November Lektüre

Im November war mein Lesemonat besonders produktiv und abwechslungsreichAus irgendeinem Grund habe ich vergessen sowohl Sloan Wilsons „The Man in the Gray Flannel Suit“ als auch Jhumpa Lahiris „Roman Stories“ mit aufs Foto zu nehmen. Sowas.
Es war ein Monat mit zwei großen Highlights, ohne echte Enttäuschungen und vielen schönen Momenten, die ich hier mit euch teilen möchte.

Wie gewohnt in alphabetischer Reihenfolge:

Isabel Allende – Das Geisterhaus erschienen im Suhrkamp Verlag, übersetzt von Annelise Botond

Hierzu werde ich hier gar nicht viel schreiben, denn Chile war ja einer der Stops im November und ihr könnt hier alles über das Buch und über das Land nachlesen.

Diane Cook – The Wilderness auf deutsch unter dem Titel „Die neue Wildnis“ im Heyne Verlag erschienen, übersetzt von Astrid Finke

Diane Cook entführt uns in ihrem Roman der 2020 den Booker Prize gewonnen hat in eine erschreckende Dystopie. Die Welt, wie wir sie kennen, liegt in Trümmern, und der „Wilderness State“ ist die letzte Zuflucht für Mensch und Natur. Im Zentrum steht Bea, die sich dem Experiment anschließt, um ihrer Tochter Agnes ein Überleben fern der verpesteten Stadt zu ermöglichen.

Ich war fasziniert von der intensiven Darstellung dieser rauen Welt, die Cook mit präzisen, fast poetischen Beschreibungen zum Leben erweckt. Die Beziehung zwischen Bea und Agnes, geprägt von Konflikten und dem Versuch, Nähe in einer gnadenlosen Umgebung zu finden, bildet das emotionale Herz des Romans. Besonders beeindruckend fand ich, wie die unterschiedlichen Perspektiven der beiden Generationen herausgearbeitet werden – Bea, die noch Erinnerungen an die Stadt hat, und Agnes, die nur die Wildnis kennt.

She hated her mother’s fierce love. Because fierce love never lasted. Fierce love now meant that later, there would be no love, or at least that’s what it would feel like. Agnes wanted a mild mother, one who seemed to love her exactly the same every day. She thought, Mild mothers don’t run away.

Doch obwohl mich die Geschichte in vielerlei Hinsicht gefesselt hat, hätte ich mir an einigen Stellen mehr Hoffnung gewünscht. Die düstere Konsequenz, mit der die Figuren oft in ihrer Isolation verharren und die Menschheit insgesamt mit einem schonungslosen Blick betrachtet wird, verdüsterte mir ganz schön das Gemüt. Hoffnungsschimmer, die zeigen, wie Kooperation und Mitgefühl in einer so feindlichen Welt gedeihen könnten, hätten das Bild abgerundet.

Trotzdem ist The New Wilderness ein starker, nachdenklich stimmender Roman, der mich noch immer beschäftig. Cook stellt unbequeme Fragen: Was bleibt von unserer Menschlichkeit, wenn die Welt um uns herum zerbricht? Und wie können wir uns – oder überhaupt eine Zukunft – neu erfinden? Dieses Buch ist keine leichte Kost, aber eine Reise, die sich lohnt.
Traut ihr euch?

Louise Glück – Wilde Iris erschienen im Luchterhand Verlag, übersetzt von Ulrike Draesner

Momentan brauchen wir glaube ich unbedingt zwei Dinge: Glück und Poetry. Daher habe ich heute eine Portion von beidem für euch – verbunden mit einer großen Empfehlung für Louise Glücks zweisprachigen Gedichtband „Die Wilde Iris“, großartig übersetzt von Ulrike Draesner. In dieser einzigartigen Sammlung lässt Glück die Natur selbst sprechen: Pflanzen und Blumen werden zu Stimmen, die von Vergänglichkeit, Trauer und Hoffnung erzählen. Ihre Sprache ist klar und meditativ, voller leiser Kraft und Nachdenklichkeit, die tief in das Wesen der Existenz blicken lässt. Die Wilde Iris ist nicht nur ein poetisches Werk, es ist fast schon ein Gespräch mit der Natur, das uns die oft übersehene Weisheit des Einfachen und die Schönheit des Neuanfangs zeigt. Hier findet man Momente der Stille, der Reflexion und garantiert ein kleines Glück.

I don’t need your praise
to survive. I was here first,
before you were here, before
you ever planted a garden.
And I’ll be here when only the sun and moon
are left, and the sea, and the wide field.

I will constitute the field.

Mairi Hedderwick – An Eye on the Hebrides: An Illustrated Journey erschienen im Birlinn Verlag, bislang nicht auf deutsch erschienen

Ich habe diesen bezaubernden Bildband regelrecht verschlungen. Mairi Hedderwick nimmt uns mit auf eine Reise durch die Hebriden, die gleichzeitig eine Hommage an diese rauen, atemberaubenden Inseln ist. Besonders berührt haben mich ihre lebendigen Aquarelle und die witzigen Beobachtungen des Alltags – ein ästhetisches und literarisches Erlebnis gleichermaßen.

Da ich selbst einige der beschriebenen Inseln besucht habe, fühlte ich mich sofort zurückversetzt: Der salzige Wind, die Farben der Landschaft, die Einsamkeit der Strände – alles wurde durch Hedderwicks Skizzen und Beschreibungen lebendig. Ihr Buch macht Lust, die Taschen zu packen und direkt aufzubrechen. Vielleicht sogar auszuwandern? Wäre da nicht die allgegenwärtige Plage der Midges – könnten wir die nicht nach Texas exportieren?

„An Eye on the Hebrides“ ist mehr als ein Reisetagebuch; es ist ein Liebesbrief an die Hebriden und ein Weckruf, den Zauber des Einfachen zu entdecken.

Jhumpa Lahiri – Roman Stories auf deutsch unter dem Titel „Das Wiedersehen: Römische Geschichten“ im Rowohlt Verlag erschienen, übersetzt von Julika Brandestini

Diese Kurgeschichtensammlung haben wir bereits im Oktober im Bookclub gelesen, aber ich hatte sie tatsächlich bislang vergessen zu besprechen, hol ich also einfach im November nach.

