Mein August war wieder ein ziemlich bunter Lesemonat – mit teils großer Begeisterung, einer wunderbaren (Wieder-)Entdeckung, aber auch ein, zwei Bücher, die mich nicht wirklich gepackt haben. Lasst uns ohne lange Vorrede direkt starten – es gibt viel zu besprechen 🙂
James – Percival Everett erschienen im Hanser Verlag, übersetzt von Nikolaus Stingl
Percival Everett gelingt mit James ein außergewöhnlicher Roman, der gleichzeitig Klassiker und Neuschöpfung ist. Ausgangspunkt ist Mark Twains Huckleberry Finn, doch Everett gibt der Figur James – bei Twain meist nur „Jim“ genannt – die eigene Stimme zurück. Diese Stimme ist klar, reflektiert, voller Intelligenz und Würde. Damit dreht sich die Perspektive radikal: Wir sehen nicht mehr den Abenteuerroman aus der Sicht des Jungen, sondern erleben die Geschichte durch die Augen eines Mannes, der im System der Sklaverei ums Überleben kämpft und Sprache als Schutz, Waffe und Identität nutzt.
Der Roman ist sprachlich brillant, oft von dunklem Humor getragen, zugleich erschütternd in seiner Darstellung von Gewalt, Abhängigkeit und Überlebensstrategien. Everett zeigt, wie unterdrückte Menschen oft absichtlich gebrochen oder „falsch“ sprachen, um Erwartungen weißer Gesellschaft zu erfüllen und sich so einen Spielraum zu verschaffen. Diese doppelte Ebene der Sprache ist das Herzstück des Buches.
James überzeugt sowohl literarisch als auch emotional. Der Roman ist hochintelligent komponiert, ohne ins Theoretische zu verfallen. Er erzählt eine mitreißende Geschichte, die man nicht aus der Hand legen möchte, und schafft eine Figur, mit der man noch lange innerlich im Gespräch bleibt. Kein Wunder also, dass unser Bookclub nahezu einhellig Höchstnoten vergeben hat.
Halbe Leben – Susanne Gregor erschienen im Zsolnay Verlag
Schon die erste Szene, ein tötlicher Sturz, setzt den Grundton dieses Romans. Kein großer Knall, kein Drama, eher ein dumpfes Nachhallen, das einen durch das ganze Buch begleitet.
Paulina, die gelernte Krankenschwester lebt tatsächlich zwei halbe Leben: einmal in der Slowakei als alleinerziehende Mutter von zwei Söhnen, dann in Österreich als helfende Hand in einer fremden Familie. Sie bewegt sich wie ein Chamäleon zwischen diesen Welten, passt sich an, übernimmt, trägt, macht möglich – und verliert dabei immer mehr von sich selbst. Ich habe beim Lesen oft gedacht: Wie viel von uns allen steckt in dieser Haltung, „immer funktionieren zu müssen“, auch wenn es einen innerlich zerreißt?
Besonders bedrückend fand ich die Szenen in der Gastfamilie. Klara, die Architektin, so zielstrebig, so selbstsicher, hat Paulina an ihrer Seite fast wie ein zweites Fundament ihres Erfolges. Ihr Mann dagegen wirkt wie ein schwebender Luftballon, frei von den Lasten des Alltags. Und Paulina fängt das alles auf. Man spürt förmlich, wie sie immer tiefer in ein Leben hineingleitet, das nicht ihres ist, bis die Grenze zwischen Dienen und Ausgenutztwerden verschwimmt. Das Beklemmende daran: Es ist kein offener Missbrauch, kein Skandal – sondern eine Reihe kleiner, leiser Verschiebungen, die sich summieren.
Ihre Mutter war zu einem defekten Rädchen im Uhrwerk ihrer Tage geworden, das alle anderen durcheinanderbrachte, und Klara der Zeiger, der sich nonstop im Kreis drehte
Was mich an Gregors Schreibweise beeindruckt hat ist diese leise Eindringlichkeit. Die Sprache ist schlicht, fast zurückhaltend, und gerade dadurch entsteht eine enorme Spannung. Vieles bleibt ungesagt, aber man fühlt es umso stärker zwischen den Zeilen. Es gibt keine plakativen Appelle, keine moralischen Zeigefinger – und doch schleicht sich die Kritik an unserer perfekt organisierten, aber zutiefst ungleichen Welt unübersehbar ein.
