Februar Lektüre

Diesen Monat war ich überall: in Italien mit den Mann-Brüdern, in Israel mitten in einer moralischen Zwickmühle, in einem japanischen Teehaus mit Franka Potente – und sogar auf Großwildjagd im Kongo – ein Hörbuch, das mich völlig überrascht hat. Truman Capote nahm mich mit in ein sonniges Baumhaus. Mit Deniz Ohde sah ich den Industrieschnee fallen, und die poetischen Worte und Bilder von Robert Macfarlane und Jackie Morris ließen mich staunen.

Welche Bücher davon kennt ihr und welche landen vielleicht auf eure Leseliste?

Beteigeuze – Barbara Zeman erschienen im dtv Verlag

Barbara Zemans „Beteigeuze“ ist ein sprachgewaltiger Roman, der mich wirklich komplett in seinen Bann gezogen hat. Ich habe in den letzten Tagen quasi in dem Buch gewohnt. Ein Buch, das man nicht nur liest, sondern erlebt – funkelnd, irrlichternd, poetisch. So unfassbar wie schön. Ohne zu zögern habe ich ihm fünf Sterne gegeben, denn es ist ein Werk, das auf eine Weise leuchtet, die in der Literatur selten geworden ist.

Beteigeuze, der rote Riesenstern im Sternbild Orion, trägt den Hauch der Vergänglichkeit in sich. Er ist ebenso flimmernd, poetisch und irrlichternd wie dieser Roman.

Das letzte Mal, dass ich ihn hier an dieser Stelle sah, da stand er höher. Rotes Scheibchen Beteigeuze, links unterhalb des Mondes. Wie ich mich auf den Winterhimmel freue. Da machen sich die Sterne in der Dunkelheit groß wie die Goldäpfel im Märchen, dass ich sie mir aus dem Himmel brocke und einen nach dem anderen verspeise, wenn ich denn einen essen will.

Wenn der rote Riese schließlich explodiert, wird der Himmel für Wochen in einem überirdischen Leuchten erstrahlen. Ein kosmischer Abgang, ein letztes Feuerwerk. Doch noch glimmt sein Feuer. Noch trotzt er der Dunkelheit. Und genau diese Vergänglichkeit, dieses Flackern und Leuchten spiegelt sich in Zemans Roman wider. Die Protagonistin Theresa Neges, deren Name übersetzt „Du solltest Nein sagen“ bedeutet, lebt in einer kleinen blauen Wohnung in Wien. Ohne festen Beruf, ohne Geld, mit einem Freund, den sie vielleicht liebt, aber nicht wirklich besitzt. In ihrem großen grauen Mantel streift sie durch die Stadt, legt sich im Hallenbad auf den Beckengrund und übt das Luftanhalten, sucht den Schwindel auf einem Karussell – sie möchte ins Leichte, ins Schwebende, näher an Beteigeuze, diesen brennenden Riesen, der ihr seit ihrer Kindheit vertraut ist.

Immer zärtlicher nimmt sie den Schnee wahr als etwas zur ihr Gehöriges. Ihre Adern, die sind winzige, eisig blaue Flüsse. Gefrierend knisternd. Und ihre Gedanken sind schwer, verlieren alle Schnelligkeit. Welch schöne Muster der Frost ihnen gibt. Wie von Zauberhand sind sie zu Kristallen gereiht.

Zeman schreibt nicht einfach eine Geschichte. Sie erschafft ein Sprachkunstwerk, aufgespannt zwischen Weltraum und Unterwasserwelt, zwischen Absturz und Schweben. Es funkelt in hell und dunkel, im Zentrum ein tanzender Stern. Die Sprache vibriert, schillert, greift nach den Lesenden. Es ist einer dieser seltenen Romane, bei denen es mir komplett egal ist, worum es geht – weil jeder einzelne Satz schon Grund genug ist, das Buch zu lieben. Barbara Zeman, geboren 1981 im Burgenland, lebt in Wien. Sie ist Historikerin, Journalistin und erhielt 2012 den Wartholzpreis. Ihr Debüt „Immerjahn“ erschien 2019, und mit einem Auszug aus „Beteigeuze“ war sie 2022 für den Ingeborg-Bachmann-Preis nominiert.

Sie versteht es, mit Sprache umzugehen, wie es nur wenige tun. Ihre Sätze sind ein Kaleidoskop aus Bildern und Tönen, manchmal messerscharf, manchmal melancholisch verwaschen – eine Supernova von einem Roman.

„Beteigeuze“ ist ein Roman, der in mir nachglüht wie sein namensgebender Stern. Er schwankt zwischen Explosion und Erlöschen, zwischen Schönheit und Schmerz. Ein poetisches Meisterwerk, das man vermutlich entweder nach ein paar Seiten entnervt in die Ecke wirft oder feiert.

Die Grasharfe – Truman Capote erschienen im Suhrkamp Verlag, übersetzt von Friedrich Podszus und Annemarie Seidel

Truman Capote war ein Meister der poetischen Prosa, ein Schriftsteller, der mit wenigen Worten ganze Welten erschaffen konnte. Sein Roman „Die Grasharfe“ ist ein gutes Beispiel dafür. Capote, bekannt für Werke wie „Frühstück bei Tiffany“ und „Kaltblütig“, schöpft hier aus seinen eigenen Erinnerungen an seine Kindheit im Süden der USA. Der Roman trägt eine autobiografische Note, denn Collin Fenwick, der Erzähler, weist deutliche Parallelen zu Capotes eigenem Werdegang auf: ein vaterloser Junge, der bei exzentrischen Verwandten aufwächst und in der Natur eine Zuflucht findet.

