Oktober Lektüre

Wieder ein wirklich guter Lesemonat! Kein Flop in Sicht – alle Bücher zwischen 3,5 und 5 Sternen, und jedes hat mich auf seine Art begeistert. Müsste ich mich für ein „Buch des Monats“ entscheiden, wäre das richtig schwer, aber mit minimalem Vorsprung ginge der Titel an „The Safekeep“ von Yael van der Wouten – ich kann einfach nicht aufhören, darüber nachzudenken. Ins Bild eingeschlichten hat sich Herr Toller, der gehört in den November, dafür fehlt Ex Libris von Anne Fadiman und Martyr! habe ich als Hörbuch gehört.

Die Vorstellung der einzelnen Titel folgt keiner besonderen Reihenfolge:

Martyr! – Kaveh Akbar auf deutsch unter dem Titel Märtyrer! im Rowohlt Verlag erschienen, übersetzt von Stefanie Jacobs

Martyr! ist ein Romandebüt: intensiv, sprachlich präzise und voller Fragen, die einen lange beschäftigen.
Der Roman erzählt von Cyrus, einem jungen Dichter, der mit seiner Sucht, seiner Depression und seinem Platz in der Welt ringt. Er sucht nach Bedeutung – in seiner Kunst, in der Erinnerung an seine Eltern, im Leben selbst – und manchmal auch im Tod.

Akbar schreibt mit schneidender Klarheit, in der jeder Satz sorgfältig gebaut wirkt, rhythmisch und voller Poesie. Man merkt, dass er aus der Poesie kommt: geboren im Iran, aufgewachsen in den USA, bekannt für seine Lyrikbände „Calling a Wolf a Wolf“ und „Pilgrim Bell“, in denen er ähnliche Themen verhandelt – Sucht, Sprache, Herkunft, Glauben. In seinem Prosadebüt verdichtet sich all das zu einer eindringlichen, klugen und sehr persönlichen Erzählung über Identität.

Eight of the ten commandments are about what thou shalt not. But you can live a whole life not doing any of that stuff and still avoid doing any good. That’s the whole crisis. The rot at the root of everything. The belief that goodness is built on a constructed absence, not-doing. That belief corrupts everything, has everyone with any power sitting on their hands.


Cyrus lebt in Indiana, zwischen Kulturen, Sprachen und Lebensentwürfen. Seine Mutter starb, als ein iranisches Passagierflugzeug von der US-Regierung abgeschossen wurde; sein Vater zerbrach an einem Leben in der amerikanischen Arbeitswelt; sein Onkel war wortwörtlich der Tod – in den Diensten des iranischen Militärs. Zwischen diesen Biografien und Brüchen stellt sich Cyrus die großen Fragen: Wie iranisch ist man, wenn man in den USA aufgewachsen ist? Wie amerikanisch, wenn man anders aussieht, heißt, glaubt? Und wie frei ist man, wenn man als queerer Mann ständig zwischen Sichtbarkeit und Anpassung balanciert?

Was mich besonders berührt hat, war, wie Akbar Trauer und Erinnerung ineinanderfließen lässt. Es gibt eine Szene, in der Cyrus durch die Stadt läuft und um seine Mutter trauert – leise, unspektakulär, aber voller Schmerz und Zärtlichkeit. Die hat mich total gepackt.

Nicht alles funktioniert gleich gut: Das Ende wirkt etwas zu konstruiert, manche Wendungen zeichnen sich früh ab, und die vielen Traumsequenzen waren mir persönlich zu viel. Aber das alles fällt kaum ins Gewicht, weil der Roman sprachlich so eindringlich, so lebendig und so unverstellt ist.

Martyr! ist kein perfektes Buch – aber eines, das wirklich etwas wagt. Es sucht nach Bedeutung inmitten von Chaos, und genau darin liegt seine Schönheit.

The Safekeep – Yael van der Wouten auf deutsch unter dem Titel „In ihrem Haus“ im Gutkind Verlag erschienen, übersetzt von Stefanie Ochel

Es gibt Bücher, die irgendwie leise daher kommen, sich ganz langsam entfalten – und einen dann völlig überraschen. The Safekeep von Yael van der Wouden war für mich genau so ein Buch: leise, konzentriert, präzise, und plötzlich von einer Wucht, die man nicht kommen sieht. Schon nach wenigen Seiten war klar, dass hier keine gewöhnliche Familiengeschichte erzählt wird, sondern ein vielschichtiges Spiel aus Erinnerung, Schuld und Begehren. In mehrfacher Hinsicht ist dieses Buch etwas Besonderes: Es ist das Debüt der niederländischen Autorin Yael van der Wouden, es wurde ursprünglich auf Englisch verfasst, und sie ist damit die erste niederländische Autorin, die es auf die Shortlist des Booker Prize geschafft hat. Yael van der Wouden wurde 1987 geboren und wuchs in den Niederlanden auf. Sie hat einen israelisch-niederländischen Hintergrund, studierte Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Utrecht und an der Binghamton University in den USA.

Die Handlung führt in die niederländische Provinz Overijssel, in den Sommer 1961. Isabel lebt dort allein in dem Haus ihrer verstorbenen Mutter, umgeben von Dingen, die in penibler Ordnung verharren. Alles ist still, geregelt, kontrolliert – ein Leben, das sich in Ritualen und Routinen festhält. Als ihr Bruder Louis mit seiner neuen Freundin Eva auftaucht und für den Sommer bleibt, gerät dieses fragile Gleichgewicht ins Wanken. Eva ist das genaue Gegenteil von Isabel: lebendig, neugierig, körperlich. Sie bewegt sich durch das Haus, öffnet Türen, betritt Räume, die Isabel lieber verschlossen gehalten hätte. Zwischen den beiden Frauen entsteht eine Spannung, die sich kaum benennen lässt – eine Mischung aus Abwehr, Begehren und schleichender Bedrohung. Was anfangs wie eine stille Familiengeschichte beginnt, entwickelt sich zu einem psychologisch dichten Drama, in dem Schuld, Erinnerung und Verdrängung untrennbar miteinander verwoben sind. Und dann kommt eine Wendung, so unerwartet und doch so konsequent, dass man das Buch für einen Moment zuschlagen möchte, um durchzuatmen.

She thought: I can hold you and find that I still miss your body. She thought: I can listen to you speak and still miss the sound of your voice.

Was mich an The Safekeep besonders beeindruckt hat, ist die Art, wie Yael van der Wouden Atmosphäre erzeugt. Sie braucht keine spektakulären Szenen oder großen Gesten. Das Unheimliche wächst in der Stille, im Zögern, in einem Blick, der zu lange dauert. Das Haus wird zur Bühne der inneren Zersetzung, ein Ort, an dem Vergangenheit und Gegenwart unmerklich ineinanderfließen. Man spürt in jedem Satz die Spannung zwischen Kontrolle und Kontrollverlust. Van der Wouden schreibt in einer klaren, präzisen Sprache, die an niederländische Stillleben erinnert – jede Bewegung, jedes Detail scheint festgehalten, bis man merkt, dass etwas im Bild verrutscht.

Auch thematisch bewegt sich der Roman auf mehreren Ebenen zugleich. Die familiäre Enge und das unausgesprochene Trauma verweisen auf eine größere historische Dimension: die Nachkriegszeit, die Schatten der Kollaboration, das Schweigen über Schuld. Diese Themen sind nie plakativer Hintergrund, sondern fließen in die private Geschichte ein – in die Art, wie Isabel Dinge ordnet, wie sie mit Erinnerungen ringt, wie sie versucht, das Unheimliche zu bannen. In dieser Verbindung von psychologischer Genauigkeit und geschichtlicher Tiefe liegt für mich die große Stärke des Romans.

Besonders die überraschende Wendung am Ende verleiht der Geschichte eine neue Perspektive, ohne den Zauber oder die Ambivalenz der Figuren aufzulösen. Sie zwingt einen, das Gelesene noch einmal neu zu betrachten, mit anderen Augen.

The Safekeep ist ein außergewöhnliches Debüt – eines, das sowohl literarisch anspruchsvoll als auch emotional tief berührend ist. Es ist ein Roman über Ordnung und das Chaos darunter, über Begehren, das sich nicht benennen lässt, über das, was ein Haus bewahrt, und das, was darin verloren geht. Wer sich auf diese stille, intensive Geschichte einlässt, wird reich belohnt. Für mich zählt sie jetzt schon zu meinen Lieblingsbüchern dieses Jahres.

The Knife – Salman Rushdie unter dem Titel „Knife – Gedanken nach einem Mordversuch“ im Penguin Verlag erschienen, übersetzt von Bernhard Robben

Knife ist weit mehr als eine autobiografische Nacherzählung des furchtbaren Messerattentats auf Salman Rushdie, das ihn im August 2022 während einer Lesung in Chautauqua beinahe das Leben kostete und tragischerweise ein Auge kostete. Knife ist eine Meditation über Verletzlichkeit, Sprache und Überleben – ein Buch über das Weiterleben und das Weiterschreiben nach der Gewalt. Es ist sicherlich Rushdies persönlichstes Buch.

Seine Waffe ist nicht das Messer, sondern das Wort. „Language, too, was a knife“, schreibt er, „it could cut open the world and reveal its meaning.“ Und genau das tut er: Er seziert das Erlebte, die Angst, die Hilflosigkeit, aber auch die Wut, den Trotz und die ungebrochene Liebe zum Leben.

Das Buch ist schonungslos ehrlich, manchmal erschütternd körperlich. Rushdie erzählt, wie der eigene Körper nach einem solchen Angriff entprivatisiert wird, wie er in den Händen von Ärzten, Pflegern, Therapeuten liegt und plötzlich nur noch Objekt ist – und wie mühsam der Weg zurück zur Autonomie, zur Sprache und zur eigenen Identität ist.

Hier schreibt kein Oper, sondern ein Überlebender, der die Deutungshoheit über sein Leben und seine Geschichte zurückfordert. Rushdie verweigert dem Täter jede namentliche Nennung, er nennt ihn nur „the A“ – eine bewusste Geste der Entmachtung. In fiktiven Dialogen konfrontiert er seinen Angreifer mit dessen eigenen Ängsten und seiner stupiden Naivität. Rushdie lässt sich das Geschehen nicht von außen diktieren sondern verwandelt es in Literatur er eignet es sich an, um weiter existieren zu können.

Knife ist ein Buch über Mut – und über die Unmöglichkeit, zu schweigen. Das Buch schwankt zwischen Schmerz und Ironie, Pathos und Lakonie, aber immer bleibt es zutiefst menschlich. Und wer Rushdie einmal live erlebt hat, der spürt diesen Ton sofort. Ich erinnere mich noch gut an seine Lesung im Münchner Cuvilliés-Theater im Jahr 2015, nur wenige Tage nach den fürchterlichen Anschlägen des IS.

Art is not a luxury. It stands at the essence of our humanity, and it asks for no special protection except the right to exist.

Rushdie sprach damals darüber, dass er aus einer nichtreligiösen Familie komme und sich in den Sechzigerjahren niemals hätte vorstellen können, eines Tages Romane über Religion zu schreiben. Aber die Welt, sagte er, habe sich verändert, das Thema sei zu groß geworden, um es zu ignorieren. „Nicht nachgeben, keinen Zentimeter“, war seine Botschaft. „Wir müssen unser Leben weiterleben wie vorher und unsere Freiheit genießen und ausleben.“

Diese Haltung zieht sich auch durch Knife: das entschlossene „Weiterleben“, selbst wenn der Körper versehrt ist, selbst wenn die Angst real bleibt. Rushdie hält es – wie er damals sagte – „ganz mit Charlie Hebdo: Ihr habt die Waffen, aber wir haben den Champagner.“

Es ist dieser unerschütterliche Glaube an die Kraft der Kunst, der dieses Buch so stark macht.

Rushdie verwandelt das Messer, das ihn treffen sollte, in ein Symbol der Sprache. Er sticht nicht zurück, sondern öffnet das, was viele lieber verdrängen würden: die Angst, den Hass, die Gewalt, aber auch die unzerstörbare Möglichkeit des Menschen, sich durch Erzählung selbst zu heilen. Am Ende aber bleibt die Erkenntnis, dass Freiheit, Würde und Sprache nicht verhandelbar sind. Knife ist kein einfaches Buch, aber ein sehr wichtiges – und für mich ein bewegendes Zeugnis dafür, was es heißt, ein freier Mensch zu sein. Ich fand es wirklich gut.

Muttermale – Dagmar Leupold erschienen im Jung und Jung Verlag

Dagmar Leupold schenkt uns und sich zu ihrem 70. Geburtstag kürzlich – einen Roman von großer sprachlicher Schönheit und stiller Wucht. Muttermale, für den sie auch für den Bayerischen Buchpreis nominiert ist, ist kein klassisch erzähltes Buch, sondern ein fein komponiertes Erinnerungsgewebe. In fragmentarischen Miniaturen nähert sich Leupold dem Leben ihrer Mutter, einer Frau, deren Biografie von der Flucht aus Ostpreußen, vom Ankommen im Westen und vom leisen Beharren auf Würde geprägt ist.

Die Autorin rekonstruiert dieses Leben nicht linear, sondern tastend, suchend, in leisen Andeutungen. Zwischen Andenken, Briefen, Fotos und Erinnerungssplittern entfaltet sich das Porträt einer Generation, die gelernt hat, zu überleben – und zu schweigen. Eine Mutter die es der Tochter nicht immer einfach machte sie zu lieben. Im Versuch, die Mutter zu verstehen, wird zugleich die Frage nach der eigenen Herkunft, nach der genealogischen und emotionalen Vererbung gestellt: Was bleibt von unseren Eltern in uns zurück, welche Spuren tragen wir weiter – und welche möchten wir am liebsten tilgen? Das titelgebende Muttermal wird so zu einem poetischen Symbol für all das Unauslöschliche, das uns prägt.

Leupolds Sprache ist von einer fast musikalischen Präzision: reduziert, poetisch, nie pathetisch, immer aufmerksam für die Zwischentöne. Jeder Satz scheint sorgsam geschliffen, jede Beobachtung von einer zärtlichen Genauigkeit getragen.

Ein bei Tageslicht nicht zu erreichender Aggregatzustand trat ein: Die Seelenruhe. Im Schlaf hast du deine Tochter womöglich sogar gerngehabt.

Ein ganz eigener Reiz war für mich: Die Familie lebte in Mainz – und viele der beschriebenen Orte, Straßen und Lokale kenne ich gut. Das Wiedererkennen, vertrauter Orte war ein besonderer Bonus und hat der Lektüre für mich eine zusätzliche Tiefe verliehen.

Muttermale ist ein leises, zugleich eindringliches Buch über Erinnerung, Verlust und die Unausweichlichkeit von Herkunft. Ein Roman, der sich nicht aufdrängt, der aber nachklingt und bleibt. Ich drücke Dagmar Leupold fest die Daumen für den Bayerischen Buchpreis – verdient hätte sie ihn allemal und jetzt schau ich mir mal ihre anderen Werke an.

Ich danke dem @jung.und.jung Verlag sehr für das Rezensionsexemplar und hätte gern ein Glas auf Frau Leupold zum Gewinn des Bayrischen Buchpreises erhoben, das sollte leider nicht sein, aber für mich ist sie definitiv die Gewinnerin 🙂

Pompeijs letzter Sommer – Gabriel Zuchtriegel erschienen im Propyläen Verlag

Schon mit „Der Zauber des Untergangs“ hat Gabriel Zuchtriegel es geschafft, die Lebendigkeit und die ewige Faszination dieser untergegangenen Stadt einzufangen – so sehr, dass man sich beim Lesen fühlt, als würde man selbst durch die Straßen laufen.

Ich bin seit meiner Kindheit von Pompeji fasziniert – seit ich mit meinem Opa als Sechsjährige ein Buch über die Stadt angeschaut habe. Nach der Lektüre Ich muss da hin. Letztes Jahr hat es endlich geklappt – und „Pompejis letzter Sommer“ hat mich beim Lesen sofort wieder dorthin zurückversetzt.

Zuchtriegel nimmt uns mit in das Jahr 79 n. Chr., in ein Pompeji kurz vor der Katastrophe – lebendig, laut, voller Gegensätze. Eine Stadt, in der unfassbar Reiche in prachtvollen Villen lebten, deren Luxus auf der Arbeit von Sklaven basierte, die unter härtesten Bedingungen schuften mussten. Diese Spannung zwischen Glanz und Elend, Freiheit und Abhängigkeit, fängt Zuchtriegel wirklich gut ein. Man spürt das Brodeln unter der Oberfläche, nicht nur geologisch, sondern auch gesellschaftlich.

Das Christentum führte weder zum Untergang des römischen Reiches noch zur Abschaffung der Sklaverei. Viel mehr leben beide in wechselnder Gestalt weiter: Wir leben in einem „Imperium“, nur, das heute anstelle des Kaisers die Logik von Weltbank und WTO regiert. Genozid, Folter und moderne Formen der Sklaverei, prägten das koloniale Zeitalter und existieren, weitgehend aus dem Blickfeld der Industriestaaten verdrängt, nach wie vor in mannigfaltiger Form in der sogenannten dritten Welt. Kleidungsstücke, die wir tragen, Lebensmittel, die wir essen, werden unter sklaven-ähnlichen Bedingungen hergestellt. Von einem christlichen Sklavenaufstand in der Geschichte des Westens zu sprechen, ist Augenwischerei (Kehinde Andrews)

Besonders spannend fand ich, wie er zeigt, dass Pompeji nicht nur physisch am Rand des Untergangs stand, sondern auch geistig in einer Umbruchzeit war. Immer mehr Menschen begannen, an den alten Götterglauben zu zweifeln, und wandten sich einer „seltsamen kleinen Sekte“ zu – den frühen Christen. Zuchtriegel beschreibt diesen Wandel sehr eindrücklich: Wie eine Gesellschaft, die jahrhundertelang auf die Macht der römischen Götter vertraute, langsam ihren Halt verliert und sich nach neuen Antworten sehnt. Das hat für mich etwas sehr Zeitloses – denn auch heute erleben wir ähnliche Brüche im Denken und Glauben, wenn alte Gewissheiten bröckeln und Menschen neue Formen von Sinn suchen.

Was mir an Zuchtriegels Stil gefällt ist seine ansteckende Leidenschaft, er schreibt mit einem Gespür für Atmosphäre und Menschlichkeit. Man hört förmlich das Leben in den Straßen, das Rufen der Händler, das Lachen in den Thermen – und gleichzeitig spürt man das nahende Ende. Dieses Gefühl eines „letzten Sommers“ zieht sich wie ein feiner Schatten durch das Buch.

Natürlich hätte ich mir an manchen Stellen noch ein bisschen mehr wissenschaftlichen Tiefgang gewünscht, aber Zuchtriegel gelingt etwas, das nur wenige schaffen: Er verbindet Fachwissen mit echter Erzählkunst. Pompejis letzter Sommer ist nicht einfach ein Archäologie-Buch, sondern eine Reflexion über das Menschsein – über Macht, Glaube, Vergänglichkeit und die Suche nach Sinn.

Für mich ist es ein Buch, das man nicht nur liest, sondern erlebt. Es hat mich wieder an meinen eigenen Besuch erinnert – an dieses besondere Gefühl, durch eine scheinbar tote Stadt zu gehen, in der doch noch so viel Leben steckt. Ich würde Pompejis letzter Sommer mit 4,5 von 5 Sternen bewerten, mit klarer Tendenz nach oben. Ein faszinierendes, kluges und bewegendes Buch über eine Stadt, die uns mehr über uns selbst erzählt, als man auf den ersten Blick denkt.

Ich danke dem Propyläen Verlag für das Rezensionsexemplar.

Salt Slow – Julia Armfield auf deutsch unter dem Titel „Salzsirenen“ im Kommode Verlag erschienen, übersetzt von Hannah Pöhlmann

Nach „Our Wives Under the Sea“, das schon vor zwei Jahren eines meiner absoluten Lieblingsbücher war, zeigt Julia Armfield mit Salt Slow, wo ihre literarischen Wurzeln liegen: in einer Welt, in der das Körperliche und das Unheimliche untrennbar ineinandergreifen.

Diese Geschichten sind seltsam, schön, beunruhigend – eine wunderbare Mischung aus queerem Body Horror, Mythen und Magic Realism. Armfield schreibt über Frauenkörper, über Verwandlung und Zerfall, über die feinen Risse zwischen Intimität und Bedrohung. Ihre Protagonistinnen häuten sich, wachsen zu etwas Neuem heran oder zerfallen langsam – und all das wirkt gleichzeitig grotesk und zutiefst menschlich.

Was mich an Armfields Schreiben so fasziniert, ist ihr Blick für das Unheimliche im Alltäglichen. Eine Beziehung, ein Körper, ein gewöhnlicher Tag – und plötzlich kippt alles in etwas Dunkles, Schillernd und traumgleich, das man kaum greifen kann. Dabei bleibt ihre Sprache elegant, präzise, fast zärtlich in ihrer Beschreibung des Schreckens. Und immer wieder blitzt ein beißender, sehr britischer Humor auf, der das Morbide sehr reizvoll macht.

The sky is gory with stars, like the insides of a gutted night


Salt Slow erinnert an Autorinnen wie Shirley Jackson oder Mariana Enríquez, und doch ist Armfields Ton unverkennbar eigen: zugleich kühl und emotional, distanziert und tief berührend. Jede Geschichte öffnet eine kleine Welt für sich, seltsam und vollkommen – und ich wollte, sie würden nie enden.

Ein brillantes, düsteres Debüt, das zeigt, wie poetisch, queer und wunderschön Horror sein kann.

Die Wut ist ein heller Stern – Anja Kampmann erschienen im Hanser Verlag

Als ich Anja Kampmann beim Erlanger Poetinnenfest aus „Die Wut ist ein heller Stern“ lesen hörte, war ich sofort hin und weg, Buch gekauft und auch noch eine sehr schöne Signatur bekommen. Und dann lag es da, schön und verheißungsvoll, und ich merkte schnell: leicht wird das nicht. Ich brauchte mehrere Anläufe, habe es immer wieder zur Seite gelegt, bin zurückgekehrt, habe mit ihm gerungen. Ein Buch wie ein Boxkampf – aber einer, den ich unbedingt gewinnen wollte. Und ich bin froh, dass ich drangeblieben bin, denn am Ende hat sich jeder Schlagabtausch gelohnt.

Der Roman erzählt von Hedda, einer Artistin im Varieté „Alkazar“ auf der Reeperbahn Anfang der 1930er Jahre. Sie balanciert nicht nur auf dem Seil, sondern auch im Leben, während um sie herum die Welt kälter wird. Ihr Bruder Jaan zieht als Harpunenschmied in die Antarktis, ihr kleiner Bruder Pauli ist kränklich und verletzlich. Als die Nazis die Macht iübernehmen, verändert sich der Kiez gravierend. Heddas Freunde, die in kommunistischen Sportgruppen aktiv sind, werden verhaftet und ermordet.

Langsam zieht sich das Netz der politischen und gesellschaftlichen Veränderungen zu. Die Schutzräume werden weniger, die Lichter im Varieté flackern, während draußen Uniformen auftauchen. Man merkt Anja Kampmann sofort an, dass sie aus der Lyrik kommt. Ihre Sprache ist dicht, manchmal kühl mehr spürbar als erklärbar.

Es gibt Passagen, die unfassbar schön sind, und andere, in denen ich schlicht nicht wusste, was gemeint war. Dieses ständige „Rita?“ – ich habe mich oft gefragt, warum, bis ich irgendwann aufgehört habe, alles verstehen zu wollen. Als ich mich der Stimme einfach hingegeben habe, mich tragen ließ, statt zu analysieren, wurde es plötzlich leichter.

Die Rita macht weiter, streckt sich so schön. Es ist warm. Samstagnacht, das Alkazar gut besucht. Schsch. Da ist dieses Glimmen im Auge des Kaiman. Eddy und Fred, die sonst so betäubt auf der Bühne liegen, sind hellwach, in ihren Augen ein seltsamer Glanz. Der Keiler ist wach. Da schwingt sie, die Rita, und die sich regen könnte, die spricht, ist irgendwo verborgen.

Kampmann schreibt keinen klassischen Roman, sie malt mit Worten, baut Räume aus Schweigen, Zwischenräumen, Blicken. Ihre Figuren sprechen in Andeutungen, ihre Sätze sind wie Seile, an denen man sich festhalten – oder verheddern – kann. Die Poetik ist kühl, aber nicht distanziert; sie hat eine fast körperliche Präsenz, die unter die Haut geht.

Die Wut ist ein heller Stern ist kein Buch, das man einfach so liest. Man muss sich darauf einlassen, sich in den Ring stellen, bereit sein, auch mal K.O. zu gehen – aber dann steht man wieder auf und liest weiter. Ich kann sehr gut verstehen, dass der Roman auf Platz 1 der SWR-Bestenliste steht. Er ist kompromisslos, sprachlich brillant, tief durchdacht. Aber definitiv keine Massenware. Wer einfach eine Geschichte „weglesen“ will, wird scheitern. Wer sich aber gern auf eine sprachliche Erfahrung einlässt, die fordert und berührt, der wird belohnt.

Ex Libris. Confessions of a Common Reader – Anne Fadiman auf deutsch unter dem Titel „Bekenntnisse einer Bibliomanin“ im Diogenes Verlag erschienen, übersetzt von Melanie Walz

Dieses Buch habe ich von einer lieben Bookclub-Freundin geliehen bekommen – und schon nach ein paar Seiten wusste ich: Anne Fadiman ist eine von uns. In fünfzehn kleinen Essays schreibt sie über das Leben mit (und manchmal auch wegen) Büchern – über zerlesene Ausgaben, über das Glück, Randnotizen zu hinterlassen, und über die Eigenheiten all jener, die sich zwischen Regalen am wohlsten fühlen. Besonders der erste Essay, “Marrying Libraries”, hat mich herrlich amüsiert: wie unterschiedlich zwei bücherverrückte Menschen mit ihren Lesewelten umgehen und wie emotional so ein gemeinsames Bücherregal werden kann! (es kam mir alles sehr bekannt vor ;))

Ich habe mich in vielem wiedergefunden – und war gleichzeitig froh zu merken, dass es offenbar Menschen gibt, die noch ein bisschen buchverrückter sind als ich. Dann wirkt die eigene Manie gleich ganz normal dagegen.