Jhumpa Lahiris Kurzgeschichtensammlung Roman Stories hat mich mit ihrer atmosphärischen Dichte und sprachlichen Eleganz durchaus beeindruckt. Die neun Geschichten sind ein kaleidoskopischer Blick auf Rom und seine Bewohner – Einheimische wie Zugezogene –, die alle auf die eine oder andere Weise mit Entfremdung kämpfen. Lahiri fängt die Spannung zwischen Schönheit und Zerfall der Stadt mit meisterhaften Details ein, und ihre Figuren bleiben lange im Gedächtnis.

Einige Geschichtenhaben mich besonders berührt. Sie erforschen Themen wie Verlust, Schuld und die Suche nach einem Ort, den man Heimat nennen kann. Lahiris Fähigkeit, das Unsagbare in präzise und bewegende Worte zu fassen, ist hier klar zu spüren. Die Übersetzung aus dem Italienischen, teils von Lahiri selbst, ist dabei durchweg geschmeidig und elegant.

Certain stories are hard to bear, as are certain things we’ve lived or observed or fumbled or explored with great care. They transmit an energy that extends beyond the disposable day-to-day. Our deepest memories are like infinite roots reflected in the brook, a simulacrum without end. And yet every story, like every life, lasts only so long.

Trotzdem konnte die Sammlung für mich nicht an die emotionale Wucht von Lahiris Roman „The Lowlands“ heranreichen, den wir im Sommer im Bookclub gelesen haben. Roman Stories ist zurückhaltender, fragmentierter – mehr Skizze als Gemälde. Die Geschichten sind oft so knapp, dass ich mich nach mehr Tiefe und Kontext sehnte. Auch die durchgehende Melancholie, obwohl eindringlich, wirkte mitunter etwas überwältigend.

John Steinbeck – Von Mäusen und Menschen im dtv Verlag erschienen, übersetzt von Elisabeth Rotten

Ich war von John Steinbecks „Von Mäusen und Menschen“ sehr beeindruckt. In nur wenigen Seiten entfaltet sich eine intensive, oft schmerzvolle Geschichte über Freundschaft, Träume und die Härten des Lebens. Die Novelle spielt zur Zeit der Great Depression in Kalifornien und folgt den beiden Wanderarbeitern George und Lennie, die sich – trotz aller Widrigkeiten – gegenseitig unterstützen. George, der clevere und umsorgende Beschützer, und Lennie, dessen kindliche Naivität und enorme Kraft ihn in Schwierigkeiten bringt, träumen gemeinsam von einem kleinen Stück Land, das ihnen Sicherheit und Freiheit bieten soll. Doch die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bedingungen, gepaart mit Lennies impulsivem Verhalten, führen unaufhaltsam zu einem tragischen Ende.

Steinbeck, selbst in Kalifornien geboren, erlebte die sozialen und wirtschaftlichen Kämpfe der einfachen Arbeiter hautnah, was seine Werke, wie auch „Of Mice and Men“, so glaubwürdig und mitfühlend macht. Er gehört zu den großen amerikanischen Schriftstellern des 20. Jahrhunderts und widmete sich immer wieder dem Schicksal der Arbeiterklasse.

Maybe ever’body in the whole damn world is scared of each other.

Obwohl ich die Geschichte mochte und sie mich emotional tief berührt hat, ist mir Steinbecks „Cannery Row“ dennoch etwas lieber. „Von Mäusen und Menschen“ endet mit einer solchen Tragik, die mich noch lange beschäftigte. „Cannery Row“ dagegen, ebenfalls tiefgründig, bietet doch einen wärmeren, versöhnlicheren Ausklang. Für mich zeigt Steinbeck hier nicht nur sein Talent, das harte Leben zu schildern, sondern auch, wie er Momente von Menschlichkeit und Gemeinschaft aufleben lassen kann.

Dennoch: Es ist ein Meisterwerk der amerikanischen Literatur, das ich unbedingt empfehlen würde. Steinbeck schafft es, in kurzer Form eine bleibende, intensive Geschichte zu erzählen, die definitiv lange nachwirkt.

Olga Tokarczuk – Empusion erschienen im Kampa Verlag, übersetzt von Lisa Palmes und Lothar Quinkenstein

Das war der zweite Stopp diesen Monat bei der literarischen Weltreise und ich verweise für die Besprechung auf den Beitrag hier.

Sloan Wilson – The Man in the Gray Flannel Suit auf deutsch unter dem Titel „Der Mann im Grauen Flanell“ im Dumont Verlag erschienen, übersetzt von Eike Schönfeld

Sloan Wilsons „The Man in the Gray Flannel Suit“ (1955) ist ein zeitloses Porträt der amerikanischen Nachkriegs-gesellschaft und ein Klassiker, der heute genauso relevant ist wie vor fast 70 Jahren. Mit scharfsinniger Beobachtung und tiefem Mitgefühl schildert Wilson das Leben von Tom Rath, einem Kriegsveteranen und Familienvater, der sich in den Untiefen des amerikanischen Vorstadtlebens und der Businesswelt der 1950er Jahre zurechtfinden muss.

Tom Rath steht für eine Generation, die nach dem Zweiten Weltkrieg zwischen ihren Idealen und den Zwängen des modernen Lebens zerrieben wurde. Gefangen in einer Welt, die auf Erfolg, Status und Materialismus ausgerichtet ist, ringt er mit den großen Fragen: Was bedeutet es, ein gutes Leben zu führen? Wie kann man Integrität und Authentizität bewahren? Tom und seine Frau Betsy versuchen, ihre Ehe und ihre Werte zu wahren, während sie sich den Herausforderungen stellen, die der Aufstieg in der gesellschaftlichen Hierarchie mit sich bringt.