Dieses kleine Buch ist ein sonnendurchfluteter Spätsommerroman, voller Nostalgie und Lebensweisheit. Es erzählt die Geschichte von Dolly Talbo, einer sanften, intuitiven Frau, die sich von ihrer dominanten Schwester Verena abwendet, um mit ihrer Catherine, die sie ein Leben lang begleitet sowie ihrem Neffen Collin in einem Baumhaus Zuflucht zu suchen. Sie werden bald von zwei weiteren Außenseitern begleitet: Riley Henderson, ein draufgängerischen Jungen aus der Stadt, und Richter Charlie Cool, einem alten Mann, der nach einem Leben voller Urteile endlich Freiheit sucht. Gemeinsam bilden sie eine provisorische Familie, eine Gemeinschaft jenseits gesellschaftlicher Zwänge.

Was mich an Die Grasharfe am meisten berührt hat, ist die Atmosphäre. Capote gelingt es, die Natur als einen lebendigen, atmenden Raum darzustellen – ein Ort des Friedens, aber auch der Erkenntnis. Die leise flüsternden Grashalme, die Titel gebende „Grasharfe“, scheinen Geschichten aus der Vergangenheit zu erzählen, Geschichten von Verlorenen und Suchenden. Es ist ein Buch über Zugehörigkeit, über Liebe und die Wahl, seinen eigenen Weg zu gehen. Dabei bleibt die Erzählung immer leicht, schwebend, durchzogen von einem feinen Humor, aber auch von einer tiefen Melancholie.

Es war ein Schiff, und wenn man dort oben saß, konnte man die wolkengesäumten Küsten aller Träume entlangsegeln.

Jedes Wort dieses kleinen Romans ist mit Bedacht gewählt, jeder Satz trägt eine poetische Kraft. Man spürt man die Wehmut in jeder Zeile. Man möchte wieder Kind sein, durch Felder streifen, sich in den Ästen eines Baumes verstecken und den Stimmen der Natur lauschen. Der Roman ist kein großes Drama, kein aufwühlendes Epos – er ist eine kleine stille Meditation über das Leben und die Menschen, die es prägen. Dennoch bleibt er spannend, weil Capote es versteht, dass die Leser*innen sich den Figuren verbunden fühlen. Besonders Dolly ist eine sehr faszinierendste Figur, herzlich mit einer fast tiefen Verbindung zur Natur. Es gibt eine Szene, in der Collin beschreibt, wie Dolly das Wetter vorhersagen, Pilze und Wildhonig finden und die süßesten Früchte aufspüren kann – als wäre sie selbst ein Teil des Waldes. Diese sanfte Weisheit ist es, die sie so unvergesslich macht.

Während Capote oft mit seinen düsteren Reportagen und Charakterstudien in Kaltblütig oder Frühstück bei Tiffany in Verbindung gebracht wird, zeigt er hier seine lyrische Seite. Es war sein zweiter Roman und sein erster kommerzieller Erfolg. Die Grasharfe liest sich fast wie ein langes Gedicht, voller Bilder, die nachhallen. Und ja – es macht Lust, ein Baumhaus zu bauen, einen Ort der Freiheit zu schaffen, an dem man den Zwängen der Welt entfliehen kann.

Wer dieses Buch liest, sollte sich Zeit nehmen. Es ist kein Roman, den man hastig konsumiert. Er will in der Sonne gelesen werden, mit dem Wind in den Haaren und dem Rascheln der Blätter im Hintergrund. Es ist ein literarisches Kleinod, das von Freiheit, Freundschaft und den Geschichten erzählt, die in uns weiterleben.

Längst fällige Verwilderung – Simone Lappert erschienen im Diogenes Verlag

In Simone Lapperts Lyrik vermoosen Gedanken und leuchtet der Mond siliziumhell. Die Liebe schmeckt nach Quitte, die Katastrophe nach Erdbeeren, und die Dichterin fragt sich, fragt uns: ›sag, wie kommt man noch gleich ohne zukunft durch den winter?‹ Gedichte über Aufbrüche, Sehnsüchte, Selbstbestimmung und die fragile Gegenwart. Alle Sinne verdichten sich, aller Sinn materialisiert sich in diesen Texten voller Schönheit, Klugheit und Witz.

Ein sehr schöner Gedichtband, den ich gerne gelesen habe. Habe noch zwei Romane im Regal stehen von Simone Lappert, auf die freue ich mich jetzt noch mehr. Eine Autorin die wunderbar mit Sprache spielen kann, die einen Gedichtband verfasst hat, den ich vielleicht auch Leuten in die Hand drücken würde, die sich sonst nicht wirklich an Lyrik herantrauen. Wirklich schön.

Teufels Bruder – Matthias Lohre erschienen im Piper Verlag

Matthias Lohres Roman „Teufels Bruder“ ist die Geschichte über die beiden Brüder Thomas und Heinrich Mann, die gemeinsam eineinhalb Jahre in Italien verbringe. Das wird nicht nur spannend, sondern auch atmosphärisch dicht erzählt und es scheint so viel italienische Sonne durch den Roman, man möchte direkt los reisen.

Lohre gelingt es unwahrscheinlich gut, historische Fakten mit literarischer Fiktion zu verweben. Er zeichnet die Beziehung der beiden Brüder in all ihren Facetten: die Rivalität, die Bewunderung, die unterschiedlichen Lebensentwürfe. Heinrich, der ältere, bereits als Schriftsteller anerkannte Bruder, der sich in die Schauspielerin Lina verliebt, und Thomas, der suchende, schwankende jüngere Bruder, der sich immer wieder in seiner Faszination für einen lockigen melancholischen Jüngling verliert. Gerade diese Passagen fand ich anfangs faszinierend, irgendwann aber etwas zu ausschweifend. Das ständige Hinterherschleichen und die intensiven Grübeleien hätten für meinen Geschmack etwas gestrafft werden können – aber das ist Jammern auf hohem Niveau.