Fadiman, 1953 geboren, Essayistin, Redakteurin und bekennende Bibliomanin, schreibt mit Witz, Wärme und einem feinen Sinn für die kleinen Absurditäten des Lesens. Ex Libris ist charmant, klug und einfach herzerwärmend – und ja, es hat meine Leseliste natürlich verlängert. Mit Blick auf das bald nahende Weihnachtsfest: ein wunderbares Geschenk für alle, die Bücher nicht nur lesen, sondern leben.

So meine Lieben – das war mein Oktober. Wie war eurer? Was habt ihr gelesen und besonders gemocht? Konnte ich euch mit einem meiner Titel Lust auf die Lektüre machen? Freue mich über euer Feedback.

September Lektüre

Der September ist einer meiner Lieblingsmonate – und auch literarisch war er in diesem Jahr ein voller Erfolg. Besonders geprägt war er vom Erlanger Poetinnenfest, wo ich gleich mehreren der Autor*innen meiner diesmonatigen Lektüren begegnet bin: Ulrike Draesner, Fikri Anıl Altıntaş und Dimitrij Kapitelman. Insgesamt habe ich neun Bücher gelesen – ein wahrer literarischer Roadtrip.

Meine Lektürereise führte mich quer durch Zeiten und Kontinente: nach Mexiko, durch die USA an der Seite von John Steinbeck und seinem Königspudel Charley, bis hinaus aufs Meer, wo Penelope vor Ithaka in See sticht – und ich gleich dortgeblieben bin, denn auch Richard Powers’ „Das große Spiel“ spielt zu weiten Teilen im Ozean. Mit Dimitrij Kapitelman und Fikri Anıl Altıntaş habe ich zudem zwei besondere Familiengeschichten gelesen, die auf sehr unterschiedliche, aber gleichermaßen berührende Weise von Herkunft und Identität erzählen.

Ein wirklich guter Monat also – vielfältig, nachdenklich, manchmal melancholisch, oft überraschend. Hier kommt nun meine Septemberlektüre im Detail: Bücher, die ich euch wärmstens ans Herz legen möchte.

Ulrike Drasener – penelopes sch()iff erschienen im Penguin Verlag

Dieser Roman in Versform hat mich sehr begeistert und ich habe ihn hier vor Kurzem bereits besprochen.

Travels with Charley – John Steinbeck auf deutsch unter dem Titel „Die Reise mit Charley: Auf der Suche nach Amerika“ in dtv Verlag erschienen, übersetzt von Burkhart Kroeber

Dieses Buch wurde mir von einer lieben Freundin schon vor einer ganzen Weile empfohlen und endlich komme ich dazu, ihrem guten Tipp zu folgen: Selten hat mich ein Buch so sehr dazu gebracht, sofort den Koffer zu packen und einfach loszufahren. Dieses Buch hat in mir ein Fernweh geweckt, das zugleich Freiheit, Abenteuer und Lust auf stille Begegnungen macht. Ganz ohne großes Pathos, ganz ohne literarische Verrenkungen – einfach durch Steinbecks Blick, seine Sprache, seinen Ton.

Worum geht es? 1960, schon ein berühmter und reifer Autor, macht sich Steinbeck auf, sein eigenes Land noch einmal neu zu erkunden. Er will die Vereinigten Staaten nicht aus der Distanz der Zeitungen und Fernseher sehen, sondern mit eigenen Augen und Ohren erleben. Dazu lässt er sich ein Gefährt bauen, das er liebevoll Rocinante nennt, nach Don Quijotes klapprigem Pferd. Mit an Bord: Charley, ein französischer Pudel, der nicht nur Begleiter, sondern fast so etwas wie Gesprächspartner und Spiegel ist. Gemeinsam ziehen sie los, durch Neuengland, den Mittleren Westen, die Weiten Montanas, die Städte und Sümpfe des Südens.

I have always lived violently, drunk hugely, eaten too much or not at all, slept around the clock or missed two nights of sleeping, worked too hard and too long in glory, or slobbed for a time in utter laziness. I’ve lifted, pulled, chopped, climbed, made love with joy and taken my hangovers as a consequence, not as a punishment

Es ist eine Reise voller kleiner Begegnungen: Tankwarte, Farmer, Verkäuferinnen, Städter. Steinbeck hört zu, fragt nach, beobachtet – und hat ein unglaubliches Talent, die Geschichten dieser Menschen in ein paar Seiten lebendig werden zu lassen. Dabei klingt er nie gönnerhaft, nie belehrend. Er schaut hin, er beschreibt, und man spürt seine große Zuneigung zu den Menschen, so unterschiedlich sie auch sind.
Genauso eindringlich sind seine Naturbeschreibungen. Wenn Steinbeck durch die Wälder von Maine fährt oder die Ebenen der Dakotas durchquert, dann spürt man diese Landschaften beim Lesen. Er schreibt klar, ungekünstelt, aber immer poetisch – so, dass man glaubt, man säße selbst auf dem Beifahrersitz, mit Charley im Rückspiegel.

Natürlich hat die Reise auch dunkle Seiten. Besonders im Süden stößt Steinbeck auf offene Rassentrennung und Proteste gegen die Integration. Seine Notizen dazu sind von einer Schärfe, der man seine Wut dagegen anmerkt. Er will nicht einfach nur reisen, er will verstehen. Er konfrontiert sich mit dem, was weh tut, und genau darin liegt die Ehrlichkeit dieses Buches.

Travels with Charley ist nicht nur eine Reise durch Amerika, sondern auch eine Reise ins Innere – ein Buch über Begegnungen, Landschaften, Politik, Alltag, über die Sehnsucht nach Freiheit und das Bedürfnis nach Nähe. Vor allem aber ist es ein stilles, wunderschönes Plädoyer dafür, sich immer wieder neu aufzumachen, mit offenen Augen und offenen Ohren.
Ein Buch, dass es auf Rezept geben sollte, da es garantiert Blutdruck senkende und stressmindernde Qualitäten hat. Vertraut mir und lest dieses Buch 😊

The Illiac Crest – Cristina Rivera Garza erschienen im Verlag And Other stories, übersetzt von Sarah Booker (eine deutsche Übersetzung gibt es bislang nicht) und Die Schwerelosen – Valeria Luiselli erschienen im Kunstmann Verlag, übersetzt von Dagmar Ploetz

Diese beiden Bücher habe ich für meine Mexiko Stopp auf der literarischen Weltreise gelesen und meinen Eindruck dazu könnt ihr hier nachlesen.

Zwischen uns liegt August – Fikri Anıl Altıntaş erschienen im C. H. Beck Verlag


Noch ein Autor den ich auf dem Poetinnenfest endeckt habe und ein Roman bei dem ich schon nach wenigen Sätzen dachte: hier jemand schreibt, der genau hinhört – in die Zwischenräume von Sätzen, in die stillen Bewegungen zwischen Mutter und Sohn. Dank an C. H. Beck für das Rezensionsexemplar.

Altıntaş erzählt von den letzten Monaten einer an Krebs erkrankten Mutter und ihres Sohnes – und er tut das ohne Pathos, ohne jedes überflüssige Wort. Während die Krankheit das Ende unausweichlich erscheinen lässt, bleibt der Alltag seltsam standhaft: Krankenhausflure, Fahrten zum Supermarkt, das gemeinsame Kochen, kleine Gesten, die plötzlich mehr Gewicht tragen als große Erklärungen. Diese Alltäglichkeit verleiht dem Buch seine besondere Stärke – es ist kein Roman über das Sterben, sondern über das Weiterleben, bis zuletzt.

Parallel entfaltet sich die Vergangenheit der Mutter: ihre Kindheit in der Türkei, das Aufbrechen nach Deutschland, das Leben zwischen Sprachen, zwischen Erwartungen und Eigenwillen. Der Sohn versucht, zu verstehen, was sie geprägt hat, was sie weitergegeben hat – und was unausgesprochen blieb. Altıntaş beschreibt all das mit großer Empathie und einem genauen Blick für die leisen Brüche, die Generationen und Kulturen voneinander trennen und zugleich verbinden.

Es tut weh, darüber nachzudenken, dass sich Routinen verschieben

Mich hat dieses Buch sehr berührt, vielleicht gerade weil es sich nie übermässig in Emotionen verliert. Es bleibt leise, und gerade darin liegt seine Eindringlichkeit. Zwischen den Zeilen spürt man die Zärtlichkeit dieser Beziehung, aber auch die unausgesprochenen Spannungen, die Scham, die Müdigkeit, das zähe Ringen um Nähe. Besonders stark fand ich den Moment, in dem die Mutter – unerwartet und klar – für sich selbst einsteht, für ihre eigenen Wünsche und Bedürfnisse, die sie so lange zurückgestellt hatte. Dieser Augenblick wirkt wie ein kleines Aufleuchten inmitten des Abschieds.

Altıntaş schreibt ohne große Dramatik, aber mit einem tiefen Wissen um das, was zwischen Menschen unausgesprochen bleibt. Eine eindringliche, zärtliche und zugleich schmerzlich ehrliche Geschichte – und für mich eines der bewegendsten Bücher des Jahres.

Liebe in Zeiten des Hasses – Florian Illies erschienen im S. Fischer Verlag

Florian Illies’ Liebe in Zeiten des Hasses ist ein Buch, das man nicht einfach liest, sondern in das man hineingezogen wird wie in eine Chronik des taumelnden 20. Jahrhunderts. Diese kurzen, vignetteartigen Miniaturen über Künstler, Dichterinnen, Denker und Verirrte der Zwischenkriegszeit entfalten eine eigentümliche Mischung aus Eleganz, Schmerz und Ironie. Illies beherrscht die Kunst, das Schicksal einer ganzen Epoche in einem einzigen Augenblick, in einer Geste, in einem Blick zwischen zwei Liebenden oder einem Satz aus einem Brief zu verdichten. So entsteht ein Mosaik aus schillernden, verletzlichen Fragmenten, in dem sich die Jahre 1930 bis 1939 wie ein langsames, unausweichliches Abrutschen anfühlen – von der fiebrigen Kreativität der Avantgarde hinein in den Abgrund der Gewalt.

Beim Lesen überkommt einen immer wieder dieses „uncanny“ Gefühl, dass Geschichte keine lineare Bewegung ist, sondern ein Kreisen – dass sich die Gespenster jener Zeit längst wieder in unserer Gegenwart einnisten. Man liest von den Intellektuellen, die sich noch über politische Extreme mokieren, während sie sich schon in deren Bannkreis befinden, und man denkt unwillkürlich an die Rhetorik unserer Tage, an die neuen Fronten, die wieder gezogen werden. Illies’ Stil – halb distanziert, halb zärtlich – verstärkt diese Beklemmung. Er kommentiert kaum, er beobachtet, lässt uns die Ahnung des Kommenden mitempfinden, als säßen wir mit ihm am Rande eines brennenden Jahrzehnts und wüssten, dass der Rauch schon zu uns herüberzieht.

Manchmal ist mir da aber auch zu viel Hektik bei all der Spannung zwischen Schönheit und Entsetzen. Da ist eine fast voyeuristische Lust, in die Salons und Ateliers jener Zeit zu blicken, wo noch getanzt, geliebt, gestritten wird – wissend, dass all das bald zerstört sein wird. Illies zeichnet diese Welt mit feiner Ironie, aber ohne Spott; man spürt seine Melancholie über das, was unwiederbringlich verloren ging, und seine stille Wut darüber, wie blind viele damals in ihr eigenes Verderben liefen.

Man kann kein Licht entdecken, solange man nur die Dunkelheit analysiert.

So liest sich Liebe in Zeiten des Hasses letztlich wie ein Spiegel – ein historischer, aber auch ein existenzieller. Die Figuren dieser Jahre sind uns näher, als wir glauben: in ihrem Wunsch nach Bedeutung, nach Liebe, nach Schönheit trotz der Dunkelheit. Und während man Seite um Seite in diese Welt eintaucht, stellt sich unweigerlich die Frage, ob wir gerade wieder in einer solchen Zwischenzeit leben – in einem Moment, in dem alles noch möglich scheint, aber längst kippt.

Russische Spezialitäten – Dimitrij Kapitelman erschienen im Hanser Verlag

Ich habe Dimitrij Kapitelmans „Russische Spezialitäten“ zuerst gehört, dann erst gelesen – bei seiner Lesung in Erlangen. Kapitelman hat für mich in seiner Stimme schon den Rhythmus seines Schreibens mitschwingen zu lassen: eine Mischung aus Schärfe, Witz und stiller Melancholie. Ich hatte das Buch für einen Bekannten mitgebracht, der unbedingt eine Widmung seines Lieblingsautors wollte – und in der Aufregung zwischen Publikum, Signiertisch und Smalltalk habe ich dann völlig vergessen, ein schönes Cover-Bild für den Artikel hier zu machen.

Gelesen habe ich Russische Spezialitäten schließlich auf der Rückfahrt vom Poetinnenfest, in einer Reihe von Nahverkehrszügen mit reichlich Verspätung und somit genügend Zeit, mich ganz in diese Geschichte zu versenken. Es war die perfekte Lektüre für eine solche Reise: ein Buch über das Unterwegssein, über Herkunft und Zugehörigkeit, über das, was bleibt, wenn man ständig zwischen Welten pendelt.

Kapitelman erzählt von seiner ukrainisch-jüdischen Familie, von Eltern, die sich in der Fremde neu erfinden müssen, und von einem Sohn, der versucht, ihre Vergangenheit zu verstehen, ohne sich darin zu verlieren. Das klingt nach schwerem Stoff, ist es aber nicht. Sein Ton ist leicht, fast tänzerisch. Humor und Schmerz stehen nebeneinander, oft in einem Satz. Er schreibt mit Zärtlichkeit, aber ohne Sentimentalität, mit Ironie, aber ohne Distanz. Gerade diese Balance macht das Buch so besonders – es ist persönlich, politisch und poetisch zugleich. Da ich vor Kurzem erst seinen Roman „Eine Formalie in Kiew“ gelesen habe, kam mir das ganze Setting und seine Protagonist*innen wunderbar vertraut vor.

Seit der Invasion habe ich das Gefühl, kein richtiger Mensch mehr zu sein. Die unerträgliche und unerträglich sinnlose Tragödie, die Russland in mein Geburtsland gebracht hat. Ich blende sie aus, um in meinem friedlichen, vom dummen Glück okkupierten Leben zu funktionieren.

Ich war ehrlich überrascht, Russische Spezialitäten nicht auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises zu finden. (Genauso wenig wie meine absolute Favoritin Annett Gröschner mit „Schwere Lasten“ – grrrr) Für mich ist der Roman Literatur, die wirkt, weil sie vertraut klingt – wie ein Gespräch, das man auf einer langen Zugstrecke zufällig beginnt und ungern beendet. Vielleicht war das für die Juror*innen nicht experimentell genug.

Kapitelman schreibt mit einer Wärme, die ich sehr schätze: aufmerksam, witzig, verletzlich. „Russische Spezialitäten“ ist ein Buch, das sich leise entfaltet, das nachwirkt und Lust macht auch weitere Bücher des Autors zu lesen.

Sommer in Lesmona – Marga Berck erschienen im Rowohlt Verlag

Ich wollte mich mit „Sommer in Lesmona“ vom Sommer verabschieden und erwartete eine leichte, nostalgische Geschichte mit Lindenblütenduft und Sonnenschein. Doch schon nach den ersten Seiten merkte ich, dass unter dieser heiteren Oberfläche etwas anderes schwingt: eine Ahnung von Vergänglichkeit, die das ganze Buch durchzieht. Marga Berck – hinter diesem Pseudonym steht Magdalene Pauli, geborene Melchers, Bremer Kaufmannstochter und spätere Frau des Kunsthistorikers Gustav Pauli – hat in „Sommer in Lesmona“ weit mehr hinterlassen als eine charmante Folge von Backfischbriefen die sie mit ihrer besten Freundin austauscht. Sie hat Zeugnis abgelegt über Jugend und Freiheit im Schatten einer Zeit, die noch gar nicht weiß, dass sie vergeht.

Der Roman, der auf einem echten Briefwechsel aus den 1890er Jahren basiert, beginnt als scheinbar harmlose Sommergeschichte: Ein junges Mädchen schreibt ihrer Freundin von Reisen, Festen, Spaziergängen und einer verbotenen Liebe. Diese Briefe atmen eine Unschuld, die von einer leisen Melancholie überlagert sind und eine unerwartete dramatische Wendung nehmen. Denn alles, was Marga erlebt, scheint so hell, so lebendig, und doch weiß man als Leserin: Diese Welt wird verschwinden – nicht nur für sie, sondern für ganz Europa.

Die Eltern trafen viele Bekannte, darunter sehr viele elegante Leute aus Frankfurt und London. Angesichts dieser Welt entdeckte Mama, daß ich angezogen wäre wie ein Mistkäfer. Sie selbst sieht ja immer so vornehm aus. Aber nun sah sie ein, daß ich aussah, als käme ich aus Gröpelingen. Abends waren beide Eltern furchbar zärtlich zu mir und sagten, es wäre doch so nett, daß Du und ich so wenig Wert auf teure Kleider gelegt hätten. Du hättest ja nun als Braut schon sehr schöne Sachen aus Hannover bekommen, und ich sollte jetzt in Wiesbaden ganz neu ausgesteuert werden! Wir haben wirklich beide wenig an unsere Kleider gedacht, und für Bremen hat es ja noch immer genügt.

Hinter dem hellen Licht von Lesmona liegt der Schatten einer Biografie, die fast symbolisch für den Verlust einer ganzen Epoche steht. Magdalene Pauli, die Verfasserin dieser Briefe, führt später ein Leben, das kaum gegensätzlicher sein könnte: aus der Geborgenheit des großbürgerlichen Bremen hinaus in eine Welt der Brüche. Sie heiratet einen Kunsthändler, erlebt die kulturelle Blüte Europas – und wird zugleich Zeugin seines Untergangs. Zwei Weltkriege, wirtschaftliche Krisen, gesellschaftliche Umwälzungen. Sie überlebt all ihre Kinder – und wird zum Glück im hohem Alter überredet diese Jugendbriefe herauszugeben.

Ich habe dieses Buch mit einer zunehmenden Wehmut gelesen. Pauli hat mit Sommer in Lesmona ein Denkmal gesetzt für die Zerbrechlichkeit des Glücks. Ein leises, kluges, vollkommen zeitloses Buch – und, wenn man die Tragik der Autorin kennt, auch ein sehr bewegenden Zeitzeugnis Wer sich mit Sommer in Lesmona vom Sommer verabschiedet, verabschiedet sich zugleich von einer Welt, die es so nie wieder geben wird.

Das große Spiel – Richard Powers erschienen im Penguin Verlag, übersetzt von Eva Bonné

Kennt ihr das? Autorinnen, Bands, Künstlerinnen, die eigentlich komplett eurem Beuteschema entsprechen, alles klingt, als müsse es definitiv passen – aber es wird irgendwie nix. Musikalisch denke ich da gerade an Nine Inch Nails, literarisch ist das bei mir Richard Powers. Schon durch „The Overstory“ habe ich mich sehr gequält, obwohl ich mich auf das Buch gefreut hatte. Mit „Das große Spiel“ ging es mir definitiv besse, denn gequält habe ich mich absolut nicht, ich habe es durchaus flott gelesen, konnte aber trotzdem keine wirkliche Verbindung zu der Geschichte aufbauen.

Inhaltlich erzählt Powers die Geschichte von mehreren Menschen, deren Leben auf komplexe Weise miteinander verwoben sind. Evie, Meeresbiologin, erforscht die Tiefen des Ozeans; Todd, Programmierer, arbeitet an einem Spiel, das Realität und Simulation verschwimmen lässt; Rafi, Künstler, sucht nach neuen Ausdrucksformen in einer zunehmend digitalen Welt. Ihre Wege kreuzen sich auf überraschende und teilweise geheimnisvolle Weise, wobei die Insel Makatea als eine Art Brennpunkt für Neubeginn, Begegnung und persönliche Reflexion dient. Powers verwebt darin Themen wie Wissenschaft, Kunst, menschliche Beziehungen und die Suche nach Sinn in einer komplexen, globalisierten Welt.

Jeder Tanz ist ein Spiel, und jedes Spiel erklärt sich am besten selbst. Denn was tun alle Geschöpfe anderes, als auf dem Erdkreis zu spielen, im Angesicht eines spielenden Gottes?

Evie fand ich als Protagonistin durchaus faszinierend, aber ihre Geschichte verendet irgendwann im Belanglosen, und das Ende des Buches wirkte auf mich merkwürdig. Die erzählerische Struktur, das Verweben der unterschiedlichen Perspektiven und die fast kaleidoskopische Breite des Romans haben mich zeitweise an die letzte Folge von Lost erinnert 😉

Das Bild vom Leben als Spiel fasst die Grundidee des Romans treffend zusammen: eine poetische Reflexion über die Verflochtenheit von Menschen, Handlungen und der Welt, ohne dass Powers dabei versucht ist einfache Antworten zu geben.

Für mich bleibt „Das große Spiel“ ein solides Buch – gut zu lesen, klug und auch ambitioniert, aber insgesamt funkt es einfach nicht zwischen mir und Powers.

Jetzt bin ich gespannt – was waren eure Highlights im September und konnte ich euch vielleicht auf das eine oder andere Buch neugierig machen?

August Lektüre

Mein August war wieder ein ziemlich bunter Lesemonat – mit teils großer Begeisterung, einer wunderbaren (Wieder-)Entdeckung, aber auch ein, zwei Bücher, die mich nicht wirklich gepackt haben. Lasst uns ohne lange Vorrede direkt starten – es gibt viel zu besprechen 🙂

James – Percival Everett erschienen im Hanser Verlag, übersetzt von Nikolaus Stingl

Percival Everett gelingt mit James ein außergewöhnlicher Roman, der gleichzeitig Klassiker und Neuschöpfung ist. Ausgangspunkt ist Mark Twains Huckleberry Finn, doch Everett gibt der Figur James – bei Twain meist nur „Jim“ genannt – die eigene Stimme zurück. Diese Stimme ist klar, reflektiert, voller Intelligenz und Würde. Damit dreht sich die Perspektive radikal: Wir sehen nicht mehr den Abenteuerroman aus der Sicht des Jungen, sondern erleben die Geschichte durch die Augen eines Mannes, der im System der Sklaverei ums Überleben kämpft und Sprache als Schutz, Waffe und Identität nutzt.

Der Roman ist sprachlich brillant, oft von dunklem Humor getragen, zugleich erschütternd in seiner Darstellung von Gewalt, Abhängigkeit und Überlebensstrategien. Everett zeigt, wie unterdrückte Menschen oft absichtlich gebrochen oder „falsch“ sprachen, um Erwartungen weißer Gesellschaft zu erfüllen und sich so einen Spielraum zu verschaffen. Diese doppelte Ebene der Sprache ist das Herzstück des Buches.

James überzeugt sowohl literarisch als auch emotional. Der Roman ist hochintelligent komponiert, ohne ins Theoretische zu verfallen. Er erzählt eine mitreißende Geschichte, die man nicht aus der Hand legen möchte, und schafft eine Figur, mit der man noch lange innerlich im Gespräch bleibt. Kein Wunder also, dass unser Bookclub nahezu einhellig Höchstnoten vergeben hat.

Halbe Leben – Susanne Gregor erschienen im Zsolnay Verlag

Schon die erste Szene, ein tötlicher Sturz, setzt den Grundton dieses Romans. Kein großer Knall, kein Drama, eher ein dumpfes Nachhallen, das einen durch das ganze Buch begleitet.

Paulina, die gelernte Krankenschwester lebt tatsächlich zwei halbe Leben: einmal in der Slowakei als alleinerziehende Mutter von zwei Söhnen, dann in Österreich als helfende Hand in einer fremden Familie. Sie bewegt sich wie ein Chamäleon zwischen diesen Welten, passt sich an, übernimmt, trägt, macht möglich – und verliert dabei immer mehr von sich selbst. Ich habe beim Lesen oft gedacht: Wie viel von uns allen steckt in dieser Haltung, „immer funktionieren zu müssen“, auch wenn es einen innerlich zerreißt?

Besonders bedrückend fand ich die Szenen in der Gastfamilie. Klara, die Architektin, so zielstrebig, so selbstsicher, hat Paulina an ihrer Seite fast wie ein zweites Fundament ihres Erfolges. Ihr Mann dagegen wirkt wie ein schwebender Luftballon, frei von den Lasten des Alltags. Und Paulina fängt das alles auf. Man spürt förmlich, wie sie immer tiefer in ein Leben hineingleitet, das nicht ihres ist, bis die Grenze zwischen Dienen und Ausgenutztwerden verschwimmt. Das Beklemmende daran: Es ist kein offener Missbrauch, kein Skandal – sondern eine Reihe kleiner, leiser Verschiebungen, die sich summieren.

Ihre Mutter war zu einem defekten Rädchen im Uhrwerk ihrer Tage geworden, das alle anderen durcheinanderbrachte, und Klara der Zeiger, der sich nonstop im Kreis drehte

Was mich an Gregors Schreibweise beeindruckt hat ist diese leise Eindringlichkeit. Die Sprache ist schlicht, fast zurückhaltend, und gerade dadurch entsteht eine enorme Spannung. Vieles bleibt ungesagt, aber man fühlt es umso stärker zwischen den Zeilen. Es gibt keine plakativen Appelle, keine moralischen Zeigefinger – und doch schleicht sich die Kritik an unserer perfekt organisierten, aber zutiefst ungleichen Welt unübersehbar ein.

Ein Roman in dem das sozialkritische nicht plakativ im Vordergrund steht, sondern als stilles Kammerspiel, beklemmend klar die Rolle einer Frau zeigt, die immer gebraucht wird – und nie ankommt.