Eine der stärksten Nebenfiguren ist der Judge Bernstein. Er verkörpert eine Tugendhaftigkeit und moralische Klarheit, die in scharfem Kontrast zu der zynischen Geschäftswelt steht, in der sich Tom bewegt. Seine Weisheit machen ihn zu einer Art moralischem Kompass des Romans und ist damit ähnlich wie Betsy oder Tom sind Menschen voller Aufrichtigkeit und Mitgefühl, die sich die „MAGA“-Idioten zum Vorbild nehmen sollten, wenn sie davon quaken Amerika wieder great machen zu wollen. Dann verhaltet euch halt so. Das sind die Qualitäten, die heute überall dringend gebraucht werden.

Wilson zeigt, dass wahre Größe nicht im Streben nach Reichtum oder Status liegt, sondern im Streben nach einem Leben, das von Liebe, Pflichtbewusstsein und persönlichen Prinzipien geprägt ist. Es ist ein Plädoyer für die Rückbesinnung auf Werte, die jenseits von Egoismus und Gier liegen – eine Botschaft, die sich wunderbar als Antwort auf die Oberflächlichkeit und den Zynismus unserer Zeit eignet.

1956 wurde das Buch mit Gregory Peck und Jennifer Jones in den Hauptrollen verfilmt. Der Film fängt die Essenz des Romans gut ein. Das Buch erinnert stark an Mad Men und ich frage mich, ob die Serie sich an den Roman angelehnt hat. Auf jeden Fall wird ständig und dauernd getrunken. Martinis werden geshaked, Cocktails zu allen Tages- und Nachtzeiten getrunken. Das waren echt andere Zeiten.

How smoothly one becomes, not a cheat, exactly, not really a liar, just a man who’ll say anything for pay.

Sloan Wilson (1920–2003) war ein amerikanischer Schriftsteller, dessen Werke oft den Konflikt zwischen persönlicher Integrität und gesellschaftlichen Erwartungen thematisierten. Neben „The Man in the Gray Flannel Suit“ schrieb er zahlreiche weitere Bücher, darunter A Summer Place, ein ebenfalls berühmter Roman über gesellschaftlichen Wandel.

Ich würde mich sehr freuen, wenn der Roman wieder entdeckt würde. Seine große Positivität – geprägt von Hoffnung, Verantwortung und wichtigen Werten – macht ihn zu einer inspirierenden und zeitlosen Lektüre. Im Bookclub waren wir durch die Bank begeistert. Große Empfehlung!

Geschafft – bin ganz schön rumgekommen im November. Ich war in Chile, den USA, auf den Hebriden-Inseln, in Rom und in Polen. Nicht schlecht, oder?
Welche der vorgestellten Bücher kennt ihr und wie fandet ihr sie und was waren eure Highlights im November? Freue mich über eure Kommentare.

Sonnige Juni Lektüre

Der Juni war literarisch gesehen ein ausgezeichneter Monat. Viele spannende, interessante und bereichernde Bücher haben mich begleitet. Anfang Juni waren wir noch in England unterwegs, und die Reiseberichte aus Cornwall, Devon sowie Bath und Oxford werden bald folgen.

Hier wieder im Schnelldurchlauf die gelesenen Bücher aus dem Juni in alphabetischer Reihenfolge. Bin wie immer gespannt. Welche kennt ihr? Wie fandet ihr sie? Auf welche konnte ich euch neugierig machen?

Über die Berechnung des Rauminhalts I/Om udregning af rumfang #1 – Solvej Balle aus dem dänischen übersetzt von Peter Urban-Halle, erschienen im Matthes & Seitz Verlag

In „Über die Berechnung des Rauminhalts I“ von Solvej Balle, meisterhaft aus dem Dänischen von Peter Urban-Halle übersetzt, wird die Geschichte von Tara Selter erzählt, einer Buchhändlerin, die nach dem Besuch einer Antiquariatsmesse in Bordeaux in eine mysteriöse Zeitschleife gerät. Während der Rest der Welt, einschließlich ihres Mannes Thomas, den 18. November immer wieder neu erlebt, ist Tara gefangen in einer ständigen Wiederholung dieses Tages. Diese einzigartige Prämisse bietet Balle die Möglichkeit, tief in die Mechaniken und die Monotonie einer solchen Zeitschleife einzutauchen und gleichzeitig eine ungewöhnliche Liebesgeschichte zu erzählen.

Obwohl Geschichten, die auf dem „Groundhog Day“-Prinzip beruhen, mich durch ihre Wiederholungen oft in den Wahsinn treiben, hat mich Balles Werk erstaunlicherweise komplett gefesselt. Die Ruhe und Poesie ihrer Sprache verleihen der Erzählung eine meditative Qualität, die mich sofort gepackt hat und auch tief bewegend ist. Der Text strahlte eine leise, Melancholie aus, die sich sehr mit meiner aktuellen inneren Wetterlage deckt.

„Das plötzliche Gefühl etwas Unerklärliches zu teilen, die Verwunderung, dass es den anderen gibt – den Menschen, der alles so einfach macht -, das Gefühl, Ruhe gefunden zu haben und gleichzeitig in Turbulenz versetzt worden zu sein.“

Balle beschreibt nicht nur die äußere Wiederholung, sondern auch die innere Entwicklung von Tara. Während die ersten sechzig Tage des „Schwindels“ für Tara noch eine Art Freiheit darstellen, beginnt sie allmählich die Konsequenzen ihrer Situation zu erkennen. Die Zeit bleibt für Thomas stehen, während Tara altert und sich verändert. Diese Diskrepanz führt zu einer schmerzhaften Distanz zwischen den beiden, die zuvor so innig miteinander verbunden waren. Die Beziehung des Paares wird auf eine harte Probe gestellt, als Tara zunehmend versessen darauf wird, aus der Zeitschleife auszubrechen.

Ein weiteres bemerkenswertes Element ist die Art und Weise, wie Balle die Protagonistin und den Leser dazu zwingt, eine besondere Sensibilität für Details zu entwickeln. Die repetitive Natur der Erzählung lenkt den Fokus auf die Feinheiten des Alltags und den Umgang mit der Umwelt.

Es entsteht eine „existenzielle Parabel“, die nicht nur die stille Panik der Heldin einfängt, sondern auch eine tiefere Reflexion über das menschliche Dasein anstößt.

