
Ein herausragender Lesemonat liegt hinter mir – einer, der mich auf meiner literarischen Weltreise in die Ukraine geführt hat. Für diesen Stopp habe ich die folgenden Bücher gelesen:
Vielleicht Esther – Katja Petrowskaja erschienen im Suhrkamp Verlag
Sie kam aus Mariupol – Natascha Wodin erschienen im Rowohlt Verlag
Eine Formalie in Kiew – Dmitrij Kapitelman erschienen im Hanser Verlag
Baba Dunas letzte Liebe – Alina Bronsky erschienen im Kiepenheuer & Witsch Verlag
die ausführliche Besprechung dazu könnt ihr hier finden. Die Bücher werde ich hier in der Monatsübersicht daher nicht noch einmal vorstellen.
Neu auf dem Blog ist außerdem meine Serie „Stimmen, die bleiben“, in der ich an Autor*innen erinnere, deren Worte nachhallen. Den Auftakt machte Anna Seghers – mit ihrem eigenen Erzählband und einer beeindruckenden biografischen Studie über ihre Zeit in Mexiko. Auch hierzu verlinke ich euch die Besprechung und widme mich jetzt den Büchern aus diesem Monat, die ich bislang noch nicht auf dem Blog besprochen habe:
Drei große Entdeckungen hatte ich in diesem Monat für mich: Silvia Bovenschen mit einer zutiefst persönlichen Hommage an ihre Partnerin, Penelope Lively mit einem perfekt komponierten Sommerroman, und die Debütantin Christina Fonthes, deren Coming-of-Age-Geschichte zwischen England und Kongo spielt.
Und schließlich: Einfach Literatur von Klaus Willbrandt – ein Buch, das ich sehr wehmütig gelesen habe. Ein literarischer Nachlass, der bleibt.
Alle Bücher lagen zwischen 4 und 5 Sternen – das kommt nicht oft vor. Aber Juli hat geliefert.
Wohin du auch gehst – Christina Fonthes erschienen im Diogenes Verlag, übersetzt von Michaela Grabinger
In ihrem vielschichtigen Debütroman erzählt Christina Fonthes die miteinander verflochtenen Geschichten zweier Frauen, Mira und Bijoux, die beide aus Kinshasa stammen und auf je eigene Weise mit Herkunft, Identität und gesellschaftlichen Erwartungen ringen. Mira verlässt in den 1980er Jahren den Kongo und zieht über Belgien und Paris nach London. Ihre Beziehung zu einem armen Musiker bringt sie in Konflikt mit der bürgerlich-aufstiegsorientierten Familie. Bijoux hingegen wird als Kind nach London geschickt, wo sie bei ihrer streng gläubigen Tante aufwächst – ihre queere Identität wird von dieser als „unchristlich“ und „unafrikanisch“ gebrandmarkt.
Fonthes erzählt über einen Zeitraum von rund dreißig Jahren hinweg, springt elegant zwischen Zeiten und Orten – Kinshasa, Brüssel, London, Paris – und verbindet große politische Fragen (Migration, Diaspora, Religion, Geschlechterrollen, Kolonialgeschichte) mit sehr persönlichen Erfahrungen von Liebe, Scham, Entwurzelung und Widerstand.
Besonders eindrücklich ist, wie stark kulturelle Prägung in Sprache, Ritualen und Erinnerung weiterwirkt: Wenn die Figuren Fufu kochen, Lingala sprechen oder gemeinsam Lieder singen, ist Kinshasa immer präsent – egal, ob sie gerade in Kilburn, London oder in einem Pariser Friseursalon stehen.
Als ich die Augen wieder öffnete, schwebten goldene und silberne Flöckchen durchs Zelt. Ich sah Chancey an. Ich hatte keinen einzigen Schluck getrunken, trotzdem war mir schwindelig. Ich strich mit beiden Händen über ihren Körper, hierhin und dahin. Dort in dem Zelt und bei Rory und Darren und anderen Leuten zu sein, die so waren wie wir, erschien mir ganz selbstverständlich. In diesem Moment, während wir tanzten und lachten und Spaß miteinander hatten, waren wir wie alle anderen – zwei schwer verliebte Mädchen, zwei schwer verliebte Menschen.