Das Narrenschiff – Christoph Hein erschienen im Suhrkamp Verlag

Christoph Heins „Das Narrenschiff“ hat mich von Anfang an gepackt und gleichzeitig auf Abstand gehalten. Ein seltsamer Zwiespalt, denn auf der einen Seite war ich komplett absorbiert, habe Seite um Seite verschlungen, unfassbar viel über die DDR gelernt und mich an vieles wieder erinnert – an Gespräche, an Stimmungen, an diesen ganz eigenen gesellschaftlichen Tonfall. Und trotzdem: Die Figuren, so klar sie gezeichnet sind, blieben mir fern. Das liegt sicherlich auch an Heins Schreibstil – nüchtern, analytisch, oft beinahe kühl. Emotional andocken war schwer, was aber wohl auch Teil seines literarischen Konzepts ist. Hein will nicht rühren, er will verstehen machen – und das gelingt ihm auf fast schon unheimlich präzise Weise.

Der Roman öffnet mit der Rückkehr prominenter Antifaschisten im April/Mai 1945 aus Moskau – der berüchtigten „Gruppe Ulbricht“ – und begleitet sie, darunter Karsten Emser, Johannes Goretzka und Benaja Kuckuck, auf ihrem Aufstieg in den DDR-Apparat.

… was ist aus unseren Hoffnungen und Träumen geworden? Wir wollten ein anderes Land, einen anderen Staat aufbauen, friedlicher, solidarischer und vor allem gerechter.

Der Fokus liegt klar auf dem Machtpersonal, auf Politikern und Funktionären, die die Gründungsjahre des Staates markieren und später dessen Strukturen mittragen – stets mit einem Blick für ihre eigene Ideologie und ihr oft tragisches Scheitern.

Was ich dabei allerdings ein wenig vermisst habe – und das ist ein Punkt, der mir beim Lesen immer wieder durch den Kopf ging – war ein breiteres Panorama der DDR-Gesellschaft. Die Figuren, die Hein porträtiert, stammen allesamt aus einem eher elitären, privilegierten Milieu. Intellektuelle, Funktionäre, Parteikader. Mir fehlte das kulturelle Leben, das so viel zur Identität der DDR beigetragen hat – Literatur, Theater, Musik – und auch das Leben der „normalen“ Leute, der Arbeiter*innen, derjenigen, die mit dem System auf andere Weise rangen oder es schlichtweg ignorierten. Ich hätte gerne mehr über diese Facetten gelesen, über das, was jenseits des Apparats existierte. Heins Fokus liegt klar auf den Strukturen der Macht, auf den Mechanismen der inneren Systemlogik.

Der Roman war eine gute Ergänzung für mich zu Erpenbecks „Kairos“ das ich schlußendlich etwas gelungener fand.

Ich habe einen Anschlag auf sie vor. Der Briefwechsel – Christpoph Hein & Elmar Faber erschienen im Faber & Faber Verlag

Der Briefwechsel „Ich habe einen Anschlag auf Sie vor“ zwischen Christoph Hein und Elmar Faber ist weit mehr als ein literarisches Dokument – er ist eine Begegnung zweier starker Persönlichkeiten, die sich über mehr als dreißig Jahre hinweg mit Witz, Ernst und unverstellter Offenheit austauschen. Die Korrespondenz, die 1983 beginnt und bis kurz vor Fabers Tod 2017 reicht, schlägt dabei einen Ton an, der gleichermaßen respektvoll wie pointiert ist. Man spürt in jedem Schreiben die Freude am geistigen Schlagabtausch, das Bedürfnis, die eigenen Beobachtungen zu teilen, und den Mut, auch unbequeme Wahrheiten nicht zu verschweigen.

Thematisch öffnet sich ein Panorama, das weit über Privates hinausgeht: der literarische Alltag in der DDR, der ständige Balanceakt zwischen Kunst und Zensur, die Brüche und Herausforderungen nach der Wiedervereinigung, dazu persönliche Fragen nach dem Älterwerden, nach Krankheit, nach dem Platz der eigenen Arbeit im größeren Zusammenhang. Hein erscheint darin als genauer, oft spöttischer Beobachter, während Faber die Rolle des streitbaren, humorvollen Verlegers verkörpert. Beide aber eint der Wille, Kultur nicht nur zu gestalten, sondern sie als lebendiges, widerständiges Element einer Gesellschaft zu begreifen.

So liest sich dieser Briefwechsel nicht nur als Zeugnis einer Freundschaft, sondern auch als literarisches Zeitdokument, das Einblicke in Denk- und Arbeitsweisen zweier wichtiger Stimmen der deutschen Nachkriegsliteratur bietet. Dass ausgerechnet dieser Band 2019 der erste Titel des wiederbelebten Leipziger Verlages Faber & Faber wurde, hat Symbolkraft: Elmar Faber, der den Verlag 1990 gemeinsam mit seinem Sohn Michael gegründet hatte, wird hier nicht nur als Verleger, sondern auch als Mensch sichtbar. Das Buch ist damit Hommage, Geschichtsbuch und kurzweilige Lektüre in einem – eine Einladung, sich in den Dialog zweier kluger Köpfe hineinziehen zu lassen.

War eine gute Begleitlektüre für „Das Narrenschiff“ kann diesen Briefwechsel sehr empfehlen.

Alltagsmenschen – Carry Brachvogel erschienen im Allitera Verlag

Carry Brachvogels „Alltagsmenschen“ habe ich auf dem Blog bereits kürzlich in meiner Reihe „Stimmen, die bleiben“ vorgestellt. Hier geht es zum Beitrag.
Brachvogel (1864–1942) war eine deutsch-jüdische Schriftstellerin, die in ihren Werken besonders das Leben und die Herausforderungen von Frauen eindrucksvoll schilderte.

Freie Menschen kann man nicht zähmen – Yayou Ekhou erschienen im Alibri Verlag

Yayou Ekhou’s „Freie Menschen kann man nicht zähmen“ habe ich bereits im Rahmen meiner Reihe „Read around the world“ für Mauretanien vorgestellt. Hier geht’s zum Beitrag.
Ekhou ist ein mauretanische Autor und Aktivist, der in seinen Texten eindrücklich von Freiheit, Identität und gesellschaftlichem Wandel erzählt.

Ein Bericht für eine Akademie – Franz Kafka sowie Mikromegas – Voltaire beide erschienen in der Edition Hibana

Über die beiden von Florian L. Arnold illustrierten Bücher habe ich in meiner Reihe „Illustrierte Klassiker“ geschrieben, den link dazu findet ihr hier.

Stone Yard Devotional – Charlotte Wood auf deutsch unter dem Titel „Tage mit dir“ im Kein & Aber Verlag erschienen, übersetzt von Michaela Grabinger

Charlotte Woods Stone Yard Devotional ist ein leises, zugleich aber unglaublich eindringliches Buch. Im Mittelpunkt steht eine Frau, die sich nach einer Ehe in Sydney in ein Kloster zurückzieht – nicht, weil sie eine religiöse Berufung verspürt, sondern weil sie Ruhe, Rückzug und einen neuen Rhythmus sucht.

Mich hat der Anfang komplett hineingezogen. Diese leicht bedrohliche, schwer greifbare Atmosphäre war so packend, dass ich das Buch kaum aus der Hand legen konnte. Als die Protagonistin dann aber nicht mehr nur Besucherin, sondern Teil der religiösen Gemeinschaft wurde, war der Zugang für mich schwieriger.

Die Handlung verlagert sich zunehmend auf das Leben innerhalb der Gemeinschaft, die während der Covid-Beschränkungen auf die Rückkehr der Überreste einer ermordeten Mitschwester wartet. Parallel dazu bricht eine unfassbar drastische Mäuseplage über das Kloster herein – ein Ereignis, das tatsächlich in New South Wales stattgefunden hat. Wood beschreibt Szenen von Ausmaß und Grausamkeit (inklusive kannibalistischen Verhaltens der Tiere), die mühelos jedem Stephen-King-Roman das Wasser reichen. Das war wirklich krass und hat mich nachhaltig verstört.

Zwischen der Rückkehr einer Ordensschwester, die mit der Ermordeten im Ausland gearbeitet hat, den Knochen, die schließlich eintreffen, und dieser biblisch anmutenden Mäuseplage türmen sich Belastungen auf, die die Gemeinschaft fast zu zerreißen scheinen.

Stone Yard Devotional ist ein leises Buch – keines, das man einfach wegliest. Eher eines, das nachhallt, das mich zwingt, über Schuld, Verlust und Gemeinschaft nachzudenken. Und gleichzeitig ist es ein Buch, mit dem ich auf eine bestimmte Weise noch immer hadere. Vielleicht genau deshalb denke ich so oft daran zurück.

Stone Yard Devotional landete 2024 auf der Booker Shortlist – kein Buch für zwischendurch, aber durchaus lohnend, wenn man sich darauf einläßt.

Sister Europe – Nell Zink erschienen im Rowohlt Verlag, übersetzt von Tobias Schnettler

Ich habe Sister Europe als Hörbuch gehört – und leider bin ich damit nicht warm geworden. Immer wieder fanden sich kluge Sätze und tolle Bilder, aber die eigentliche Geschichte hat mich überwiegend eher genervt. Besonders schwierig fand ich die Struktur des Romans: Die Handlung spielt innerhalb weniger Stunden – einen einzelnen Abend und die darauffolgende Nacht – und führt eine Vielzahl von Figuren ein. Beim Hören habe ich die Protagonist*innen immer wieder durcheinandergebracht, was den Zugang zusätzlich erschwert hat.

Der Roman spielt in Berlin im Februar 2023 und beginnt mit einer Literaturpreisverleihung in einem Hotel, bei der ein arabischer Autor geehrt wird. Rund um diese Veranstaltung begegnen wir einer bunten, zum Teil exzentrischen Gruppe: Der Kunstkritiker Demian, seine transgender Tochter Nicole, ein amerikanischer Verleger namens Toto mit seiner schwer fassbaren Begleitung Avianca, eine privilegierte Livia, ein arabischer Prinz und ein verdeckter Polizist namens Klaus, der ihnen folgt. Gemeinsam streifen sie durch die Berliner Nacht – vom Interconti über eine U-Bahn-Party bis hin zu Burger King – und führen Dialoge, die gleichermaßen bissig, witzig und kritisch sind. Themen wie Identität, Privileg, Einsamkeit, politische Debatten und gesellschaftliche Leere spielen eine zentrale Rolle.

Nell Zink ist eine US-amerikanische Autorin die seit vielen Jahren in Deutschland lebt und schreibt. Ihre Romane sind bekannt für ihre witzige, scharfzüngige Prosa, ihren gesellschaftlichen Tiefgang und ihr Gespür für das Abgründige im Alltäglichen.

Leider kann ich für dieses Buch keine Empfehlung aussprechen – trotz der glitzernden, scharfsinnigen Dialoge, die Nell Zink wie gewohnt liefern kann. Der Stil ist zweifellos clever, ironisch und geistreich, aber für mich fehlte die erzählerische Struktur, die Figuren blieben zu flach, um nachhaltig zu fesseln.

Das war mein Lesemonat August – wie war eurer? Was waren eure Highlights? Habt ihr schon das eine oder andere hier vorgestellte Buch gelesen? Besonders würde mich eure Meinung zu Stone Yard Devotional und den Büchern von Nell Zink interessieren, falls ihr die gelesen habt.

Ich wünsche euch einen guten Lese-September 🙂

Juli Lektüre

Ein herausragender Lesemonat liegt hinter mir – einer, der mich auf meiner literarischen Weltreise in die Ukraine geführt hat. Für diesen Stopp habe ich die folgenden Bücher gelesen:

Vielleicht Esther – Katja Petrowskaja erschienen im Suhrkamp Verlag
Sie kam aus Mariupol – Natascha Wodin erschienen im Rowohlt Verlag
Eine Formalie in Kiew – Dmitrij Kapitelman erschienen im Hanser Verlag
Baba Dunas letzte Liebe – Alina Bronsky erschienen im Kiepenheuer & Witsch Verlag

die ausführliche Besprechung dazu könnt ihr hier finden. Die Bücher werde ich hier in der Monatsübersicht daher nicht noch einmal vorstellen.

Neu auf dem Blog ist außerdem meine Serie „Stimmen, die bleiben“, in der ich an Autor*innen erinnere, deren Worte nachhallen. Den Auftakt machte Anna Seghers – mit ihrem eigenen Erzählband und einer beeindruckenden biografischen Studie über ihre Zeit in Mexiko. Auch hierzu verlinke ich euch die Besprechung und widme mich jetzt den Büchern aus diesem Monat, die ich bislang noch nicht auf dem Blog besprochen habe:

Drei große Entdeckungen hatte ich in diesem Monat für mich: Silvia Bovenschen mit einer zutiefst persönlichen Hommage an ihre Partnerin, Penelope Lively mit einem perfekt komponierten Sommerroman, und die Debütantin Christina Fonthes, deren Coming-of-Age-Geschichte zwischen England und Kongo spielt.

Und schließlich: Einfach Literatur von Klaus Willbrandt – ein Buch, das ich sehr wehmütig gelesen habe. Ein literarischer Nachlass, der bleibt.

Alle Bücher lagen zwischen 4 und 5 Sternen – das kommt nicht oft vor. Aber Juli hat geliefert.

Wohin du auch gehst – Christina Fonthes erschienen im Diogenes Verlag, übersetzt von Michaela Grabinger

In ihrem vielschichtigen Debütroman erzählt Christina Fonthes die miteinander verflochtenen Geschichten zweier Frauen, Mira und Bijoux, die beide aus Kinshasa stammen und auf je eigene Weise mit Herkunft, Identität und gesellschaftlichen Erwartungen ringen. Mira verlässt in den 1980er Jahren den Kongo und zieht über Belgien und Paris nach London. Ihre Beziehung zu einem armen Musiker bringt sie in Konflikt mit der bürgerlich-aufstiegsorientierten Familie. Bijoux hingegen wird als Kind nach London geschickt, wo sie bei ihrer streng gläubigen Tante aufwächst – ihre queere Identität wird von dieser als „unchristlich“ und „unafrikanisch“ gebrandmarkt.

Fonthes erzählt über einen Zeitraum von rund dreißig Jahren hinweg, springt elegant zwischen Zeiten und Orten – Kinshasa, Brüssel, London, Paris – und verbindet große politische Fragen (Migration, Diaspora, Religion, Geschlechterrollen, Kolonialgeschichte) mit sehr persönlichen Erfahrungen von Liebe, Scham, Entwurzelung und Widerstand.

Besonders eindrücklich ist, wie stark kulturelle Prägung in Sprache, Ritualen und Erinnerung weiterwirkt: Wenn die Figuren Fufu kochen, Lingala sprechen oder gemeinsam Lieder singen, ist Kinshasa immer präsent – egal, ob sie gerade in Kilburn, London oder in einem Pariser Friseursalon stehen.

Als ich die Augen wieder öffnete, schwebten goldene und silberne Flöckchen durchs Zelt. Ich sah Chancey an. Ich hatte keinen einzigen Schluck getrunken, trotzdem war mir schwindelig. Ich strich mit beiden Händen über ihren Körper, hierhin und dahin. Dort in dem Zelt und bei Rory und Darren und anderen Leuten zu sein, die so waren wie wir, erschien mir ganz selbstverständlich. In diesem Moment, während wir tanzten und lachten und Spaß miteinander hatten, waren wir wie alle anderen – zwei schwer verliebte Mädchen, zwei schwer verliebte Menschen.

Fonthes’ Stil ist poetisch und atmosphärisch, zugleich klar und erzählerisch dicht. Sie schafft es, komplexe Themen wie Homophobie, intergenerationale Konflikte, Trauma und Migration behutsam und doch ungeschönt darzustellen. Dabei verzichtet sie auf Klischees, zeigt stattdessen die Vielstimmigkeit, Würde und Widersprüchlichkeit kongolesischer Lebensrealitäten – sowohl im Kongo selbst als auch im Exil.

Christina Fonthes ist eine britisch-kongolesische Autorin, Spoken-Word-Künstlerin und Aktivistin, die sich für queere, afrikanische und diasporische Perspektiven stark macht. „Wohin du auch gehst“ ist ein kraftvoller, bewegender Auftakt ihres literarischen Schaffens – voller Emotion, politischer Klarheit und erzählerischer Eleganz. Eine Autorin von der ich sehr gerne noch weitere Bücher lesen möchte.

Ich danke dem Diogenes Verlag für das Rezensionsexemplar.

Sarahs Gesetz – Silvia Bovenschen erschienen im S. Fischer Verlag

In Sarahs Gesetz schreibt Silvia Bovenschen über das gelebte Leben mit ihrer langjährigen Lebensgefährtin Sarah Schumann – Künstlerin, Malerin, Zeichnerin und eine der zentralen Figuren der feministischen Kunstszene der 1970er Jahre. Entstanden ist ein ungewöhnlich stilles, zugleich kraftvolles Buch über die Liebe zwischen zwei eigenwilligen, starken Frauen – über Zuneigung, Widerspruch, Fürsorge, Krankheit, das Älterwerden und die Grenzen des Sagbaren im engen Miteinander.

Bovenschen porträtiert Sarah Schumann als widersprüchliche und kompromisslose Persönlichkeit: stolz, scharfzüngig, klug und oft schwer zugänglich. Doch statt zu verklären oder zu erklären, nähert sie sich ihr essayistisch und literarisch tastend, in Miniaturen, Reflexionen und Erinnerungsbildern, die mal zärtlich, mal bitter, aber nie gefällig sind.

Sarahs Gesetz ist kein klassisches Liebes- oder Erinnerungsbuch. Es ist ein Dialog mit einer Präsenz, die sich nicht einfach festhalten lässt – eine Annäherung an das Andere im geliebten Menschen. Ein kluges, bewegendes Werk über das Zusammenleben, das Altwerden in Würde und die Formbarkeit von Nähe, ohne deren Ambivalenzen auszublenden.

Ich vertraue Sarah mehr als mir selbst.

Krankheit adelt nicht.
Eine schwere Kindheit auch nicht.

Silvia Bovenschen (1946–2017) war Literaturwissenschaftlerin, Essayistin und eine der prägenden feministischen Intellektuellen Deutschlands. Bereits 1979 erschien ihr einflussreiches Buch Die imaginierte Weiblichkeit. Sie lehrte viele Jahre an der Universität Frankfurt, bevor sie sich – selbst seit ihrer Jugend an MS erkrankt – zunehmend dem literarischen Schreiben zuwandte. Mit Älter werden. Notizen (2006) erreichte sie ein großes Publikum. Sarahs Gesetz, erschienen 2015, ist eines ihrer persönlichsten Bücher – klug, liebevoll und radikal wahrhaftig.

Habe große Lust noch weitere Bücher von Silvia Bovenschen zu entdecken – eine sehr interessante Autorin.

Heat Wave – Penelope Lively auf deutsch unter dem Titel „Hinter dem Weizenfeld“ bei dtv erschienen, übersetzt von Isabella Nadolny

Könnt ihr euch noch erinnern, wie wir vor ein paar Tagen vor lauter Hitze kaum noch einen klaren Gedanken fassen konnten? Ich jedenfalls schon – schmorend in unserer gefühlt 60 Grad heißen Dachgeschosswohnung, mit dem Ventilator als einzigem Verbündeten. Vielleicht ist genau jetzt, wo draußen der Sommer als Herbst cosplayed, die beste Zeit, sich noch einmal in die drückende Hitze zurückzuversetzen.

Gelesen habe ich in diesen Tagen Penelope Livelys Roman „Heat Wave“ – ein Glücksgriff. Ohne große Erwartungen aufgeschlagen, wurde ich komplett hineingezogen in diese stille und dennoch spannungsgeladene Geschichte. Eine Lektüre, die mich so gefesselt hat, dass ich danach sofort mehr von Lively lesen wollte.

Heat Wave“, erschienen 1996, spielt während eines glühend heißen Sommers auf dem englischen Land – genauer: in einem umgebauten Bauernhof in den Midlands, genannt World’s End. Einen Sommer den ich im Übrigen in London mit erlebt habe und mich sehr genau daran erinnern kann. Dort verbringt Pauline, Anfang fünfzig und freiberufliche Lektorin (sie korrigiert in einem ihrer Aufträge Kommas in einem Einhorn-Roman), den Sommer mit ihrer Tochter Teresa, deren Ehemann Maurice und dem kleinen Enkelsohn Luke.

Die Figuren leben Wand an Wand in nebeneinander liegenden Cottages – eine räumliche Nähe, die emotional immer bedrückender wird. Denn Pauline erkennt früh, dass Maurice nicht ganz treu ist. Ihre eigenen Erfahrungen mit einem untreuen Ehemann holen sie ein, und sie steht vor der Frage: Redet sie mit Teresa – und wenn ja, wie viel sagt sie? Oder schweigt sie und wartet, bis die Tochter selbst erkennt, was los ist?

Was auf den ersten Blick wie ein ruhiges Beziehungsdrama wirkt, ist in Wahrheit hoch aufgeladen. Lively lässt die Spannung langsam, aber unaufhaltsam wachsen – mit jeder Hitzewelle, mit jeder verdorrten Wiese, mit jedem überhitzt flirrenden Nachmittag. Natur und Emotionen spiegeln sich ständig: Die Landschaft wird zum Seismograf innerer Erschütterungen.

Die Atmosphäre ist fast kammerspielartig dicht. Es gibt keinen actiongeladenen Plot, aber umso mehr psychologische Raffinesse. Pauline ist eine wunderbar gezeichnete Figur – klug, witzig, verletzlich. Rückblenden in ihre frühere Ehe, kleine Begegnungen mit ihrem sympathisch-schrulligen Buchhändlerfreund Hugh oder dem Romanautor Chris geben ihr Tiefe und eine Welt jenseits der Ferienhausgrenze. Und dann ist da noch diese fast van Gogh’sche Landschaft: gelbgoldene Felder unter einem strahlend blauen Himmel, flirrend vor Hitze – ein grandioses Setting für ein emotionales Flächenbrand-Drama.

It occurs to her that she is probably the first person to live here for whom the weather is an aesthetic diversion.

Was mir besonders gefallen hat, war die Art und Weise, wie Lively mit Erwartungshaltungen spielt. Anfangs glaubt man, das sei eine jener subtilen Erzählungen, in denen „nichts passiert“. Aber wer aufmerksam liest, merkt bald: Das Ende ist längst angelegt, in Andeutungen, kleinen Gesten, Blicken. Es kommt nicht plötzlich, aber wow war ich überrascht.

Penelope Lively wurde 1933 in Kairo geboren und ist noch very much alive and kicking 🙂 Sie ist eine der renommiertesten britischen Schriftstellerinnen der Gegenwart und wurde unter anderem 1987 für Moon Tiger mit dem Booker Prize ausgezeichnet. 2017 erschien ihr letztes Buch eine Biografie mit dem Titel Life in the Garden – möchte ich – neben Moon Tiger – unbedingt lesen.

Kultur – eine neue Geschichte der Welt – Martin Puchner erschienen bei Klett-Cotta

Für dieses Buch durfte ich bei Bild der Wissenschaft eine Kurz-Rezension verfassen, diese könnt ihr hier lesen.

Einfach Literatur – Klaus Willbrand & Daria Razumovych erschienen im S. Fischer Verlag

Ich folgte dem Buchantiquariat Willbrand auf Instagram fast von Anfang an. Seine ruhige Art, mit der er über Literatur sprach, hat mich sofort berührt und dann diese Geschichte: ein kleines Antiquariat in Köln, das kurz vor dem Aus stand. Und eine junge Kundin, Daria, die ihn dazu brachte, sein Wissen nicht aufzugeben, sondern es mit der Welt zu teilen.

Aus dieser Freundschaft entstand nicht nur eine digitale Erfolgsgeschichte, sondern auch ein ganz besonderes Buch: „Einfach Literatur“

In diesem Werk verbindet sich autobiografisches Erzählen mit literarischer Leidenschaft. Willbrandt schreibt über seine Kindheit mit Asthma und wie ihn das zum Bücherwurm werden ließ, seine Jahrzehnte im Buchhandel, seine Begeisterung für Schriftsteller wie Kafka, Böll, Ingeborg Bachmann oder Rolf Brinkmann. Sein Ton bleibt klar und schnörkellos, manchmal melancholisch, aber nie sentimental. Man merkt jedem Kapitel an, dass hier jemand schreibt, der Literatur nicht nur gelesen, sondern gelebt hat. Besonders beeindruckt hat mich seine dreijährige Lese-Auszeit. Krass, habe wohl tatsächlich einen Menschen gefunden, dem Bücher NOCH wichtiger sind als mir.

Was jedoch alle großen literarischen Werke vereint, ist ihre Fähigkeit, die Zeit zu überdauern. Sie schafft es, ein Momentum einzufangen, das in ihrer Epoche tief verwurzelt ist, und doch ruft dieses Momentum auch Assoziationen und Empfindungen hervor. So entstehen Klassiker – Werke, die motivisch zeitlos, aber zugleich so unverwechselbar mit der Ära verbunden sind, in der sie entstanden. Große Literatur bewahrt etwas von ihrer Zeit, bleibt dabei aber unvergänglich.

Wie schön, dass Daria Razumovych seine Stimme so einfühlsam begleitet und mit in dieses Buch mit übersetzt hat. Was mir besonders gefällt sind natürlich die Listen, bei denen ich noch das eine oder andere Werk oder Autor*in entdecken konnte und die authentische Mischung aus Erinnerung, Fachwissen und einem direkten Zugang, der weder belehrt noch überfordert. Es ist ein Buch, das einen – wie ein gutes Gespräch im Buchladen – in die richtige Richtung stupst.

Ich war sehr traurig, als ich Anfang des Jahres vom Tod Klaus Willbrandts erfuhr. Wie gerne wäre ich bei meinem nächsten Köln-Besuch in seinem Antiquariat vorbeigegangen und hätte mich mit ein paar Büchern eingedeckt und auf den einen oder anderen fachmännischen Geheimtipp gehofft. Umso schöner, dass es dieses Buch gibt. Es ist ein Vermächtnis, eine literarische Schatztruhe und eine Hommage an einen Mann, der mit seinen Empfehlungen mehr als nur Bücher teilte: Er teilte Haltung, Haltung zur Welt, zur Sprache, zum Menschsein.