Die Übersetzung von Peter Urban-Halle fängt den rhythmischen und tastenden Balle-Sound nahezu verlustfrei ein, was wesentlich zur Wirkkraft des Romans beiträgt. Minimalistisch und doch mit einem großen literarischen Rhythmusgefühl schafft es Balle, die stille Panik und die innere Zerrissenheit ihrer Protagonistin darzustellen.

Besonders spannend finde ich, dass „Über die Berechnung des Rauminhalts I“ nur der erste Band eines groß angelegten siebenbändigen Romanprojekts ist. Ich freue mich schon sehr auf die weiteren Bände. Balle hat mit diesem Werk nicht nur die Fiktion von der Wirklichkeit befreit, sondern auch eine faszinierende Geschichte über Zeit, Veränderung und Liebe geschaffen.

Insgesamt hat mich „Über die Berechnung des Rauminhalts I“ tief beeindruckt und berührt. Es ist ein Buch, das trotz seiner repetitiven Struktur eine meditative Ruhe ausstrahlt und den Leser in eine poetische Welt voller leiser Melancholie entführt. Solvej Balle hat ein Meisterwerk geschaffen, das die Mechaniken der Zeit auf faszinierende Weise erkundet und dabei eine ungewöhnliche und berührende Liebesgeschichte erzählt.

Schlafen – Theresia Enzensberger erschienen im Hanser Verlag

Theresia Enzensbergers Buch ist ein philosophischer Streifzug durch die Nacht – und eine persönliche Erkundung der Schlaflosigkeit. Als langjährige, eigentlich lebenslange Schlaflosigkeitsveteranin weiß ich, wovon ich spreche, und man kann meiner Empfehlung hier vertrauen: Dieses Buch ist großartig und eine ganz große Empfehlung.

Enzensberger beginnt in der zähneknirschenden Leichtschlafphase mit einem Essay über die Moralisierung von Schlaf, Traum als politische Metapher und die Folgen allgemeinen Schlafmangels. Schlaf wird hier als gesellschaftlich und politisch aufgeladener Zustand dargestellt, der oft als persönliches Versagen gewertet wird, obwohl er viele komplexe Ursachen haben kann.

Fast unmerklich wird der Text in der Tiefschlafphase privater und innerlicher. Enzensberger eröffnet eine intensivere, persönlichere Sicht auf die Welt, die Kunst und die Literatur, indem sie ihre eigenen Erfahrungen mit Schlaflosigkeit reflektiert und mit den Gedanken anderer Künstler und Denker verknüpft. Diese Phase wirkt wie ein stilles Gespräch mit dem Leser, in dem Enzensberger ihre tiefsten Gedanken und Gefühle teilt.

Der Traum und die REM-Phase sind die Momente, in denen Enzensberger den Raum des Realen verlässt und etwas Neues wagt. Hier wird das Buch besonders spannend, da sie beginnt, die Essenz eines menschlichen Grundbedürfnisses zu begreifen, das sich unserer Macht entzieht. Sie nimmt den Leser mit auf eine Reise in die Welt der Träume und zeigt, wie diese unsere Wachwelt beeinflussen und widerspiegeln.

Enzensbergers Buch ist nicht nur eine persönliche Erzählung, sondern auch eine gesellschaftskritische Analyse. Sie zeigt, wie Schlaflosigkeit in unserer modernen Gesellschaft oft pathologisiert wird und welche wirtschaftlichen und politischen Interessen dahinterstehen. Der Leser erfährt, wie Schlafmangel genutzt wird, um gesellschaftliche Strukturen zu stützen, und wie dies unsere Wahrnehmung und Behandlung von Schlaflosigkeit beeinflusst. Enzensberger bietet aufschlussreiche Perspektiven zur Pathologisierung der Insomnie.

„Ich habe Phasen. Manchmal gleiche ich wochenlang einer Person, die von all diesen Problemen noch nie gehört hat – ich lege mich hin, mache die Augen zu und bin weg. Dann aber kommt verlässlich eine insomnische Phase. Es ist unmöglich, vorher zu wissen, wie lange sie dauern wird, aber immer ist sie gekennzeichnet durch nächtelanges Wachliegen und ein paar Stunden gnädigen Schlafs am Morgen. An Tag drei oder vier setzt die Verzweiflung ein, es wird immer schwieriger zu funktionieren. Meine Gedankenwelt wird obsessiv und panisch, und mich verfolgt die irrationale Frage: Was, wenn ich nie wieder schlafen kann?“

Schlaf wird nur dann gewürdigt wird, in unserer kapitalistischen Gesellschaft, wenn er die Arbeitskraft wiederherstellt; ansonsten wird er herabgewürdigt, auch sprachlich. Diese Gedanken sind nicht ganz neu, aber sie sind dennoch relevant und gut in den Kontext der modernen Gesellschaft eingebettet.

Zusammenfassend ist Theresia Enzensbergers Buch eine tiefgründige, fürsorgliche und bewegende Auseinandersetzung mit einem Thema, das viele Menschen betrifft, aber selten so ehrlich und umfassend behandelt wird. Ihre klugen Beobachtungen und persönlichen Einblicke machen das Buch zu einer wertvollen Lektüre für alle, die sich mit Schlaflosigkeit auseinandersetzen – sei es aus persönlicher Erfahrung oder aus Interesse an den gesellschaftlichen und philosophischen Implikationen.

Leben auf dem Land/A Country Year – Sue Hubbell übersetzt von Barbara Heller erschienen im Diogenes Verlag

„Leben auf dem Land“ von Sue Hubbell, aus dem Amerikanischen von Barbara Heller übersetzt und ergänzt durch ein Vorwort der Autorin sowie ein Nachwort von Literatur-Nobelpreisträger J.M.G. Le Clézio, ist ein charmantes und informatives Buch über das Landleben und die faszinierende Welt der Natur. Sue Hubbell, die einst als Bibliothekarin arbeitete und später zur Bienenzüchterin wurde, nimmt uns mit auf ihre Reise in die Ozark Mountains im südlichen Missouri, wo sie nach dem Ende ihrer dreißigjährigen Ehe ein neues Leben beginnt.