Was Lohre besonders gut macht, ist die psychologische Tiefe seiner Figuren. Thomas Mann wird nicht als der überlebensgroße Literat dargestellt, sondern als junger Mensch, der seinen Platz in der Welt sucht, zwischen bürgerlichen Erwartungen und künstlerischer Ambition. Man spürt seinen inneren Zwiespalt, die Bewunderung für den älteren Bruder, die Unsicherheit, das Staunen über die eigene wachsende Schaffenskraft. Dass diese Reise nicht nur einen literarischen, sondern auch einen persönlichen Wendepunkt für ihn darstellt, wird immer deutlicher, je weiter der Roman voranschreitet.

Heinrich leerte sein Glas in wenigen Zügen und ließ sich den Weg zu den Waschräumen zeigen. Auch wenn der Verlegersohn nur aussprach, wovon er selbst überzeugt ar, war dessen Gestus doch anstössig. Junior schien unter der Schlechtigkeit der Menschen nicht zu leiden, sondern sie zu genießen.

Die Atmosphäre des südlichen Italiens fängt Lohre hervorragend ein. Man fühlt sich in die Hitze Neapels versetzt, hört das geschäftige Treiben Roms und spürt die Melancholie Venedigs. Gerade die Szenen in Palestrina, wo Thomas Mann dem „Bösen schlechthin“ begegnet, haben eine fast unheimliche Intensität. Es bleibt unklar, was genau dort geschah, aber die Andeutungen reichen aus, um die Schwere dieses Erlebnisses zu erahnen.

Besonders gelungen fand ich die literarischen Bezüge. Wer Thomas Manns Werk kennt, wird hier viele Motive und Anklänge wiederfinden – sei es an „Buddenbrooks“, „Tod in Venedig“ oder „Doktor Faustus“. Doch auch ohne Vorkenntnisse funktioniert der Roman, denn Lohre erzählt eine eigenständige Geschichte, die sich nicht in literarischen Anspielungen verliert, sondern ihre ganz eigene Kraft entfaltet.

Insgesamt ist „Teufels Bruder“ ein großartiger Roman, der sowohl als fiktionale Biografie als auch als eigenständige Erzählung überzeugt. Er hätte vielleicht 100 Seiten kürzer sein können, aber das ändert nichts daran, dass ich ihn sehr mochte. Eine klare Leseempfehlung und ich möchte nach „Felix Krull“ das mich letztes Jahr so begeistert hat dieses Jahr unbedingt die „Buddenbrooks“ lesen. Lohre hat mir da echt Lust drauf gemacht.

Antarctica – Claire Keegan auf deutsch unter dem Titel „Wo das Wasser am tiefsten ist“ im Steidl Verlag erschienen

Mit Claire Keegans Debüt Kurzgeschichten Band bin ich überhaupt nicht warm geworden. Die erste titelgebende Geschichte war krass, sehr düster und an die denke ich immer noch. Alle anderen haben nicht gefunkt bei mir und sind irgendwie alle ineinander geflossen. Ich mochte ihren Schreibstil, möchte auch gerne noch einen ihrer Romane lesen, aber bei den Kurzgeschichten bin ich raus.

Hat einer von euch etwas von Claire Keegan gelesen? Welchen Roman würdet ihr empfehlen?

Löwen wecken – Ayelet Gundar-Goshen erschienen im Kein & Aber Verlag übersetzt von Ruth Achlama

Der Roman den ich für den Stopp in Israel auf meiner literarischen Weltreise gelesen habe. Meine Rezension dazu könnt ihr hier nachlesen.

Zehn – Franka Potente erschienen im Piper Verlag

Wir hatten ein paar wirklich graue Tage in München und irgendwann habe ich beschlossen eine kleine „Reise nach Japan“ zu unternehmen und unser wunderschönes japanisches Teehaus zu besuchen. Entsprechende Reiselektüre habe ich auch eingepackt und Franka Potentes Kurzgeschichten haben mich gut unterhalten. Zehn feine kleine Geschichten mit Beobachtungen aus dem japanischen Alltag, viel Augenmerk auf Essen und Heizgeräte 😉

Besonders gern mochte ich die erste Kurzgeschichte „Götterwinde“ über eine Frau die einen Laden für handgemachte Fächer hat und eine besondere Begegnung mit einem Kunden hat. Perfekte Begleitlektüre für meinen Ausflug.

Streulicht – Deniz Ohde erschienen im Suhrkamp Verlag

Industrieschnee markiert die Grenzen des Orts, eine feine Säure liegt in der Luft, und hinter der Werksbrücke rauschen die Fertigungshallen – Deniz Ohde entwirft in ihrem Debütroman Streulicht eine Kulisse, die mir seltsam vertraut ist. Ich bin und bleibe wohl eine Identifikationsleserin. Und selten habe ich mich einer Protagonistin so nahe gefühlt wie hier.