Wie war euer Lesemonat? Was waren eure Highlights? Konnte ich euch auf eines der vorgestellten Bücher neugierig machen? Freue mich über eure Rückmeldungen 🙂

Read around the World: Ukraine

Wie fasst man ein Land wie die Ukraine in Worte, ohne ihm unrecht zu tun? Ein Land, das seit Jahrhunderten zwischen Imperien zerrieben wird, das unermesslich viel Leid erfahren musste – und sich dennoch seine Kultur, Sprache, Selbstachtung und seinen Freiheitswillen bewahrt hat. Ein Land, das heute weltweit im Fokus steht – als Opfer eines brutalen Angriffskrieges, aber auch als Hoffnungsträger für Demokratie, Widerstandskraft und kulturelle Selbstbestimmung.

Immer wieder wird der Vorwurf laut, dass der Krieg in der Ukraine die Menschen in Europa weit mehr bewegt als andere Konflikte – etwa in Syrien, im Sudan oder anderswo. Und für mich persönlich kann ich das leider bestätigen, auch wenn ich weiß, dass das nicht gerecht ist. Dennoch habe ich gemerkt, wie stark mich dieser Krieg emotional berührt hat – vor allem durch den direkten, täglichen Austausch mit unseren zahlreichen Kolleg*innen in der Ukraine.

Plötzlich kannte man Menschen persönlich, deren Urlaubs- und Familienbilder man auf Instagram gesehen hatte. Menschen, mit denen man zusammengearbeitet, gesprochen und gelacht hat – und deren Alltag nun von Sirenen, Bombenalarm und Angst geprägt ist. Das hat den Krieg auf eine völlig neue, unmittelbare Weise spürbar gemacht.

Ich erinnere mich an Videokonferenzen, bei denen unsere Kolleg*innen aus Kiew, Charkiw oder Lwiw aus Bunkern oder Kellern zugeschaltet waren, während draußen Bomben einschlugen. Das war erschütternd. Niemand wurde zur Arbeit gedrängt – im Gegenteil, viele sagten, dass ihnen die Arbeit ein Gefühl von Struktur, Halt und ein Stück Normalität inmitten des Chaos gab.

Ich hatte telefonischen Kontakt zu Kolleg*innen, die mit ihren Kindern auf der Flucht waren – auf der Suche nach sicheren Übernachtungsmöglichkeiten auf dem Weg nach Deutschland, Polen oder in die Niederlande. Diese ganz persönlichen Erfahrungen haben den Krieg in einer Weise präsent gemacht, wie es bei anderen Konflikten für mich nie der Fall war.

Trotzdem gilt: Krieg, Leid und Zerstörung dürfen nicht gegeneinander aufgerechnet werden. Jedes menschliche Schicksal zählt. So sehr ich mir weltweiten Frieden wünsche, bin ich überzeugt: Demokratie und Freiheit müssen geschützt und – wenn nötig – auch verteidigt werden.

Ich starte heute mal mit dem Vergleich zwischen Deutschland und der Ukraine:

  • Fläche: Die Ukraine (603.700 km²) ist fast doppelt so groß wie Deutschland (357.000 km²) und das flächenmäßig größte Land Europas – wenn man Russland außen vor lässt.
  • Bevölkerung: Mit etwa 36 Millionen Einwohner:innen (2024, stark gesunken durch Flucht und Krieg) liegt die Ukraine deutlich unter Deutschland (ca. 84 Millionen), war aber vor dem Krieg bei knapp über 40 Millionen.
  • Bevölkerungsdichte: Rund 60 Personen/km² – deutlich dünner besiedelt als Deutschland (ca. 240 Personen/km²).
  • Wirtschaft: Vor dem Krieg war die Ukraine stark von Landwirtschaft, Industrie (v.a. Stahl, Maschinenbau) und IT-Dienstleistungen geprägt. Sie gilt als Kornkammer Europas – das Land ist einer der größten Exporteure von Weizen und Sonnenblumenöl weltweit. Der Krieg hat die Wirtschaft massiv geschwächt, doch gerade der Tech-Sektor zeigt sich erstaunlich resilient.

Die Geschichte der Ukraine ist eine Geschichte der Fremdbestimmung. Jahrhunderte lang war das heutige Staatsgebiet Spielball konkurrierender Großmächte: Polen-Litauen, Habsburgerreich, Osmanisches Reich, Russland, Sowjetunion. Für die Bevölkerung bedeutete das wechselnde Herrschaftsverhältnisse, Unterdrückung der Sprache, Enteignung, Deportation – und immer wieder blutige Gewalt.

Besonders grausam waren die 1930er Jahre unter Stalin: Der Holodomor, eine durch den sowjetischen Staat verursachte Hungersnot, forderte Millionen Menschenleben. Im Zweiten Weltkrieg wurde die Ukraine zum Schauplatz schwerster Kämpfe, zur Hölle für ihre jüdische Bevölkerung, die in Pogromen und durch die Shoah fast vollständig ausgelöscht wurde. Orte wie Babyn Jar stehen heute stellvertretend für diesen Zivilisationsbruch.


Und dennoch – oder gerade deshalb – entwickelte sich in der Ukraine über die Jahrhunderte eine beeindruckende kulturelle Identität. Literatur, Musik, bildende Kunst und Film florierten, oft im Schatten, oft im Widerstand gegen Zensur und Gewalt

1991 wurde die Ukraine unabhängig – nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, den viele Ukrainer:innen nicht nur als geopolitisches, sondern auch als persönliches Befreiungserlebnis empfanden. Doch die ersten Jahrzehnte waren geprägt von wirtschaftlicher Instabilität, Korruption und einem zähen Ringen zwischen Westorientierung und russischem Einfluss.

2004 die Orangene Revolution. 2014 die Maidan-Proteste – ein demokratischer Aufstand gegen ein korruptes, russlandfreundliches Regime. Der Preis war hoch: Dutzende Tote, die Annexion der Krim durch Russland, der bis heute andauernde Konflikt im Donbass. Und dann, am 24. Februar 2022, der Albtraum: ein großangelegter russischer Angriffskrieg, der ganze Städte in Trümmer legte und Millionen zur Flucht zwang.

Und doch – oder gerade deshalb – wächst auch der Zusammenhalt. Die Ukraine hat sich als widerstandsfähige Demokratie erwiesen, mit einer engagierten Zivilgesellschaft, einer lebendigen Medienlandschaft und einem klaren Blick auf Europa. Präsident Selenskyj, selbst jüdischer Herkunft und einst Schauspieler, wurde zum Symbol für diesen neuen, selbstbewussten ukrainischen Patriotismus.

Und auch gesellschaftlich bewegt sich einiges. Die Situation für LGBTQ+-Personen ist in der Ukraine zwar nach wie vor herausfordernd – Homosexualität ist legal, doch Diskriminierung, Gewalt und gesellschaftliche Ablehnung sind weit verbreitet. Der Krieg hat die Community zusätzlich unter Druck gesetzt, aber auch sichtbar gemacht: queere Soldat:innen kämpfen offen für ihr Land, Aktivist:innen setzen sich weiterhin für Gleichstellung ein, auch in Zeiten größter Not.

Der erste Pride in Kiew fand 2013 unter massivem Polizeischutz statt, mittlerweile gibt es – trotz Krieg – immer wieder kleinere Aktionen und große internationale Solidarität. Es ist noch ein weiter Weg, aber die Ukraine ist auf diesem Weg – und das ist mehr, als man von vielen anderen postsowjetischen Staaten sagen kann.

Was mich bei meiner Lektüre dieses Mal beeindruckt hat: die Vielstimmigkeit der ukrainischen Literatur. In ihr begegnen wir nicht nur der russisch-ukrainischen Spannung, sondern auch der jüdischen, tatarischen, polnischen, sowjetischen und europäischen Geschichte dieses Landes. Stimmen, die überleben wollten – und überlebt haben. Stimmen, die sich Gehör verschaffen – manchmal laut, manchmal leise, aber immer eindringlich.

Für diesen literarischen Stopp habe ich vier Bücher gelesen:

Vielleicht Esther – Katja Petrowskaja erschienen im Suhrkamp Verlag

Schon lange wollte ich dieses Buch lesen, und schlug es daher für unseren Bookclub vor. Petrowskaja hat mit „Vielleicht Esther“ ein ganz besonderes iterarisches Werk geschaffen – zart, klug, poetisch und fragmentarisch. Der Titel selbst ist bereits ein Programm: Was tun, wenn man nicht einmal weiß, wie genau die eigene Urgroßmutter hieß, die in Babyn Jar von den Nazis ermordet wurde? „Vielleicht Esther“ – diese zwei Worte tragen die ganze Unsicherheit, das Ringen mit dem Vergessen, das fragmentarische Erinnern, das Suchen zwischen Überlieferung, Vermutung und Verstummen.

Petrowskaja schreibt keine geradlinige Familienchronik, sondern einen assoziativen Text voller Leerstellen, Anspielungen und Sprachwitz. Es ist ein Buch über jüdische Geschichte, über Stalins Terror, über deutsche Schuld – und immer auch über Sprache als Speicher, als Stolperfalle, als Rettungsanker. Selten halt ein Buch in unserer Runde so einstimmig großartiges Feedback bekommen wie dieses. Unbedingte Leseempfehlung, kann sehr gut verstehen, dass der Text (ich meine Kapitel 5) den Bachmannpreis 2013 bekommen hat.

Katja Petrowskaja, 1970 in Kiew geboren, lebt seit 1999 in Berlin. Sie studierte in Tartu Literaturwissenschaft und Slawistik und promovierte in Moskau. Von 2000 bis 2010 schrieb sie für verschiedene russisch- und deutschsprachige Medien (Neue Zürcher Zeitung, taz, Deutsche Welle, Radio Liberty). Seit 2011 ist sie Kolumnistin der Frankfurter Allgemeinen Sonntagzeitung. Ihr literarisches Debüt Vielleicht Esther (2014) wurde in mehr als 30 Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet. 2022 erschien der Essayband Das Foto schaute mich an, 2025 der Essayband Als wäre es vorbei. Texte aus dem Krieg. Sie lebt in Berlin. Bin sehr beeindruckt wie poetisch sie in einer Sprache schreibt, die nicht einmal ihre Muttersprache ist. Habe zig Stellen angekreuzt, gar nicht einfach sich für ein Zitat hier zu entscheiden:

„Hitler hat die Leser getötet und Stalin die Schriftsteller, so fasste mein Vater das Verschwinden der Sprache zusammen. Diejenigen, die den Krieg überlebt hatten, waren wieder in Gefahr. Juden, Halbjuden, Vierteljuden – man lernte wieder, die Prozente zu schmecken, so dass die Zunge am kalten Eisen anfror. Sie wurden als heimatlose Kosmopoliten stigmatisiert, vielleicht weil man sie ungeachtet aller Grenzen tötete, sie, die verbotene Beziehungen mit dem Ausland unterhielten und deswegen nict zur großen Familie der sowjetischen Brudervölker gehören durften.“

Das Buch wurde 2013 mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet – völlig zurecht. Für mich persönlich eines der besten Bücher dieser Reise, fünf Sterne ohne Zögern.

Sie kam aus Mariupol – Natascha Wodin erschienen im Rowohlt Verlag

Dieses Buch liest sich wie ein Echo auf *Vielleicht Esther*, obwohl es einen ganz eigenen Weg geht. Wodin begibt sich auf die Spur ihrer Mutter, die in den 1940er Jahren als Zwangsarbeiterin aus der Ukraine nach Deutschland verschleppt wurde. Lange wusste die Autorin fast nichts über sie – nur, dass sie sich das Leben nahm, als Wodin noch ein Kind war. Die Spurensuche beginnt mit einer einfachen Google-Anfrage, entwickelt sich dann aber zu einer minutiösen Recherche, die von einem alten Friedhof bis ins digitale Unterholz führt.

Wodin teilt ihr Buch in zwei Hälften: Der erste Teil dokumentiert ihre Recherche, kühl, nüchtern, fast reportagehaft – der zweite Teil ist eine fiktionalisierte Nacherzählung des Lebenswegs der Mutter. Diese Zweiteilung funktionierte für mich erstaunlich gut und erlaubt einen doppelten Blick auf Erinnerung: erst als historische Spurensuche, dann als imaginierte Rekonstruktion.

„Über Mariupol wusste ich zu dieser Zeit so gut wie nichts. Auf der Suche nach meiner Mutter war es mir nie in den Sinn gekommen, mich über die Stadt kundig zu machen, aus der sie stammte. Mariupol, das vierzig Jahre lang Shdanow hieß und erst nach dem Zerfall der Sowjetunion wieder seinen alten Namen erhielt, blieb ein innerer Ort für mich, den ich niemals dem Licht der Wirklichkeit aussetzte. Seit jeher war ich im Ungefähren zu Hause, in meinen eigenen Bildern und Vorstellungen von der Welt. Die äußere Wirklichkeit bedrohte dieses innere Zuhause, und deshalb wich ich ihr nach Möglichkeit aus.“

Besonders spannend fand ich den Vergleich zu Petrowskaja: Wo diese die Lücken umarmt, will Wodin sie schließen. Wo Petrowskaja poetisch fragmentiert, strukturiert Wodin chronologisch. Beide Bücher ergänzen sich für mich wunderbar – und erzählen auf ihre je eigene Weise von Verlust, Herkunft, Zugehörigkeit und Trauma.

Natascha Wodin, 1945 als Kind sowjetischer Zwangsarbeiter in Fürth/Bayern geboren, wuchs erst in deutschen DP-Lagern, dann, nach dem frühen Tod der Mutter, in einem katholischen Mädchenheim auf. Für Sie kam aus Mariupol“ wurden ihr der Alfred-Döblin-Preis, der Preis der Leipziger Buchmesse und der Hilde-Domin-Preis für Literatur im Exil 2019 verliehen.

Baba Dunjas letzte Liebe – Alina Bronsky erschienen im Kiepenheuer & Witsch Verlag

Ein Buch, das ich – eine eher leichte Sommergeschichte trotz Tschernobyl Thematik erwartend sozusagen mit einem Lächeln begonnen und mit einem dicken Kloß im Hals beendet habe. Bronsky erzählt die Geschichte von Baba Dunja, einer alten Frau, die nach dem Reaktorunglück von Tschernobyl in ihr verlassenes Dorf zurückkehrt – und dort eine Art anarchisch-melancholische Gemeinschaft mit anderen alten Zurückgekehrten bildet. Es ist eine Geschichte über Altern, Selbstbestimmung, Widerstand und das kleine Glück inmitten des großen Abbruchs.

Was mich besonders berührt hat: die ruhige Würde dieser Frauen, ihre Härte, ihr Humor – und wie Bronsky es schafft, ihre Figuren nicht zu verklären und doch ganz ernst zu nehmen. Der Ton ist leichter als bei Petrowskaja oder Wodin, aber das macht den Roman nicht weniger eindrucksvoll.

„Nichts auf der Welt ist so furchtbar, wie jung zu sein. Als Kind geht es noch. Da gibt es, wenn du Glück hast, Menschen, die sich um dich kümmern. Aber ab sechzehn wird es herb. Du bist eigentlich immer noch ein Kind, doch alle sehen nur einen Erwachsenen in dir, den man leichter treten kann als einen, der älter und erfahrener ist. Niemand will dich mehr beschützen. Du bekommst ständig neue Aufgaben aufgehalst. Niemand fragt dich, ob du irgendwas verstanden hast von dem, was du neuerdings zu tun hast.“

Für mich war das auch eine Reise in meine eigene Kindheit: Ich bin selbst zwischen alten Frauen aufgewachsen, in einer Hausgemeinschaft, wo viel miteinander gestrickt, Obst und Gemüse geteilt und verarbeitet, manchmal im Treppenhaus gestritten und bei Gewitter auch mal gemeinsam auf Betten gesessen wurde. Vielleicht hat das meine Lesart dieses Romans besonders gefärbt. Aber ich glaube, viele werden sich ein kleines bißchen in Baba Dunja verlieben, spätestens auf Seite 12.

Eine Formalie in Kiew – Dmitrij Kapitelman erschienen im Hanser Verlag

Zum Schluss ein Buch, bei dem man sich vielleicht ein bisschen lernen muss sich auf den Tonfall einzulassen. Kapitelman nimmt uns mit auf eine kafkaesk-komische Reise nach Kiew, wo er ein bestimmtes Dokument braucht, um in Deutschland eingebürgert zu werden. Klingt banal – ist es nicht. Denn daraus entspinnt sich eine aberwitzige, traurige und politisch hochinteressante Geschichte über Identität, Staatsbürgerschaft, Erinnerung und Familie.

Der Begriff des „Ent-Dankens“ hat sich mir eingebrannt – Kapitelmans Beschreibung wie man richtig besticht.

„Wie zwei slawische Bauernpatrioten angezogen, landen Vater und ich also in Leipzig. Und stehen für unsere Rückkehr ins richtige Staatsleben an. Hier spotten die Landsleute auch über ihren Staat, würden ihm aber sofort ihr Leben anvertrauen, wenn es mal nichts mehr zu Lachen gäbe. Die Kanalisationsdeckel sind fest, die Feuerwehr kommt präventiv, Postboten besuchen Chirurgie-Grundkurse, Straßenhunde gibt es nicht und frei darf man sein. Sogar mit einem Galgen für den Hals der Kanzlerin demonstrieren. Dass die Faschisten trotzdem von der Macht in Deutschland tagträumen können, dass meine Landsleute wieder bereit sein könnten, ihnen alles zu opfern, ich werde es nie verstehen. Und immer weiter bekämpfen.“

Zwischen trockener Bürokratie, Alltagsrassismus, post-sowjetischem Humor und echtem Familienkrach zeigt das Buch ein modernes, zerrissenes, korruptes und zugleich menschlich berührendes Bild der Ukraine. Ein Roman, der nicht erklärt, sondern zeigt – und einen ganz eigenen Sound hat. Ich mochte ihn sehr.

Dmitrij Kapitelman, 1986 in Kyjiw geboren, kam im Alter von acht Jahren als »Kontingentflüchtling« mit seiner Familie nach Deutschland. Er studierte Politikwissenschaft und Soziologie an der Universität Leipzig und absolvierte die Deutsche Journalistenschule in München. Heute arbeitet er als freier Journalist.

Natürlich darf der kulturelle Rundumblick nicht fehlen: Was das ukrainische Kino angeht, bin ich leider noch ganz am Anfang – bisher habe ich leider noch keinen Film aus der Ukraine gesehen. Ganz oben auf meiner Wunschliste steht aktuell „My Thoughts Are Silent“ (2019) von Antonio Lukich. Der Film soll mit viel lakonischem Humor von einem jungen Toningenieur erzählen, der mit seiner Mutter durch die Westukraine reist, um Tiergeräusche aufzunehmen – eine scheinbar absurde, dabei aber tiefsinnige Geschichte über Familie, Identität und Freiheit.

Leider konnte ich den Film bislang in keinem meiner verfügbaren Programme oder Dienste finden – aber die Suche geht weiter. Habt ihr sonst noch Tipps für Filme aus der Ukraine?

Musikalisch war ich mit der Ukraine schon länger in losem Kontakt – insbesondere über die Post-Rock-Szene, die erstaunlich lebendig ist. Besonders die Band „Sleeping Bear“ hat es mir angetan: große, melancholische Klanglandschaften, ideal für regnerische Tage oder lange Bahnfahrten. Wer Post-Rock mag, wird sie lieben.


Auch bei der ESC-Gewinnerin „Jamala“ lohnt sich ein genauerer Blick (und vor allem ein genaueres Hinhören): Ihr Song „1944“ war nicht nur musikalisch stark, sondern auch eine politische Botschaft – über die Vertreibung der Krimtataren unter Stalin. Auch ihre späteren Alben zeigen, wie man Tradition, Pop und Haltung vereinen kann.

Für die Bookclub Diskussion zu Petrowskajas „Vielleicht Esther“ hatte ich auch fleißig ukrainisch gekocht – und dann komplett vergessen Fotos zu machen *grrr*. Geschmeckt hat es auf jeden Fall – es gab einen Spinat-Reis-Hackfleisch-gekochtes Ei-Eintopf mit Schmand (Rezept aus der Kindheit noch von einer ukrainischen Nachbarin – einen bestimmten Namen hatte es nicht das Gericht, außerdem gab es einen Rote-Beete-Salat sowie einen rote Zwiebel Dipp und zu allem natürlich jede Menge Dill.

Hier noch ein paar Empfehlungen für weitere Bücher aus der Ukraine:

Svetlana Alexievich – Tschernobyl eine Chronik der Zukunft
Andrey Kurkow – Graue Bienen
Sofi Oksanen – Putins Krieg gegen die Frauen

Wer noch mal zu den vorherigen Stationen (Sri Lanka, Italien, Trinidad & Tobago, Nigeria, Südkorea, China, Israel, Belarus, Japan, DR & Republik Kongo, USA, Polen, Chile, Afghanistan, Vietnam) zurückreisen möchte wird in meiner Kategorie „Read around the World“ fündig.

Und wie immer: Wenn ihr eigene Lese-, Film- oder Musiktipps zur Ukraine habt – her damit! Ich hoffe, auch dieser Stopp auf meiner literarischen Weltreise hat euch gefallen. Im nächsten Beitrag geht es weiter nach Mexiko.

Mai Lektüre

Der Mai war ein toller Lesemonat – mit berührenden Geschichten, diversen Perspektiven, unerwarteten Fundstücken und viel literarischer Reiselust. Besonders bewegt haben mich zwei Bücher über ungewöhnliche Berufe: Schwere Lasten und Marzahn, mon Amour. So sehr, dass ich jetzt ernsthaft darüber nachdenke, Kranfahrerin zu werden (Fußpflegerin aber eher nicht). Beide Bücher waren für mich klare 5-Sterne-Titel Ein echtes Highlight war auch die Lesung von Annett Gröschner, von der ich sogar eine persönliche Widmung bekommen habe: „Für die künftige Kranfahrerin.“ 🧡

Einen völlig anderen, aber gleichfalls eindrucksvollen Ton schlug Andrew O’Hagan in „Caledonian Road“ an – ein moderner Gesellschaftsroman à la Dickens, der das Leben entlang einer Londoner Straße in all seinen Facetten einfängt. Mit Christine Frohmanns „Vier Wochen“ kam schon ein erster Hauch Italien auf, während mich Monique Roffey mit „Die Meerjungfrau von Black Conch“ auf die karibische Insel Trinidad und Tobago entführte.

Ein überraschender Fund aus dem Bücherschrank war Bernard Berensons „One Year’s Reading for Fun“ – eine kleine literarische Zeitreise. Weniger überzeugt hat mich hingegen Christine Brückners „Wenn du geredet hättest, Desdemona“ das mich leider nicht richtig gepackt hat und das ich abgebrochen habe. Schade, hatte mich sehr darauf gefreut.

Auch auf die Ohren gab’s im Mai einiges: Olga Ravns „Die Angestellten“ als Hörbuch war eine faszinierende, leicht verstörende Mischung aus Science-Fiction, Poesie und Gesellschaftskritik. Und mit Neil deGrasse Tysons „Astrophysics for People in a Hurry“ habe ich zwischendurch einen kleinen Ausflug ins Weltall gemacht.

Was ihr hier noch nicht findet, sind die Bücher, die mich Ende Mai mit auf meine Reise nach Italien begleitet haben – die stelle ich euch bald in einem separaten Beitrag vor: Read Around the World: Italien.

Schwere Lasten – Annett Gröschner erschienen im C. H. Beck Verlag

Schwere Lasten ist eines dieser Bücher, die man aufschlägt und dann plötzlich das Gefühl hat, man würde einer Stimme lauschen, die man schon lange kennt. Vielleicht, weil sie einen an die eigene Oma erinnert. Vielleicht, weil sie aus einer Zeit erzählt, die einem trotz aller historischen Distanz so schmerzlich gegenwärtig vorkommt. Bei mir war es beides. Ich habe die Autorin auf einer Lesung erlebt, war von ihrer Art zu erzählen sofort gepackt – und wusste: Dieses Buch brauche ich in meinem Leben.

Im Mittelpunkt steht Hannah, eine Frau mit einem Leben, das man kaum fassen kann: geboren noch unter dem Kaiser, überlebt sie zwei Diktaturen, zieht sechs Kinder groß (zwei davon kann sie nicht begraben), betreibt einen Blumenladen, wird dann Kranführerin in der DDR – und lebt zuletzt in Hellersdorf, wo es für den Traum vom Garten nur zum Beet unter dem Fenster reicht. Eine Figur, so dicht und dreidimensional gezeichnet, dass man das Gefühl hat, sie könnte gleich zur Tür hereinkommen.

Was Gröschner gelingt, ist ein literarisches Kunststück: Die politische Geschichte des 20. Jahrhunderts wird nicht nacherzählt, sondern durchlebt – in Hannahs Alltag, in ihrer Arbeit, in ihren Verlusten und kleinen Hoffnungen. Besonders die Kapitel zu den Bombardierungen während des Zweiten Weltkriegs haben mich tief getroffen. Sie haben Erinnerungen an die Geschichten meiner Großmutter geweckt, die die Kriegsjahre in Quedlinburg überlebt hat. Weniger Bomben vielleicht, aber dieselbe Angst, dieselbe Ungewissheit. Und heute? Wieder Menschen in Kellern und U-Bahn-Schächten. Wieder Kriege. Wie krass lernresistent sind wir Menschen eigentlich?

Je besser sie den Kran beherrschte, desto mehr Gefallen fand sie an ihrer Position. Bald nannte sie ihren Kran Mimi. Sie redete mit Mimi, wie sie mit den Blumen geredet hatte. Und nicht selten dachte sie, dass sie mehr mit ihrem Arbeitsgerät redete als mit Karl.

Was dieses Buch auch ist: ein Denkmal für die Frauen der Arbeiterklasse. Für die, die gearbeitet haben, bis nichts mehr ging – und trotzdem nie wirklich Teilhabe bekamen. Für die, die sich alles vom Mund absparen mussten, während man heute mit blanker Selbstverständlichkeit fordert, sie mögen doch bitte länger arbeiten, länger schuften. Schwere Lasten zeigt, wie viel Menschen tragen müssen – und wie wenig sie dafür häufig bekommen.