Das Buch ist mehr als eine einfache Erzählung über das Landleben; es ist eine Liebeserklärung an die Natur mit einem feinen Sinn für Humor und einer beeindruckenden naturwissenschaftlichen Kenntnis. Sie beschreibt das Zusammenspiel von Bienen, Insekten, Pflanzen und anderen Tieren. Ihre Begeisterung für diese kleinen Wunder der Natur ist wirklich ansteckend. Wer hätte gedacht, dass sechzigtausend Bienen, die gleichzeitig ihre Flügel schlagen, einen sanften Wind erzeugen, oder dass Fledermäuse mit Nachtfaltern kommunizieren – ihren potenziellen Mahlzeiten?

„Alles in allem aber hat die Welt meinen Versuchen, sie zu retten, listig und vergnügt widerstanden.“

Hubbell’s Mischung aus persönlichen Erlebnissen und wissenschaftlichen Beobachtungen macht das Buch besonders lesenswert. Sie erzählt ehrlich und mit einem trockenen Humor von den Herausforderungen und Freuden des Lebens auf einer einsamen Farm. Ihre Beschreibungen sind authentisch und erfrischend ungekünstelt, was das Buch umso sympathischer macht. Anstatt das Landleben idyllisch zu verklären, zeigt sie es in seiner ganzen Realität – mit all seinen schönen, aber auch anstrengenden Seiten.

Die vielen Spinnen, die im Buch vorkommen, könnten manchen Lesern etwas zu viel sein, aber die Bienen machen echt Lust sich selbst mal mit der Imkerei zu beschäftigen (das ging mir bei „The Offing“ auch gerade so) – ein Zeichen?

The Lowland – Jhumpa Lahiri auf deutsch unter dem Titel „Das Tiefland“ im Rowohlt Verlag erschienen

Jhumpa Lahiris Roman „The Lowland“ hat mich tief beeindruckt und stellt ein weiteres Highlight in meinem herausragenden Lesejahr 2024 dar.

Many thanks to @leila.ganesan for being an absolute gorgeous book model 🙂

Der Roman entfaltet eine vielschichtige Geschichte, die sowohl persönliche als auch politische Dimensionen berührt. Lahiri erzählt von den Brüdern Udayan und Subhash, die in den 1960er Jahren in Kalkutta aufwachsen. Während der jüngere Udayan sich der radikalen Naxaliten-Bewegung anschließt, bleibt der ältere Subhash zurückhaltend und pragmatisch. Udayans Tod durch die Polizei markiert einen Wendepunkt, der das Leben beider Brüder und ihrer Familien nachhaltig prägt.

Die Beziehung zwischen Bela und ihrer Mutter Gauri ist besonders eindrucksvoll und komplex geschildert. Gauri, die schwangere Witwe Udayans, wird von Subhash geheiratet, um sie vor dem Druck der konservativen Familie zu schützen. Doch trotz dieser Rettung bleibt Gauri emotional distanziert und konzentriert sich auf ihre akademische Karriere. Bela wächst mit dem Gefühl des Verlusts und der Entfremdung auf, geprägt von der Abwesenheit und emotionalen Kälte ihrer Mutter. Lahiri gelingt es, diese Mutter-Tochter-Beziehung mit großer Sensibilität und Tiefe darzustellen, was mich nachhaltig beschäftigt hat.

Udayans Engagement in der Naxaliten-Bewegung und sein tragisches Ende verdeutlichen, wie politische Ideologien und Kämpfe das individuelle Schicksal und die Familienbande beeinflussen können. Subhashs Flucht in die USA und sein Versuch, ein ruhigeres, geordnetes Leben zu führen, kontrastieren stark mit Udayans leidenschaftlichem, aber zerstörerischem Engagement.

„Were her mother ever to stand before her, even if Bela could choose any language on earth in which to speak, she would have nothing to say. But no, that’s not true. She remains in constant communication with her. Everything in Bela’s life has been in reaction. I am who I am, she would say, I live as I do because of you.“

Lahiris Prosa ist dabei von einer melancholischen Schönheit geprägt, die die Schauplätze lebendig werden lässt. Die Beschreibungen der Küstenlandschaften Neuenglands und die Erinnerungen an die Lowlands Kalkuttas sind besonders eindrucksvoll und man hat sofort einprägsame Bilder im Kopf. Die narrative Struktur des Romans, die zwischen verschiedenen Zeiten und Perspektiven wechselt, verleiht der Geschichte eine besondere Tiefe und Vielschichtigkeit.

„The Lowland“ ist kein epischer Roman im herkömmlichen Sinne, sondern eher eine intime Erzählung über die Zerbrechlichkeit menschlicher Beziehungen und die tiefen Wunden, die politische Konflikte hinterlassen können. Die Charaktere wirken in ihrer Misere oft isoliert und gefangen in ihrer persönlichen Trauer. Besonders Gauri bleibt in ihrer undurchsichtigen Art faszinierend und rätselhaft.

Lahiri hat mit „The Lowland“ einen Roman geschaffen, der durch seine emotionale Intensität und die feinfühlige Darstellung komplexer familiärer Beziehungen besticht. Es ist ein Buch, das nachhallt und zum Nachdenken anregt, nicht nur über die Charaktere und ihre Schicksale, sondern auch über die größeren politischen und sozialen Zusammenhänge, in denen sie sich bewegen. Ein wahrhaft bemerkenswertes Werk, das meinen Lesehorizont in diesem Jahr bereichert hat und ganz sicherlich nicht der letzte Roman den ich von Jhumpa Lahiri lesen werde.

Up at the Villa – W. Somerset Maugham auf deutsch unter dem Titel „Oben in der Villa“ im Diogenes Verlag erschienen

„Up in the Villa“ von W. Somerset Maugham ist ein packender Kurzroman, der einen von Anfang bis Ende nicht loslässt. Die Geschichte spielt in den malerischen Hügeln über Florenz und dreht sich um Mary Leonard, eine junge englische Witwe, die vor einer wichtigen Entscheidung steht. Maugham zeigt hier wieder einmal seine meisterhafte Erzählkunst und sein Gespür für menschliche Abgründe und Schicksalswendungen.

