Read around the world: Mauretanien

Mauretanien. Wenn ihr euch auch kurz fragt, auf welchem Kontinent dieses Land eigentlich zu verorten ist – und dann, sobald das geklärt ist, in welcher Ecke – dann seid ihr nicht allein. Mir war es auch völlig fremd. Als Kind habe ich Briefmarken gesammelt, und bei anderen mir unbekannten Ländern habe ich dadurch wenigstens ein Gesicht oder Gebäude im Gedächtnis; bei Mauretanien war selbst das nicht der Fall: Keine Marke, kein Buch, keine Erinnerung. Das sollte sich ändern, als mir der Zufalls Generator bei meiner „Read around the world“-Challenge gleich ziemlich am Anfang Mauretanien zuloste. Auf Sandras Blog „Literarische Abenteuer“ war ich schon kurz davor auf ein passendes Buch gestoßen, ich begab mich also direkt zur Bayrischen Staatsbibiothek, bestellte mein Buch und dann warte ich und wartete und wartete – stolze zwölf Monate vergingen, bis ich es endlich abholen konnte – mein persönlicher Rekord.

Fotos: Wikipedia

Mauretanien ist gewaltig: über eine Million Quadratkilometer – fast dreimal so groß wie Deutschland und dennoch leben dort nur rund fünf Millionen Menschen, was es zu einem der am dünnsten besiedelten Staaten weltweit macht. Die Hauptstadt Nouakchott allein beherbergt etwa ein Fünftel aller Menschen des Landes.

Historisch ist Mauretanien von Berbervölkern und arabischen Einflüssen ab dem 8. Jahrhundert geprägt, später dann jahrzehntelang von Frankreich kolonisiert bis zur Unabhängigkeit 1960. Bis heute ist die politische Landschaft geprägt von autoritären Strukturen, Putschen, systemisch eingeschränkter Demokratie, begrenzter Presse- und Oppositionstoleranz sowie einer Justiz ohne echte Unabhängigkeit.

Religiös ist Mauretanien durch und durch islamisch. Fast die gesamte Bevölkerung bekennt sich zum sunnitischen Islam der malikitischen Rechtsschule, der öffentliche und private Bereiche tief prägt. Der Islam ist Staatsreligion und Religionsfreiheit im westlichen Sinne gibt es nicht – Abfall vom Glauben wird als Apostasie geahndet und kann gefährliche Konsequenzen nach sich ziehen. Kleinstgemeinschaften, insbesondere christliche Ausländer, praktizieren ihren Glauben meist nur im Verborgenen. Religiöse Rituale, Feste wie Ramadan oder das Opferfest Tabaski strukturieren das gesellschaftliche Leben.

Die kulturelle Vielfalt ist beeindruckend: Nomadische Traditionen, Poesie, Musik und Handwerk verflechten sich zu einem lebendigen Geflecht. Lieder mit Oud, Trommeln, Tende, Gesänge der Griots und arabisch-afrikanische Dichtung vermitteln soziale Bindungen und Geschichte. Schriftsteller*innen setzen sich zunehmend mit Identität, Religion und postkolonialer Erfahrung auseinander. Kunsthandwerk – Lederarbeiten, Teppiche, Schmuck, Webkunst – wird auf Märkten in Nouakchott und Oasen präsentiert. Festivals in der Wüste, in denen Musik und Tanz zentral sind, bieten seltenen Einblick in den kulturellen Reichtum.

Hier ein Lied von Malouma Mint El Meida einer Sängerin und eine der wenigen Politikerinnen des Landes. Ihr erster Titel Habibi Habeytou kritisierte die Art und Weise, in der Frauen in der Ehe behandelt werden.

Und noch ein Stück der Musikerin Noura Mint Seymali, eine bekannte Ardin-Spielerin und Sängerin, die in der Tradition der Griots aufgewachsen ist und mit ihrer Winkelharfe moderne Klanglandschaften mit tiefer Tradition verbindet.

Einer der bekanntesten Autoren des Landes ist Mbarek Ould Beyrouk. Sein Roman „The Desert and the Drum“ wurde 2017 mit dem English PEN Translate-Preis ausgezeichnet und war der erste mauretanische Roman, der international veröffentlicht wurde.