Habe seitdem echt mal gegoogelt, was man braucht, um diesen Beruf zu ergreifen. Zwischen all den Bullshit Jobs, die uns umgeben und oft nur um sich selbst kreisen, erscheint mir der der Kranführerin unter Umständen realer, sinnvoller, vielleicht sogar erstrebenswerter als Beruf. Verantwortung, Übersicht, etwas bewegen – ganz buchstäblich. Und vielleicht auch ein bisschen Würde. Genau wie bei Hannah. Die mir allerdings berechtigt in den Hintern treten würde ob meiner romantisierenden Gedanken. Hanna Krause blieb bis zu ihrem Tod eine, die das Leben nimmt, wie es kommt. Ihr einziges Credo: „anständig bleiben.“ Große Empfehlung für dieses Buch – das habe ich sicherlich nicht zum letzten Mal gelesen.

Marzahn Mon Amour – Katja Oskamp erschienen im Hanser Verlag


Ich muss zugeben, ich war überrascht, wie sehr mich dieses Buch berührt hat. Katja Oskamp, geboren 1970 in Leipzig, hat ursprünglich Theaterwissenschaft und später am Leipziger Literaturinstitut studiert. Nach einigen literarischen Veröffentlichungen wechselte sie irgendwann beruflich völlig die Spur – und wurde medizinische Fußpflegerin in Berlin-Marzahn. Berlin Mon Amour basiert auf ihren Erlebnissen in diesem Beruf, mitten in einer Plattenbausiedlung, fernab vom hippen Mitte und Prenzlauer Berg – und genau das macht das Buch so besonders.

Ich hatte beim Lesen immer wieder Flashbacks an einen Sommer in den frühen 90ern, als ich Ferien bei einer Freundin in Hellersdorf in „der Platte“ gemacht habe. Damals stand gefühlt in jedem Treppenhaus ein Berg aus ausrangierten DDR-Möbeln, und es gab diese älteren Damen mit Berliner Schnauze, die den ganzen Tag das Treiben draußen vom Fensterbrett aus kommentierten – herrlich direkt, witzig und ohne Blatt vorm Mund. Einige dieser Damen hätten auch wunderbar bei Katja Oskamp im Fußpflegesalon Platz nehmen können. Genau diese Lebensnähe macht das Buch so stark.

Ich mochte besonders die Dynamik zwischen den drei Frauen im Salon – da schwingt Solidarität, Humor und viel Lebenserfahrung mit. Oskamp schafft es, Menschen zu porträtieren, die sonst eher durchs Raster der Literatur fallen. Keine Hochglanzfiguren, keine Dramen à la Netflix – sondern echte, manchmal schrullige, immer aber würdevolle Persönlichkeiten. Und ganz ohne diesen voyeuristischen Blick, den man aus dem Reality-TV kennt.

Unsere Arbeit ist kostbar! Unsere Kundschaft ist Spitze! Marzahn, mon amour!“
„O Gott, sie dichtet wieder“, sagt Flocke und grinst.
„Muss ick doch, Schnuffelpuppe“, sage ich, von die Füße alleene kann ja keen Mensch leben.“

Ganz nebenbei habe ich auch realisiert, wie wenig Aufmerksamkeit wir eigentlich unseren Füßen schenken. Kaum ein Lifestyle-Ratgeber redet drüber, dabei tragen sie uns doch jeden Tag durchs Leben – und Katja Oskamp gibt ihnen (und denen, die sie pflegen) endlich die Aufmerksamkeit, die sie verdienen.

Ein warmherziges und ehrliches Buch, das dieses Jahr auch als Miniserie verfilmt und in der ARD Mediathek abrufbar ist – absolut empfehlenswert – beides.

Vier Wochen – Christine Frohmann erschienen im mikrotext Verlag

Vier Wochen hat mir richtig gut gefallen – ein Buch, das auf unaufgeregte Weise eine ganz besondere Stimmung einfängt. Perfekt, um sich auf den Italienurlaub einzustimmen: Sonne, Olivenbäume, ein bisschen Chaos – und das alles durch die Augen einer Patchworkfamilie mit Teenagern, die unterschiedlicher kaum sein könnten.

Besonders mochte ich wie die Autorin die Gefühlswelt der Jugendlichen einfängt – eine Welt, die mir mittlerweile echt fremd ist, aber hier so authentisch und sensibel erzählt wird, dass ich fast das Gefühl hatte auf die künftige Teenagerzeit meines Neffen vorbereitet zu sein. Die Konflikte, Unsicherheiten und Einstellungen der Jugendlichen wirkten absolut authentisch auf mich.

Was mir ebenfalls sehr gefallen hat: Die gesellschaftskritischen Aspekte, die immer wieder ganz selbstverständlich und klug mit einfließen. Ob es um Klassenunterschiede, familiäre Strukturen oder Erwartungshaltungen geht – Frohmann beobachtet genau und bringt diese Themen ganz natürlich in ihre Erzählung ein, ohne sie mit dem Holzhammer zu präsentieren.

„… denn in Italien war alles schön und wahr und gut, außer der Neigung zum Faschismus, die sie hier leider auch hatten, aber sie war schon voll auf Überidentifikation, eine Droge, die sie beide liebten.“

Ein ruhiges, atmosphärisches Buch über das Zusammenleben, das Sich-Finden und den Sommer – ohne große Dramen, aber mit viel Herz und klarem Blick. Wer ein Buch sucht, das nach Ferien schmeckt und trotzdem etwas zu sagen hat, ist hier genau richtig.

Die Meerjungfrau von Black Conch – Monique Roffey erschienen im Tropen Verlag übersetzt von Gesine Schröder

Das Buch habe ich euch ja bereits im Rahmen meiner literarischen Weltreise vorgestellt. Wer also Lust hat auf einen leicht fantastischen Ausflug nach Trinidas & Tobago der klickt jetzt bitte hier.

One year’s reading for fun – Bernard Berenson nur antiquarisch erhältlich

Dieses kleine Buch war ein echter Zufallsfund aus dem öffentlichen Bücherschrank – und ein überraschend unterhaltsamer Begleiter. Bernard Berenson, eigentlich berühmter Kunsthistoriker und Experte für italienische Renaissancekunst, hat darin seine Lektüregewohnheiten aus dem Jahr 1954 festgehalten – in kurzen Notizen, Reflexionen und Empfehlungen.

Was das Ganze besonders macht: In diesem Jahr versteckte sich Berenson, aufgrund seines jüdischen Hintergrunds, vor den Faschisten in Italien. Gemeinsam mit seiner Frau und seiner langjährigen Sekretärin verbrachte er diese Zeit in seiner Villa I Tatti bei Florenz – abgeschottet von der Welt, aber umgeben von Kunst, antiken Skulpturen, einem prachtvollen Garten und natürlich: unzähligen Büchern.

Die Vorstellung, wie die drei dort leben – lesend, Rotwein oder Champagner trinkend, sich gegenseitig vortragend – hatte für mich beim Lesen fast etwas Filmisches. Ich musste ganz oft an Call Me by Your Name denken. So stell ich mir die Atmosphäre dort vor.

Und doch ist der Titel „A Year’s Reading for Fun“ fast ironisch: Die Lektüreliste ist alles andere als leichte Kost. Es wird überwiegend griechische und römische Philosophie gelesen, daneben Kunstgeschichte, Theologie und Klassiker der Literatur – auf Englisch, Italienisch, Altgriechisch, Deutsch. Die drei waren echt polyglott! Neben Goethe, Schelling und dem heute kaum noch gelesenen Jakob Burckhardt liest Berenson sogar Mein Kampf – um, wie er schreibt, den Feind zu verstehen.

Desultory reading was always a favorite pastime at ‚I Tatti‘.

Ein Buch für alle, die sich wie ich für Lesebiografien interessieren, für Geschichte, Kunst, Sprachen – und für das Lesen als Lebensform. Ich möchte das auch sehr gerne mal, ein Jahr in einer hübschen Villa mit Garten vor mich hin lesen – nur bitte komplett ohne Faschismus!

Caledonian Road – Andrew O’Hagan auf deutsch unter dem gleichen Titel im Ullstein Verlag erschienen, übersetzt von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié

Ich muss gestehen, der erste Blick in Caledonian Road hat mich fast erschlagen – nicht nur wegen des Umfangs (über 600 Seiten!), sondern auch wegen der Vielzahl an Figuren, die gleich zu Beginn auf mich einprasselten. Doch zu meiner eigenen Überraschung war ich sofort drin. Ich musste kaum je zurückblättern, um zu klären, wer wer ist – was ich allein schon als beachtliche Leistung werte. O’Hagan gelingt es, jedem seiner Charaktere Tiefe und Kontur zu verleihen, ohne den Überblick zu verlieren.

Der Roman hat eine Dickens’sche Qualität: London – insbesondere die titelgebende Caledonian Road – wird zum atmenden, lebendigen Organismus. Die Straße ist nicht nur Kulisse, sondern Protagonist. Sie fängt die Extreme der britischen Gesellschaft ein: Armut, Reichtum, alte Eliten, neue Medien, Aktivismus, Migration, Ausbeutung – alles auf engstem Raum.

We participate in the systems that oppress people, we thrive on them, and we think that by going on festive marches and tweeting slogans to our like-minded friends we are somehow cleansed. Welcome to the orgy of white contrition.

Im Zentrum steht Campbell Flynn, gefeierter Intellektueller, politischer Kommentator und ganz klar ein Alter Ego des Autors. Besonders faszinierend fand ich seine Beziehung zu Milo, einem jungen Aktivisten und Hacker. Es war ziemlich offensichtlich, dass Milo Flynn finanziell ausnutzt – aber ich hatte das Gefühl, Campbell weiß das, akzeptiert es fast. Es wirkt wie eine Art moderner Ablasshandel: Er zahlt dafür, die Welt erklärt zu bekommen, die seine Generation mitgestaltet (und ziemlich verbockt) hat. Milo, bei aller Skrupellosigkeit, bleibt dabei erstaunlich offen – das Spiel zwischen ihnen ist eines auf Augenhöhe. Und obwohl Campbell letztlich alles verliert, war ich sehr berührt davon, dass Milo ihn nicht fallen lässt. Trotz aller Differenzen erkennt man: Da ist echte Menschlichkeit im Spiel.

Ein besonders emotionaler Strang war für mich die Geschichte des jungen polnischen Emigranten, der versucht, seinen Partner nach England zu bringen – und was es ihn kostet. Dieser Teil war sehr bewegend und hat mich lange beschäftigt. Auch weil dieser Fall auf wahren Begebenheiten beruht.

And now, in the North of England, just as in Kansas or Illinois, people vote against their own interests, because they detest a culture that sees them as needy, they hate the caring elites who like to tell them what is good for them. In the modern world, William told himself, people don’t mind being exploited so long as they can choose it themselves.

Die Darstellung der russischen Oligarchen war für mich etwas überzeichnet – fast schon klischeehaft. Aber vielleicht ist die Realität da tatsächlich so überdreht, wie O’Hagan sie zeichnet. Campbells Frau, mit all ihrer Ambivalenz, hat mir gut gefallen, während sein stinkreicher Schwager mir fast schon klischeehaft unsympathisch war – ein klassischer Repräsentant des alten Geldes, das sich jede Schuld und Verantwortung elegant vom Hals hält.

Schön fand ich auch, dass Campbell seinem alten Freund – trotz zunehmender Zweifel an dessen Integrität – nicht den Rücken kehrt. Das hat ihn für mich menschlicher gemacht, auch wenn man ihm an vielen Stellen seine Eitelkeit und sein moralisches Schwanken anmerkt. Caledonian Road ist ein Buch voller Reibung, voller Ambivalenzen. Es geht um Macht und Moral, Generationenkonflikte, Klasse, Migration, Liebe und Verlust – und es schafft es dabei, trotz der vielen Themen nie den erzählerischen Fokus zu verlieren. Man spürt, dass O’Hagan ein exzellenter Beobachter ist – und dass er seine Figuren liebt, selbst die, an denen er scharfe Kritik übt.

Für mich ein kluges, vielschichtiges Buch mit einem spannenden, manchmal wütend machenden, aber immer lebendigen Blick auf unsere Gegenwart.

Die Angestellten – Olga Ravn erschienen im März Verlag

Dieses Hörbuch war eine absolute Entdeckung für mich – Die Angestellten von Olga Ravn ist ein faszinierender, sprachlich dichter Text, der sich irgendwo zwischen Science-Fiction, Poesie und philosophischem Gedankenexperiment bewegt. Ich habe es in der ARD Mediathek gehört, die ich inzwischen wirklich zu schätzen gelernt habe – tolle Produktionen, großartige Sprecher:innen, und Die Angestellten war da ein echtes Highlight.

Das Buch spielt auf einem Raumschiff und besteht aus einer Sammlung von Berichten und Aussagen der dort tätigen Menschen und humanoiden Mitarbeiter:innen. Die Grenze zwischen „echt“ und „künstlich“, zwischen Körper und Funktion, zwischen Erinnerung und Programmierung verschwimmt dabei immer mehr – und genau darin liegt die große Stärke dieses Textes: Er stellt existenzielle Fragen in einer ganz ruhigen, fast lyrischen Sprache.

Was heißt es, ein Mensch zu sein? Was bedeutet Arbeit, wenn der Körper zur Maschine wird? Und: Was bleibt von uns, wenn alles effizient, aber seelenlos ist?

Die Umsetzung als Hörspiel war absolut gelungen – atmosphärisch, verstörend schön, mit Stimmen, die perfekt zur kühlen, gleichzeitig melancholischen Stimmung passten. Für alle, die Sci-Fi jenseits von Action suchen, und sich auf ein intensives, fast meditatives Hörerlebnis einlassen wollen: große Empfehlung.

Astrophysics for People in a hurry – Neil de Grasse Tyson auf deutsch unter dem Titel „Das Universum für Eilige“ im Hanser Verlag erschienen, übersetzt von Hans-Peter Remmler

Dieses Hörbuch war genau das Richtige für zwischendurch: Neil deGrasse Tyson nimmt uns in „Astrophysics for People in a Hurry“ mit auf eine rasante, aber gut verständliche Reise durch Raum, Zeit, Dunkle Materie und all die anderen kosmischen Rätsel, die uns normalerweise einschüchtern könnten.

Wie auch in seinen TV Dokus gelingt es ihm, auch komplexe Themen greifbar und unterhaltsam zu vermitteln – ohne sie zu banalisieren. Ob Urknall, Quantenphysik oder das Ende des Universums: Tyson erklärt so, dass man Lust bekommt, tiefer einzusteigen, statt sich erschlagen zu fühlen. Ein kleiner Bonus: Er liest das Hörbuch selbst – und seine Stimme trägt viel zur Wirkung bei finde ich.

Perfekt für alle, die sich für die großen Fragen interessieren, aber (noch) keinen Doktortitel in Physik haben – oder einfach etwas klüger aus dem nächsten Spaziergang oder Pendelweg zurückkehren wollen. Universum to go sozusagen.

Was waren eure Highlights im Mai und welche der vorgestellten Bücher habt ihr auch gelesen/gehört? Wie fandet ihr sie?

März Lektüre

10 Geschichten, 10 Welten – und jede einzelne hat mich auf ihre Weise bewegt. Von deutschen Exilautor:innen über mysteriöse Pilzen in China bis hin zu den dunklen Kapiteln Südkoreas mit Han Kang. Ich habe Porzellanwege mit Edmund de Waal erkundet, mit Yaa Gyasi nach Wahrheit gesucht und mit Tolstoy über Besitz und Gier nachgedacht. Besonders beeindruckt hat mich Katharina Köllers „Wild wuchern“ – ein literarischer Wirbelsturm! Bin gespannt, welche ihr kennt, wie ihr sie fandet oder ob ich euch auf das eine oder andere Buch hier neugierig machen kann.

Habt ein besseres Gedächtnis – Wolfgang Eckert/Jürgen Seul erschienen in der Büchergilde Gutenberg und Deutsche Hörer! – Thomas Mann mit Vorwort von Mely Kiyak erschienen im S. Fischer Verlag

Manchmal fügt es sich, dass zwei Bücher zur selben Zeit in die Hände fallen und sich zu einem größeren Bild verknüpfen. So geschehen mit Thomas Manns „Deutsche Hörer!“ und „Habt ein besseres Gedächtnis“ von Wolfgang Eckert und Jürgen Seul. Zwei Werke, die sich auf unterschiedliche Weise mit innerer und äußerer Emigration auseinandersetzen, mit Widerstand gegen den Faschismus und der Erinnerung an jene, die sich gegen ihn stellten. Beide Bücher beeindrucken zutiefst und zeigen auf, wie wichtig es ist, die Stimmen der Vergangenheit nicht verstummen zu lassen.

Thomas Manns „Deutsche Hörer!“ – Ein literarischer Widerstandskampf

Die Neuauflage von „Deutsche Hörer!“ kommt zur richtigen Zeit. In einer Welt, in der faschistische Tendenzen erneut auf dem Vormarsch sind, erhalten die Rundfunkansprachen Thomas Manns an die Deutschen eine bedrückende Aktualität.

Zwischen 1940 und 1945 sendete die BBC Manns eindringliche Worte nach Deutschland, aufgenommen in seinem kalifornischen Exil. Seine Reden sind eine Mischung aus analytischer Schärfe und emotionaler Dringlichkeit. Der Literaturnobelpreisträger beschimpft Adolf Hitler als „die abstoßendste Figur, auf die je das Licht der Geschichte fiel“, als „schlecht ausgefallenes Individuum“ und „blödsinnigen Wüterich“. Gleichzeitig ist er sich der deutschen Mitläufer und ihrer fatalen Mischung aus Gehorsam und Leichtgläubigkeit bewusst.

(…) der deutsche Name zum Inbegriff gemacht allen Schreckens, aller geilen Raubsucht, schandbaren Grausamkeit, erbarmungslosen Gewalt, so dass das Gedächtnis der Völker an vieles Gute, Große und Liebenswerte, womit der deutsche Geist einst die Menschheit beschenkt hat, unterzugehen droht in einem Meer von Hass

Manns Hoffnung auf ein besseres Deutschland ist ungebrochen. Er appelliert an das „wahre“ Deutschland, an die Kultur von Dürer, Bach, Goethe und Beethoven, und setzt den Gräueltaten der Nationalsozialisten Ideale wie Recht, Freiheit und Gerechtigkeit entgegen. Dabei bleibt seine Kritik messerscharf: Er erkennt früh den Holocaust als das, was er ist – ein bestialischer Massenmord.

Mely Kiyaks Vor- und Nachwort rahmen die Neuauflage ein und zeigen, warum Thomas Manns Worte auch heute noch von Bedeutung sind. Dass diese Reden in Deutschland weitgehend unbekannt geblieben sind, ist erstaunlich – und erschreckend. Ein Werk, das gelesen werden muss.

„Habt ein besseres Gedächtnis“ – Drei Erichs und ihr Erbe

Ebenso aufrüttelnd ist „Habt ein besseres Gedächtnis“ von Wolfgang Eckert und Jürgen Seul. Das Buch widmet sich den Lebenswegen von Erich Knauf, Erich Ohser (alias e.o. plauen) und Erich Kästner – drei Männern, die in der Weimarer Republik zu Freunden wurden, künstlerisch eng verbunden waren und die in den 1930er- und 1940er-Jahren unterschiedliche Schicksale erlitten. Während Kästner – der bekannteste der drei – als „innerer Emigrant“ überlebte, wurden Knauf und Ohser von den Nationalsozialisten ermordet.

Erich Knauf (1895-1944): Schriftsteller und Widerstandskämpfer

Knauf war Journalist, Autor und Lektor bei der Büchergilde Gutenberg. Schon früh geriet er mit den Nazis in Konflikt. Sein offener Widerspruch gegen das Regime wurde ihm zum Verhängnis: 1944 verhaftete ihn die Gestapo wegen regimekritischer Äußerungen und ließ ihn unter Volksverhetzungsvorwürfen hinrichten.

Erich Ohser (1903-1944): Der Zeichner hinter „Vater und Sohn“

Ohser, bekannt durch die liebevollen „Vater und Sohn“-Bildergeschichten, konnte seine politische Haltung lange verbergen. Doch sein kritisches Denken war den Nazis ein Dorn im Auge. Als sein Freund Knauf verhaftet wurde, nahm man auch ihn fest. 1944, am Abend vor seiner Verhandlung vor dem Volksgerichtshof, beging er in seiner Zelle Selbstmord.

Erich Kästner (1899-1974): Kritischer Chronist seiner Zeit

Kästner, berühmt für „Emil und die Detektive“, durfte nach 1933 nicht mehr veröffentlichen, da seine Werke als „undeutsch“ galten. Trotz Schreibverbots blieb er in Deutschland und dokumentierte die NS-Zeit als kritischer Beobachter. Seine Wahl des inneren Exils wurde ihm nach dem Krieg oft vorgeworfen, doch sein Engagement für die Erinnerung an seine gefallenen Freunde zeigt seine tiefe moralische Haltung.

Eckert und Seul zeichnen in „Habt ein besseres Gedächtnis“ ein lebendiges Bild dieser drei Männer, ihrer Freundschaft, ihrer künstlerischen Arbeit und ihres Widerstands gegen die Diktatur. Besonders Knauf und Ohser drohen heute in Vergessenheit zu geraten, während Kästner wenigstens als Kinderbuchautor weiterhin präsent ist. Doch ihre Geschichte ist eng verwoben – und es ist höchste Zeit, dass sie wieder erzählt wird. Hervorheben möchte ich auch die unglaublich schöne Gestaltung des Buches, Büchergilde at its best!

Beide Bücher sind dringende Lektüre. Thomas Manns Radioansprachen und die Geschichte der drei Erichs zeigen, wie Widerstand aussehen kann – und wie leicht Stimmen des Widerstands in Vergessenheit geraten können. Dass Thomas Manns „Deutsche Hörer!“ in Deutschland kaum bekannt sind, ist ebenso erschreckend wie die Tatsache, dass Erich Knauf und Erich Ohser langsam aus dem kollektiven Gedächtnis verschwinden.

Umso wichtiger ist es, sich dieser Stimmen wieder zu erinnern. Denn die Mechanismen der Diktatur, die Thomas Mann mit so schneidender Schärfe analysierte, sind nicht vergangen. „Habt ein besseres Gedächtnis!“ fordert nicht nur der Buchtitel, sondern die gesamte Lektüre beider Werke. Wer sich mit der Vergangenheit auseinandersetzt, versteht die Gegenwart besser – und kann die Zukunft hoffentlich klüger gestalten.

Beide Bücher erhalten von mir eine uneingeschränkte Leseempfehlung. Sie sind Mahnung und Inspiration zugleich.

Dann bleiben wir doch noch ein bißchen bei der Büchergilde und ich stelle euch den Jubiläumsband vor, der aus Anlaß der 100 Jahre Büchergilde erschienen ist:

Vorwärts – mit heiteren Augen – Björn Biester erschienen in der Büchergilde Gutenberg

Die Festschrift „Vorwärts mit heiteren Augen“ zum 100-jährigen Bestehen der Büchergilde Gutenberg bietet eine faszinierende Zeitreise durch die Geschichte dieser einzigartigen Buchgemeinschaft. Björn Biester gelingt es, die bewegte Vergangenheit der Büchergilde lebendig werden zu lassen – von den wilden Gründerjahren in den 1920ern über das Exil in der Schweiz während des Zweiten Weltkriegs bis hin zu den Herausforderungen und Erfolgen der Gegenwart.

Die Büchergilde wurde 1924 von engagierten Buchdruckern in Leipzig gegründet, mit dem Ziel, hochwertige Literatur für ein breites Publikum erschwinglich zu machen. Ihr besonderes Markenzeichen: bibliophile Ausstattung mit Leinenbindung und Illustrationen. Von Beginn an prägte die Idee, Bildung und Kultur in Arbeiterkreise zu tragen, das Programm. Ein Konzept, das sich bewährte – die Büchergilde ist heute die letzte verbliebene Buchgemeinschaft dieser Art in Deutschland.

Persönlich verbinde ich mit der Büchergilde eine lange und buchreiche Geschichte. Seit 32 Jahren bin ich Mitglied und kann mir ein Leseleben ohne sie nicht mehr vorstellen. Dabei hat mich unsere Beziehung schon mehrfach finanziell an den Rand des Bankrotts gebracht – nicht wegen der Preise, sondern wegen meiner chronisch leeren Geldbörse. Doch es hat immer wieder funktioniert, und wie froh bin ich darüber! Denn wer einmal erlebt hat, wie es sich anfühlt, ein gut gemachtes, leinengebundenes Buch in den Händen zu halten, der weiß: Das ist unbezahlbar.

Meine erste Begegnung mit der Büchergilde hatte ich auf einem Zeltlager der Gewerkschaftsjugend. Drei Bücher für 5 DM – ein unschlagbares Angebot! Darunter war eine orangefarbene Erich-Kästner-Doppelausgabe, die ich geliebt habe. Leider ist sie irgendwann bei einem meiner vielen Umzüge verloren gegangen. Und was war das dritte Buch? Ich wünschte, ich könnte mich erinnern!

Besonders spannend in der Festschrift ist die Betrachtung der Rolle der Büchergilde in der Geschichte: Wie beeinflusste der politische Wandel die Programmausrichtung? Welche Bücher und Autor:innen prägten das Profil der Büchergilde? Diese Fragen werden kenntnisreich und unterhaltsam beantwortet.

Auch die Besonderheiten des Mitgliedschaftsmodells, das bis heute ohne klassische Mitgliedsbeiträge auskommt, werden anschaulich dargestellt. Stattdessen wählen die Mitglieder pro Quartal aus einer kuratierten Auswahl ein Buch. Früher wurden diese sogar per Fahrrad direkt an die Arbeitsplätze geliefert – ein charmantes Detail, das die besondere Verbindung zwischen der Büchergilde und ihren Leser:innen verdeutlicht.

