser Niedergang begonnen? In den 1970ern, als nach der Flurbereinigung erst die Hecken und dann die Vögel verschwanden? Als die großen Höfe wuchsen und die kleinen starben? Als Ingwer zum Studium nach Kiel ging und den Alten mit dem Gasthof sitzen ließ? Mit großer Wärme erzählt Dörte Hansen vom Verschwinden einer bäuerlichen Welt, von Verlust, Abschied und von einem Neubeginn.

Man hatte hier als Mensch nicht viel zu melden. Man konnte gern rechts ranfahren, aussteigen, gegen den Wind anbrüllen und Flüche in den Regen schreien, es brachte nichts. Es ging hier gar nicht um das bisschen Mensch.

Mit dem Roman hat mich Dörte Hansen jetzt echt erwischt. Ich mochte das „Alte Land“ ganz gern, mit „Zur See“ bin ich nicht völlig warm geworden, aber die „Mittagsstunde“ die ist mein bislang liebster Roman von ihr. Danke noch mal an meine liebe Freundin Barbara, die ihn mir schenkte und schickte, weil sie mein lauwarmes Urteil zu Hansens neuestem Roman so nicht stehen lassen wollte und sie hatte ja auch wirklich Recht damit. Ein durch und durch norddeutsches Buch mit einem ganz eigenen Sound und Figuren mit denen ich jederzeit mal den einen oder anderen Schnapps kippen würde.

Eine kurze Geschichte der böhmischen Raumfahrt – Jaroslav Kalfar übersetzt von Barbara Heller erschienen im Klett-Cotta Verlag

Der Roman war meine Begleitlektüre nach Karlovy Vary und ich habe hier schon kurz über den Roman geschrieben. Das war eine beglückende Lektüre und ich freue mich schon auf weitere Bücher des Autoren.

Salem’s Lot – Stephen King auf deutsch erschienen unter dem Titel „Brennen muss Salem“ im Heyne Verlag, übersetzt von Peter Robert

„Brennen muss Salem“ von Stephen King ist eine packende und gruselige Vampirgeschichte, die den Leser sehr schnell in seinen Bann zieht. Die Handlung spielt in der kleinen Stadt Jerusalem’s Lot und folgt dem Schriftsteller Ben Mears, als er zurückkehrt, um seine Kindheitsdämonen zu konfrontieren. Doch bald entdeckt er, dass die Stadt von einer finsteren Macht übernommen wird, die sich an den Bewohnern labt und sie in blutdurstige Kreaturen der Nacht verwandelt.

Kings meisterhafte Erzählweise und seine detaillierten Charaktere machen ‚Brennen muss Salem‘ zu einer wahrhaft unheimlichen Lektüre. Die atmosphärischen Beschreibungen und das Gefühl der Bedrohung durchdringen jede Seite und schaffen eine beunruhigende Stimmung, die noch lange nach dem Lesen des Buches anhält. Die vielfältige und fehlerhafte Besetzung von Charakteren verleiht der Geschichte Tiefe, und ihr Kampf gegen die herannahende Dunkelheit sorgt für eine fesselnde Handlung.

The basis of all human fears, he thought. A closed door, slightly ajar.

Mit seiner Mischung aus übernatürlichem Horror und psychologischem Spannungsbogen zeigt ‚Brennen muss Salem‘ Kings Fähigkeit, in die dunkelsten Ecken der menschlichen Natur einzutauchen. Es ist eine klassische Vampirgeschichte, die den Leser gleichermaßen erschreckt und fesselt und Kings Ruf als Meister des Genres festigt.

Habe nach der Lektüre die gleichnamige Verfilmung aus dem Jahr 1979 gesehen und fand die deutlich gruseliger als erwartet:

Intimacies – Katie Kitamura auf deutsch unter dem Titel „Intimitäten“ erschienen im Hanser Verlag, übersetzt von Kathrin Razum

Was braucht ein Ort, um zu einem Zuhause zu werden? Die heimatlose Erzählerin verlässt New York, um am Gerichtshof in Den Haag als Dolmetscherin zu arbeiten. Als sie Adriaan kennenlernt, scheint die Stadt zur Antwort ihrer Sehnsüchte zu werden. Doch dann verschwindet er zu seiner Noch-Ehefrau und hinterlässt nichts als Fragen. Fragen, die sich zu einem existenziellen Abgrund auftun, als sie für einen angeklagten westafrikanischen Kriegsverbrecher dolmetschen muss und zweifelt: Was ist kalkulierte Lüge, was Wahrheit? Glauben nur noch die Naiven an Gerechtigkeit? Wer kann über wen richten? Katie Kitamuras subtiler Roman ist ein anregendes intellektuelles Vergnügen mit hypnotischer Sogwirkung.

Interpretation can be profoundly disorienting, you can be so caught up in the minutiae of the act, in trying to maintain utmost fidelity to the words being spoken first by the subject and then by yourself, that you do not necessarily apprehend the sense of the sentences themselves: you literally do not know what you are saying. Language loses its meaning

Ein leiser Roman der eine Frau porträtiert die zwischen unterschiedlichen Wahrheiten gefangen ist. Die Mai Lektüre unseres Bookclubs hat allgemein Anklang gefunden, das interessante Einblicke in die Tätigkeit von Übersetzer*innen an einem Gerichtshof bietet, fürchte aber ich werde das Buch nicht sehr lange im Gedächtnis behalten.