Ohde erzählt von einer jungen Frau, die in einem westdeutschen Arbeiterhaushalt aufwächst, deren Vater tagein, tagaus Aluminiumbleche beizt, deren Mutter irgendwann ihre Koffer packt und verschwindet, deren Großvater an seiner eigenen Stille und Unbeweglichkeit fast erstickt. Sie erzählt von einem Mädchen, das sich in einem Bildungssystem behaupten muss, das Chancengleichheit verspricht, aber (unsichtbare) Hürden aufbaut, die für manche kaum zu überwinden sind. Vom frühen Schulabbruch, von der Anstrengung, sich durchzukämpfen, von der Angst, nicht zu genügen, und der Scham, wenn man doch immer wieder zurückverwiesen wird auf den Platz, den andere für einen vorgesehen haben.

Ich kenne dieses Gefühl so gut. Es ist das Gefühl, mit jedem Schritt, den man geht, gegen eine unsichtbare Wand zu laufen. Das Gefühl, dass der eigene Hintergrund sich wie ein bleierner Schatten über alle Ambitionen legt. Deniz Ohde hat es geschafft, all das in eine Sprache zu fassen, die so unfassbar präzise ist, dass man das Gefühl hat sich manchmal blutige Schrammen zu holen. Ihre Sätze sind zurückgenommen und gleichzeitig eindringlich, jede Beobachtung sitzt, jedes Detail erzählt eine eigene Geschichte.

Und während ich lese, denke ich auch zurück. Ich bin nicht schaumgeboren, sondern ölofendunstgeboren. Der Geruch, der mich sofort in meine Kindheit zurückkatapultiert, ist der von Öl, das aus der Kanne in den Ofen gegossen wird. Dieser alles durchdringende, stechende Geruch, der nicht nur im Keller bei den riesigen Öltanks vorherrschte, sondern sich auch in unser Essen schlich. Denn meine Oma lagerte aus Platzmangel unsere Vorräte im Keller – Kartoffeln, Karotten, Kohl, direkt neben den Tanks.

Der eingebaute Schrank, in dem die Ölkannen standen. Heizungsölgeruch in den Klamotten und immer die Sorge, andere können das an einem riechen. Wir lebten in einer Reihe von vier Mietskasernen, doch nur unsere Reihe hatte keine Heizung. Sie war für die Aussiedler und Flüchtlinge vorgesehen. Heute sind es Eigentumswohnungen – ein absurdes Schicksal für diese Bauten, oder? Krass, wie sehr die Orte, in denen wir aufwachsen, uns formen, wie tief sich ihre Geschichten in unsere Körper einschreiben.

Ohde beschreibt diese Welt ohne Pathos, aber mit einer Wahrhaftigkeit, die manchmal schwer auszuhalten ist. Sie zeigt, was es bedeutet, wenn Herkunft nicht nur eine Tatsache, sondern ein Stigma ist. Wie Klassismus sich in feinen, kaum sichtbaren Rissen im Selbstbewusstsein eingräbt. Wie er sich als verinnerlichte Abwertung manifestiert – und wie schwer es ist, sich davon zu befreien. Und dann sind da noch die anderen Linien der Ausgrenzung: subtiler Rassismus, Armut, psychische Krankheiten, alles ineinander verschränkt, alles spürbar in jeder Begegnung, jedem Blick, jeder Geste.


Wenn einem etwas angetan wird, dann ist er nicht selbst schuld daran; wenn einer in einem System versagt, das von vornherein auf sein Versagen angelegt ist, liegt die Schuld nicht bei ihm. Für wen ist das Netz gebaut. Für wen ist es ein Fangnetz, und für wen ist der Abgrund darunter bestimmt.

Ich habe diesen Roman nicht nur gelesen – ich habe ihn durchlebt. Ich saß mit der Protagonistin im Klassenzimmer und habe die Lehrer verflucht, ich sah mit ihr auf den Industriepark mit seinen hohen Schloten, ich spürte ihre Resignation auf meinen eigenen Schultern lasten. Und ich ging mit ihr mühevolle Schritte mit dem Gefühl, falsch zu sein, selbst schuld zu haben, durchs Raster gefallen zu sein – in einem Land, das gleiche Bildungschancen proklamiert.

Deniz Ohde hat meinen tiefsten Respekt für diesen Roman. Es ist eine Geschichte, die bleiben wird, weil sie nicht nur erzählt, sondern auch entblößt. Weil sie einen nicht nur an die Hand nimmt, sondern einem auch einen Spiegel vorhält. Und weil sie mich – und sicher viele andere – an Dinge erinnert, die sonst oft unsichtbar bleiben. Ich bin gespannt auf alles, was sie noch schreiben wird. Denn wenn Streulicht eines bewiesen hat, dann das: Es gibt Literatur, die uns nicht nur etwas über andere erzählt, sondern uns mit jedem Wort mehr über uns selbst verrät. Was für ein Roman!

Die verlorenen Wörter – John Macfarlene & Jackie Morris erschienen bei Naturkunden im Matthes & Seitz Verlag, übersetzt von Daniela Seel

Es gibt Bücher, die man liest, bewundert und dann wieder ins Regal stellt. Und es gibt Bücher wie „The Lost Words/Die verlorenen Wörter“ von Robert Macfarlane und Jackie Morris, die man nicht nur liest, sondern immer wieder zur Hand nimmt, weil sie einen ganz tief berühren. Dieses Buch ist mehr als eine Sammlung von Versen und Illustrationen – es ist ein Zauberbuch, das verlorene Worte und damit verlorene Welten zurückruft.

Die Geschichte hinter diesem Buch ist ein bißchen traurig, hat enthält aber auch einen Hauch Hoffnung: Als das Oxford Junior Dictionary 2007 Wörter wie „Eichel“, „Dachs“ und „Königsfischer“ strich, um Platz für Begriffe wie „Broadband“ und „Voicemail“ zu machen, war das ein bezeichnendes Zeichen unserer Zeit. Ein Kind, das keine Worte für die Natur hat, verliert nicht nur die Fähigkeit, sie zu benennen, sondern auch, sie wirklich wahrzunehmen. Sprache formt unsere Vorstellungskraft, und wenn uns die Worte für das Wilde, das Ursprüngliche fehlen, wird es Stück für Stück unsichtbar.

