Read around the world: Mexiko

Mexiko ist ein Land voller Gegensätze – faszinierend, widersprüchlich, oft von außen auf Klischees reduziert. Die Bilder reichen von Traumstränden und farbenfrohen Festen bis hin zu Schlagzeilen über Gewalt und Migration. Doch dazwischen liegt ein Land mit einer tief verwurzelten Geschichte, einer vielfältigen Kultur und einer Gegenwart, die nicht in einfachen Erzählungen aufgeht.

Für mich war Mexiko lange ein Ort, den ich vor allem aus Filmen, Musik und Schlagzeilen kannte. Erst mit der Lektüre wurde mir zumindest etwas klarer, wie viele Schichten dieses Land prägen: die Spuren präkolumbischer Hochkulturen, die Brüche der Kolonialisierung, die Hoffnungen und Enttäuschungen der Revolution, die Kämpfe um Gerechtigkeit heute. Ich war noch nie dort und könnte ich mich beamen, würde ich vielleicht mal eine Reise dorthin machen, aber ich fliege immer weniger gern, von daher wird es wohl bei diesem Stopp hier bleiben.

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Ich beginne mal direkt mit den vergleichenden Daten:

  • Fläche: Mit etwa 1,964 Millionen km² ist Mexiko rund fünfmal so groß wie Deutschland (≈ 357.000 km²).
  • Bevölkerung: Rund 130 Millionen Menschen leben in Mexiko (Stand 2025), etwa eineinhalb Mal so viele wie in Deutschland (ca. 84 Millionen).
  • Bevölkerungsdichte: Mexiko ist (abhängig von Region) gemischt besiedelt — in Ballungszentren wie Mexiko-Stadt oder Monterrey sehr dicht, in dünn besiedelten Gebieten im Norden oder im Hochland weit weniger.
  • Wirtschaft: Mexiko ist eine der größten Volkswirtschaften Lateinamerikas, mit bedeutendem industriellem Sektor (Automobilproduktion, Elektronik, Öl), starkem Dienstleistungssektor und zugleich großen Disparitäten zwischen armen und reichen Regionen und ausgeprägter Abhängigkeit vom Export, z. B. in die USA.

Die Geschichte Mexikos ist eine Geschichte von Eroberung, Widerstand und Erneuerung. Lange vor der Ankunft der Spanier existierten Hochkulturen wie die Olmeken, Maya, Zapoteken und Azteken — Gesellschaften mit beeindruckender Architektur, Astronomie, Schrift und Religion. Mit der Ankunft der Konquistadoren im 16. Jahrhundert begann eine gewaltsame Kolonialisierung, unter der indigene Bevölkerungen epidemisch dezimiert, Land enteignet und Kulturen unterdrückt wurden.

Im 19. Jahrhundert erkämpfte sich Mexiko die Unabhängigkeit (1821), doch politische Instabilität, Interventionen aus dem Ausland (z. B. der Amerikanisch-Mexikanische Krieg 1846–48) und interne Konflikte prägten das 19. Jahrhundert. Die Revolution von 1910–1920 brachte tiefgreifende soziale Umwälzungen, Landreformen, neue politische Bewegungen – aber auch Gewalt, Machtkämpfe und enttäuschte Hoffnungen.

Im 20. und 21. Jahrhundert ist Mexiko mit Herausforderungen wie Drogenkartellen, Korruption, sozioökonomischen Ungleichheiten, Umweltproblemen und Migration konfrontiert. Gleichzeitig erleben wir eine reiche kulturelle Vitalität. In Gesellschaft und Politik wachsen Spannungen: Indigene Rechte, Landansprüche, Fragen der Identität, Geschlechtergerechtigkeit und Gewalt gegen Frauen sind drängende Themen. Zugleich gibt es Hoffnungsträger*innen – Aktivist*innen, Künstler*innen, Intellektuelle, die mit Mut und Kreativität intervenieren.

Die rechtliche Situation der LGBTQ+ Community hat in den letzten Jahren deutliche Fortschritte gemacht: 2022 wurde die gleichgeschlechtliche Ehe in allen Bundesstaaten Mexikos legal, nachdem der letzte Staat (Tamaulipas) ein entsprechendes Gesetz verabschiedete.