The End of Men – Christina Sweeney-Baird auf deutsch unter dem Titel „Die andere Hälfte der Welt“ im Diana Verlag erschienen, übersetzt von Carola Fischer

Der Roman beginnt in London, wo Catherine, eine Sozialanthropologin mit einer glücklichen Ehe und einem bezaubernden 3-jährigen Sohn, eine Fruchtbarkeitsbehandlung vermeidet, weil sie einem zweiten Kind skeptisch gegenübersteht. Ein großer Fehler. Fünf Tage später, an „Tag 1“, stirbt ein Mann ohne ersichtlichen Grund in einem Krankenhaus in Glasgow. Nachdem zwei Tage später ein zweiter Mann dort stirbt und weitere erkranken, wittert die behandelnde Ärztin Amanda, selbst Ehefrau und Mutter zweier Söhne, eine nahende Katastrophe. Sie wendet sich an die kürzlich unabhängig gewordenen schottischen Gesundheitsbehörden, die ihre Bedenken abtun. Am 5. Tag ist „die Pest“, obwohl sie immer noch auf Schottland beschränkt ist, „alles, worüber man in London reden kann“. Und so breitet sich die Pest aus, Tag für Tag, in acht Abschnitten, die die Stadien von AUSBRUCH über PANIK und ANPASSUNG bis zur ERINNERUNG beschreiben. Obwohl Frauen Überträgerinnen sein können, erkranken nur Männer (jeden Alters), fast immer tödlich.

Die Überlebenden, d. h. die Frauen, erleben, was Überlebende heute erleben – Verlust, Isolation, Angst, Schuldgefühle, körperliche Schäden, finanzielle Krisen und gelegentlich auch Glück. Catherine und Amanda, die früh die Männer und Jungen in ihrem Leben verlieren, stehen im Mittelpunkt, während sie ihr Leben rekonstruieren. Doch die britische Autorin Sweeney-Baird wechselt den Fokus auf immer mehr Charaktere – wohlhabend, aus der Arbeiterklasse, in der Stadt, auf dem Land, weiß, schwarz, asiatisch, heterosexuell, LGBTQ+, britisch, amerikanisch, kanadisch, philippinisch – als hätte sie Angst, irgendeine soziale Untergruppe auszulassen. Eine oberflächliche Charakterentwicklung ist unvermeidlich. Aber eine fesselnde Besonderheit ist die Darstellung der brillanten schwulen kanadischen Wissenschaftlerin Lisa, einer Schurkin und viel gehassten Retterin, die die Pandemie als Sprungbrett zu Reichtum und Ruhm nutzt. In der Zwischenzeit werfen der Verlust des größten Teils der männlichen Weltbevölkerung und die Art und Weise, wie die Regierungen auf die Seuche reagieren, komplizierte ethische Fragen auf.

I have never felt so powerful. This must be what men used to feel like. My mere physical presence is enough to terrify someone into running. No wonder they used to get drunk on it.

Sweeney-Baird hat wohl sowas wie den Aktualitäts-Jackpots gewonnen. Sie hat das Buch bereits 2018 vor der Covid-19 Epidemie geschrieben.

Das Ende der Menschen ist ein intelligenter, unheimlich vorausschauender Roman, der gleichzeitig nachdenklich und hochemotional ist.

The end of the world running club – Adrian J Walker auf deutsch im Fischer Tor Verlag erschienen unter dem Titel „Am Ende aller Zeiten“ übersetzt von Nadine Püschel und Gesine Schröder

Adrian J Walker hat mit ›Am Ende aller Zeiten‹ einen postapokalyptischen Roman geschrieben, in dem ein ganz normaler Familienvater vor die größte Herausforderung seines Lebens gestellt wird.

Edgar Hill ist Mitte dreißig, und er hat sein Leben gründlich satt. Unzufrieden mit sich und seinem Alltag in Schottland als Angestellter, Familienvater und Eigenheimbesitzer, fragt er sich vor allem eins: Hat das alles irgendwann einmal ein Ende? Er ahnt nicht, dass sich die Katastrophe bereits anbahnt.
Als das Ende kommt, kommt es von oben: Ein dramatischer Asteroidenschauer verwüstet die Britischen Inseln. Das Chaos ist gigantisch, die Katastrophe total. Ganze Städte werden ausgelöscht. Straßen, das Internet, die Zivilisation selbst gehören plötzlich der Vergangenheit an. England liegt in Schutt und Asche. Ist dies der Weltuntergang?

That beast inside you, the one you think is tethered tightly to the post, the one you’ve tamed with art, love, prayer, meditation: it’s barely muzzled. The knot is weak. The post is brittle. All it takes is two words and a siren to cut it loose.

Edgar und seine Familie werden während der Evakuierung voneinander getrennt, und ihm bleibt nur eine Wahl: Will er Frau und Kinder jemals wiedersehen, muss er 500 Meilen weit laufen, durch ein zerstörtes Land und über die verbrannte Erde, von Edinburgh nach Cornwall. Zusammen mit einigen wenigen Gefährten begibt sich Edgar Hill auf einen Ultra-Marathon durch ein sterbendes Land. Doch sein Weg ist gefährlich: Im postapokalyptischen England kämpft jeder gegen jeden ums blanke Überleben.

Edgar ging mir ziemlich auf die Nerven. Ein rumheulendes Kind in der Gestalt eines Mannes, den ich mehrfach einfach nur schütteln wollte. Es wurde deutlich weniger gerannt als ich es vermutet hätte bei dem Titel. Es gibt noch einen Folgeband bei dem die Geschichte aus Sicht von Edgars Frau beschrieben wird – mal schauen, ob ich noch mal Lust und Energie dafür aufbringe. Wollte eigentlich die meiste Zeit rufen „run away from him“ 😉

So das wars jetzt aber mit der Mai Lektüre. Viel Dystopisch-gruseliges unter sonnigem Himmel – insgesamt ein guter Lesemonat. Welche Bücher kennt ihr, auf welche konnte ich euch Lust machen?