Fonthes’ Stil ist poetisch und atmosphärisch, zugleich klar und erzählerisch dicht. Sie schafft es, komplexe Themen wie Homophobie, intergenerationale Konflikte, Trauma und Migration behutsam und doch ungeschönt darzustellen. Dabei verzichtet sie auf Klischees, zeigt stattdessen die Vielstimmigkeit, Würde und Widersprüchlichkeit kongolesischer Lebensrealitäten – sowohl im Kongo selbst als auch im Exil.
Christina Fonthes ist eine britisch-kongolesische Autorin, Spoken-Word-Künstlerin und Aktivistin, die sich für queere, afrikanische und diasporische Perspektiven stark macht. „Wohin du auch gehst“ ist ein kraftvoller, bewegender Auftakt ihres literarischen Schaffens – voller Emotion, politischer Klarheit und erzählerischer Eleganz. Eine Autorin von der ich sehr gerne noch weitere Bücher lesen möchte.
Ich danke dem Diogenes Verlag für das Rezensionsexemplar.
Sarahs Gesetz – Silvia Bovenschen erschienen im S. Fischer Verlag
In Sarahs Gesetz schreibt Silvia Bovenschen über das gelebte Leben mit ihrer langjährigen Lebensgefährtin Sarah Schumann – Künstlerin, Malerin, Zeichnerin und eine der zentralen Figuren der feministischen Kunstszene der 1970er Jahre. Entstanden ist ein ungewöhnlich stilles, zugleich kraftvolles Buch über die Liebe zwischen zwei eigenwilligen, starken Frauen – über Zuneigung, Widerspruch, Fürsorge, Krankheit, das Älterwerden und die Grenzen des Sagbaren im engen Miteinander.
Bovenschen porträtiert Sarah Schumann als widersprüchliche und kompromisslose Persönlichkeit: stolz, scharfzüngig, klug und oft schwer zugänglich. Doch statt zu verklären oder zu erklären, nähert sie sich ihr essayistisch und literarisch tastend, in Miniaturen, Reflexionen und Erinnerungsbildern, die mal zärtlich, mal bitter, aber nie gefällig sind.
Sarahs Gesetz ist kein klassisches Liebes- oder Erinnerungsbuch. Es ist ein Dialog mit einer Präsenz, die sich nicht einfach festhalten lässt – eine Annäherung an das Andere im geliebten Menschen. Ein kluges, bewegendes Werk über das Zusammenleben, das Altwerden in Würde und die Formbarkeit von Nähe, ohne deren Ambivalenzen auszublenden.
Ich vertraue Sarah mehr als mir selbst.
Krankheit adelt nicht.
Eine schwere Kindheit auch nicht.
Silvia Bovenschen (1946–2017) war Literaturwissenschaftlerin, Essayistin und eine der prägenden feministischen Intellektuellen Deutschlands. Bereits 1979 erschien ihr einflussreiches Buch Die imaginierte Weiblichkeit. Sie lehrte viele Jahre an der Universität Frankfurt, bevor sie sich – selbst seit ihrer Jugend an MS erkrankt – zunehmend dem literarischen Schreiben zuwandte. Mit Älter werden. Notizen (2006) erreichte sie ein großes Publikum. Sarahs Gesetz, erschienen 2015, ist eines ihrer persönlichsten Bücher – klug, liebevoll und radikal wahrhaftig.
Habe große Lust noch weitere Bücher von Silvia Bovenschen zu entdecken – eine sehr interessante Autorin.