Ein weiterer Schritt: Der mexikanische Senat hat ein Gesetz verabschiedet, das sogenannte “Conversion Therapy” untersagen will. Trotz dieser Fortschritte ist die Situation im Alltag für viele LGBTQ+ Menschen weiterhin schwierig. Gewalt, Diskriminierung und Hassverbrechen bleiben ein großes Problem. Besonders Trans-Personen sind überproportional von Morden betroffen: Zwischen Oktober 2023 und September 2024 wurden mindestens 71 Trans- oder gender-diverse Personen getötet.

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Ein Beispiel für ein positives Signal: In Mexiko-Stadt wurde ein Gesetz erlassen, das “Transfemizid” als Verbrechen anerkennt – also gezielte Tötungen von trans Frauen. Das ist ein wichtiger Schritt, um die oft bestehende Straflosigkeit solcher Gewalt besser zu bekämpfen.

Seit dem 1. Oktober 2024 ist Claudia Sheinbaum die Präsidentin Mexikos – die erste Frau, die dieses Amt innehat. Sie bringt eine ungewöhnliche Kombination aus wissenschaftlichem Hintergrund, politischer Erfahrung und sozialem Anspruch mit: Sie hat Energie- und Umweltwissenschaften studiert und war vorher u.a. bereits Regierungschefin von Mexico City.

Ein Bereich, in dem sie besonders aktiv ist, ist ihre Fokussierung auf soziale Programme und Armutsbekämpfung – sie setzt viele der Initiativen ihres Vorgängers fort, mit dem Ziel, Ungleichheiten zu verringern. Gleichzeitig versucht sie, politische Stabilität mit einer gewissen Rationalität und wissenschaftlicher Herangehensweise zu verbinden: Bei Themen wie Klimaschutz, nachhaltiger Entwicklung und öffentlicher Gesundheit sieht man bereits, dass sie nicht nur symbolische Politik macht, sondern versucht, konkrete Strukturen zu etablieren.

Auch in außen- und handelspolitischen Fragen zeigt sie sich selbstbewusst: Sie will Mexiko gegenüber den USA und anderen Partnern stärker vertreten sehen und technologische Innovation fördern. Natürlich gibt es auch Kritik und große Herausforderungen: Gewalt (insbesondere durch Kartelle), Ungleichheiten, Korruption, regionale Unterschiede in der Umsetzung von politischen Maßnahmen. Aber selbst Menschen, die ihre Politik skeptisch sehen, erkennen an, dass sie versucht, das Amt anders zu führen – mit Pragmatismus, mit Blick auf soziale Gerechtigkeit und mit dem Anspruch, Mexiko in seiner Komplexität gerecht zu werden.

Gelesen habe ich für diesen Stopp zwei Bücher, die ich euch vorstellen und beide auch ans Herz legen möchte:

The Illiac Crest – Cristina Rivera Garza erschienen im Verlag And Other stories, übersetzt von Sarah Booker (eine deutsche Übersetzung gibt es bislang nicht)

Cristina Rivera Garza, geboren 1964 in Matamoros im mexikanischen Bundesstaat Tamaulipas, ist eine der bedeutendsten Stimmen der zeitgenössischen lateinamerikanischen Literatur. Sie studierte Soziologie in Mexiko, promovierte in Geschichte in den USA und lehrt heute Creative Writing in Houston. Rivera Garza ist bekannt für ihre literarischen Experimente, in denen sie Genregrenzen überschreitet und Fragen nach Identität, Sprache und Macht in eindringliche Bilder übersetzt.

Ihr Roman The Iliac Crest ist dafür ein besonders gutes Beispiel. Die Geschichte beginnt mit einem klassischen, „gothic trope“: In einer stürmischen Nacht taucht eine geheimnisvolle Frau beim Erzähler auf, einem Arzt, der in einem Sanatorium arbeitet. Sie behauptet, die mexikanische Schriftstellerin Amparo Dávila zu sein, eine Autorin, die für ihre unheimlichen und fantastischen Erzählungen bekannt ist. Von diesem Moment an gerät die Realität ins Wanken: Die Besucherin stellt das Leben, die Identität und schließlich das Geschlecht des Erzählers infrage. Je tiefer er in ihr Spiel hineingezogen wird, desto mehr verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und Einbildung, zwischen Normalität und Wahnsinn.

