Wer heute durch Schwabing geht, ahnt kaum, dass sich hier um 1900 Salons voller Debatten, Gedichte und Streitgespräche fanden. Einer der berühmtesten Treffpunkte lag in der Ludwigstraße, gleich beim Siegestor. Dort empfing Carry Brachvogel – Schriftstellerin, Netzwerkerin, Kämpferin für die Rechte von Frauen – die geistige Elite ihrer Zeit.
Carry Brachvogel, geboren 1864, war Schriftstellerin, Salonnière und Mitglied im „Verein für Fraueninteressen“, den Ika Freudenberg gegründet hatte – eine Organisation der bürgerlichen Frauenbewegung, die sich bewusst von radikaleren Positionen etwa von Anita Augspurg distanzierte, aber dennoch wichtige gesellschaftliche Veränderungen anstieß. 1911 hielt Brachvogel dort ihren Vortrag „Hebbel und die moderne Frau“, in dem sie das Frauenbild der deutschen Klassik dem neuen Typus der selbstbestimmten Frau gegenüberstellte; 1912 erschien der Text im Druck. Ein Jahr später wurde sie in den Vorstand gewählt, setzte sich für bessere Arbeitsbedingungen von Bühnenschauspielerinnen ein und gründete im Verein eine Kommission für Bühnenangelegenheiten.
Ihr Schwabinger Salon in den 1920er Jahren war ein Zentrum des kulturellen Lebens der Stadt. Ernst von Wolzogen kam, Max Haushofer Jr., Oskar Mysing, Hugo Steinitzer, Rainer Maria Rilke, Lou Andreas-Salomé – Namen, die heute wie aus einem Literaturlexikon klingen, damals aber einfach ihre Gäste waren. Brachvogel kultivierte gezielt ein Image, das ihr Respekt als Schriftstellerin sichern sollte: kühl, unnahbar, scharfzüngig. Sie wusste, wie schnell Frauen in der Literatur in die Schublade „nett, aber nicht ernst zu nehmen“ gesteckt wurden.
Auch als Netzwerkerin unter Autorinnen war sie prägend. 1913 gründete sie mit Emma Haushofer-Merk den Münchner Schriftstellerinnen-Verein, um gegen „gewissenlose Verleger“ und für angemessene Bezahlung von Frauen zu kämpfen. Innerhalb eines Jahres zählte der Verein schon 70 Mitglieder, darunter Ricarda Huch, Annette Kolb, Frieda Port. Ab 1925 stand Brachvogel dem Verein allein vor, richtete in den wirtschaftlich schwierigen 1920er Jahren einen Hilfsfonds für bedürftige Mitglieder ein und lehnte immer wieder Anfragen ab, für andere Verbände kostenlos Texte zu liefern – Solidarität hieß für sie, dass Frauenarbeit nicht entwertet wird.
Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 änderte sich alles. Ihre jüdische Herkunft rückte ins Zentrum, und in vorauseilendem Gehorsam setzte der Schriftstellerinnen-Verein sie ohne ihr Wissen vor die Tür. Wenige Monate später beschloss die Hauptversammlung die Auflösung. Sie erhielt Berufsverbot, musste ihren Salon schließen. Ihr Bruder Siegmund Hellmann verlor ebenfalls seine Arbeit. Die beiden zogen sich in die Wohnung in der Herzogstraße 55 zurück. Trotz Verbots veröffentlichte Brachvogel noch einzelne Essays, erwog zeitweise ein Exil, doch blieb. Am 21. Juli 1942 holte die Gestapo sie und ihren Bruder ab, am nächsten Tag wurden sie nach Theresienstadt deportiert. Carry Brachvogel starb dort am 20. November 1942 im Alter von 78 Jahren, Siegmund am 7. Dezember.
Ihr Schicksal ist tragisch und eine Mahnung. Das viel beschworene „Nie wieder“ bedeutet nichts, wenn es nicht im Heute gelebt wird. Hätte man sich Anfang der 1920er Jahre entschlossen gegen den aufkeimenden Faschismus gestellt, vielleicht hätte er gebremst werden können. Genau wie heute wo (zu viele) Konservative lieber mit den Faschisten paktieren – aus Angst vor den „bösen woken linksgrün Versifften“ unserer Zeit. Der Gedanke ist erschreckend vertraut: Lieber mit denen paktieren, die menschenfeindlich sind, als das eigene Weltbild in Frage zu stellen. Hauptsache, man kann „noch alles sagen“.