„Vorwärts mit heiteren Augen“ ist eine Hommage an die Beständigkeit der Büchergilde, ihre leidenschaftliche Hingabe zur Literatur und ihren Beitrag zur Lesekultur in Deutschland. Ein Muss für alle bibliophilen Leser:innen und Geschichtsinteressierten! Und überlegt euch doch, ob ihr nicht auch Mitglied werden möchtet – ich kann es aus tiefstem Herzen empfehlen 🙂

Transcendent Kingdom – Yaa Gyasi auf deutsch unter dem Titel „Ein erhabenes Königreich“ im Dumont Verlag erschienen, übersetzt von Anette Grube

Yaa Gyasis zweiter Roman Transcendent Kingdom ist ein leiser, aber eindringlicher Roman über Wissenschaft, Glauben und den Versuch, inmitten von Schmerz und Verlust Sinn zu finden. Die Geschichte folgt Gifty, einer ghanaisch-amerikanischen Neurowissenschaftlerin, die an der Stanford University an den neurologischen Mechanismen von Sucht und Depression forscht. Doch ihre Arbeit ist nicht nur ein akademisches Unterfangen, sondern eng mit ihrem eigenen Leben verknüpft: Ihr Bruder Nana starb an einer Opioid-Überdosis, ihre Mutter leidet an schweren Depressionen, und Gifty selbst ringt mit den widersprüchlichen Lehren der Wissenschaft und des tief verwurzelten Glaubens ihrer Kindheit.

Gyasi erzählt die Geschichte in fragmentarischen Rückblenden, die nach und nach das Schicksal von Giftys Familie enthüllen. Diese narrative Struktur spiegelt Giftys eigene innere Zerrissenheit wider: Während sie nach empirischen Antworten sucht, holen sie ihre Erinnerungen und Gefühle immer wieder ein. Besonders stark ist Gyasis Darstellung der Mutter-Tochter-Beziehung, die zwischen distanzierter Strenge und tiefer, wortloser Liebe schwankt. Die Mutter bleibt lange eine undurchdringliche Figur, doch gerade in dieser Zurückhaltung liegt die emotionale Wucht des Romans.

But the memory lingered, the lesson I have never quite been able to shake: that I would always have something to prove and that nothing but blazing brilliance would be enough to prove it.

Transcendent Kingdom unterscheidet sich stilistisch und thematisch von Gyasis gefeiertem Debüt Homegoing. Während Homegoing eine epische, generationenübergreifende Geschichte erzählt, ist Transcendent Kingdom eine intime Innenansicht einer zerrissenen Familie. Der Fokus auf Wissenschaft und Religion gibt dem Roman eine intellektuelle Tiefe, die manchmal fast klinisch wirkt. Wer auf der Suche nach einer mitreißenden Handlung ist, wird hier vielleicht weniger fündig, aber Gyasis fein nuancierte Sprache und ihre Präzision in der Figurenzeichnung machen den Roman dennoch zu einer lohnenden Lektüre.

Obwohl mich die starke religiöse Thematik nicht immer vollkommen abgeholt hat, beeindruckt Gyasis Fähigkeit, die existenziellen Fragen ihrer Protagonistin mit großer Sensibilität zu behandeln. Transcendent Kingdom mag nicht die epische Wucht von Homegoing haben, aber es ist ein stilles, kluges Buch, das lange nachhallt.

Weiß und Unmöglicher Abschied – Han Kang erschienen im Aufbau Verlag, übersetzt von Ki-Hyang Lee

Han Kangs Romane „Unmöglicher Abschied“ und „Weiß“ greifen auf unterschiedliche Weise tief in die schmerzhaften, oft verdrängten Winkel südkoreanischer Geschichte und der persönlichen Erinnerung. Während „Unmöglicher Abschied“ ein emotional aufwühlendes Porträt des Jeju-Massakers ist, hebt sich „Weiß“ durch seine introspektive, fast meditative Auseinandersetzung mit Verlust und Erinnerung hervor.

In „Unmöglicher Abschied“ gelingt Han Kang eine eindrucksvolle Annäherung an das Jeju-Massaker von 1948, bei dem mehr als 30.000 Menschen ihr Leben verloren. Die Erzählerin, eine Schriftstellerin, träumt von einem merkwürdigen Bild aus Baumstämmen und Erdhügeln, das sie später als Metapher für die Opfer des Massakers verwendet. Han Kang führt den Leser durch einen verschlungenen Erzählstrom, in dem sich Traum und Wirklichkeit, historische Erinnerung und persönliches Erleben untrennbar verbinden. Besonders prägnant sind die Bildwelten des Schnees, der als Symbol für die Grausamkeit und das Vergessen dient. Es ist eine zutiefst eindringliche Geschichte, die, ähnlich wie „Die Vegetarierin“, eine fast kafkaeske Atmosphäre von Unmenschlichkeit und Entfremdung schafft. Ich habe das Buch als Hörbuch gehört – das war eine ganz besondere Erfahrung und ich habe es innerhalb kürzester Zeit durchgehört. Irgendwann möchte ich es aber auch noch einmal lesen.

A thought comes to me. Doesn’t water circulate endlessly and never disappear? If that’s true, then the snowflakes Inseon grew up seeing could be the same ones falling on my face at this moment. I am reminded of the Inseon’s mother described, the ones in the schoolyard,[…] Who’s to say the snow dusting my hands now isn’t the same snow that had gathered on their faces.

Im Gegensatz dazu ist „Weiß“ ein sehr persönlicher, introspektiver Text, der sich mit der eigenen Familiengeschichte der Autorin auseinandersetzt, insbesondere mit dem Tod ihrer Schwester kurz nach der Geburt. Die Farbe Weiß zieht sich als rotes Band durch das Buch – von der klinischen Reinheit des Neugeborenen, das in weiße Tücher gehüllt wird, bis zu den Erinnerungen der Erzählerin, die eine schmerzliche Verbindung zwischen Tod, Krankheit und Verlust spürt. Die reflektierenden, poetischen Passagen sind dabei oftmals sehr emotional, beinahe pathetisch. Han Kang ergründet, wie die Farbe Weiß in ihrer Kindheit allgegenwärtig war und dabei sowohl als Symbol der Unschuld als auch des Todes erscheint.

Obwohl „Weiß“ weniger greifbar ist als „Unmöglicher Abschied“, da es sich mehr in symbolischen und atmosphärischen Ebenen bewegt, ist es dennoch ein sehr kraftvolles Buch. Es öffnet eine Tür zur tiefen psychologischen Auseinandersetzung mit Verlust und Erinnerung. „Unmöglicher Abschied“ wirkt dagegen fast schon dokumentarisch in seiner Schilderung des Traumas einer ganzen Nation, jedoch ebenso poetisch und eindrucksvoll.

Sobald der Tag ihrer Abreise näher rückt,
wird sie der dunklen Stille dieses Hauses,
in dem sie nicht mehr länger ohnen darf,
etwas zu sagen haben.
Sobald die unendlich scheinende Nacht
zur Neige geht und sich in dunkelblaue Dämmerung
in dem vorhanglosen Nordostfenster zeigt,
sobald sich die glatten Äste der Pappeln
allmählich vor dem Ultramarinblau
des Himmels abzeichnen,
wird sie am frühen Sonntagmorgen,
solange sich in dem Mietshaus noch nichts rührt,
der Stille etwas zu sagen haben.

Insgesamt zeigen diese beiden Werke auf unterschiedliche Weise Han Kangs Fähigkeit, literarisch tiefgründige Themen wie Schmerz, Verlust und die Verarbeitung von Geschichte auf eine sehr intime und zugleich universelle Weise zu erfassen. Beide Bücher habe ich für meinen Südkorea Stop auf der literarischen Weltreise gelesen und den kompletten Artikel könnt ihr hier lesen.

Wild wuchern – Katharina Köller erschienen im Penguin Verlag

Katharina Köllers „Wild wuchern“ hat mich mitgerissen, von der ersten bis zur letzten Seite. Es ist ein Roman, der keine Pause zulässt, der rast und drängt, genau wie seine Protagonistin Marie. Auf der Flucht vor einem Leben, das sie nicht mehr ertragen kann, sucht sie Zuflucht bei ihrer Cousine Johanna, die sich auf einer abgeschiedenen Alm ein neues, kompromissloses Leben geschaffen hat. Zwei Frauen, die nicht unterschiedlicher sein könnten, aber doch eine gemeinsame Geschichte und eine unausgesprochene Verbindung teilen.

Marie ist eine scharfzüngige Wienerin, aufgewachsen in einer Welt des Scheins und der Oberflächlichkeit, verwöhnt und zugleich gefangen in den Erwartungen anderer. Johanna dagegen hat sich früh aus allem herausgezogen, lebt abseits der Gesellschaft und folgt nur noch ihren eigenen Regeln. Ihr erstes Wiedersehen nach Jahren ist mehr ein Kräftemessen als eine warme Umarmung. Doch mit jeder Seite entfaltet sich ein faszinierendes Spiel zwischen Annäherung und Abgrenzung, zwischen Verstehen und Missverstehen.

So bin ich. So bin ich, dass ich schon weiß, die Watschen kommt, und trotzdem renn ich mitten rein. Wie die Opfer in den Horrorfilmen zielsicher in ihren Tod rennen, so renn ich hinein in die Watschen.

Köller schreibt mit einer Wucht, die mich umgehauen hat. Ihre Sprache ist poetisch, direkt, oft ironisch und voller Bildgewalt. Es gibt keine Kapitel, keine Verschnaufpausen – der Text zieht einen hinein in Maries fiebrige Gedanken, ihre panische Flucht, ihre Selbstfindung. Dieser Erzählstil macht den Roman unglaublich intensiv. Ich konnte gar nicht anders, als weiterzulesen.

Besonders beeindruckt hat mich, wie der Roman zwischen Gesellschaftskritik, poetischer Erzählung und fast märchenhafter Stimmung balanciert. Die Natur der Tiroler Alpen ist nicht nur Kulisse, sondern ein eigener Charakter, unbändig, fordernd, schön und gnadenlos zugleich. Hier gibt es keine einfachen Lösungen, keine harmonische Versöhnung mit der Vergangenheit. Aber es gibt Entwicklung, Selbsterkenntnis, leise Veränderung.

Was bleibt, ist ein Roman, der wirklich nachhallt. „Wild wuchern“ ist kompromisslos, klug und voller Emotionen. Eine Geschichte über zwei Frauen, die lernen, sich selbst und einander neu zu sehen. Ich habe Marie und Johanna mit all ihren Stärken und Schwächen ins Herz geschlossen. Und ich kann nur sagen: Lesen! Unbedingt.

The God of the Woods – Liz Moore unter dem Titel „Der Gott des Waldes“ im C. H. Beck Verlag erschienen, übersetzt von Cornelius Hartz

Ich möchte euch gar nicht allzu viel über The God of the Woods erzählen – gefühlt hat sowieso schon jeder (und deren Tante) dieses Buch auf dem Schirm. 😉 Aber falls ihr bisher nichts davon gehört habt oder noch unsicher seid, ob ihr es lesen wollt: Tut es!

Lange habe ich nicht mehr dieses Gefühl gehabt, vollkommen in eine Geschichte einzutauchen – dieses Sommerferien-Gefühl, wenn man stundenlang liest und die Welt um sich herum vergisst.

Nur so viel: The God of the Woods ist ein unglaublich kluger und fesselnder Roman über ein Mädchen, das eines Nachts aus einem Ferienlager im Wald verschwindet – genau wie Jahre zuvor ihr kleiner Bruder. Liz Woods erzählt diese Geschichte meisterhaft, verwebt geschickt verschiedene Zeitebenen, ohne dass man je den Überblick verliert, und liefert ein Ende, mit dem ich wirklich zufrieden war.

Rich people, thought Judy—she thought this then, and she thinks it now—generally become most enraged when they sense they’re about to be held accountable for their wrongs.

Ihr Roman Long Bright River steht hier auch noch ungelesen im Regal – und jetzt freue ich mich darauf umso mehr. Wir waren gestern abend auf einer Lesung von ihr im Amerikahaus in München (moderiert von Günter Keil). Sehr schöne Lesung und eine überaus symphatische Autorin. Falls ihr mal die Gelegenheit habt eine Lesung von ihr zu besuchen – unbedingt hingehen!

Ghost Music – An Yu bislang nicht auf deutsch erschienen

Manche Bücher klingen nach, wie ein Echo, das nicht verhallt. Ghost Music von An Yu ist genau so ein Roman – leise, melancholisch und voller surrealer Schönheit.

Song Yan lebt in einer Ehe, die sich anfühlt wie ein gut eingespieltes Musikstück – vorhersehbar, fast mechanisch. Doch als ihre Schwiegermutter einzieht und geheimnisvolle Pakete mit seltenen Yunnan-Pilzen eintreffen, beginnt sich ihr Leben zu verändern. Ihr Mann Bowen entzieht sich ihr immer mehr, und Song Yan wird von Erinnerungen an ihre verlorene Karriere als Konzertpianistin heimgesucht. Dann taucht ein toter Pianist auf – oder doch nicht? – und ein sprechender, leuchtender Pilz, der ein bestimmtes Klavierstück hören will. Realität und Traum verschwimmen.

We pour a bit of ourselves into everything we do, every note we play and, unwittingly, one fragment at a time, we leave ourselves in the past.

Ghost Music ist eine leise, aber eindringliche Geschichte über verpasste Chancen, unerfüllte Sehnsüchte, die Frage wie gut man jemanden kennen kann und die Musik des Lebens – manchmal laut, manchmal nur ein kaum hörbares Flüstern. An Yu schreibt mit einer poetischen Präzision, die unter die Haut geht.

Ich habe das Buch für China auf meiner literarische Weltreise gelesen. Wer Lust hat kann hier den Rest des Artikels über China lesen.

Die weiße Straße – Edmund de Waal erschienen im Hanser Verlag / Büchergilde Gutenberg, übersetzt von Brigitte Hilzensauer

Edward de Waal ist ein faszinierender Erzähler mit einer tiefen Leidenschaft für Porzellan, und das zeigt sich auch in „Die weiße Straße“. Doch während mich „The Hare with Amber Eyes“ mit seiner persönlichen, fast intimen Familiengeschichte völlig in den Bann gezogen hat, konnte mich dieses Buch nicht in gleichem Maße fesseln.

De Waal nimmt uns mit auf eine Reise zu den Ursprüngen des Porzellans – nach Jingdezhen in China, nach Dresden und nach Cornwall. Es ist eine Mischung aus Reisebericht, Historie, Selbstreflexion und Materialkunde. Dabei folgt er der Idee eines „weißen Pfades“, der ihn von den Anfängen des Porzellans bis zu seiner eigenen Werkstatt führt.

Es gibt Passagen in diesem Buch, die von einer beinahe magischen Atmosphäre durchzogen sind – etwa wenn De Waal eine 12. Jahrhundert-Scherbe aus der roten Erde aufliest oder die verschlungenen Wege der europäischen Porzellanherstellung nachzeichnet. Besonders spannend fand ich den Teil über Dresden und Allach bei München, wo sich die Geschichte der deutschen Porzellanmanufaktur mit den düsteren Kapiteln der Nazi-Zeit verbindet. Hier berührt De Waal auch das Thema Besitz, Macht und Zwangsarbeit, was dem Buch Tiefe verleiht.

Dennoch hatte ich oft das Gefühl, dass sich der Text verliert. De Waal mäandert – er reiht Anekdoten, Namen und Beobachtungen aneinander, springt von einer Reflexion zur nächsten und wechselt mitunter zwischen Erzählperspektiven. Während dieser Stil in „The Hare with Amber Eyes“ für mich perfekt funktionierte, weil er dort eine vielschichtige Familiengeschichte entfaltet, fühlte es sich hier manchmal anstrengend an. Der Wechsel zwischen der minutiösen Beschreibung von Porzellanherstellung und persönlichen Gedanken war nicht immer harmonisch.

Hinzu kommt, dass man am Ende des Tages doch sehr viel über Porzellan erfährt – vielleicht mehr, als man eigentlich wissen wollte. Zwar macht De Waal das Thema mit seiner Begeisterung greifbar, doch nicht jeder Leser wird sich für die chemischen Prozesse und technischen Details gleichermaßen begeistern können.

Ich habe vor, drei Orte aufzusuchen, wo das Porzellan erfunden oder wiedererfunden wurde, drei weiße Berge in China und Deutschland und England. Jeder von ihnen ist mir wichtig. Seit Jahrzehnten kenne ich sie durch ihre Keramik, durch Bücher und Geschichten, aber ich war nie dort. Ich muss an diese Orte fahren, muss sehen, wie Porzellan unter anderen Himmeln aussieht, wie Weiß sich mit dem Wetter verändert. Weiß sind auch andere Dinge auf dieser Welt, aber für mich kommt Porzellan an erster Stelle.

Trotzdem ist „Die weiße Straße“ ein beeindruckendes Buch. De Waals Talent für obsessive Recherche und seine Fähigkeit, Geschichte mit Kunst zu verknüpfen, sind unbestreitbar. Wer sich für Porzellan, Handwerkskunst und die historischen Zusammenhänge interessiert, wird hier viele spannende Einblicke gewinnen. Wer aber eine ähnlich fesselnde, emotional tiefgehende Erzählung wie in „The Hare with Amber Eyes“ erwartet, könnte sich ein wenig erschlagen fühlen.

Vielleicht hätte eine straffere Struktur oder eine klarere Fokussierung das Buch noch stärker gemacht. Doch De Waal ist eben ein Sammler – von Geschichten, Details und Eindrücken. Und genau diese Sammelleidenschaft prägt auch dieses Werk.

How much land does a man need? – Leo Tolstoy auf deutsch unter dem Titel „Wieviel Erde braucht der Mensch“ im Penguin Verlag erschienen

Die Kurzgeschichten „How Much Land Does a Man Need?“ und „What Men Live By des russischen Schriftsteller Leo Tolstoi sind zwei kurze Erzählungen, die beide starke moralische und philosophische Botschaften vermitteln. Sie sind typisch für Tolstois späten Stil, in dem er häufig die Bedeutung von Menschlichkeit, Spiritualität und ethischem Verhalten thematisiert.

In „Wieviel Erde braucht der Mensch?“ geht es um den Bauern Pahom, der nach immer mehr Land strebt, um seinen Wohlstand zu sichern. Die Geschichte ist eine scharfsinnige Allegorie auf Gier und den unstillbaren Drang des Menschen nach Besitz. Nach dem ewigen schneller, weiter, höher und die darin inherente Verhängnis. Der tragische Ausgang dieser Erzählung zeigt, dass wahre Zufriedenheit nicht im materiellen Besitz zu finden ist. Wissen wir doch eigentlich, aber…

In „Was der Mensch lebt“ geht es um einen Mann namens Michael, der in einer schwierigen Lebenssituation Liebe, Barmherzigkeit und die wahre Bedeutung des Lebens erkennt. Tolstoi belschäftigt sich in dieser Geschichte mit den Themen Nächstenliebe und das menschliche Streben nach innerer Erfüllung. Die zweite Geschichte war mir eine Spur zu spirituell.

Diese Erzählungen sind als Teil der Little Black Classics-Reihe von Penguin erschienen. Diese besondere Buchreihe wurde anlässlich des 80. Geburtstags von Penguin ins Leben gerufen und umfasst mittlerweile mehr als 100 Bände, die die Vielfalt und literarische Reichweite der Penguin Classics feiern. Von Indien bis Griechenland, von Dänemark bis Iran – die Sammlung beamt Leserinnen und Leser durch Zeit und Raum. Ob Fiktion, Poesie, Essays oder Bonmots von Schriftstellern wie Tschechow, Balzac, Ovid, Austen, Sappho und Dante – hier findet sich für jede Stimmung das passende Buch. Ich sammle eifrig, habe aber noch lange nicht alle 😉

Geschafft! Ein großartiger Lesemonat geht zu Ende. Jetzt würde ich gern euer Feedback hören? Welche davon kennt ihr? Habt ihr auch gemocht oder auch nicht? Was waren eure Highlights im März?

Dezember Lektüre

Mit dem Lesemonat Dezember habe ich ein wunderbares Lesejahr beendet. Selten habe ich so viele großartige Bücher in einem Jahr verschlungen wie 2024 – ein wahres Fest für die literarische Seele. Auch wenn die äußeren Umstände unserer Zeit – die Krisen und Katastrophen um uns herum – wenig Raum für Optimismus lassen, blicke ich zumindest literarisch mit großer Vorfreude auf das Jahr 2025. Bücher sind und bleiben für mich ein Anker in unruhigen Zeiten, eine Möglichkeit, die Welt zu verstehen, zu träumen oder auch einfach mal zu entfliehen.

Der Dezember war dabei ein unglaublich abwechslungsreicher Monat. Zwei Sachbücher haben mich besonders beschäftigt: Eines tauchte tief in die sogenannten „Dark Ages“ ein – eine Epoche, die bei mir dank Michael Woods bedrückend prophetischem Sachbuch und den Parallelen zur heutigen Zeit Gänsehaut hinterließ. Ich hoffe wirklich, dass wir nicht sehenden Auges in eine ähnliche Ära der Dunkelheit schlittern. Auf der anderen Seite wagte ich mit Yuval Noah Harari den Blick in die Zukunft. Sein Buch war nicht nur ein intellektuelles Abenteuer, sondern auch eine Warnung, die mich dazu brachte, über die langfristigen Konsequenzen unseres Handelns – oder Nichthandelns – nachzudenken.

Neben diesen Denkanstößen hatte der Dezember auch literarische Abenteuer anderer Art zu bieten. Mit Marschlande war ein spannender Roman dabei, der eine Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart schlägt und dabei die norddeutschen Marschlande zu einer fast mystischen Kulisse macht.

Für Spannung sorgte ein Krimi-Hattrick, der perfekt in die winterliche Jahreszeit passte – was gibt es Besseres als gemütliche mörderische Rätseleien an dunklen, kalten Abenden? Außerdem habe ich mit Samantha Harveys Werk einen Ausflug ins All unternommen, eine Reise, die zugleich philosophisch und poetisch war. Den Abschluss machte ein Audiobuch von Tommy Orange, mit dem ich mich im Rahmen meiner literarischen Weltreise in die USA begeben habe.

Der Dezember hatte wirklich für jede Stimmung etwas zu bieten. Jetzt freue ich mich darauf, euch meine Lektüren etwas genauer vorzustellen. Ich starte mit dem Krimi-Hattrick – der jahreszeitlich wohl passendsten Wahl – und gehe danach alphabetisch weiter durch meine Dezemberbücher. Ich bin gespannt, ob etwas für euch dabei ist.


Nicola Upson – Mit dem Schnee kommt der Tod (The Dead of Winter) erschienen im Kein & Aber Verlag, übersetzt von Anna-Christin Kramer
Nicola Upson schreibt eine Krimireihe rund um die real existierende Golden-Age-Krimiautorin Josephine Tay. Zufällig bin ich mit Band 9 in die Reihe eingestiegen und war sofort begeistert – vielleicht auch, weil der Krimi auf der kleinen Insel St. Michael’s Mount in Cornwall spielt, wo wir diesen Sommer waren. Ich kenne den Schauplatz, die Burg, die Gärten, das Dorf – und das hat mein Lesevergnügen natürlich noch einmal gesteigert. Wenn dann noch Marlene Dietrich, ein Schneesturm, der die Insel vom Festland abschneidet, und ein umhergehender Mörder ins Spiel kommen, sind alle Zutaten für einen perfekten Krimi gegeben. Ich werde die Reihe definitiv weiterverfolgen – die Reihenfolge scheint mir nicht allzu wichtig zu sein.

John Bude – Mord in Cornwall (The Cornish Coast Murder) erschienen im Klett Cotta Verlag, übersetzt von Eike Schönfeld
Der nächste Cozy-Krimi führte mich erneut nach Cornwall. Mord in Cornwall, ursprünglich 1935 erschienen (im selben Jahr wie Gaudy Night von Dorothy L. Sayers), ist ein wunderbares Beispiel für die wiederentdeckten Crime Classics der British Library. ohn Bude war ein produktiver Autor mit 30 Krimis, die zu seiner Zeit sehr beliebt waren, dann aber in Vergessenheit gerieten. Zum Glück hat die British Library viele seiner Werke neu aufgelegt. Mord in Cornwall ist der perfekte Krimi für alle, die düstere und stürmische Nächte lieben – ein Roman voller Meeresluft und lokaler Atmosphäre. Der Dorfpfarrer und der Arzt des Ortes verbringen ihre Abende mit Krimilektüre und messen sich darin, die jeweiligen Fälle zu lösen. Doch plötzlich wird ein echter Mord begangen, und die detektivischen Fähigkeiten des Pfarrers werden auf die Probe gestellt. Ein kurzweiliger, unterhaltsamer Krimi – mit einer Warnung: Die Lektüre könnte zu akuter Cornwall-Reiselust führen!

Nicholas Blake – Das Geheimnis des Schneemanns (The Corpse in the Snow Man) erschienen im Klett Cotta Verlag, übersetzt von Michael von Killisch-Horn
Der dritte Krimi in meinem Cozy-Crime-Hattrick stammt ebenfalls aus der Reihe der wiederentdeckten British-Library-Klassiker, konnte mich aber leider nicht ganz überzeugen. Die Geschichte zog sich für meinen Geschmack zu sehr, es gab zu viele Charaktere, und der Fall selbst war für mich eher unspektakulär. Interessant fand ich jedoch den Autor: Nicholas Blake, der eigentlich Cecil Day-Lewis hieß, war nicht nur ein erfolgreicher Schriftsteller, sondern wurde von der Queen zum Poet Laureate ernannt. Und sein Sohn? Niemand Geringeres als Daniel Day-Lewis, bekannt aus Filmen wie Mein linker Fuß. Auch wenn mich dieser Krimi nicht umgehauen hat, mag er für andere Leser durchaus reizvoll sein.