Das Buch entfaltet eine düstere, rätselhafte Atmosphäre, die sich weniger durch spektakuläre Handlung als durch die subtile Verunsicherung trägt, die Rivera Garza meisterhaft erzeugt. Wiederholungen, Andeutungen, fragmentierte Bilder – alles scheint zu bedeuten und doch entzieht sich die Bedeutung. Der titelgebende Hüftknochen wird zum Symbol für Körperlichkeit, Identität und Verletzlichkeit, während das Schweigen und die Leerstellen ebenso viel Gewicht haben wie die Worte. In dieser Zwischenwelt aus Sturm, Nacht und verschobener Wahrnehmung entsteht ein Sog, der mich nicht losgelassen hat.

Besonders eindrucksvoll fand ich, wie Rivera Garza die Frage nach Geschlecht und Identität behandelt: nicht als These oder Statement, sondern als unheimliches, poetisches Gleiten, das den Leser zwingt, vertraute Kategorien infrage zu stellen. Gleichzeitig ist „The Iliac Crest“ eine Hommage an vergessene Schriftstellerinnen, an Stimmen, die aus Archiven und Randbereichen wieder ans Licht geholt werden.

Wer sich auf diese verschattete, vieldeutige Welt einlässt, findet in „The Iliac Crest“ ein Werk von fast schon hypnotischer Intensität – ein Buch, das weniger Antworten gibt als Fragen stellt und gerade darin seine Kraft entfaltet.

Die Schwerelosen – Valeria Luiselli erschienen im Kunstmann Verlag, übersetzt von Dagmar Ploetz

Valeria Luiselli, geboren 1983 in Mexiko-Stadt, gehört ebenfalls zu den spannenden literarischen Stimmen Mexikos. Sie wuchs in Südafrika, Indien und den USA auf, lebt heute in Mexiko und New York und schreibt auf Spanisch sowie auf Englisch. Ihre Werke bewegen sich an der Grenze zwischen Fiktion, Essay und Autofiktion, oft mit einer spielerischen Leichtigkeit im Ton, die sich mit einer präzisen, manchmal fast schon schmerzhaften Beobachtungskraft verbindet.

Die Schwerelosen ist ihr Debütroman – und schon darin zeigt sich, wie souverän Luiselli Sprache und Erzählform handhabt. Erzählt wird aus der Perspektive einer jungen Mutter und Schriftstellerin, die in New York lebt und versucht, über ihre Erfahrungen zu schreiben. Doch ihr Text öffnet sich in verschiedene Richtungen: hinein in ihre Erinnerungen an ihre Zeit als Lektorin, hinein in das Leben des mexikanischen Dichters Gilberto Owen, der in den 1920er Jahren ebenfalls in New York lebte, und hinaus in eine Art Zwischenraum, in dem Stimmen, Zeiten und Identitäten miteinander verschwimmen.

Der Roman spielt virtuos mit Spiegelungen und Überlagerungen. Die Erzählerin glaubt, Owen im U-Bahn-Fenster gesehen zu haben, während Owen wiederum eine Frau zu erkennen meint, die wie eine Erscheinung durch sein Leben streift. Es entstehen Dopplungen, Durchlässigkeiten, Verschiebungen – als würden Figuren und Erzählerinnen in der Schwebe gehalten, schwerelos, wie der Titel sagt.

Besonders gefallen hat mir auch hier die Atmosphäre des Romans: Sie ist zugleich leicht und melancholisch, schwebend aber auch verwirrend. Luiselli schafft es, in wenigen, fast skizzenhaften Szenen große Stimmungen aufzubauen. Ihr Schreiben ist voller literarischer Anspielungen, aber nie prätentiös, eher verspielt, neugierig, durchlässig.

„Die Schwerelosen“ ist ein Roman über Literatur, Erinnerung und Identität, aber auch über die fragile Balance zwischen Alltag und künstlerischem Schaffen, zwischen Familienleben und imaginativen Räumen. Wer sich auf die fragmentarische, poetische Struktur einlässt, bekommt ein Buch, das nicht linear erzählt, sondern wie in einem Schwebezustand Gedanken und Figuren miteinander verknüpft. Ein vielstimmiges, experimentierfreudiges Debüt, das eine ganz eigene Welt erschafft.