Macfarlane und Morris haben darauf mit einer poetischen „Rebellion“ geantwortet. Sie haben nicht einfach ein Kinderbuch geschaffen – sie haben eine Sammlung von „Zaubersprüchen“ geschrieben, Verse, die die verlorenen Worte zurückholen und ihnen neues Leben einhauchen. Jackie Morris’ Illustrationen sind wunderschön, detailverliebt und von einer tiefen Liebe zur Natur durchdrungen. Würde so gerne so zeichnen können! Jedes Bild, jede Seite ist ein kleiner Zauber, der die Magie der Sprache und der Wildnis feiert.



Ja, es ist eigentlich ein Kinderbuch – aber es weckt eine tiefe Sehnsucht nach der Natur, egal wie alt man ist. „Die verlorenen Wörter“ sollte vielleicht vom Arzt als Antidepressiva verschrieben werden, als Gegenmittel gegen Doom-Scrolling, Betontristesse und die allgemeine Entzauberung der Welt.

Dieses Buch zaubere ich jetzt in jedes Klassenzimmer, jede Bibliothek, jedes Zuhause. Es ist eine Einladung, die Natur wieder zu entdecken. Denn nur was wir benennen können, können wir auch lieben. Und nur was wir lieben, werden wir bewahren.

Geschafft! Was waren eure Februar Highlights? Freue mich von euch zu hören!

Read around the world: ISRAEL

Heute mal wieder ein Stopp auf der literarischen Weltreise den wir tatsächlich schon mal besucht haben. Vor mittlerweile acht Jahren waren wir für zwei Wochen in Israel unterwegs. Schon die Anreise ist ein Erlebnis für sich. Der verstecke Abflugterminal am Münchner Flughafen, die deutlich intensiveren Sicherheitskontrollen wo es zB neben den üblichen Maßnahmen kurze persönliche Interviews gibt, die nicht nur darauf abzielen, gefährliche Gegenstände zu finden, sondern potenzielle Sicherheitsrisiken zu identifizieren. Die Ausreiseprozedur ist oft noch strenger, doch das zeigt, welchen Stellenwert Sicherheit in diesem Land hat.

Eine beliebte Redewendung lautet: „Nach Jerusalem fährt man zum Beten, nach Haifa zum Arbeiten und nach Tel Aviv zum Sündigen.“ Zu Haifa kann ich nicht viel sagen, da wir nicht dort waren, aber Tel Aviv ist eine leichtlebige, herzliche Stadt mit einem 14 km langen Sandstrand, einer jungen, modernen Atmosphäre und einem angenehmen Klima, die wir sehr schnell lieb gewonnen hatten. Tagsüber waren wir angenehme 20–21 Grad, doch sobald die Sonne unterging, wurde es schlagartig kalt – da kam unsere dicke Münchner Winterjacke tatsächlich zum Einsatz.

Tel Aviv ist eine vergleichsweise junge Stadt. Sie wurde 1909 gegründet, als die alte Hafenstadt Jaffa aus allen Nähten platzte. In den 1920er und 1930er Jahren kamen viele jüdische Architekten deutscher Herkunft ins Land und prägten die Stadt mit rund 5000 Gebäuden im Bauhaus-Stil. Besonders rund um den Rothschild-Boulevard findet man diese moderne Architektur, die mittlerweile von der UNESCO als Weltkulturerbe anerkannt wurde.

Ein Ausflug nach Jerusalem durfte natürlich nicht fehlen. Knapp 1 Stunde braucht man auf der Autobahn und fährt dabei durch das Jordan Valley an vielen geschichtsträchtigen Orten vorbei. Da wir uns das Auto fahren in Jerusalem schenken wollten, begaben wir uns für diesen Trip auf einen geführten Ausflug und waren mit 10 Leuten eine international bunt gemischte Truppe.

Jerusalem ist das komplette Gegenteil zu Tel Aviv eine der ältesten Städte der Welt, seit Jahrtausenden von verschiedenen Kulturen und Religionen geprägt und religiös bis in die Haarwurzeln. Die Altstadt ist in vier Viertel unterteilt – das jüdische, das armenische, das muslimische und das christliche Viertel. Die engen Gassen voller Menschen, Geschäfte, Stimmengewirr und Gerüche vermitteln ein Gefühl aus „1001 Nacht“ und „Indiana Jones“ zugleich.

Wahrscheinlich ist es nicht überraschend, dass Jerusalem das Ziel schlechthin für religiöse Touristen ist, trotzdem war ich irgendwie nicht drauf vorbereitet. In Deutschland sind mir selbst in Bayern selten extrem gläubige Menschen begegnet: die deutschen Touristen die mit uns unterwegs waren fielen mit ihren riesigen Kreuzen, die sie um den Hals trugen, eindeutig in diese Kategorie.

Der erste und zum Glück einzige kommerzielle Stop der Tour brachte uns auf dem Ölberg in ein biblisches Devotionaliengeschäft, in dem man alles bekommen konnte, was das religiöse Herz begehrt. Man muss sich den Laden vorstellen wie einen riesigen Supermarkt inklusive roter Plastikeinkaufskörbe die jeder in die Hand bekam. Es gab Kreuze, Krippen, Heilenstatuen, Rosenkränze, Öle in allen Ausführungen und Preisklassen etc zu kaufen und sehr erstaunt musste ich feststellen, das wir zwei die einzigen in der Gruppe waren, die nichts einkauften. Die anderen kamen mit großen Tüten in den Bus zurück und hatten zum Teil richtig große Beträge dort gelassen.