    Yuval Noah Harari – Nexus erschienen im Penguin Verlag, übersetzt von Jürgen Neubauer und Andreas Wirthensohn

    Yuval Noah Hararis neues Buch Nexus hat mich gleichermaßen fasziniert wie nachdenklich gestimmt. Harari gelingt es wie gewohnt, komplexe Themen auf eine Weise zu beleuchten, die zugleich intellektuell anregend und zugänglich ist. Die Kernthemen – von den Gefahren digitaler Überwachung und KI bis hin zur geopolitischen Fragmentierung – sind hochaktuell und drängen förmlich danach, diskutiert zu werden. Dennoch ließ mich das Buch mit einer Mischung aus Staunen und Skepsis zurück.

    Besonders beeindruckend fand ich Hararis Fähigkeit, historische Anekdoten mit modernen Herausforderungen zu verknüpfen. Die Schilderung, wie in faschistischen Regimen Papiere manipuliert wurden, um Minderheiten zu unterdrücken, war nicht nur erhellend, sondern auch bedrückend relevant. Ähnlich eindrucksvoll war die Diskussion über die Rolle von Facebooks Newsfeed bei politischen Eskalationen. Hier zeigt Harari seine Stärke: die Fähigkeit, historische Parallelen zu ziehen und gleichzeitig die Dringlichkeit unserer Gegenwart zu betonen.

    Weniger überzeugend fand ich jedoch seine Tendenz zu weitreichenden Verallgemeinerungen. Aussagen wie „Die antiken Römer hatten ein klares Verständnis davon, was Demokratie bedeutet“ wirken auf mich eher wie vereinfachte Schlagworte als tiefgreifende Analysen. Ebenso erscheint mir seine Darstellung von KI und deren potenziellen Fähigkeiten oft überzogen. Der Gedanke, dass eine KI in absehbarer Zeit klingen nach SciFi und es fehlt mir hier oft an einer soliden, nachvollziehbaren Argumentation.

    Hararis Lösungen – stärkere Regulierung von Algorithmen und die Förderung selbstkorrigierender Institutionen – sind letztlich nicht so bahnbrechend, wie es der apokalyptische Ton des Buches vermuten lässt. „Liberalismus, aber besser“ wäre eine treffende Zusammenfassung seiner Empfehlungen. Er möchte es sich halt auch nicht wirklich mit seinen Silicon Valley Buddys verderben, hier hätte ich mir deutlich mehr Mut seinerseits gewünscht.

    Trotzdem ist Nexus ein Buch, das ich durchaus empfehlen kann. Harari regt dazu an, über die großen Fragen unserer Zeit nachzudenken, und auch wenn ich nicht jede seiner Thesen teile, hat mir das Buch viele neue Perspektiven eröffnet. Vor allem in seinen narrativen Passagen glänzt Harari: Hier wird er zum Geschichtenerzähler, der uns die Tragödien und Triumphe der Menschheit vor Augen führt. Ein Buch, das polarisiert, inspiriert und zum Diskurs einlädt – genau was ich mir von einem Buch wünsche.

    Ich habe auf jeden Fall so unendlich viel unterstrichen in diesem Buch ich kann mich gar nicht entscheiden, welches Zitat ich besonders herausheben möchte.

    The tendency to create powerful things with unintended consequences started not with the invention of the steam engine or AI but with the invention of religion. Prophets and theologians have summoned powerful spirits that were supposed to bring love and joy but occasionally ended up flooding the world with blood.

    Samantha Harvey – Orbital auf deutsch unter dem Titel „Umlaufbahnen“ im dtv Verlag erschienen, übersetzt von Julia Wolf

    Über den diesjährigen Booker Prize Winner wurde wahrscheinlich schon alles gesagt, aber hier kurz meine begeisterten 2 Cents: Die Geschichte spielt auf einer Raumstation 250 Meilen über der Erde und dreht sich um eine Crew von Astronaut*innen, die dort ihren Alltag zwischen Experimenten, Technik und der unendlichen Weite des Weltalls meistern. Aber „Orbital“ ist so viel mehr als ein Science-Fiction-Roman – es ist eine poetische Meditation über die Menschheit, unsere zerbrechliche Welt und unseren Platz im Universum.

    Was mich besonders fasziniert hat, ist, wie Harvey Kunst und Weltraum miteinander verbindet. Zwei berühmte Kunstwerke tauchen im Buch auf: Velázquez‘ „Las Meninas“ und das ikonische Foto von Michael Collins, das die Erde, den Mond und alles Leben darauf einfängt – außer Collins selbst. Diese Kontraste spiegeln sich auch im Roman wider: die Fülle und Perspektive der einen und die abstrakte Distanz der anderen. Es ist, als ob die Astronaut*innen aus dieser Entfernung unsere Erde mit ganz neuen Augen sehen – frei von Grenzen, Konflikten und allem Alltäglichen.

    In unserer Diskussion im Bookclub kam genau das zur Sprache: Müssen wir uns erst so weit entfernen, um die Schönheit und Zerbrechlichkeit der Erde wirklich zu begreifen?

    The earth, from here, is like heaven. It flows with colour. A burst of hopeful colour. When we’re on that planet we look up and think heaven is elsewhere, but here is what the astronauts and cosmonauts sometimes think: maybe all of us born to it have already died and are in an afterlife. If we must go to an improbable, hard-to-believe-in place when we die, that glassy, distant orb with its beautiful lonely light shows could well be it.

    Harveys Schreibstil ist lyrisch, fast hypnotisch. Plot-Twist-Fans kommen hier eher nicht auf ihre Kosten, denn die Handlung ist minimalistisch. Stattdessen steht das Nachdenken über große Themen wie Zeit, Raum, Klimawandel und die Bedeutung von Fortschritt im Fokus.

    Für mich ist „Orbital“ wie ein Fenster ins All – und gleichzeitig ein Spiegel, der uns zeigt, wer wir sind. Absolute Leseempfehlung, wenn ihr Lust auf etwas Nachdenkliches und Inspirierendes habt!

    Jarka Kubsova „Marschlande“ erschienen im S. Fischer Verlag

    Schon mit dem ersten Satz zieht Marschlande mich in die dramatische Geschichte von Abelke Bleken hinein. Diese Frau lebte vor 450 Jahren im Hamburger Dorf Ochsenwerder, wo sie alleinstehend einen Hof bewirtschaftete – eine Lebensweise, die in einer patriarchalen Welt schnell verdächtig machte. Ihre Geschichte beginnt mit einem scheinbar harmlosen Vorwurf: Sie habe es versäumt, den Deichabschnitt ihres Landes zu reparieren. Doch hinter dieser Anschuldigung steckt mehr – der Versuch, eine Frau um ihr Eigentum zu bringen. Was als Streit um Deichrecht beginnt, mündet in einen Hexenprozess, der Abelke auf den Scheiterhaufen bringt.

    Kubsova erzählt diese Geschichte mit eindringlicher Präzision. Besonders erschüttert hat mich, wie Kapitalismus und Religion hier Hand in Hand gehen, um Frauen wie Abelke nicht nur wirtschaftlich zu enteignen, sondern sie letztlich auszulöschen. Der Vorwurf der Hexerei dient dabei als makabre Legitimation: Denn es fühlt sich offenbar besser an, eine vermeintliche Hexe zu töten, als eine aufrechte Bäuerin schlichtweg zu enteignen. Dieses Zusammenspiel von Gier und Aberglauben erinnert mich daran, wie kapitalistische Strukturen über Jahrhunderte hinweg Frauen immer wieder nicht nur marginalisiert, sondern existenziell bedroht haben. Die Logik bleibt dieselbe: Macht und Besitz werden durch Gewalt und Ideologie gesichert – oft auf Kosten der Schwächsten in der Gesellschaft.

    Neben Abelke steht Britta, eine Frau unserer Zeit, deren Geschichte im Hamburger Hinterland spielt. Während Abelke für ihren Hof kämpft, verliert Britta zunehmend ihre Familie an die moderne Form des Kapitalismus: den Leistungsdruck. Ihr Mann, getrieben von übermäßigen Karriereambitionen, entfremdet sich von ihr und den Kindern, um ein großes Haus auf dem Land und das passende Statussymbol-Leben zu realisieren. Brittas persönliche Krise spiegelt die Zerstörung wider, die kapitalistische Systeme in zwischenmenschlichen Beziehungen anrichten können – damals wie heute.

    Ein Bild von Abelke tauchte plötzlich in ihr auf, sie sah eine Frau zwischen leeren Feldern, die Hand zur Faust geballt, die Faust erhoben, drohend. Der gefährlichste Moment für eine Frau ist, wenn sie sich wehrt. Was folgte daraus? Dass man sich nicht wehren durfte?

    Besonders gelungen ist Kubsovas Brückenschlag zwischen den Jahrhunderten. Jedes Kapitel beginnt mit einem Satz, der sowohl für Abelkes als auch für Brittas Leben gilt, und verdeutlicht so die Kontinuitäten von Unterdrückung und Ungerechtigkeit. Die Autorin wagt die steile, aber bedenkenswerte These, dass die strukturellen Hindernisse, denen Frauen heute begegnen, tief in den historischen Wurzeln des Kapitalismus und der patriarchalen Gesellschaft verankert sind.

    Marschlande ist für mich mehr als ein historischer Roman. Es ist eine eindringliche Anklage gegen die zerstörerische Allianz von Kapitalismus und patriarchaler Macht – damals wie heute. Ein Buch, das aufrüttelt, empört und lange nachhallt. Unbedingt lesen!

    Tommy Orange – There There auf deutsch unter dem Titel „Dort Dort“ im Hanser Verlag erschienen, übersetzt von Hannes Meyer

    „There There“ hat mich hat mich wirklich sehr berührt – ein Buch, das mir nicht nur neue Perspektiven eröffnet, sondern auch einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen hat. Schon beim Hören des Hörbuchs war ich überwältigt von der Kraft und Schönheit seiner Sprache. Ständig hatte ich den Wunsch, Sätze zu markieren, sie zu unterstreichen und immer wieder zu lesen. Dieses Buch, das zu Recht so viel Aufmerksamkeit und Hype erhalten hat, ist eines, das ich unbedingt noch einmal in Buchform lesen möchte.

    Der Titel des Romans bezieht sich auf Gertrude Steins berühmte Bemerkung über Oakland, Kalifornien: „There is no there there“. Oakland, Oranges Heimatstadt, bildet den Schauplatz des Romans und wird zu einem Symbol für das Erbe und die Erfahrung indigener Gemeinschaften in den USA. Orange, selbst ein Mitglied der Cheyenne und Arapaho, erzählt die Geschichten einer Gruppe indigener Menschen, deren Leben auf komplexe Weise miteinander verflochten sind. Schon das Eröffnungsprolog, das nüchtern und zugleich tief erschütternd die koloniale Unterdrückung und Gewalt gegenüber indigenen Völkern schildert, setzt den Ton für das, was folgt.

    We are the memories we don’t remember, which live in us, which we feel, which make us sing and dance and pray the way we do, feelings from memories that flare and bloom unexpectedly in our lives like blood through a blanket from a wound made by a bullet fired by a man shooting us in the back for our hair, for our heads, for a bounty, or just to get rid of us.

    Was dieses Buch für mich so besonders macht, ist die Balance zwischen Schmerz, Verzweiflung aber auch Hoffnung. Orange verzichtet bewusst auf romantisierte Darstellungen indigener Kultur oder nostalgische Bilder von offenen Prärien. Stattdessen zeigt er das Leben indigener Menschen in städtischen Räumen – in all seiner Widersprüchlichkeit, Zerbrechlichkeit und Schönheit. Figuren wie der durch fetales Alkoholsyndrom gezeichnete Tony Loneman, der Dokumentarfilmer Dene Oxendene oder der junge Orvil Red Feather, der sich mit gestohlener Regalia auf ein Powwow vorbereitet, sind so lebendig und greifbar, dass sie mir während des Lesens regelrecht ans Herz gewachsen sind.

    Besonders beeindruckt hat mich, wie Orange es schafft, die Geschichte und Gegenwart der indigenen Bevölkerung der USA miteinander zu verbinden. Das Powwow in Oakland, das den zentralen Schauplatz der Handlung bildet, steht nicht nur für den Versuch, kulturelle Traditionen zu bewahren, sondern auch für die Herausforderungen und Spannungen, die damit einhergehen.

    Michael Wood – In search of the Dark Ages erschienen in der Folio Society

    Michael Woods In Search of the Dark Ages war für mich eine echte Entdeckung – ein Buch, das Geschichte auf die beste Art und Weise vermittelt: anschaulich, spannend und voller Denkanstöße. Ich habe es mit großer Begeisterung gelesen, und es hat mich dazu inspiriert, tiefer in die faszinierende Epoche der sogenannten „Dark Ages“ einzutauchen. So sollte Geschichte immer präsentiert werden: als lebendige Erzählung, die nicht nur informiert, sondern auch zum Weiterforschen einlädt.

    Wood gelingt es meisterhaft, eine Epoche, die oft als düster und mysteriös dargestellt wird, mit Leben zu füllen. Seine Erzählungen über historische Figuren wie Boudica, Alfred den Großen oder William den Eroberer machen deutlich, wie vielschichtig und bedeutend diese Zeit für die Entwicklung Englands war. Besonders gefallen hat mir, wie er historische Fakten mit Geschichten aus Archäologie und Mythologie verwebt. Die Kapitel über Sutton Hoo oder die Artus-Legenden sind ein Beispiel dafür, wie Geschichte und Legende miteinander verschmelzen und ein tieferes Verständnis für diese Ära schaffen.

    The key point about Patrick’s narrative is that when he returned to Britain in around 415, when Roman rule had ended in Britain, there is no suggestion of disorder. Indeed, when he wrote his account in the middle years of the century, the imperial Roman system of local government was intact – the local town councils, for example, were still responsible for raising taxes for the government. It was still a world where professional rhetoricians could earn a living as they could in Rome; where a letter writer could address the British dynasty of Strathclyde as „fellow citiziens“. We can therefore imagine the continuation of a feeling of identity with Rome in the Romano-British ruling class, the senatorical aristocracy and the local landowners.

    Was mich besonders beeindruckt hat, ist die Fähigkeit des Buches, die Herausforderungen des Alltagslebens in jener Zeit greifbar zu machen. Wood schildert nicht nur die großen politischen und militärischen Ereignisse, sondern auch, wie es war, in einer Welt zu leben, die von Hunger, Seuchen und ständiger Unsicherheit geprägt war. Dabei bleibt er stets kritisch, etwa wenn er die Schwächen von Herrschern wie Ethelred ungeschönt analysiert, ohne den Respekt für seine Leistungen im Kontext dieser Zeit zu verlieren.

    Ein Highlight für mich war die Ausgabe der Folio Society, die ich gelesen habe. Die hochwertige Gestaltung, die großartigen Fotografien und die Liebe zum Detail machen diese Ausgabe zu einem echten Schatz. Die Bilder tragen wesentlich dazu bei, sich die beschriebene Zeit noch besser vorzustellen – sei es ein Fund aus einem königlichen Grab oder kunstvolle Nachbildungen historischer Artefaktr. Das Buch ist nicht nur eine intellektuelle, sondern auch eine ästhetische Freude.

    „In Search of the Dark Ages“ ist ein Buch, das weit über eine historische Nacherzählung hinausgeht – es bietet einen Zugang zu einer Zeit, die mehr als nur ein Übergang zwischen Antike und Mittelalter war – eine Epoche, die ihre eigene Dynamik und Bedeutung hatte. Spannend fand ich auch, wie unterschiedlich das Ende des römischen Reiches sich gestaltete. In manchen Ecken blieben die römische Organisation und Zivilisation fast bis in 12. Jahrhundert erhalten, in anderen Ecken der Welt war schon um 500 – 600 nach unserer Zeitrechnung nicht mehr viel übrig als Ruinen und Dunkelheit. Michael Wood schafft es, diesen Zeitraum mit einer Mischung aus Wissenschaftlichkeit und Erzählkunst zu beleuchten, die mich vollkommen überzeugt hat. Für jeden, der sich für die Ursprünge der britischen Geschichte interessiert, ist dieses Buch ein Muss.

    So das war der Dezember – war für euch was dabei? Welche Bücher kennt ihr, auf welche konnte ich euch vielleicht neugierig machen? Freue mich auf eure Rückmeldungen.

    Read around the World: USA

    Ich hatte bei meiner Reihe „Read around the World“ natürlich viel an ferne Länder gedacht, von denen ich selten bis nie Bücher lese. Aber da ich einen Zufallsgenerator nutze, um die nächsten Länder auszuwählen, über die ich schreiben möchte, traf es mich recht früh in der Reihe – die USA. Ich lese ohnehin viel Literatur aus den USA, so dass ich mir nicht sicher war, ob ich hier Neues entdecken könnte. Doch dann fiel mir Tommy Oranges Roman „There There“ ein, der schon länger auf meiner To-Read-Liste stand. Es erschien mir plötzlich unglaublich passend, dieses Buch im Rahmen dieser Reihe zu lesen.

    Die USA – ein Land, das jedem irgendwie bekannt ist. Selbst wer noch nie persönlich dort war, hat unzählige Eindrücke über Filme, Serien, Musik und Bücher gesammelt. Als ich das erste Mal die USA besuchte, speziell New York, war ich erstaunt darüber, wie vertraut mir alles vorkam. Ich hatte das Gefühl, bereits dort gewesen zu sein. Doch abseits der Großstädte änderte sich mein Eindruck. Da spürte ich zum ersten Mal die schiere Größe dieses Landes. Wir wissen natürlich alle, dass die USA riesig sind. Aber das Gefühl, zB am Ufer des Michigansees zu stehen – einem Gewässer, das fast so groß wie die Schweiz ist – war einfach surreal.

    Die Geschichte der Vereinigten Staaten ist eine Geschichte der Kontraste: von Expansion und Unabhängigkeit, aber auch von Kolonialismus und tiefgreifender Ungerechtigkeit. Ursprünglich war das heutige Gebiet der USA von zahlreichen indigenen Stämmen besiedelt, deren Kulturen sich über Jahrtausende entwickelten. Die ersten bekannten Kontakte mit Europäern erfolgten Ende des 15. Jahrhunderts, doch es dauerte bis zum 17. Jahrhundert, bis europäische Kolonialmächte wie England, Frankreich und Spanien hier dauerhaft Fuß fassten. 1776 erklärten 13 britische Kolonien entlang der Ostküste ihre Unabhängigkeit – ein mutiger Schritt, der zur Gründung der Vereinigten Staaten von Amerika führte.

    Anfang der 2000er verbrachte ich mal eine Weile in New York und hatte auch die wahnwitzige Idee meine Abfindung dazu zu nutzen dort einen Buchladen aufzumachen. Nun ja, das ist alles schon an die Wand gefahren, bevor es richtig Fahrt aufnehmen konnte und zeugt vermutlich von meinen großartigen unternehmerischen Talenten und praktischen Fähigkeiten. Aber es ist immer eine coole Geschichte, die man auf Parties erzählen kann.

    Die Unabhängigkeitserklärung von 1776 gilt als Geburtsstunde der amerikanischen Demokratie. Sie basierte auf den Prinzipien der Aufklärung, insbesondere den Ideen von Gleichheit, Freiheit und dem Recht auf das Streben nach Glück. Doch die Umsetzung dieser Ideale war von Anfang an unvollkommen. Die Verfassung von 1787, die bis heute das Fundament der amerikanischen Demokratie bildet, war ein bahnbrechendes Dokument, das ein System von Checks and Balances schuf, um die Macht zwischen Exekutive, Legislative und Judikative zu verteilen. Dennoch blieben Frauen, indigene Bevölkerungen und versklavte Menschen von diesen Rechten ausgeschlossen.

    Im Laufe der Jahrhunderte wurde das demokratische System der USA weiterentwickelt, oft durch harte Kämpfe um bürgerliche Rechte und soziale Gerechtigkeit. Die Abschaffung der Sklaverei, das Frauenwahlrecht und die Bürgerrechtsbewegung des 20. Jahrhunderts sind Meilensteine auf dem Weg zu einer inklusiveren Demokratie. Doch die Spannungen zwischen Idealen und Realitäten der Demokratie bestehen weiterhin.

    In der jüngeren Vergangenheit wurden die Grundpfeiler der amerikanischen Demokratie zunehmend in Frage gestellt. Die Wahl von Donald Trump im Jahr 2016 war ein Wendepunkt, der tiefe gesellschaftliche und politische Gräben offenbarte. Trumps Rhetorik und Politik haben die Institutionen der Demokratie auf die Probe gestellt. Besonders besorgniserregend war sein Umgang mit der Wahlniederlage 2020 und die darauf folgende Erstürmung des Kapitols am 6. Januar 2021. Dieses Ereignis, ein Angriff auf den Sitz der amerikanischen Demokratie, unterstrich die Fragilität des Systems.

    Gleichzeitig haben Polarisierung, Desinformation und Angriffe auf die Pressefreiheit die demokratische Kultur geschwächt. Viele Beobachter*innen sind besorgt, dass das Vertrauen in die Wahlen und die Unabhängigkeit der Gerichte abnimmt. Doch es gibt auch Zeichen der Hoffnung: Bewegungen für soziale Gerechtigkeit, Klimaschutz und Menschenrechte zeigen, dass viele Amerikanerinnen und Amerikaner weiterhin für die Werte ihrer Demokratie einstehen.

    Die Geschichte der indigenen Völker Nordamerikas reicht weit vor die Ankunft europäischer Kolonisatoren zurück. Vor der Kolonialisierung lebten schätzungsweise bis zu 10 Millionen Menschen auf dem Gebiet der heutigen USA, organisiert in hunderten verschiedenen Stämmen mit eigenen Sprachen, Traditionen und Lebensweisen. Diese Kulturen waren tief mit der Natur verwoben und oft durch komplexe soziale Strukturen geprägt.

    Die Ankunft der Europäer brachte nicht nur Gewalt, sondern auch Krankheiten, gegen die die indigenen Bevölkerungen keine Immunität hatten. Pocken, Masern und andere Seuchen dezimierten die Bevölkerung innerhalb weniger Jahrzehnte drastisch. Während der Kolonialzeit und später im jungen US-amerikanischen Staat wurden indigene Gemeinschaften systematisch marginalisiert. Landraub und Assimilationspolitik bestimmten das Verhältnis der US-Regierung zu den indigenen Völkern.

    Im 20. Jahrhundert änderten sich die Ansätze. Zwar wurden indigene Gemeinschaften weiterhin diskriminiert, doch ab den 1960er Jahren kam es zu einer Renaissance indigener Kulturen. Aktivisten kämpften für Landrechte, politische Autonomie und kulturelle Anerkennung. Heute leben über fünf Millionen Menschen indigener Abstammung in den USA, die Mehrheit davon in Städten. Tommy Oranges Roman „There There“ thematisiert genau diese städtische indigene Erfahrung – eine Perspektive, die in der Literatur selten zu finden ist.

    Hier noch ein paar Fakten zu den USA

    • Fläche: 9,8 Millionen km², damit etwa 27 mal so groß wie Deutschland
    • Bevölkerung ca. 332 Millionen, in Deutschland etwa 84 Millionen
    • Bevölkerungsdichte USA: 36 Einwohner/km², Deutschland: 235 Einwohner/km²

    Für die Weltreise habe ich wie oben schon erwähnt Tommy Oranges Roman „There There“ ausgewählt, der 2019 im Hanser Verlag unter dem Titel „Dort, Dort“ veröffentlicht wurde.

    „There There“ hat mich hat mich wirklich sehr berührt – ein Buch, das mir nicht nur neue Perspektiven eröffnet, sondern auch einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen hat. Schon beim Hören des Hörbuchs war ich überwältigt von der Kraft und Schönheit seiner Sprache. Ständig hatte ich den Wunsch, Sätze zu markieren, sie zu unterstreichen und immer wieder zu lesen. Dieses Buch, das zu Recht so viel Aufmerksamkeit und Hype erhalten hat, ist eines, das ich unbedingt noch einmal in Buchform lesen möchte.

    Der Titel des Romans bezieht sich auf Gertrude Steins berühmte Bemerkung über Oakland, Kalifornien: „There is no there there“. Oakland, Oranges Heimatstadt, bildet den Schauplatz des Romans und wird zu einem Symbol für das Erbe und die Erfahrung indigener Gemeinschaften in den USA. Orange, selbst ein Mitglied der Cheyenne und Arapaho, erzählt die Geschichten einer Gruppe indigener Menschen, deren Leben auf komplexe Weise miteinander verflochten sind. Schon das Eröffnungsprolog, das nüchtern und zugleich tief erschütternd die koloniale Unterdrückung und Gewalt gegenüber indigenen Völkern schildert, setzt den Ton für das, was folgt.

    Was dieses Buch für mich so besonders macht, ist die Balance zwischen Schmerz, Verzweiflung aber auch Hoffnung. Orange verzichtet bewusst auf romantisierte Darstellungen indigener Kultur oder nostalgische Bilder von offenen Prärien. Stattdessen zeigt er das Leben indigener Menschen in städtischen Räumen – in all seiner Widersprüchlichkeit, Zerbrechlichkeit und Schönheit. Figuren wie der durch fetales Alkoholsyndrom gezeichnete Tony Loneman, der Dokumentarfilmer Dene Oxendene oder der junge Orvil Red Feather, der sich mit gestohlener Regalia auf ein Powwow vorbereitet, sind so lebendig und greifbar, dass sie mir während des Lesens regelrecht ans Herz gewachsen sind.

    Besonders beeindruckt hat mich, wie Orange es schafft, die Geschichte und Gegenwart der indigenen Bevölkerung der USA miteinander zu verbinden. Das Powwow in Oakland, das den zentralen Schauplatz der Handlung bildet, steht nicht nur für den Versuch, kulturelle Traditionen zu bewahren, sondern auch für die Herausforderungen und Spannungen, die damit einhergehen. Die unterschiedlichen Perspektiven und Lebenswege der Charaktere verdichten sich hier zu einem explosiven Finale, das irgendwie schockierend und zugleich unvermeidlich wirkt. Es ist ein Ende, das beschäftigt – ein Spiegel der Realität, in der Gewalt und Ungleichheit allgegenwärtig sind.