Natürlich dürfen auch musikalische und filmische Tipps nicht fehlen. Eine Band aus Mexiko die ich sehr gerne mag ist Hello Seahorse!

Eine Post-Rock Band darf natürlich auch nicht fehlen. Hier mag ich besonders die Band Austin TV:

Wenn ich jetzt noch meinen Film Tipp loswerde, habe ich es tatsächlich geschafft einen ganzen Artikel über Mexiko zu schreiben, ohne Frida Kahlo zu erwähnen…

La región salvaje“ / The Untamed (2016) von Amat Escalante hab ich vor ein paar Jahren auf dem Fantasy Filmfest gesehen und sehr gemocht – Tantacle Lovers kommen hier besonders auf ihre Kosten 😉

Ansonsten habe ich tatsächlich bisher erst einen weiteren Roman mexikanischer Autor*innen gelesen und zwar:

  • Bittersüße Schokolade – Laura Esquivel

Ein Roman der zumindest in Mexiko spielt und sich mit Anna Seghers und ihrer Zeit in Mexiko beschäftigt ist der Roman „Brennendes Licht“ von Volker Weidermann den ich ebenfalls sehr empfehlen kann.

Jetzt seid ihr dran – was verbindet ihr mit Mexiko? Seid ihr schon mal dagewesen, oder plant ihr eine Reise? Welche Bücher / Filme / musikalischen Tipps habt ihr für mich?

Wer noch mal zu den vorherigen Stationen (Sri Lanka, Italien, Trinidad & Tobago, Nigeria, Südkorea, China, Israel, Belarus, Japan, DR & Republik Kongo, USA, Polen, Chile, Afghanistan, Vietnam, Ukraine, Mauretanien) zurückreisen möchte wird in meiner Kategorie „Read around the World“ fündig.

Stimmen die bleiben: Anna Seghers

Neue Reihe auf dem Blog: Weibliche Stimmen die bleiben

Manchmal bleiben einem Autorinnen ein Leben lang nah – ohne dass man es gleich merkt. Sie schleichen sich ins Herz über eine zufällig entdeckte Erzählung, ein biografisches Detail, ein Ton, der hängen bleibt. In dieser neuen Reihe möchte ich Schriftstellerinnen vorstellen, die mir viel bedeuten – sei es, weil ich mit ihnen aufgewachsen bin, weil ich sie spät entdeckt habe oder weil sie mir das Gefühl geben, dass Literatur eben doch mehr ist als bloß Worte auf Papier, ein Rettungsanker in sich verdunkelnden Zeiten.

Dabei soll es nicht nur um die großen Namen gehen – sondern auch um jene, die heute vielleicht nicht mehr so oder noch nicht so präsent sind, obwohl ihr Werk es verdient hätte, gelesen (und/oder wiederentdeckt) zu werden. Es geht um politische Stimmen, poetische Wahrheiten, radikale Gedanken, leise Töne. Und immer auch um die Frage: Was macht eine Autorin eigentlich bedeutsam – für mich, für uns, für die Gegenwart?

Den Anfang macht eine Frau, die mir nicht nur literarisch nah ist – sondern auch geografisch. Denn wie ich stammt Anna Seghers aus Mainz.

Manchmal begegnet einem eine Autorin im Leben nicht durch Zufall. Bei mir war das so mit Anna Seghers. Als „Meenzer Mädche“ war mir ihr Name schon früh vertraut – allein, weil die Stadtbibliothek ihren Namen trägt. Und obwohl sie lange Zeit für mich irgendwie im Kanon der „Schulpflichtlektüre“ abgehakt war, hat sie sich still und nachhaltig in mein literarisches Herz geschrieben. Mit einem ganz eigenen Ton, zwischen großer politischer Überzeugung und tief persönlicher Verletzlichkeit, zwischen klarer Haltung und innerer Zerrissenheit.