Ein Roman in dem das sozialkritische nicht plakativ im Vordergrund steht, sondern als stilles Kammerspiel, beklemmend klar die Rolle einer Frau zeigt, die immer gebraucht wird – und nie ankommt.
Das Narrenschiff – Christoph Hein erschienen im Suhrkamp Verlag
Christoph Heins „Das Narrenschiff“ hat mich von Anfang an gepackt und gleichzeitig auf Abstand gehalten. Ein seltsamer Zwiespalt, denn auf der einen Seite war ich komplett absorbiert, habe Seite um Seite verschlungen, unfassbar viel über die DDR gelernt und mich an vieles wieder erinnert – an Gespräche, an Stimmungen, an diesen ganz eigenen gesellschaftlichen Tonfall. Und trotzdem: Die Figuren, so klar sie gezeichnet sind, blieben mir fern. Das liegt sicherlich auch an Heins Schreibstil – nüchtern, analytisch, oft beinahe kühl. Emotional andocken war schwer, was aber wohl auch Teil seines literarischen Konzepts ist. Hein will nicht rühren, er will verstehen machen – und das gelingt ihm auf fast schon unheimlich präzise Weise.
Der Roman öffnet mit der Rückkehr prominenter Antifaschisten im April/Mai 1945 aus Moskau – der berüchtigten „Gruppe Ulbricht“ – und begleitet sie, darunter Karsten Emser, Johannes Goretzka und Benaja Kuckuck, auf ihrem Aufstieg in den DDR-Apparat.
… was ist aus unseren Hoffnungen und Träumen geworden? Wir wollten ein anderes Land, einen anderen Staat aufbauen, friedlicher, solidarischer und vor allem gerechter.
Der Fokus liegt klar auf dem Machtpersonal, auf Politikern und Funktionären, die die Gründungsjahre des Staates markieren und später dessen Strukturen mittragen – stets mit einem Blick für ihre eigene Ideologie und ihr oft tragisches Scheitern.
Was ich dabei allerdings ein wenig vermisst habe – und das ist ein Punkt, der mir beim Lesen immer wieder durch den Kopf ging – war ein breiteres Panorama der DDR-Gesellschaft. Die Figuren, die Hein porträtiert, stammen allesamt aus einem eher elitären, privilegierten Milieu. Intellektuelle, Funktionäre, Parteikader. Mir fehlte das kulturelle Leben, das so viel zur Identität der DDR beigetragen hat – Literatur, Theater, Musik – und auch das Leben der „normalen“ Leute, der Arbeiter*innen, derjenigen, die mit dem System auf andere Weise rangen oder es schlichtweg ignorierten. Ich hätte gerne mehr über diese Facetten gelesen, über das, was jenseits des Apparats existierte. Heins Fokus liegt klar auf den Strukturen der Macht, auf den Mechanismen der inneren Systemlogik.
Der Roman war eine gute Ergänzung für mich zu Erpenbecks „Kairos“ das ich schlußendlich etwas gelungener fand.
Ich habe einen Anschlag auf sie vor. Der Briefwechsel – Christpoph Hein & Elmar Faber erschienen im Faber & Faber Verlag

Der Briefwechsel „Ich habe einen Anschlag auf Sie vor“ zwischen Christoph Hein und Elmar Faber ist weit mehr als ein literarisches Dokument – er ist eine Begegnung zweier starker Persönlichkeiten, die sich über mehr als dreißig Jahre hinweg mit Witz, Ernst und unverstellter Offenheit austauschen. Die Korrespondenz, die 1983 beginnt und bis kurz vor Fabers Tod 2017 reicht, schlägt dabei einen Ton an, der gleichermaßen respektvoll wie pointiert ist. Man spürt in jedem Schreiben die Freude am geistigen Schlagabtausch, das Bedürfnis, die eigenen Beobachtungen zu teilen, und den Mut, auch unbequeme Wahrheiten nicht zu verschweigen.