Die Altstadt von Jerusalem ist aufgeteilt in vier Bezirke: das jüdische, das armenische, das arabische und das christliche Viertel und die engen Gassen voller Menschen, Geschäfte, Stimmengewirr und Gerüche vermitteln ein Gefühl aus einer Mischung von 1001 Nacht und Indiana Jones.

Bei der Führung durch die diversen Kirchen merkte ich, dass mir teilweise entsprechendes Hintergrundwissen fehlte und ich mit einigen biblischen Namen nicht genug anfangen konnte, um es in den historischen Kontext zu setzen. Die Pilger, die sich zum Beispiel in der Erlöserkirche auf den Boden warfen, um den Boden zu küssen, den angeblichen Abdruck von Jesus Hand in der Via Dolorosa küssten oder stundenlang anstanden, um sich das Grab von Joseph von Arimatrea anzusehen und dort fanatisch weinend zu knien, fand ich ganz schön beklemmend.

Die Klagemauer ist erwartungsgemäss absolute Hochsicherheitszone. Man geht durch Sicherheitschecks wie am Flughafen und reiht sich dann in die Schlange vor dem nach Geschlechtern getrennten Eingang. Es gibt eine Art free little library, in der man sich Bibeln in allen Sprachen ausleihen kann und in weißen Plastikstühlen kann man vor der Mauer sitzen und beten oder einen Zettel mit einem Gebet in die Klagemauer stecken. Unser Wunsch Trump das Zeitliche segnen zu lassen wurde leider bislang nicht erfüllt, vielleicht hätte man dazu religiöser sein müssen.

Jerusalem ist eine aufregende Stadt, es gibt so viel Geschichte und wahnsinnig viel zu sehen, dennoch war ich froh, abends wieder im leichtlebigeren Tel Aviv zu sein.

Hier noch einige wichtige geschichtliche Eckpunkte:

  • Antike: Das Gebiet des heutigen Israel war in biblischer Zeit das Königreich Israel und Juda. Die Stadt Jerusalem wurde im 10. Jahrhundert v. Chr. zur Hauptstadt des jüdischen Königreichs.
  • Römische Zeit: Nach der Zerstörung des Tempels 70 n. Chr. durch die Römer wurde die jüdische Bevölkerung zerstreut (Diaspora).
  • Mittelalter und Osmanische Herrschaft: Bis 1917 war das Gebiet Teil des Osmanischen Reiches.
  • Britisches Mandatsgebiet: Nach dem Ersten Weltkrieg übernahm Großbritannien die Verwaltung über Palästina.
  • Gründung Israels (1948): Nach der UN-Resolution zur Teilung Palästinas rief David Ben-Gurion am 14. Mai 1948 den Staat Israel aus. Es folgte der erste arabisch-israelische Krieg. Golda Meir war eine der bekanntesten Politikerinnen Israels und diente von 1969 bis 1974 als Premierministerin. Sie war die erste Frau in diesem Amt in Israel und eine der wenigen Frauen weltweit, die ein solches politisches Spitzenamt innehatten.
  • Konflikte und Friedensverträge: Israel war in mehrere Kriege verwickelt (Sechstagekrieg 1967, Jom-Kippur-Krieg 1973), schloss aber auch Friedensabkommen, z. B. mit Ägypten 1979 und Jordanien 1994.

Ein besonders ergreifender Teil unserer Reise war der Besuch der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem. Das Museumsgebäude ist eine architektonische Besonderheit, bei dem man nicht gerade durch das Museum gehen kann, sondern man immer wieder um eine Ecke biegen muss und immer neuen schrecklicheren Geschehnissen gegenübersteht. Dabei verliert sich der Boden immer weiter nach unten und gleicht einem Abstieg in die Hölle. Das Gebäude läuft vorne spitz zu und öffnet sich dann einer positiven Zukunft entgegen. Die Gedenkstätte sollte man sich unbedingt ansehen, auch wenn man denkt, man hat schon soviel zu dem Thema gehört. Es ist erschütternd, schrecklich und zeigt, wie schnell die Welt aus den Fugen geraten kann.

Das im Jahre 1987 errichtete „Denkmal für die Kinder“ ist dem Gedenken an die 1,5 Millionen von den Nationalsozialisten ermordeten jüdischen Kinder gewidmet. Das Denkmal ist als unterirdischer Raum angelegt, in dem fünf Kerzen durch Spiegel in der Dunkelheit so reflektiert werden, dass ein ganzer Sternenhimmel entsteht. Im Hintergrund werden die Namen, das Alter und der Geburtsort der Kinder von einem Tonband abgespielt. Dieses Endlosband braucht ungefähr drei Monate, um alle Namen wiederzugeben. Unfassbar traurig!

Israel hat sich von einem kleinen, ressourcenarmen Land zu einer der führenden Hightech-Nationen der Welt entwickelt. Es wird oft als „Start-up Nation“ bezeichnet, da es die höchste Start-up-Dichte pro Kopf hat. Zu den wichtigsten Wirtschaftssektoren gehören:

  • Technologie und Innovation: Israel ist weltweit führend in Bereichen wie Cybersicherheit, Medizintechnik und künstlicher Intelligenz.
  • Landwirtschaft: Trotz des trockenen Klimas hat Israel durch innovative Bewässerungssysteme eine leistungsfähige Landwirtschaft aufgebaut.
  • Tourismus: Historische und religiöse Stätten ziehen jedes Jahr Millionen Besucher an.