Geboren wurde Anna Seghers 1900 als Netty Reiling in Mainz, in eine wohlhabende, jüdische Familie, die im orthodoxen Glauben verankert war. Dass sie sich früh von Religion lossagte und sich später der Kommunistischen Partei anschloss, wirkt rückblickend wie ein klarer Bruch. Aber gerade in dieser Entscheidung steckt auch etwas ganz Menschliches: der Wunsch, an eine Sache unbedingt glauben zu können – auch dann noch, als dieser Glaube längst Risse bekommen hatte. Der Hitler-Stalin-Pakt von 1939 war ein Schock für viele linke Intellektuelle, auch für Seghers, die sich zeitlebens dennoch nicht öffentlich von der Sowjetunion lossagte. Vielleicht war das politische Festhalten auch Selbstschutz – oder eine Weigerung, sich den eigenen Illusionen stellen zu müssen.

Als Jüdin, Kommunistin und Intellektuelle war sie früh gefährdet. Sie gehörte zu den ersten Autorinnen, die ins Exil gingen. Zuerst floh sie nach Paris, wo ihr Mann, der Ungar László Radványi, jedoch nach dem Einmarsch der Nazis in Südfrankreich interniert wurde. Anna Seghers floh mit ihren beiden Kindern in den unbesetzten Süden Frankreichs, nach Marseille – wo das Bangen und das Warten begannen: auf Papiere, auf eine Ausreisemöglichkeit, auf Rettung. Und dabei war da ständig die Angst vor Bespitzelung. Sie hatte sich nicht – wie andere Exilantinnen – für die Sowjetunion entschieden, sondern für Frankreich und später Mexiko. Und das bedeutete: kein richtiger Schutz, aber auch kein klares Feindbild. Sondern dieses gefährliche Dazwischen.

In Marseille kämpfte sie unermüdlich um die Freilassung ihres Mannes und um Ausreisepapiere. Es war das mexikanische Generalkonsulat unter Gilberto Bosques, das schließlich Hoffnung brachte – nicht nur für sie, sondern für viele Intellektuelle und Verfolgte. 1941 konnte sie mit ihren Kindern an Bord der Capitaine Paul-Lemerle nach Martinique ausreisen. Eine bizarre Fahrt, fast surreal, mit Mitreisenden wie André Breton und Claude Lévi-Strauss – ein Schiff voller Literatur, Theorie und Überlebenswillen. Auf der Weiterreise, als sie mit ihrer Familie New York erreichte und schon die Freiheitsstatue sehen konnte, wurde ihnen die Einreise in die USA unter fadenscheinigen Vorwänden verwehrt. Ein Bild, das hängen bleibt: Freiheit zum Greifen nah – und doch unerreichbar. Die mexikanische Hauptstadt wurde ihr schließlich zur neuen Heimat.

Mexiko wurde aber nie Heimat im eigentlichen Sinne. Der Schmerz blieb: Sie hatte es nicht geschafft, ihre Mutter aus Mainz zu retten. Die alte Frau starb in einem Konzentrationslager, und Seghers hat sich diesen Verlust, diese Schuld, nie verziehen. Es war eine Wunde, die auch durch literarischen Ausdruck nicht verheilte.

In Mexiko engagierte sich Seghers weiterhin politisch: Sie gründete den Heinrich-Heine-Klub, war eine treibende Kraft im antifaschistischen Widerstand im Exil und gab gemeinsam mit anderen die Zeitschrift Freies Deutschland heraus. In dieser Zeit entstand auch ihr bekanntestes Werk: Das siebte Kreuz. Der Roman erschien 1942 parallel in Mexiko (im Exilverlag El libro libre) und in einer englischen Ausgabe in den USA – ein Jahr später wurde er von Fred Zinnemann verfilmt. Die Geschichte eines Häftlings, der aus einem Konzentrationslager flieht, berührte einen Nerv – weltweit. Besonders in den USA wurde der Roman ein großer Erfolg. In einer Zeit, in der ein erheblicher Teil der amerikanischen Bevölkerung noch gegen einen Kriegseintritt der USA eingestellt war, trug Das siebte Kreuz entscheidend dazu bei, die Wahrnehmung des NS-Regimes zu verändern. Der Roman öffnete vielen die Augen – und half mit, die öffentliche Stimmung in Richtung eines entschlossenen Kampfes gegen den Nationalsozialismus zu wenden.