Mary wird von einem reichen, älteren Freund um ihre Hand gebeten, zögert aber mit ihrer Antwort. Bei einer abendlichen Fahrt in die Hügel trifft sie auf einen gut aussehenden, aber verzweifelten deutschen Flüchtling. Diese Begegnung löst eine Kette von Ereignissen aus, die Marys Leben komplett auf den Kopf stellen. Innerhalb weniger Stunden muss sie sich mit Leidenschaft, Gewalt und moralischen Dilemmas auseinandersetzen.

Maughams klarer und flüssiger Schreibstil macht das Buch zu einem echten Pageturner. „Up in the Villa“ ist nicht nur eine Geschichte über Liebe und Verlangen, sondern auch über das flüchtige Glück und die schwierigen Entscheidungen im Leben.

W. Somerset Maugham, geboren 1874 in Paris, war ein vielseitiger Autor, der oft die dunkleren Seiten des menschlichen Lebens in seinen Werken thematisierte. Seine zahlreichen Reisen und vielfältigen Erfahrungen fließen in seine Geschichten ein und geben ihnen Authentizität und Tiefe.

Die Verfilmung des Romans aus dem Jahr 2000, unter der Regie von Philip Haas, fängt die Atmosphäre und die emotionalen Nuancen des Buches hervorragend ein. Kristin Scott Thomas glänzt in der Rolle der Mary und bringt die inneren Konflikte der Figur überzeugend zur Geltung. Der Film bleibt der Vorlage treu und ergänzt sie durch beeindruckende Bilder der toskanischen Landschaft.

„The Princess gave him another of those quiet smiling looks of hers in which there was the indulgence of an old rip who has neither forgotten nor repented of her naughty past and at the same time the shrewdness of a woman who knows the world like the palm of her hand and come to the conclusion that no one is any better than he should be.“

„Up in the Villa“ hat mich wirklich überrascht und begeistert. Es war mein erstes Buch von Maugham, aber sicher nicht mein letztes. Die spannende Geschichte und die tiefgründigen Charaktere machen Lust auf mehr von diesem großartigen Autor.

The Offing – Benjamin Myers auf deutsch unter dem Titel „Offene See“ im Dumont Verlag erschienen, übersetzt von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann

Bin mir nie sicher, ob ich Dulcie sein möchte oder gerne eine Dulcie in meinem Leben hätte. Auch beim zweiten Lesen wieder so so schön. Auf dem Balkon sitzen, in Gedichtbänden blättern, Weißwein trinken und fluchen dass die Farbe von der Wand fällt – perfekt!

„There is poetry in silence but most of us don’t stop to hear it. They must talk, talk, talk, but say nothing because they are afraid of hearing their own heartbeat.

Let poetry and music and wine and romance guide the way. Let liberty prevail.“

Der junge Robert weiß schon früh, dass er wie alle Männer seiner Familie Bergarbeiter sein wird. Dabei ist ihm Enge ein Graus. Er liebt Natur und Bewegung, sehnt sich nach der Weite des Meeres. Daher beschließt er kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, sich zum Ort seiner Sehnsucht, der offenen See, aufzumachen. Fast am Ziel angekommen, lernt er eine ältere Frau kennen, die ihn auf eine Tasse Tee in ihr leicht heruntergekommenes Cottage einlädt. Eine Frau wie Dulcie hat er noch nie getroffen: unverheiratet, allein lebend, unkonventionell, mit sehr klaren und für ihn unerhörten Ansichten zu Ehe, Familie und Religion. Aus dem Nachmittag wird ein längerer Aufenthalt, und Robert lernt eine ihm vollkommen unbekannte Welt kennen.

Das wurde ganz überraschend für mich ein richtiges Herzensbuch. Jede:r von uns braucht eine Dulcie im Leben. Ein Buch das ich ganz besonders in diesen dunklen Zeiten empfehlen kann. Es macht die Welt ein kleines bisschen besser.

Mit brennender Geduld/El cartero de Neruda – Antonio Skármeta übersetzt von Willi Zurbrüggen erschienen im Piper Verlag

Antonio Skármetas Roman „Mit brennender Geduld“ ist eine liebevolle Hommage an den großen chilenischen Dichter Pablo Neruda und erzählt die Geschichte einer ungewöhnlichen Freundschaft. Der junge Mario Jiménez, ein träumerischer Briefträger in dem kleinen Dorf Isla Negra, hat nur einen einzigen Kunden: den weltberühmten Dichter Neruda. Zwischen dem naiven Mario und dem erfahrenen Literaten entwickelt sich eine tiefe Freundschaft. Mit Hilfe von Nerudas Gedichten gewinnt Mario das Herz seiner geliebten Beatriz. Die beiden heiraten, und Neruda wird Pate ihres ersten Sohnes.

Die politische Lage in Chile spiegelt sich in der Geschichte wider. Nach Salvador Allendes Wahlsieg 1970 wird Neruda Botschafter in Paris und gewinnt 1971 den Nobelpreis für Literatur. Nach dem Militärputsch unter Pinochet kehrt Neruda zurück nach Chile, das in Terror und Gewalt versinkt. Auch Marios Welt zerbricht, und Neruda stirbt wenige Tage nach dem Putsch unter mysteriösen Umständen.

Der Roman ist poetisch und melancholisch, eine Feier der Poesie und des Lebens. Skármeta erzählt die Geschichte mit einer Intensität, die tief unter die Haut geht.

Der Roman wurde zweimal verfilmt, wobei die zweite Verfilmung „Il Postino“ von Michael Radford besonders bekannt und einer meiner absoluten Lieblingsfilme ist. Der Film verlegt die Handlung von Chile in die 1950er Jahre an die Amalfi Küste.

Der Film, der auf den Inseln Procida und Salina im Golf von Neapel gedreht wurde, begeistert mich durch seine malerische Kulisse und die bewegende Geschichte.