    Die Beziehung zwischen Jacquie und ihrer Schwester Opal, die versuchen, alte Wunden zu heilen und sich einander wieder anzunähern, hat mich besonders bewegt. Ihre Geschichte, die bis zur Besetzung von Alcatraz in den späten 1960er Jahren zurückreicht, zeigt, dass auch inmitten von Verlust und Schmerz die Möglichkeit besteht, etwas Neues zu schaffen. Dieses Spannungsfeld zwischen Resignation und Widerstand, zwischen Zerstörung und Wiederaufbau durchzieht das gesamte Buch und nimmt einen wirklich mit.

    We are the memories we don’t remember, which live in us, which we feel, which make us sing and dance and pray the way we do, feelings from memories that flare and bloom unexpectedly in our lives like blood through a blanket from a wound made by a bullet fired by a man shooting us in the back for our hair, for our heads, for a bounty, or just to get rid of us.

    Ich habe bei der Lektüre unglaublich viel über die Geschichte und Gegenwart indigener Gemeinschaften gelernt. Es war eine harte, aber notwendige Auseinandersetzung mit einer Realität, die oft verdrängt wird. Oranges Buch zwingt uns, hinzusehen und zuzuhören. Es gibt denjenigen eine Stimme, die zu lange überhört wurden, und fordert uns auf, die Komplexität und Menschlichkeit indigener Erfahrungen anzuerkennen.

    There There ist für mich ein Meisterwerk – eines der Bücher, das man nicht nur liest, sondern das einen verändert. Es hat mich dazu gebracht, über meine eigenen Vorstellungen von Identität, Geschichte und Gemeinschaft nachzudenken. Tommy Orange hat mit diesem Roman etwas Großes geschaffen, das nicht nur unterhält, sondern auch berührt und inspiriert. Ich kann diesen Roman nur jedem wärmstens empfehlen.

    Mein Filmtipp ist der herausragende Film „The new World“ aus dem Jahr 2005 von einem meiner Lieblingsregisseure Terrence Malick:

    Falls ihr Lust auf die anderen Etappen habt, hier die Links zu den bisherigen Stationen:

    Unser nächster Stopp führt uns wieder in entferntere Gefilde, aber ich bin trotzdem gespannt von euch zu hören. Wie ist euer Verhältnis zu den USA? Habt ihr es schon bereist, dort gelebt oder lässt es euch eher kalt und ihr habt wenig Interesse an einem Besuch?

    September Lektüre

    Der September hat sich als Lesemonat auch wirklich nicht lumpen lassen. 9 Bücher und ein Hörbuch – das kann sich sehen lassen und wieder kein wirklicher Ausfall dabei. Wie schön. Lasst uns loslegen, ich möchte euch auf ein paar wirklich schöne Bücher neugierig machen und bin auch sehr gespannt wie euer Lesemonat war. Was hat euch begeistert? Oder enttäuscht? Und ich bin gespannt, welche meiner Vorstellungen ihr bereits kennt oder auf welche ich euch Lust machen kann. Freue mich auf eure Rückmeldungen.

    Artful – Ali Smith auf deutsch unter dem Titel „Wem erzähle ich das“ im Luchterhand Verlag erschienen, übersetzt von Silvia Morawetz

    Ali Smiths Artful hat mich auf eine Weise bewegt, die ich nur schwer in Worte fassen kann. Es ist eines dieser Bücher, die einen sofort in ihren Bann ziehen, obwohl – oder vielleicht gerade weil – es sich jeder klaren Kategorisierung entzieht. Es ist weder ein Roman noch eine einfache Sammlung von Essays, sondern eine seltsame, faszinierende Mischung aus beidem. Die vier Kapitel basieren auf Vorlesungen, die Smith ursprünglich an der Universität Oxford gehalten hat, und doch fühlt sich das Buch eher wie ein poetischer, manchmal sogar traumähnlicher Dialog an – zwischen Leben und Tod, zwischen Kunst und Denken.

    Die Erzählung, die sich durch das Buch zieht, handelt von einer Frau, die nach dem Tod ihrer Geliebten trauert und plötzlich von deren Geist heimgesucht wird. Diese Tote ist nicht nur ein vages Gespenst; sie ist chaotisch, unordentlich, sie spricht in Rätseln, stiehlt Gegenstände und verbreitet einen Geruch, der die Nachbarn beunruhigt. Was mich daran so fasziniert hat, war, wie natürlich und zugleich verstörend Smith diesen Übergang zwischen Leben und Tod beschreibt. Es ist nicht das Drama eines tragischen Verlustes, sondern eher eine leise, seltsam humorvolle Akzeptanz des Unerwarteten.

    “We do treat books surprisingly lightly in contemporary culture. We’d never expect to understand a piece of music on one listen, but we tend to believe we’ve read a book after reading it just once.”

    Gleichzeitig spielt Smith meisterhaft mit den Themen Zeit, Form und Kunst. Manchmal fühlte es sich an, als wäre ich in einem wilden Gedankenspiel gefangen, das von einem intellektuellen Abendessen zu stammen schien, bei dem Figuren wie Virginia Woolf, Freud und Shakespeare zusammenkommen. Die ständige Bewegung zwischen intellektuellem Diskurs und ganz persönlichen, emotionalen Momenten hat mich tief beeindruckt. Es ist, als würde Smith mit Leichtigkeit zwischen den Ebenen von Gedanken und Gefühlen hin- und herspringen und dabei eine emotionale Tiefe erreichen, die mich oft unvorbereitet getroffen hat.

    Recitatif – Toni Morrison erschienen unter dem Titel „Rezitativ“ im Rowohlt Verlag übersetzt von Tanja Handels

    Toni Morrisons „Rezitativ“ ist eine unglaubliche Geschichte, die mich einfach nicht loslässt. Sie erzählt von zwei Mädchen, Twyla und Roberta, die in einem Heim aufwachsen. Eine ist weiß, die andere schwarz – doch Morrison gibt uns nie klar zu erkennen, wer welche Hautfarbe hat. Und genau das macht den Reiz der Geschichte aus: Man glaubt ständig, die Lösung zu wissen, doch dann zweifelt man wieder. Die Vorurteile, die man selbst mitbringt, werden dabei auf subtile Weise herausgefordert.

    Was mich am meisten beeindruckt hat, ist, wie Morrison es schafft, unsicher zu bleiben. Jede Szene scheint Hinweise zu liefern, und doch bleibt man bis zum Ende ratlos. Es geht dabei nicht nur um die Hautfarbe der Protagonistinnen, sondern um viel mehr: um Vorurteile, um Machtstrukturen und um die Art und Weise, wie wir Menschen in Schubladen stecken. Diese Unsicherheit zieht sich durch die gesamte Geschichte und sorgt dafür, dass man sie auch lange nach dem Lesen nicht aus dem Kopf bekommt.

    “Difficult to “move on” from any site of suffering if that suffering goes unacknowledged and undescribed.”

    Interessant fand ich auch das Nachwort von Zadie Smith, das mir nochmal eine neue Perspektive eröffnet hat: Weiße Leserinnen und Leser neigen dazu, die Protagonistin als weiß zu lesen, während schwarze Leserinnen und Leser sie oft als schwarz interpretieren. Es zeigt, wie stark unsere Wahrnehmung von den eigenen Erfahrungen geprägt ist.

    „Rezitativ“ ist viel mehr als nur eine Geschichte über zwei Mädchen – es ist ein intensives Spiel mit Wahrnehmung und Identität. Es zwingt einen dazu, sich selbst und die eigenen Vorurteile zu hinterfragen. Für mich war es eine Lektüre, die nachhallt und die ich sicher noch mehrmals lesen werde. Ganz große Klasse von Toni Morrison!

    So long, see you tomorrow – William Maxwell auf deutsch unter dem Titel „Also dann bis morgen“ im Hanser Verlag erschienen, übersetzt von Benjamin Schwarz

    Maxwells Roman, der nur 134 Seiten umfasst, beginnt mit einer außerehelichen Affäre und einem Mord in einer kleinen Stadt in Illinois zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Der Ich-Erzähler schildert die Ereignisse um den Mord, versucht aber gleichzeitig, sich emotional davon zu distanzieren. Während er sich erinnert, reflektiert er über den Wandel der Welt seit seiner Kindheit.

    Was mir besonders gut gefallen hat, ist Maxwells Fähigkeit, die Charaktere so lebendig und vielschichtig darzustellen. Obwohl die Handlung eher ruhig verläuft, sind es diese fein ausgearbeiteten Figuren, die das Buch tragen. Vor allem die Beziehung des Erzählers zu seinem Freund Cletus, dessen Vater den Mord beging, bleibt im Gedächtnis. Der Erzähler quält sich bis ins hohe Alter mit Schuldgefühlen, weil er Cletus nach dem Mord ignorierte, als sie sich in der Schule begegneten.

    Maxwell erzählt eine leise Geschichte, die tief bewegt, die zeigt, wie stark Kindheitserinnerungen und Schuld das Leben eines Menschen prägen können. Für alle, die langsame, tiefgründige Romane mögen, ist So Long, See You Tomorrow absolut empfehlenswert.

    „I had to find an explanation other than the real one, which was that we were no more immune to misfortune than anybody else, and the idea that kept recurring to me…was that I had inadvertently walked through a door that I shouldn’t have gone through and couldn’t get back to the place I hadn’t meant to leave.“

    William Maxwell (1908–2000) war ein amerikanischer Schriftsteller und über 40 Jahre Lektor beim New Yorker. Neben seinen Romanen schrieb er auch Kurzgeschichten und Kinderbücher, und seine Werke sind bekannt für ihre sensible Darstellung zwischenmenschlicher Beziehungen.

    The Last Supper – Rachel Cusk erschienen im Picador Verlag – bislang nicht auf deutsch übersetzt

    Rachel Cusks „The Last Supper“ ist ein ungewöhnliches, persönliches Reisebuch, das mich auf eine eigenwillige und charmante Reise durch Italien mitgenommen hat. Es ist kein klassischer Reisebericht, in dem schöne Landschaften und sonnige Tage im Vordergrund stehen. Stattdessen widmet sich Cusk der Kunst, dem Alltag und ihren inneren Beobachtungen, und sie tut dies mit einer Sprache, die oft poetisch und metaphorisch ist. Ihre Beschreibungen der Renaissance-Kunstwerke, die sie mit ihrer Familie betrachtet, wirken oft fast spirituell, als ob die Figuren auf den Gemälden ihr eigene Geschichten zuflüstern.

    Es geht in diesem Buch jedoch nicht nur um Kunst und Architektur. Was mich besonders faszinierte, ist, wie Cusk ihre Umgebung und ihre Erlebnisse durch ihre eigene, kritische Linse betrachtet. Sie hinterfragt die touristischen Klischees von Italien, die Vorstellung von der „italienischen Lebensart“ und auch die Simplizität des Essens, die oft romantisiert wird. Wiederholt essen sie und ihre Kinder dasselbe einfache Essen – Tomaten, Schafskäse, grobes Brot – und beginnen, die Vielfalt des Essens in ihrer Heimat als etwas fast Groteskes zu empfinden.

    „I wish I could learn how to read the structure of life as a weathermen read the structure of clouds, where the future must be written, if only you knew what to look for“

    Interessanterweise wird in The Last Supper Cusks Ehemann nicht ein einziges Mal erwähnt, obwohl ihre beiden Töchter eine wichtige Rolle in der Erzählung spielen. Sie sind präsent, sie reisen mit, sie reagieren auf die fremde Umgebung – aber der Mann, mit dem sie in Italien unterwegs ist, bleibt unsichtbar. Es wirkt fast so, als wäre er in ihrer Wahrnehmung bereits verblasst, obwohl das Buch während der Ehe geschrieben wurde. Nur wenige Jahre nach der Veröffentlichung ließen sich die beiden tatsächlich scheiden. Die Tatsache, dass er nicht auftaucht, verleiht der Geschichte eine subtile Spannung und lässt Raum für Spekulationen.

    Rachel Cusk wurde 1967 in Kanada geboren, zog aber im Alter von acht Jahren mit ihrer Familie nach Großbritannien. Sie studierte Englische Literatur in Oxford und veröffentlichte 1993 ihren ersten Roman Saving Agnes, für den sie den Whitbread First Novel Award gewann.

    Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull – Thomas Mann erschienen im S. Fischer Verlag

    Thomas Manns „Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“ hat mich total überrascht. Eigentlich hatte ich erwartet, dass mich der Stil überfordern könnte, oder ich wie beim Zauberberg kurz vor Schluß einfach nicht mehr mag, aber genau das Gegenteil war der Fall: Die Sprache ist ein reiner Genuss! Mann schreibt mit einer Eleganz und Leichtigkeit, die mich sofort in die Geschichte hineingezogen hat.

    Manns Sprache ist ein Hochgenuss – elegant, ironisch und dabei erstaunlich leicht zugänglich. Schon nach wenigen Seiten war ich ganz im Bann von Felix Krull, einem Hochstapler mit so viel Charme und Witz, dass man ihm einfach alles verzeihen will. Er stiehlt sich durch die Gesellschaft mit einer Leichtigkeit, die mich fasziniert hat, und gleichzeitig ist er so sympathisch, dass ich mich fast ertappt fühle, wie ich ihm innerlich zujubelte.

    Felix Krull selbst ist eine faszinierende Figur. Er ist ein Hochstapler, ja, aber einer mit so viel Charme und einem goldenen Herz, dass man ihm seine Täuschungen fast schon verzeiht. Die Art, wie er sich durch die Gesellschaft bewegt, immer mit einem Augenzwinkern, ist so unterhaltsam, dass ich mir fast wünsche, ihm mal im echten Leben zu begegnen – idealerweise bei einem Glas Champagner. Trotz seiner Betrügereien bleibt er durchweg sympathisch, was vor allem an der Art liegt, wie Mann ihn darstellt: als jemanden, der die Regeln der Gesellschaft geschickt ausnutzt, ohne dabei wirklich boshaft zu sein.

    „Es war der Gedanke der Vertauschbarkeit. Den Anzug, die Aufmachung gewechselt, hätten sehr vielfach die Bedienenden ebensogut Herrschaft sein und hätte so mancher von denen, welche, die Zigarre im Mundwinkel, in den tiefen Korbstühlen sich rekelten – den Kellner abgeben können. Es war der reine Zufall, daß es sich umgekehrt verhielt – der Zufall des Reichtums; denn eine Aristokratie des Geldes ist eine vertauschbare Zufallsaristokratie.“

    Interessant ist auch, dass Felix Krull schon früh in Manns Leben eine Rolle spielte. Bereits 1911 tauchte die Figur erstmals in einer Erzählung auf, und Mann kehrte später zu ihr zurück, als er sich mehr dem Humor und der Leichtigkeit zuwandte. Im Gegensatz zu vielen anderen seiner Werke, die oft von existenziellen Themen durchzogen sind, ist „Felix Krull“ ein eher heiteres und spielerisches Werk – fast so, als hätte Mann hier eine Pause vom Ernst des Lebens machen wollen. Ich kann im Übrigen auch die Verfilmung aus dem Jahr 1957 von Kurt Hoffmann mit Horst Buchholz in der Hauptrolle empfehlen – hat mir sehr gefallen.

    Unbedingte Empfehlung – jetzt hab ich richtig Lust auf die Buddenbrocks bekommen.

    Wie sieht es bei euch aus? Thomas Mann – yeahhh oder mehhh?

    Brian – Jeremy Cooper erschienen bei Fitzcarraldo Editions, bislang nicht auf deutsch übersetzt

    Ich hatte eigentlich nur vor, mal kurz in Jeremy Coopers Roman Brian reinzulesen, bin aber direkt hängengeblieben. Das Buch hat mich einfach reingezogen. Der Fitzcarraldo Verlag ist ein faszinierender Verlag aus London mit interessanten Romanen oft in Übersetzung bei dem ich oft fündig werde.

    Cooper erzählt die Geschichte von Brian, einem einsamen Mann, der sein Leben um seine täglichen Routinen herum gebaut hat – ein Job im Camden Council, Mittagessen im Café Il Castelletto und zurück in seine kleine Wohnung. Alles läuft in geordneten Bahnen, bis Brian eines Tages das BFI (British Film Institute) entdeckt und das Kino zu einem festen Teil seines Lebens wird. Ab da sieht er sich fast jeden Abend Filme an, von Ozu über Fellini bis zu Varda, und findet so endlich eine Gemeinschaft, eine Gruppe von gleichgesinnten Filmfans. Es ist eine so schöne Idee, wie das Kino für ihn zu einem Zufluchtsort wird, wo er Freundschaft und Zugehörigkeit erlebt – etwas, das ihm sein bisheriges Leben nicht bieten konnte.

    Die Art, wie Cooper die innere Welt von Brian beschreibt, ist so nah und gleichzeitig distanziert, dass man den Charakter förmlich vor sich sieht. Und ja, ich ertappe mich jetzt schon dabei, dass ich mich im Kino umsehe, ob Brian vielleicht irgendwo sitzt. Es ist ein Charakter, der einem einfach nicht aus dem Kopf geht.

    „All his life, everywhere he went, Brian had shunned attention, the scars unhealed from being singled out at school in Kent as different and blamed for being so, by teachers, by other boys and by his mother. To ease his hurt he had made himself an expert at forgetting, a skill now matured, able most of the time to erase unwelcome thoughts and happenings. It did mean that he needed to hold himself on constant altert, ready to combat the threat of being taken by surprise, a state-of-being he had managed to achieve without the tension driving him crazy. There had been costs, by now discounted and removed from memory.“

    Ich finde, das Buch macht auf eine sanfte, unaufgeregte Weise klar, wie stark Kunst – und in diesem Fall eben Filme – unser Leben bereichern und uns zu uns selbst führen kann. Brian erlebt das durch seine Filmleidenschaft, und ich denke, das ist etwas, womit sich viele identifizieren können, die im Kino einen besonderen Ort gefunden haben.

    Wer Filme liebt und sich für das Zwischenmenschliche interessiert, sollte Brian unbedingt lesen. Es ist ein leises, aber nachhallendes Buch, das riesige Lust aufs Kino macht und meine Filmliste ist um etliches länger geworden. Große Empfehlung!

    Wandering Souls – Cecile Pin erschienen im Atlantik Verlag, übersetzt von Maria Hummitzsch

    Cecile Pins Debütroman Wandering Souls ist ein bewegender Roman, der die vietnamesische Flüchtlingserfahrung und die psychischen Belastungen der Assimilation einfängt. Es war mir in der Buchhandlung ins Auge gefallen, habe kurz reingelesen und konnte es gar nicht mehr aus der Hand legen. Pin nimmt uns mit auf die Reise der 16-jährigen Anh und ihrer jüngeren Brüder Minh und Thanh, die sich nach dem Vietnamkrieg auf die gefährliche Flucht nach Hongkong begeben. Die Familie ist gezwungen, auf zwei verschiedenen Booten zu reisen, und nur die drei älteren Geschwister erreichen ihr Ziel. Ihre Eltern und vier weitere Geschwister kommen auf tragische Weise ums Leben.

    „Die Vietnamesen haben diese Tradition“, sagte er. „Sie glauben, dass man die Toten angemessen in ihrem Heimatort beerdigen muss. Tut man das nicht, sind Ihre Seelen dazu verdammt, als Geister auf der Erde herumzuirren.“

    Die Geschichte setzt drei Jahre nach dem Abzug der US-Truppen ein, als Vietnam in politischem und wirtschaftlichem Chaos versinkt. Anh, Minh und Thanh landen nach vielen Stationen – darunter Flüchtlingslager und Ablehnung durch die US-Einwanderungsbehörde – in London. Dort kämpfen sie in den 1980er Jahren mit den Herausforderungen des Lebens in einer neuen, oft feindseligen Umgebung. Besonders Anh trägt als älteste Schwester die Last der Verantwortung, während Minh in Schwierigkeiten gerät und Thanh versucht, sich in der neuen Kultur zurechtzufinden.

    Der Roman schafft es, sowohl die emotionalen Wunden der Flucht als auch die Herausforderungen der Assimilation in einer neuen Gesellschaft eindrucksvoll darzustellen. Dabei setzt Pin nicht nur auf emotionale Tiefe, sondern auch auf historische Genauigkeit. Man merkt wie sehr sie für diesen Roman recherchiert hat. Es gibt Momente großen Schmerzes, schrecklicher Grausamkeiten und der Verzweiflung, aber auch Zusammenhalt, Liebe und Hoffnung.

    Und was hat das mit mir zu tun? – Sacha Batthyany erschienen im Kiepenheuer & Witsch Verlag

    Der Autor begibt sich auf eine tiefgründige und bewegende Spurensuche, die mir noch lange nach dem Lesen im Gedächtnis bleiben wird. Das Buch erzählt die erschütternde Geschichte eines der schlimmsten Kriegsverbrechen in Österreich – das Massaker von Rechnitz – und verbindet diese düstere Vergangenheit mit Batthyanys eigener Familiengeschichte.

    Was mich an diesem Buch besonders berührt hat, ist die Ehrlichkeit, mit der Batthyany die Geschehnisse aufarbeitet. Er scheut sich nicht, sich selbst und seine Familie kritisch zu hinterfragen. Auf eindringliche Weise erzählt er, wie er erst als Erwachsener von dem Massaker erfuhr und wie er sich daraufhin entschloss, der Wahrheit über seine eigene Familie auf den Grund zu gehen. Diese Recherche zieht sich über sieben Jahre und führt ihn an verschiedene Orte, von Ungarn über Sibirien bis nach Buenos Aires. Dabei werden Fragen aufgeworfen, die oft unbeantwortet bleiben – das macht die Geschichte umso eindringlicher und verstörender.

    Besonders die Darstellung der Gräfin Margit Thyssen-Batthyány, Batthyanys Großtante, hat mich zum Nachdenken angeregt. Ihre Rolle in der Nacht des Massakers bleibt unklar, doch der Autor macht deutlich, dass sie eine Mitwisserin war, die mit den Tätern feierte. Diese Ambivalenz zwischen Festlichkeit und Grauen ist ein starkes Motiv des Buches. Es ist erschreckend zu sehen, wie das Schweigen über die Vergangenheit selbst in der eigenen Familie weitergegeben wurde, und Batthyanys Entschlossenheit, das zu durchbrechen, ist inspirierend.

    „Die Schweiz war für sie immer nur ein Spieleland, das Leben kein echtes, jedenfalls keines mit Höhen und Tiefen, mit Glück und Leid. Denn wer nicht mindestens ein paar Verwandte im Krieg verloren, wer nie miterlebt hatte, wie eine fremde Besatzungsmacht, seien es Deutsche oder Russen, alles umstürzte, der durfte nicht von sich behaupten, wirklich etwas vom Leben zu verstehen.“

    Sacha Batthyany wurde 1972 in Zürich geboren und ist Journalist und Autor. Heute arbeitet er als Korrespondent in Washington. Seine journalistische Laufbahn umfasst eine Vielzahl von Themen, wobei er oft gesellschaftliche und historische Fragestellungen aufgreift. „Und was hat das mit mir zu tun?“ ist sein Debüt in der literarischen Sachbuchszene, und es zeigt eindrucksvoll, wie persönliche Geschichte und historische Ereignisse miteinander verwoben sind.

    „Und was hat das mit mir zu tun?“ ist nicht nur ein Geschichtsbuch, sondern auch eine tiefgreifende persönliche Auseinandersetzung mit Schuld, Verantwortung und dem Umgang mit der Vergangenheit. Batthyanys ehrlicher und verletzlicher Schreibstil zieht einen in seinen Bann. Es ist ein Buch, das man gelesen haben sollte, um die schmerzhaften Wahrheiten über die eigene Geschichte und die Geschichte der anderen nicht zu vergessen.

    Lessons – Ian McEwan erschienen unter dem Titel „Lektionen“ im Diogenes Verlag, übersetzt von Bernhard Robben

    Die Geschichte um Roland Baines, dessen Leben sich durch Zufälle und historische Ereignisse immer wieder in unerwartete Bahnen lenkt hat mich sehr begeistert. Die Art, wie McEwan über das Leben, die Liebe und die Last der Vergangenheit schreibt, ist mir stellenweise richtig nah gegangen – ich hätte so viele Sätze am liebsten direkt unterstrichen! Die philosophischen Gedanken und feinen Beobachtungen über menschliche Beziehungen und politische Umbrüche wirken nie aufgesetzt, sondern weben sich organisch in Rolands Lebensweg ein. Ich hatte das Gefühl, mit ihm gemeinsam durch die Jahrzehnte zu reisen und die Welt aus seiner Perspektive zu erleben.

    Besonders gut gefallen hat mir McEwans Fähigkeit, alltägliche Momente so zu beschreiben, dass sie plötzlich eine ganz neue Bedeutung erhalten. Es sind oft die kleinen, beiläufigen Szenen, die einem noch lange im Kopf bleiben. Gleichzeitig stellt das Buch aber auch große Fragen: Wie beeinflussen uns die großen politischen und gesellschaftlichen Umbrüche unserer Zeit? Wie sehr bestimmt die Vergangenheit unser Handeln in der Gegenwart? Ich habe das Gefühl, dass ich das Buch irgendwann unbedingt noch einmal lesen muss, weil man sicher viele Details erst beim zweiten Mal so richtig erfasst.

    “His accidental fortune was beyond calculation, to have been born in 1948 in placid Hampshire, not Ukraine or Poland in 1928, not to have been dragged from the synagogue steps in 1941 and brought here. His white-tiled cell – a piano lesson, a premature love affair, a missed education, a missing wife – was by comparison a luxury suite. If his life so far was a failure, as he often thought, it was in the face of history’s largesse.”

    Die Stimme des Sprechers hat perfekt zur Stimmung gepasst und die melancholischen, aber auch hoffnungsvollen Töne des Romans wunderbar transportiert. Insgesamt ist „Lektionen“ für mich ein nachdenkliches und intensives Werk, das lange nachhallt.

    Ian McEwan mausert sich immer mehr zu einem meiner Lieblings-Autoren zu dessen Werken man fast blind greifen kann und man einfach sicher sein kann, nicht nur gut unterhalten zu werden, eine Menge zu lernen sondern die einem auch noch lange im Gedächtnis bleiben und mit deren Fragestellungen man sich noch eine ganze Weile beschäftigen wird.