Heat Wave – Penelope Lively auf deutsch unter dem Titel „Hinter dem Weizenfeld“ bei dtv erschienen, übersetzt von Isabella Nadolny
Könnt ihr euch noch erinnern, wie wir vor ein paar Tagen vor lauter Hitze kaum noch einen klaren Gedanken fassen konnten? Ich jedenfalls schon – schmorend in unserer gefühlt 60 Grad heißen Dachgeschosswohnung, mit dem Ventilator als einzigem Verbündeten. Vielleicht ist genau jetzt, wo draußen der Sommer als Herbst cosplayed, die beste Zeit, sich noch einmal in die drückende Hitze zurückzuversetzen.
Gelesen habe ich in diesen Tagen Penelope Livelys Roman „Heat Wave“ – ein Glücksgriff. Ohne große Erwartungen aufgeschlagen, wurde ich komplett hineingezogen in diese stille und dennoch spannungsgeladene Geschichte. Eine Lektüre, die mich so gefesselt hat, dass ich danach sofort mehr von Lively lesen wollte.
Heat Wave“, erschienen 1996, spielt während eines glühend heißen Sommers auf dem englischen Land – genauer: in einem umgebauten Bauernhof in den Midlands, genannt World’s End. Einen Sommer den ich im Übrigen in London mit erlebt habe und mich sehr genau daran erinnern kann. Dort verbringt Pauline, Anfang fünfzig und freiberufliche Lektorin (sie korrigiert in einem ihrer Aufträge Kommas in einem Einhorn-Roman), den Sommer mit ihrer Tochter Teresa, deren Ehemann Maurice und dem kleinen Enkelsohn Luke.
Die Figuren leben Wand an Wand in nebeneinander liegenden Cottages – eine räumliche Nähe, die emotional immer bedrückender wird. Denn Pauline erkennt früh, dass Maurice nicht ganz treu ist. Ihre eigenen Erfahrungen mit einem untreuen Ehemann holen sie ein, und sie steht vor der Frage: Redet sie mit Teresa – und wenn ja, wie viel sagt sie? Oder schweigt sie und wartet, bis die Tochter selbst erkennt, was los ist?
Was auf den ersten Blick wie ein ruhiges Beziehungsdrama wirkt, ist in Wahrheit hoch aufgeladen. Lively lässt die Spannung langsam, aber unaufhaltsam wachsen – mit jeder Hitzewelle, mit jeder verdorrten Wiese, mit jedem überhitzt flirrenden Nachmittag. Natur und Emotionen spiegeln sich ständig: Die Landschaft wird zum Seismograf innerer Erschütterungen.
Die Atmosphäre ist fast kammerspielartig dicht. Es gibt keinen actiongeladenen Plot, aber umso mehr psychologische Raffinesse. Pauline ist eine wunderbar gezeichnete Figur – klug, witzig, verletzlich. Rückblenden in ihre frühere Ehe, kleine Begegnungen mit ihrem sympathisch-schrulligen Buchhändlerfreund Hugh oder dem Romanautor Chris geben ihr Tiefe und eine Welt jenseits der Ferienhausgrenze. Und dann ist da noch diese fast van Gogh’sche Landschaft: gelbgoldene Felder unter einem strahlend blauen Himmel, flirrend vor Hitze – ein grandioses Setting für ein emotionales Flächenbrand-Drama.
It occurs to her that she is probably the first person to live here for whom the weather is an aesthetic diversion.
Was mir besonders gefallen hat, war die Art und Weise, wie Lively mit Erwartungshaltungen spielt. Anfangs glaubt man, das sei eine jener subtilen Erzählungen, in denen „nichts passiert“. Aber wer aufmerksam liest, merkt bald: Das Ende ist längst angelegt, in Andeutungen, kleinen Gesten, Blicken. Es kommt nicht plötzlich, aber wow war ich überrascht.