Als ich kürzlich während meines Pompeij Aufenthaltes in Sorrento war, bin ich überraschend auf das Wohnhaus von Beatrice gestossen 😉

Das Buch und der Film ergänzen sich wunderbar. Während das Buch tief in die chilenische Geschichte eintaucht, bietet der Film eine romantische Interpretation in einem wunderschönen italienischen Setting. Beide Versionen machen Lust darauf, Nerudas Gedichte wieder hervorzukramen und sich von ihrer Magie verzaubern zu lassen.

Hier mein Lieblingsgedicht von Neruda:

Tonight I can write the saddest lines.

Write, for example, ‚The night is starry and the stars are blue and shiver in the distance.‘

The night wind revolves in the sky and sings.

Tonight I can write the saddest lines.
I loved her, and sometimes she loved me too.

Through nights like this one I held her in my arms.
I kissed her again and again under the endless sky.

She loved me, sometimes I loved her too.
How could one not have loved her great still eyes.

Tonight I can write the saddest lines.
To think that I do not have her. To feel that I have lost her.

To hear the immense night, still more immense without her.
And the verse falls to the soul like dew to the pasture.

What does it matter that my love could not keep her.
The night is starry and she is not with me.

This is all. In the distance someone is singing. In the distance.
My soul is not satisfied that it has lost her.

My sight tries to find her as though to bring her closer.
My heart looks for her, and she is not with me.

The same night whitening the same trees.
We, of that time, are no longer the same.

I no longer love her, that’s certain, but how I loved her.
My voice tried to find the wind to touch her hearing.

Another’s. She will be another’s. As she was before my kisses.
Her voice, her bright body. Her infinite eyes.

I no longer love her, that’s certain, but maybe I love her.
Love is so short, forgetting is so long.

Because through nights like this one I held her in my arms
my soul is not satisfied that it has lost her.

Though this be the last pain that she makes me suffer
and these the last verses that I write for her.

Translation by W. S. Merwin

Nah genug weit weg – Antje Rávic Strubel erschienen im Wallstein Verlag

In „Nah genug weit weg“ nimmt uns Antje Rávik Strubel auf eine spannende Reise durch die Bedeutung von Orten in der Literatur mit. Strubel ist eine Autorin, die für ihre tiefgründigen und oft politisch angehauchten Romane bekannt ist. Ihre Geschichten entstehen meistens in fremden Gegenden, wo sie sich selbst nicht wiedererkennt – genau dort, wo die Orientierung fehlt und neue Sichtweisen entstehen können.

Bei ihren Lichtenberg-Poetikvorlesungen in Göttingen im Februar 2023 sprach Strubel über ihren kreativen Prozess. Sie erklärte, wie aus persönlichen Erfahrungen literarisches Material wird und wie sich diese Erfahrungen poetisch umsetzen lassen. Besonders spannend ist ihre Frage, wie politisch Literatur heutzutage sein kann oder sogar sein sollte.

Strubel ist überzeugt, dass Orte und Landschaften einen großen Einfluss auf Menschen und ihre Denkweise haben. Sie fragt sich, ob die konkrete Erfahrung eines Ortes auch die Art und Weise beeinflusst, wie ihre Figuren sprechen und handeln. Und was passiert eigentlich an den Übergängen zwischen verschiedenen Orten? Ihre Werke zeigen, dass manche Orte vielleicht nur deshalb existieren, weil jemand über sie geschrieben hat – eine ziemlich interessante Idee.

„Und mit Virginia Woolf ließe sich hinzufügen: „Als Frau habe ich kein Land. Als Frau ist mein Land die ganze Welt“ Besitz, Herkunft, familäre Zugehörigkeit taugten nicht als Kriterien, um die Beziehung von Frauen zu Orten zu beschreiben. Frauen besaßen nichts, und wenn sie heirateten, tauschten sie den Wohnsitz der Herkunftsfamilie gegen den des Mannes. Sie wurden verschickt.
Wer aber kein Land hat, hinterlässt auch keine Spuren. Da ist keine feste Burg, in der man sich verschanzen, keine Mauern, denen etwas einprägt, keine Erde, der etwas eingepflanzt werden könnte, auf der man etwas hinterlässt.“

„Ein Holzhaus aus der Jahrhundertwende. Eine Schäreninsel. Ein Schiff. Ein Plattenbau. Felsen und Moore.“ Diese Orte haben für Strubel eine besondere Bedeutung und prägen ihre Geschichten. Sie lässt uns darüber nachdenken, wo wir uns selbst beim Schreiben oder Lesen befinden.

„Nah genug weit weg“ ist ein faszinierender Einblick in Strubels kreative Welt und zeigt, wie Orte nicht nur Kulisse, sondern auch Motor für Geschichten sein können.

Lichte Tage/Tin Man – Sarah Winman übersetzt von Elina Baumbach erschienen im Klett-Cotta Verlag

„Lichte Tage“ von Sarah Winman, im Klett-Cotta Verlag erschienen und von Elina Baumbach ins Deutsche übersetzt, ist ein wunderbares Buch, das mich sehr berührt hat. Es erzählt eine Geschichte über Freundschaft, Liebe und das Erwachsenwerden, die gleichzeitig melancholisch und voller Licht ist. Ich habe das Buch gelesen, weil ich dringend mehr lichte Tage brauchte, und es hat seinen Auftrag definitiv erfüllt.

Alles beginnt mit einem Gemälde: „Fünfzehn Sonnenblumen“ von Van Gogh. Dora Judd, eine Nebenfigur im Roman, hängt es an die Wand ihres Wohnzimmers und damit nimmt die Geschichte ihren Lauf. Dieses Bild wird zum Symbol für die Sehnsucht nach Kunst und Schönheit, die Ellis und Michael durch ihr ganzes Leben begleitet.

Ellis und Michael lernen sich in Oxford kennen, einem eher grauen und tristen Ort, aus dem sie beide entfliehen wollen. Ihre Freundschaft ist sofort tief und besonders, und gemeinsam machen sie sich auf den Weg in den sonnigen Süden Frankreichs. Dort, unter der warmen Sonne und umgeben von Poesie, entdecken sie, wer sie wirklich sind und was sie vom Leben wollen. Diese Reise ist nicht nur eine Flucht vor ihrem Alltag, sondern auch eine Suche nach sich selbst und nach Freiheit.