Im Masada National Park in der Judäischen Wüste liegt die Masada Festung die Herodes, König von Judea von 37 bis 4 BC erbauen ließ. Es war die letzte Bastion der jüdischen Zeloten (Freiheitskämpfer) gegen die Römer. Zwei Jahre lang versuchten etwa 8000 römische Soldaten die Leute auf der Festung auszuhungern, gelang ihnen aber nicht, denn diese legten Gärten, Zisternen und Bäder an, hielten Tiere und lebten einigermaßen vergnüglich in ihrer Festung, während die Römer in der Wüste litten.

Nach zwei Jahren hatten die aber genug und ließen sich von jüdischen Zwangsarbeitern eine Rampe bauen, mit der sie dann die Festung eroberten. Bevor die etwa 960 Zeloten allerdings gefangengenommen werden konnten, brachten sie sich gegenseitig um, um nicht in feindliche Hände zu fallen.

Die tragischen Ereignisse der letzten Tage der Rebellen von Masada transformierten den Ort in eine kulturelle Ikone als Symbol für den dauernden Kampf der Menschheit für Freiheit und gegen Unterdrückung. 2001 wurde Masada von der Unesco in die Liste der Weltkulturerbstätten aufgenommen.

Nach der Wüstenhitze kam das Tote Meer gerade recht. Das Tote Meer ist das tiefstgelegenste Meer der Welt und hat einen Umfang von etwa 135 km und in der Mitte des Sees verläuft die Grenze zwischen Israel und Jordanien. Die Einsamkeit und Weite der Wüste und des Toten Meeres schaffen eine ganz surreale Atmosphäre.

Die Oberfläche des Toten Meeres nimmt pro Jahr etwa um etwas mehr als 1 Meter ab. Aufgrund des hohen Salzgehaltes, der fast das Zehnfache der Ozeane beträgt, und der damit verbundenen hohen Dichte trägt das Wasser den menschlichen Körper außergewöhnlich gut, man kann allerdings dennoch ertrinken. Das Baden dort ist gar nicht so ungefährlich, den die Menschen verlieren am Toten Meer oft die Balance und schlucken dann große Mengen an Wasser. Das ist lebensgefährlich, da es schwere Lungenverletzungen verursachen kann. Mit einem Salzgehalt, der zehnmal höher ist als in den Ozeanen, trägt das Wasser den menschlichen Körper mühelos – ein einzigartiges Erlebnis.

Die israelische Küche ist ein Schmelztiegel aus mediterranen, arabischen und osteuropäischen Einflüssen.

Besonders beliebt sind:

  • Hummus und Falafel – Grundnahrungsmittel, die man überall bekommt.
  • Shakshuka – eine würzige Eierspeise in Tomatensauce.
  • Sabich – ein Pita-Sandwich mit Auberginen und Ei.
  • Jachnun – ein jemenitisches Gebäck, das traditionell am Shabbat gegessen wird und was uns ganz schön überraschte:
  • Schnitzel – wurde insbesondere in Tel Aviv als „Pargit“ gebratenes Hähnchen-Schnitzel an jeder Ecke angeboten und war richtig gut

Während unserer Reise fühlten wir uns die meiste Zeit über sicher. Trotzdem wurden wir durch ein Ereignis aufgeschreckt: Ein Messerangriff in Jaffa, von dem wir nur durch besorgte Anrufe unserer Familie in Deutschland erfuhren. Auch Raketenangriffe im Süden des Landes passierten während unseres Aufenthalts, wurden aber durch das Abwehrsystem Iron Dome abgefangen. Diese Realität ist für viele Israelis Alltag.

Noch ein bisschen was zur Kultur in Israel: Erstaunlicherweise habe ich bislang gar nicht so viele israelische Filme gesehen, daher ist meine Auswahl hier etwas bescheiden. In Erinnerung geblieben ist mir auf jeden Fall der Film „A Tale of Love and Darkness“ von und mit Natalie Portman:

Der Film basiert auf den Memoiren des israelischen Schriftstellers Amos Oz und erzählt von seiner Kindheit im Jerusalem der 1940er Jahre, geprägt von der Gründung Israels, familiären Konflikten und der melancholischen Beziehung zu seiner Mutter, die mit Depressionen kämpft.

Den zweiten Film den ich nennen möchte habe ich leider noch gar nicht gesehen, kenne bislang nur Trailer habe ihn aber schon eine Weile auf meiner Liste. Es geht um „Shiva Baby“, eine schwarze Komödie, um eine junge Frau, die auf einer traditionellen jüdischen Trauerfeier (Shiva) auf ihre Ex-Geliebte, ihren aktuellen Liebhaber und ihre Eltern trifft.

Insbesondere in Tel Aviv haben wir wunderbare Buchläden gefunden, dort gibt es eine pulsierende Literaturszene die lebendig, politisch engagiert und oft geprägt ist von Mehrsprachigkeit – Hebräisch dominiert, doch auch arabische, jiddische und russische Literatur haben bedeutenden Einfluss. Zahlreiche Literaturpreise wie zB der Sapir-Preis und die internationale Anerkennung israelischer Autor*innen zeigen, wie tief Literatur im kulturellen Leben des Landes verwurzelt ist.

Besonders gerne lese ich die Bücher des Historikers Yuval Noah Harari, die Romane von Zeruya Shalev und Ayelet Gundar-Goshen, von der ich euch heute hier auch einen Roman vorstellen werde. In den 90er Jahren habe ich eine Menge Bücher von Meir Shalev gelesen, insbesondere „Im Haus der großen Frau“ ist mir sehr in Erinnerung geblieben.