Penelope Lively wurde 1933 in Kairo geboren und ist noch very much alive and kicking 🙂 Sie ist eine der renommiertesten britischen Schriftstellerinnen der Gegenwart und wurde unter anderem 1987 für Moon Tiger mit dem Booker Prize ausgezeichnet. 2017 erschien ihr letztes Buch eine Biografie mit dem Titel Life in the Garden – möchte ich – neben Moon Tiger – unbedingt lesen.
Kultur – eine neue Geschichte der Welt – Martin Puchner erschienen bei Klett-Cotta

Für dieses Buch durfte ich bei Bild der Wissenschaft eine Kurz-Rezension verfassen, diese könnt ihr hier lesen.
Einfach Literatur – Klaus Willbrand & Daria Razumovych erschienen im S. Fischer Verlag
Ich folgte dem Buchantiquariat Willbrand auf Instagram fast von Anfang an. Seine ruhige Art, mit der er über Literatur sprach, hat mich sofort berührt und dann diese Geschichte: ein kleines Antiquariat in Köln, das kurz vor dem Aus stand. Und eine junge Kundin, Daria, die ihn dazu brachte, sein Wissen nicht aufzugeben, sondern es mit der Welt zu teilen.
Aus dieser Freundschaft entstand nicht nur eine digitale Erfolgsgeschichte, sondern auch ein ganz besonderes Buch: „Einfach Literatur“
In diesem Werk verbindet sich autobiografisches Erzählen mit literarischer Leidenschaft. Willbrandt schreibt über seine Kindheit mit Asthma und wie ihn das zum Bücherwurm werden ließ, seine Jahrzehnte im Buchhandel, seine Begeisterung für Schriftsteller wie Kafka, Böll, Ingeborg Bachmann oder Rolf Brinkmann. Sein Ton bleibt klar und schnörkellos, manchmal melancholisch, aber nie sentimental. Man merkt jedem Kapitel an, dass hier jemand schreibt, der Literatur nicht nur gelesen, sondern gelebt hat. Besonders beeindruckt hat mich seine dreijährige Lese-Auszeit. Krass, habe wohl tatsächlich einen Menschen gefunden, dem Bücher NOCH wichtiger sind als mir.
Was jedoch alle großen literarischen Werke vereint, ist ihre Fähigkeit, die Zeit zu überdauern. Sie schafft es, ein Momentum einzufangen, das in ihrer Epoche tief verwurzelt ist, und doch ruft dieses Momentum auch Assoziationen und Empfindungen hervor. So entstehen Klassiker – Werke, die motivisch zeitlos, aber zugleich so unverwechselbar mit der Ära verbunden sind, in der sie entstanden. Große Literatur bewahrt etwas von ihrer Zeit, bleibt dabei aber unvergänglich.
Wie schön, dass Daria Razumovych seine Stimme so einfühlsam begleitet und mit in dieses Buch mit übersetzt hat. Was mir besonders gefällt sind natürlich die Listen, bei denen ich noch das eine oder andere Werk oder Autor*in entdecken konnte und die authentische Mischung aus Erinnerung, Fachwissen und einem direkten Zugang, der weder belehrt noch überfordert. Es ist ein Buch, das einen – wie ein gutes Gespräch im Buchladen – in die richtige Richtung stupst.
Ich war sehr traurig, als ich Anfang des Jahres vom Tod Klaus Willbrandts erfuhr. Wie gerne wäre ich bei meinem nächsten Köln-Besuch in seinem Antiquariat vorbeigegangen und hätte mich mit ein paar Büchern eingedeckt und auf den einen oder anderen fachmännischen Geheimtipp gehofft. Umso schöner, dass es dieses Buch gibt. Es ist ein Vermächtnis, eine literarische Schatztruhe und eine Hommage an einen Mann, der mit seinen Empfehlungen mehr als nur Bücher teilte: Er teilte Haltung, Haltung zur Welt, zur Sprache, zum Menschsein.
Wie war euer Lesemonat? Was waren eure Highlights? Konnte ich euch auf eines der vorgestellten Bücher neugierig machen? Freue mich über eure Rückmeldungen 🙂