Die Gesellschaft ist multiethnisch etwa 40 % der Menschen gehören zu den Haratin (schwarze Moors), etwa 30 % zu den weißer Hautfarbe zugeordneten Beydane (arabisch-berberische Moors), und die restlichen circa 30 % gehören zu sub-saharischen Volksgruppen wie Halpulaar, Fulani, Soninke, Wolof oder Bambara. Historisch wurden Haratin als ehemalige Sklaven charakterisiert und sind trotz zahlenmäßiger Bedeutung noch immer marginalisiert – politische Macht und Ressourcen bleiben den Beydane vorbehalten. Diese soziale Hierarchie fußt auf dem Erbe der Sklaverei, die formal erst 1981 abgeschafft, 2007 kriminalisiert und 2015 mit Anpassungen versehen wurde – doch viele Formen bestehen fort.

Mauretanien ist ein ausgesprochen junges Land. Etwa 41 % sind unter 15 Jahre alt. Die Bevölkerungsentwicklung liegt bei fast 2 % pro Jahr, die Lebenserwartung beträgt etwa 65 Jahre.

Fotos: Unsplash

Wirtschaftlich dominieren Rohstoffe: Bergbau mit Eisen, Gold, Kupfer – sowie Fischverarbeitung – tragen entscheidend zum Export bei. Ein Großteil der Einnahmen stammt aus der Rohstoffförderung. Mit einem kürzlich begonnenen Gasfeldprojekt setzt das Land seine Hoffnungen auf eine neue Energiesparte, die das Land langfristig verändern könnte. Weitere geplante Offshore-Felder und Investitionen in Gas- und Strominfrastruktur sollen die Wirtschaft diversifizieren. Zugleich gibt es Initiativen zur Nutzung erneuerbarer Energien wie Biomasse, sowie für Infrastruktur wie die Modernisierung des Hafens von Nouakchott zur Stärkung der Fisch-Exporte.

Die Situation der Frauen ist prekär. Frauen sind politisch und rechtlich massiv benachteiligt: In Parlamentssitzen sind sie unterrepräsentiert, Bildung und Zugang zu Arbeitsmarkt oder Gesundheit limitiert. Kinderehen, Verstümmelung, Polygamie, Leblouh (Zwangsfütterung junger Mädchen zur Vorbereitung auf die Ehe) sind weit verbreitet. Gewalt gegen Frauen – inklusive sexuellem Missbrauch – wird durch eine justizielle Infrastruktur gehemmt: Der Gesetzgeber hinkt hinterher, viele Fälle werden familiär geregelt. Eine Änderung der Gesetzgebung zur Gleichstellung oder zum Schutz bei geschlechtsspezifischer Gewalt wurde mehrmals zurückgewiesen, mit Verweis auf islamische Normen.

Das Engagement von Frauenrechtlerinnen wie Zeinebou Mint Taleb Moussa ist darum umso bedeutender: Als Hebamme gründete sie Hilfsprogramme wie ein Zentrum für Überlebende sexueller Gewalt in Nouakchott – kämpft gegen den Stillstand, wo staatliches Handeln fehlt.

Fotos: Wikipedia

Die politische Stabilität wirkt im Vergleich zu Nachbarstaaten relativ hoch, doch dieses Bild ist trügerisch. Wirtschafts-Partner loben Kooperationsbereitschaft, während Menschenrechts-organisationen Repressionen gegenüber Migrant*innen, Minderheiten und Opposition kritisieren. Insbesondere die Rechte von LGBTQ+-Personen sind extrem gefährdet: Homosexualität ist gesetzlich streng verboten, in bestimmten Fällen drohen Todesstrafe und hohe Gefängnisstrafen. In der gesellschaftlichen Realität herrschen tief verwurzelte Tabus, und ein offenes Leben als queere Person ist praktisch unmöglich.

Mein Filmtipp für Mauretanien ist ein Werk des mauretanisch-französischen Regisseurs Abderrahmane Sissako. Er gilt als einer der bekanntesten Filmschaffenden aus dem subsaharischen Afrika. Wichtige Themen seiner Filme sind Globalisierung und Exil. „Heremakono“ erzählt in ruhigen, poetischen Bildern vom Leben in der mauretanischen Küstenstadt Nouadhibou. Der Film begleitet den jungen Abdallah, der vor seiner Weiterreise nach Europa in die Heimat seiner Mutter zurückkehrt und dort – fremd in seiner eigenen Kultur – alltägliche Szenen von Migration, Abschied und leiser Hoffnung beobachtet.