Thematisch öffnet sich ein Panorama, das weit über Privates hinausgeht: der literarische Alltag in der DDR, der ständige Balanceakt zwischen Kunst und Zensur, die Brüche und Herausforderungen nach der Wiedervereinigung, dazu persönliche Fragen nach dem Älterwerden, nach Krankheit, nach dem Platz der eigenen Arbeit im größeren Zusammenhang. Hein erscheint darin als genauer, oft spöttischer Beobachter, während Faber die Rolle des streitbaren, humorvollen Verlegers verkörpert. Beide aber eint der Wille, Kultur nicht nur zu gestalten, sondern sie als lebendiges, widerständiges Element einer Gesellschaft zu begreifen.
So liest sich dieser Briefwechsel nicht nur als Zeugnis einer Freundschaft, sondern auch als literarisches Zeitdokument, das Einblicke in Denk- und Arbeitsweisen zweier wichtiger Stimmen der deutschen Nachkriegsliteratur bietet. Dass ausgerechnet dieser Band 2019 der erste Titel des wiederbelebten Leipziger Verlages Faber & Faber wurde, hat Symbolkraft: Elmar Faber, der den Verlag 1990 gemeinsam mit seinem Sohn Michael gegründet hatte, wird hier nicht nur als Verleger, sondern auch als Mensch sichtbar. Das Buch ist damit Hommage, Geschichtsbuch und kurzweilige Lektüre in einem – eine Einladung, sich in den Dialog zweier kluger Köpfe hineinziehen zu lassen.
War eine gute Begleitlektüre für „Das Narrenschiff“ kann diesen Briefwechsel sehr empfehlen.
Alltagsmenschen – Carry Brachvogel erschienen im Allitera Verlag
Carry Brachvogels „Alltagsmenschen“ habe ich auf dem Blog bereits kürzlich in meiner Reihe „Stimmen, die bleiben“ vorgestellt. Hier geht es zum Beitrag.
Brachvogel (1864–1942) war eine deutsch-jüdische Schriftstellerin, die in ihren Werken besonders das Leben und die Herausforderungen von Frauen eindrucksvoll schilderte.
Freie Menschen kann man nicht zähmen – Yayou Ekhou erschienen im Alibri Verlag
Yayou Ekhou’s „Freie Menschen kann man nicht zähmen“ habe ich bereits im Rahmen meiner Reihe „Read around the world“ für Mauretanien vorgestellt. Hier geht’s zum Beitrag.
Ekhou ist ein mauretanische Autor und Aktivist, der in seinen Texten eindrücklich von Freiheit, Identität und gesellschaftlichem Wandel erzählt.
Ein Bericht für eine Akademie – Franz Kafka sowie Mikromegas – Voltaire beide erschienen in der Edition Hibana
Über die beiden von Florian L. Arnold illustrierten Bücher habe ich in meiner Reihe „Illustrierte Klassiker“ geschrieben, den link dazu findet ihr hier.
Stone Yard Devotional – Charlotte Wood auf deutsch unter dem Titel „Tage mit dir“ im Kein & Aber Verlag erschienen, übersetzt von Michaela Grabinger
Charlotte Woods Stone Yard Devotional ist ein leises, zugleich aber unglaublich eindringliches Buch. Im Mittelpunkt steht eine Frau, die sich nach einer Ehe in Sydney in ein Kloster zurückzieht – nicht, weil sie eine religiöse Berufung verspürt, sondern weil sie Ruhe, Rückzug und einen neuen Rhythmus sucht.
Mich hat der Anfang komplett hineingezogen. Diese leicht bedrohliche, schwer greifbare Atmosphäre war so packend, dass ich das Buch kaum aus der Hand legen konnte. Als die Protagonistin dann aber nicht mehr nur Besucherin, sondern Teil der religiösen Gemeinschaft wurde, war der Zugang für mich schwieriger.