Kurz darauf, 1943, dann der schwere Autounfall in Mexiko. Seghers lag lange im Krankenhaus, erneut zwischen Leben und Tod. Es ist fast sinnbildlich für ihre Biografie – dieses ständige Schwanken zwischen Hoffnung und Bedrohung, zwischen Fortgehen und Festhalten.

Nach Kriegsende kehrte sie nach Europa zurück – nicht ins geliebte Mainz, sondern in die DDR. Sie wurde eine zentrale Figur im Kulturleben des neuen Staates, Präsidentin des Schriftstellerverbandes, eine Stimme des Sozialismus. Doch mit dieser Rolle ging auch ein Schweigen einher – etwa als ihr Verleger Walter Janka in Ungnade fiel und verhaftet wurde. Öffentlich schwieg Seghers. Sie blieb „auf Linie“. Hinter den Kulissen soll sie sich für seine Freilassung eingesetzt haben, aber öffentliches Eintreten? Fehlanzeige.

Und doch war da diese Sehnsucht. Nach Mainz, nach einer verlorenen Kindheit und sicherlich vor allem auch nach ihrer Mutter. Es dauerte bis 1981, ehe sie zur Ehrenbürgerin ihrer Heimatstadt ernannt wurde. Da war sie bereits eine alte, müde Frau. Sie starb 1983 in Berlin.

Anna Seghers war keine einfache Autorin. Keine, die sich auf ein Podest stellen lässt. Aber genau das macht sie so faszinierend. Sie hat geliebt, geglaubt, gezweifelt, gekämpft – und all das findet sich in ihrem Werk wieder.

Volker Weidermann – Brennendes Licht erschienen im Aufbau Verlag

Ein leises, beinahe tastendes Buch über Anna Seghers Zeit im mexikanischen Exil. Weidermann folgt ihr auf ihrer Flucht aus Nazi-Deutschland bis nach Mexiko – und erzählt nicht nur vom äußeren Weg, sondern auch von inneren Rissen. Freundschaften, Erfolge, Zweifel, Sehnsucht: alles ist da, aber nichts wird laut ausgesprochen. Alles bleibt immer irgendwie vage.

Spannend wird es, wenn Weidermann Seghers’ Welt in Mexiko ausleuchtet: der Heinrich-Heine-Club, die Begegnungen mit anderen Exilant*innen, der große Erfolg mit Das siebte Kreuz, der sie plötzlich weltberühmt machte. Und dann der Bruch – der schwere Unfall, die Zeit im Krankenhaus. Und doch wird Seghers später sagen: „Das waren die schönsten Jahre meines Lebens.“ Ein Satz, der hängen bleibt.

Besonders lebendig wird es, wenn er von den Menschen um sie herum erzählt: Kisch, Breton, Lévi-Strauss, über Exil und Eigensinn und furchtbar viel Spitzelei an jeder Ecke. Seghers selbst bleibt oft seltsam entrückt. Und der Stil – kurz, sehr leicht, manchmal fast zu sehr auf Wirkung geschrieben – hat mich ab und an ein bisschen rausgeworfen.

Trotzdem: ein kluges, empfindsames Porträt. Kein Denkmal, eher eine literarische Skizze – mit Licht, aber auch Schatten. Und genau das passt eigentlich ziemlich gut zu Anna Seghers finde ich.

Anna Seghers – Und habt ihr denn etwa keine Träume, Büchergilde Gutenberg


Der Erzählband, erschienen in der Büchergilde Klassik-Edition, ist für mich ein echtes Juwel – gerade weil er auch einige weniger bekannte Texte versammelt. Und ja, es ist keine leichte Lektüre. Die erste Geschichte, Die Ziegler, ist sprachlich fast expressionistisch, sprunghaft, fordernd. Man muss dranbleiben, sich einlassen, durchbeißen. Aber es lohnt sich.