Und jetzt kommen wir auch endlich zum Buch das ich für diese Challenge gelesen habe:

Yahya Ekhou – Freie Menschen kann man nicht zähmen erschienen im Alibri Verlag

Yahya Ekhou, geboren 1991 in Mauretanien, wuchs in einer Gesellschaft auf, die stark von einem rigiden Kastensystem, patriarchalen Strukturen und religiösem Konservatismus geprägt ist. Als Angehöriger einer benachteiligten sozialen Gruppe und Atheist war sein Alltag von Diskriminierung, sozialer Kontrolle und der ständigen Erfahrung von Ausgrenzung geprägt. Früh begann er, sich für Menschenrechte, Säkularismus und die Aufhebung gesellschaftlicher Schranken einzusetzen – ein Engagement, das ihn in seiner Heimat in Lebensgefahr brachte und schließlich zur Flucht nach Deutschland führte.

Unterdrückung, Verfolgung und Diktatur entstehen, wenn der Peitschenträger freigesprochen und der Wortträger angeklagt wird.

Sein Buch ist eine Mischung aus autobiographischem Bericht, essayistischer Reflexion und politischem Manifest. Ekhou beschreibt eindringlich die Verflechtung von Religion, Tradition und Politik in Mauretanien, die individuelle Freiheit massiv einschränkt. Er schildert seine Kindheit in einem Umfeld, in dem Herkunft über Lebenschancen entscheidet, und erzählt von seinem Ringen um Selbstbestimmung, das ihn in Opposition zu einer Gesellschaft stellte, die Abweichung nicht duldet. Besonders nahe gehen die Passagen, in denen er von der Enge des Alltags berichtet und gleichzeitig den unbeugsamen Drang nach Freiheit spürbar macht – nach einem Leben, das nicht durch Herkunft, Geschlecht oder Glaube definiert ist, sondern durch eigene Entscheidungen.

Erschütternd fand ich auch, dass Ekhou selbst nach der Flucht nach Deutschland nicht völlig von Verfolgung befreit war. In Flüchtlingsunterkünften wurde er wiederholt von muslimischen Mitbewohnern angegriffen, die ihn wegen seines Atheismus bedrängten und bedrohten. Diese Erfahrungen zeigen, dass seine Suche nach Freiheit und Sicherheit ein globales, nicht nur lokales Ringen war.

Bei vielen in Deutschland lebenden Arabern und Muslimen, mit denen ich zu tun habe, fällt mir folgender Widerspruch auf: Auf der einen Seite fordern sie das Recht ein, vor den diktatorischen Richtlinien und Gesetzen, vor denen sie geflohen sind, geschützt zu werden. Gleichzeitig wollen sie, dass ihr Glaube respektiert wird. Und alle europäischen Verfassungen garantieren das. Doch dieselben Menschen unterdrücken und schließen Araber und Muslime aus, wenn diese andere religiöse Übezeugungen haben oder ihren Glauben sogar abgelegt haben. Dieselben, die Respekt für ihren Glauben fordern und auf ihre Entscheidungsfreiheit pochen, beleidigen, unterdrücken und schlagen Personen, die eigentlich Asyl und Schutz erhalten sollen. Sie hetzen auf schlimmste Weise gegen Atheisten und Homosexuelle und fordern deren Verfolgung.

Das Buch ist zugleich Anklage und Hoffnungsschrift. Es wirft einen ungeschönten Blick auf Menschenrechtsverletzungen, auf die Lage von Frauen, Minderheiten und Freidenker*innen in Mauretanien. Aber es ist auch ein Zeugnis von Widerstand und Überlebenswillen. Freie Menschen kann man nicht zähmen ist daher nicht nur ein wichtiges Zeitdokument, sondern auch ein bewegender Aufruf, sich gegen jede Form von Unterdrückung zu stellen.

Die Heimat, auch wenn es nur ein Zelt in einer kargen Wüste ist, bleibt ein Ort, der mit positiven Werten und Erinnerungen verbunden ist. Jeder von uns hat einen Ort, an dem er sich zu Hause fühlt. Und trotz all der negativen Eigenschaften und Probleme bleibt es unsere Heimat.

Das war er unser Stop in Mauretanien, einem Land, das vermutlich fast niemand von uns bisher besucht hat. Habt ihr irgendwelche Assoziationen? Kennt ihr Musiker*innen, Filme etc?

Ich freue mich auf eure Rückmeldungen und wohin es als nächstes geht, verrate ich nicht, denn ab und an muss ich doch schieben wie man sieht, weil Bücher länger auf sich warten lassen. Wer noch mal zu den vorherigen Stationen (Sri Lanka, Italien, Trinidad & Tobago, Nigeria, Südkorea, China, Israel, Belarus, Japan, DR & Republik Kongo, USA, Polen, Chile, Afghanistan, Vietnam, Ukraine) zurückreisen möchte wird in meiner Kategorie „Read around the World“ fündig.