„Die erste Liebe hat so etwas an sich, nicht wahr?“ sagte sie. „Sie ist unantastbar für die, die nicht dabei waren. Aber sie ist der Maßstab für alles, was kommt.“

Im ersten Teil des Buches erfahren wir viel über Ellis. Er ist mittlerweile 46 Jahre alt und arbeitet in einer Autowerkstatt in Oxford. Seine Träume, Künstler zu werden, wurden nach dem Tod seiner Mutter von seinem strengen Vater zerschlagen. Jetzt ist er ein einsamer Mann, der immer noch um seine verstorbene Frau trauert. Seine Erinnerungen an die Vergangenheit sind sowohl schmerzhaft als auch schön.

Im zweiten Teil wechselt die Perspektive zu Michael. Er erzählt von seinem Leben in London und seiner besonderen Beziehung zu Ellis. Ihre kurze, aber intensive Liebesaffäre in Südfrankreich ist eine Mischung aus jugendlicher Sehnsucht und der bittersüßen Erkenntnis, dass manche Träume nie wahr werden. Michael erinnert sich an diese Zeit mit großer Wärme und Bedauern.

Sarah Winman schreibt mit einer Sensibilität und Einfühlsamkeit, die einen wirklich berührt. Ihre Beschreibungen von Beziehungen und Landschaften sind voller Energie und doch zurückhaltend. Besonders mochte ich, wie sie die Themen sexuelle Identität und die AIDS-Epidemie der 1980er Jahre behandelt – mit viel Verständnis und Mitgefühl.

„Lichte Tage“ ist ein Roman über die Möglichkeiten und verpassten Chancen des Lebens. Es geht um die Suche nach Identität, die Kraft der Freundschaft und die vielen Facetten der Liebe. Winman hat es geschafft, mit ihrer klaren Sprache und ihrem tiefen emotionalen Verständnis ein Buch zu schreiben, das lange nachhallt. „Lichte Tage“ hat mich daran erinnert, dass trotz aller Verluste und Schmerzen immer noch Hoffnung und Schönheit in der Welt existieren. Wenn du gerade lichte Tage brauchst, dann ist dieses Buch genau das Richtige für dich.

Der Salzpfad/The Salt Path – Raynor Winn übersetzt von Heide Horn und Christa Prummer-Lehmair erschienen im Goldmann Verlag

„Der Salzpfad“ von Raynor Winn ist eine inspirierende Geschichte, die zeigt, wie man auch in den dunkelsten Zeiten neuen Mut finden kann (!?). Raynor und ihr Mann Moth verlieren nach über 30 Jahren Ehe plötzlich alles: Ihr Haus wird gepfändet und Moth wird mit einer unheilbaren Nervenkrankheit diagnostiziert. In dieser ausweglosen Lage packen sie ihre Sachen und beschließen, den South West Coast Path zu wandern – einen mehr als tausend Kilometer langen Küstenpfad in Südengland.

Dieser Weg ist kein Spaziergang im Park. Er ist Englands längster Fernwanderweg, mit Höhenmetern, die dem vierfachen Aufstieg des Mount Everest entsprechen. Die beiden leben dreieinhalb Monate lang von Moths kleiner Rente, zelten wild und ernähren sich oft nur von Brombeeren und Löwenzahn. Doch „Der Salzpfad“ ist kein Überlebensratgeber. Es geht vielmehr darum, wie die beiden auf ihrer Reise wieder Hoffnung und neuen Lebenssinn finden.

Raynor beschreibt ihre Erlebnisse und Begegnungen mit den Menschen entlang des Weges mit viel Humor und einem scharfen Blick für Details. Ob Landwirte, Surfer, Soldaten oder Outdoor-Enthusiasten – die Vielfalt der Charaktere, denen sie begegnen, macht das Buch sehr interessant. Die Reise führt sie an den Rand der Gesellschaft und lässt sie das Leben aus einer ganz neuen Perspektive sehen.

Während unseres Urlaubs in England kürzlich sind wir an der Englischen Riviera ein Stück des Weges gewandert – großes Highlight!

Die Dialoge sind oft kurz und treffend, und Raynor erzählt ihre Geschichte mit einer angenehmen Portion Selbstironie. Gleich zu Beginn des Buches gibt es einen interessanten historischen Exkurs über die Verfolgung von Bettlern und Landstreichern in Großbritannien, was ihre eigene Situation als unfreiwillige Vagabunden in einen größeren Zusammenhang stellt.

Das Buch beginnt mit einem Zitat aus der Odyssee: „Muse, erzähl mir vom Manne, dem wandlungsreichen, den es oft abtrieb vom Wege.“ Dieser Satz passt perfekt zu der Geschichte von Raynor und Moth, die ohne klares Ziel losziehen und dabei nicht nur ihre Würde, sondern auch neue Lebensfreude finden. Raynor scheut sich nicht vor emotionalen Momenten, aber sie wird nie kitschig oder rührselig.

„Der Salzpfad“ ist ein warmherziger und menschlicher Reisebericht, der zeigt, dass Hoffnung und ein neuer Anfang möglich sind, selbst wenn alles verloren scheint. Raynor Winn nimmt uns mit auf eine Reise, die uns lehrt, uns der Schönheit der Natur und der Stärke des menschlichen Geistes bewußt zu werden. Kein Wunder, dass dieses Buch in Großbritannien so erfolgreich ist – es trifft mitten ins Herz und macht unfassbar Lust darauf selbst die Wanderschuhe zu schnüren – auf den Teil mit der Obdachlosigkeit und dem kompletten Bankrott würde ich nach Möglichkeit gerne verzichten.

Gerne gelesen, aber ich war nicht „blown-away“, muss die weiteren Bände nicht zwangsläufig lesen, würde es aber, wenn sie mir irgendwie, irgendwo in die Finger fallen.

So, falls ihr es tatsächlich bis hier unten ausgehalten habt – Respekt! Sorry ist doch a bisserl lang geworden fürchte ich. Hoffe ich konnte euch auf das eine oder andere Buch Lust machen und in ein paar Tagen gibt es dann den ersten Reisebericht. Kommt ihr mit?