Umso wichtiger sind heute die Zeichen der Erinnerung. Seit 1992 erinnert der „Carry-Brachvogel-Salon“ in der Seidlvilla an die einst so berühmte Münchnerin, 2012 wurde in Bogenhausen eine Straße nach ihr benannt. Und im Juli 2024 wurde an der Herzogstraße 55 eine Gedenktafel angebracht – ein fester Ort im Stadtbild, an dem ihr Name nicht nur in Archiven weiterlebt.
Vieles von Carry Brachvogels Werk ist heute nur antiquarisch greifbar – umso wichtiger die in den letzten Jahren von der Edition Monacensia in Zusammenarbeit mit dem Allitera Verlag verantworteten Neuausgaben. Aktuell lieferbar sind vier zentrale Titel: ihr Debütroman Alltagsmenschen (1895), der satirische München-um-1900-Roman Der Kampf um den Mann (1910), der den Ersten Weltkrieg entzaubernden Roman Schwertzauber (1917) und ihre Reportage Im Weiß-Blauen Land (1923). Diese Ausgaben, jeweils editorisch betreut (u. a. mit Nachworten von Ingvild Richardsen), holen Brachvogels Stimme zurück ins heutige Lesen – und machen sichtbar, wie modern ihre gesellschaftliche Beobachtung war. Andere ihrer einst vielgelesene Bücher wie die historischen Porträts Die Marquise de Pompadour (1905) oder Katharina II. von Russland (1906) sind derzeit fast nur als Print-on-Demand- oder Antiquariatstitel zu haben, ihre essayistische Schriften wie Eva in der Politik (1919/1920) sind dagegen noch schwerer aufzutreiben, wenn dann nur antiquarisch. Wer also heute mit Brachvogel beginnen will, findet im Allitera-Programm den besten Einstieg – und zugleich den verlässlichsten Weg, ihr Werk wieder im öffentlichen Bewusstsein zu verankern
Endlich habe ich nun auch meinen ersten Roman von Carry Brachvogel gelesen: Alltagsmenschen, erschienen 1895. Elisabeth, verheiratet mit einem gut situierten Mann in München, lebt ein Leben voller Leere und Langeweile. Auch die Geburt eines Kindes ändert nichts an ihrem Drang nach Aufbruch, sie beginnt eine Affäre mit einem Legationsrat. Mit psychologischem Feingespür, großer Scharfsichtigkeit und poetischem Können porträtiert Brachvogel nicht nur eine junge Frau, sondern zeichnet ein exaktes Sittenbild des Münchens um 1900. Was mich besonders beeindruckt hat, sind die präzisen Einblicke in den Alltag eines wohlsituierten Paares jener Zeit – der Tagesrhythmus, die Konversationen, die unterschwelligen Machtspiele. Man spürt den scharfen Blick und die sprachliche Eleganz einer Frau, die mitten in den Debatten ihrer Epoche stand.
Dabei war Elisabeth gescheidt, hatte sich von jeher gemüht, ihre etwas oberflächliche Institutsbildung aus eigenen Kräften zu erweitern und zu vertiefen, und gerade deshalb erschien ihr dies alles, das den Freundinnen den Lebenszweck bildette, doppelt nichtig und leer, ungefähr nur wie wertlose Zwischentaktsmusik, die sie über das Verzögern der eigentlichen Handlung wegtrösten sollte. Zuweilen befiel sie ein Grauen, wenn sie überlegte, wie viele Tage jetzt schon so dahingeglitten waren, an denen sie nichts geleistet hatte, nichts für sich, nichts für andere. „Lilienaufdemfelddasein“ bedrückte sie schwer – sie wäre gerne ein Mann gewesen, der nutzbringend lebend und arbeiten, all seine Kräfte freudig und befriedigend bethätigen konnte.
Carry Brachvogel ist eine Stimme, die bleibt – trotz aller Versuche, sie zum Schweigen zu bringen. Heute liegt es an uns, sie wieder hörbar zu machen. Lest (mehr) Carry Brachvogel!
Eine weitere – sehr sehr schöne Besprechung findet ihr hier bei Anna vom Blog Buchpost, die schon 2014 auf Carry Brachvogel aufmerksam gemacht hat!