Die Handlung verlagert sich zunehmend auf das Leben innerhalb der Gemeinschaft, die während der Covid-Beschränkungen auf die Rückkehr der Überreste einer ermordeten Mitschwester wartet. Parallel dazu bricht eine unfassbar drastische Mäuseplage über das Kloster herein – ein Ereignis, das tatsächlich in New South Wales stattgefunden hat. Wood beschreibt Szenen von Ausmaß und Grausamkeit (inklusive kannibalistischen Verhaltens der Tiere), die mühelos jedem Stephen-King-Roman das Wasser reichen. Das war wirklich krass und hat mich nachhaltig verstört.
Zwischen der Rückkehr einer Ordensschwester, die mit der Ermordeten im Ausland gearbeitet hat, den Knochen, die schließlich eintreffen, und dieser biblisch anmutenden Mäuseplage türmen sich Belastungen auf, die die Gemeinschaft fast zu zerreißen scheinen.
Stone Yard Devotional ist ein leises Buch – keines, das man einfach wegliest. Eher eines, das nachhallt, das mich zwingt, über Schuld, Verlust und Gemeinschaft nachzudenken. Und gleichzeitig ist es ein Buch, mit dem ich auf eine bestimmte Weise noch immer hadere. Vielleicht genau deshalb denke ich so oft daran zurück.
Stone Yard Devotional landete 2024 auf der Booker Shortlist – kein Buch für zwischendurch, aber durchaus lohnend, wenn man sich darauf einläßt.
Sister Europe – Nell Zink erschienen im Rowohlt Verlag, übersetzt von Tobias Schnettler
Ich habe Sister Europe als Hörbuch gehört – und leider bin ich damit nicht warm geworden. Immer wieder fanden sich kluge Sätze und tolle Bilder, aber die eigentliche Geschichte hat mich überwiegend eher genervt. Besonders schwierig fand ich die Struktur des Romans: Die Handlung spielt innerhalb weniger Stunden – einen einzelnen Abend und die darauffolgende Nacht – und führt eine Vielzahl von Figuren ein. Beim Hören habe ich die Protagonist*innen immer wieder durcheinandergebracht, was den Zugang zusätzlich erschwert hat.
Der Roman spielt in Berlin im Februar 2023 und beginnt mit einer Literaturpreisverleihung in einem Hotel, bei der ein arabischer Autor geehrt wird. Rund um diese Veranstaltung begegnen wir einer bunten, zum Teil exzentrischen Gruppe: Der Kunstkritiker Demian, seine transgender Tochter Nicole, ein amerikanischer Verleger namens Toto mit seiner schwer fassbaren Begleitung Avianca, eine privilegierte Livia, ein arabischer Prinz und ein verdeckter Polizist namens Klaus, der ihnen folgt. Gemeinsam streifen sie durch die Berliner Nacht – vom Interconti über eine U-Bahn-Party bis hin zu Burger King – und führen Dialoge, die gleichermaßen bissig, witzig und kritisch sind. Themen wie Identität, Privileg, Einsamkeit, politische Debatten und gesellschaftliche Leere spielen eine zentrale Rolle.
Nell Zink ist eine US-amerikanische Autorin die seit vielen Jahren in Deutschland lebt und schreibt. Ihre Romane sind bekannt für ihre witzige, scharfzüngige Prosa, ihren gesellschaftlichen Tiefgang und ihr Gespür für das Abgründige im Alltäglichen.
Leider kann ich für dieses Buch keine Empfehlung aussprechen – trotz der glitzernden, scharfsinnigen Dialoge, die Nell Zink wie gewohnt liefern kann. Der Stil ist zweifellos clever, ironisch und geistreich, aber für mich fehlte die erzählerische Struktur, die Figuren blieben zu flach, um nachhaltig zu fesseln.
Das war mein Lesemonat August – wie war eurer? Was waren eure Highlights? Habt ihr schon das eine oder andere hier vorgestellte Buch gelesen? Besonders würde mich eure Meinung zu Stone Yard Devotional und den Büchern von Nell Zink interessieren, falls ihr die gelesen habt.
Ich wünsche euch einen guten Lese-September 🙂