Bevor ich aber auf die heutige entsprechende Lektüre eingehe möchte ich noch kurz auf die Musikszene in Israel eingehen. Und da kommt man eigentlich nicht wirklich am Eurovision Song Contest vorbei 😉 Israel und der Eurovision Song Contest – das ist wie Falafel und Hummus: einfach eine perfekte Mischung! Seitdem Israel 1998 mit „Diva“ von Dana International den Wettbewerb gewann, hat das Land regelmäßig mit seinen einzigartigen Beiträgen überrascht. Egal ob mit melodischen Hits oder schrillen Showeinlagen, Israel sorgt stets für die nötige Portion Drama und Glamour.

Israel ist ein wunderbares Reiseland mit vielfältiger Geschichte, beeindruckender Natur, kultureller Vielfalt, warmherzige, humorvolle Menschen und einem der wenigen sicheren Orte in der Region für Menschen aus der LGBTQ Community. Der Terrorangriff am 7. Oktober war ein furchtbarer, grausamer und unmenschlicher Akt was danach in Gaza folgte ebenso. Ich hoffe, es wird irgendwann ein friedliches Zusammenleben von jüdischen und arabischen Menschen in Israel möglich sein. Trusk mit seinen menschenverachtenden Ideen von einer Riviera in Gaza trägt sicherlich nicht zu einer vernünftigen friedlichen Lösung bei. Trotz der politischen Spannungen und Herausforderungen bleibt Israel ein Land voller Hoffnung und Warmherzigkeit, das Besucher*innen mit seiner einzigartigen Mischung aus Tradition und Moderne, Spiritualität und lebendigem Stadtleben definitiv in seinen Bann zieht.

Löwen wecken – Ayelet Gundar-Goshen erschienen im Kein & Aber Verlag, übersetzt von Ruth Achlama


„Löwen wecken“ ist ein tiefgründiger und fesselnder Roman, der die moralischen Dilemmata eines neurochirurgischen Arztes, Eitan Green, in den Mittelpunkt stellt. Nachdem er einen Migranten überfährt und die Tat vertuscht, gerät er in die Hand der Witwe des Opfers, Sirkit, die ihn erpresst, illegale Flüchtlinge medizinisch zu versorgen. Die Erpressung entwickelt sich zu einer zunehmend komplexen Beziehung, die zwischen moralischen Zwängen, Schuld und unerforschten Gefühlen pendelt.

Gundar-Goshen schafft es ausgesprochen gut, die inneren Konflikte ihrer Figuren zu beleuchten. Der Arzt, der an seinem Hippokratischen Eid gebunden ist, muss sich mit seiner Schuld und der Verantwortung für das Leben anderer auseinandersetzen, was zu einem spannungsgeladenen Drama führt. Sirkit, die Witwe, ist eine faszinierende und ambivalente Figur, die von Rachegefühlen und einem tiefen Überlebenswillen geprägt ist, und ihre Entwicklung vom „Schurken“ zur vielschichtigen Persönlichkeit ist ein zentraler Bestandteil der Erzählung. Auch Eitans Frau, Liat, die mit ihrer Fähigkeit, Menschen zu durchschauen, eine Art menschliche Detektivin ist, spielt eine wichtige Rolle in der spannungsgeladenen Atmosphäre des Romans.

Er parkte den Wagen und ging auf den Hof. Versuchte zu begreifen, warum sein Mitleid immer so schnell versiegte. Wieso sich hinter der Empathie immer dieser Groll einschlich. Wie Haie, die bei Blutgeruch durchdrehen, witterte auch er Schwäche und rastete aus. Oder vielleicht war es umgekehrt; nicht wegen der Kraft, die Schwachen kaputt zu machen, zürnte er ihnen, sondern wegen der raffinierten Art, mit der sie ihn kaputt machten. Wie ihre Armseligkeit ihm zusetzte, ihn schuldig machte.

Der Roman ist nicht nur eine packende Geschichte über moralische und existenzielle Fragen, sondern auch eine scharfsinnige Reflexion über die Behandlung von Flüchtlingen in Israel und die rassistischen und politischen Spannungen, die damit verbunden sind. Gundar-Goshen hinterfragt, was es bedeutet, „gut“ oder „schlecht“ zu sein, und wie gesellschaftliche Vorurteile unsere Entscheidungen beeinflussen.

Ayelet Gundar-Goshen, bekannt für ihre feinfühligen und komplexen Erzählungen, nutzt in „Löwen wecken“ ihre Fähigkeit, tief in menschliche Psychen einzutauchen. Die Autorin wurde 1982 in Tel Aviv geboren und ist bekannt für ihre Auseinandersetzungen mit gesellschaftlichen und politischen Themen, besonders in Bezug auf das Leben in Israel. Ihre Werke sind international anerkannt und werden für ihre brillante Mischung aus Humor, Tragik und tiefgründiger Analyse geschätzt.

Weitere Bücher aus Israel die ich hier besprochen habe findet ihr hier: Lizzie Doron – Ruhige Zeiten, Etgar Keret – Gaza Blues, Dana Vowinckel – Gewässer im Ziplock

Das war unser Stopp in Israel – seid ihr schon mal da gewesen? Welche kulturellen Tipps aus Israel (Bücher / Filme / Musik etc) habt ihr für mich?

Wer noch mal die zurückliegenden Stationen besuchen will:

Das nächste Land auf der literarischen Weltreise ist China (unser 10. Stopp!) – habt ihr Lust?