„Der Ausflug der toten Mädchen“ ist sicherlich der emotionale Höhepunkt des Bandes. Die Geschichte bewegt sich zwischen Gegenwart und Vergangenheit, zwischen Erinnerung und Trauer. Seghers verarbeitet darin die Frage was ein junges Mädchen dazu bringt sich mutig gegen das Regime zu stellen und das andere sich dem Bösen hinzugeben. Es ist ein Text, der mich immer noch beschäftigt. Umso eindrücklicher, wenn man weiß, wie sehr er auch in Brennendes Licht reflektiert wird.

„Das Argonautenschiff“ hier schreibt Seghers 1947 in der Ostzone über „Schicksal, Heimat und Bindung“ sowie über die Suche nach einem Weg aus der Existenzkrise. Die Geschichte des Heimkehrers Jason, vormals Anführer der Argonauten, wurde seinerzeit ignoriert beziehungsweise war anscheinend auf Unverständnis gestoßen. Auch wieder keine einfache Kost diese Erzählung.

„Post ins gelobte Land“ erschienen 1944 erzählt sie die Geschichte des Juden Jakob Levi, der vor dem Kriege in Paris als geachteter Augenarzt Dr. Jacques Levi praktizierte.

„Reise ins Elfte Reich“ ist eine satirische Parabel in der Seghers konkrete Erfahrungen ihrer Flucht verarbeitet. Die Zeit der Handlung wird nicht genannt, die Orte der Handlung sind Berlin, das Innere eines zum Elften Reich fahrenden Zuges, die dortige Grenzstation sowie die Hauptstadt dieses fiktiven Landes.

Die 14 Erzählungen sind stilistisch sehr verschieden, von der Groteske über die Hymne bis zum Märchen ist gefühlt alles dabei. Sie erzählen oft von Flucht und Verlorenheit – in vielen Tonlagen. Mit manchen hatte ich durchaus meine Schwierigkeiten: „Wiedereinführung der Sklaverei in Gouadeloupe“ zB oder auch „Auf dem Weg zur amerikanischen Botschaft“, da wäre es ohne Sekundärliteratur gar nicht gegangen, musste mir bei dem Erzählband das eine oder andere Mal auf die Sprünge helfen lassen. Anna Seghers Sprache ist nicht gefällig, aber ehrlich. Kein Pathos, keine Pose. Literatur die man sich erarbeiten muss, die oft verwirrt, auch mal wehtut aber dafür auch mit Figuren und Gedanken belohnt, die einen lange beschäftigen.

Zwei Werke von Anna Seghers verdienen es, am Ende nicht unerwähnt zu bleiben – weil sie ihre literarische Kraft vielleicht am klarsten zeigen und auch den politischen Rahmen ihrer Zeit am eindringlichsten spiegeln: Transit (1944), ein Exilroman zwischen Fluchthorror, Wartesaalgefühl und Identitätsverlust, und Das siebte Kreuz (1942), das wohl bekannteste Werk, das nicht nur durch die Verfilmung weltweite Beachtung fand, sondern auch einfach ein wahnsinnig wichtiges antifaschistes Werk ist.

Beide Bücher werde ich in nächster Zeit (wieder)lesen und auf dem Blog besprechen – weil sie nicht nur literarisch spannend sind, sondern auch helfen, Anna Seghers als Autorin und Mensch besser zu verstehen. Ich würde auch empfehlen eher mit ihren Romanen zu beginnen, die Erzählungen können meiner Ansicht nach schon recht herausfordernd sein.

Transparenz-Hinweis:
Die beiden Bücher „Brennendes Licht“ sowie „Und habt ihr denn etwa keine Träume“ wurden mir im Rahmen einer Kooperation von Bookbot zur Verfügung gestellt. Ich mag an Bookbot besonders, dass man durch das Foto immer genau sieht, welche Ausgabe man tatsächlich bestellt – das ist gerade bei besonderen Ausgaben wie der Büchergilden-Edition für mich ein echter Pluspunkt. Der Bestellvorgang war unkompliziert, die Bücher kamen schnell und genau so an, wie beschrieben. Verkauft habe ich dort bisher noch nichts – aber beim nächsten Regal-Ausmisten ist das fest eingeplant.

Wie geht es euch mit Anna Seghers? Bin sehr gespannt auf eure Rückmeldungen zur Autorin und auch zu der neuen Reihe – ist das etwas was ihr gerne lesen wollt?