Read around the world: Nigeria

Nigeria ist das bevölkerungsreichste Land Afrikas und zugleich eines der facettenreichsten. Während viele beim Stichwort „Nigeria“ an Afrobeat oder Nollywood denken – und das völlig zurecht –, lohnt sich ein Blick auf die tiefere Geschichte und die beeindruckende kulturelle Vielfalt dieses westafrikanischen Landes. Ich selbst war noch nie in Nigeria, aber das Land steht weit oben auf meiner Wunschliste: allein schon wegen der faszinierenden literarischen Stimmen, die von dort kommen, aber auch wegen der dynamischen Kunstszene und der unglaublichen Lebendigkeit, die das Land ausstrahlt.

Nigeria blickt auf eine jahrtausendealte Geschichte zurück: Bereits vor der Kolonialisierung existierten mächtige Reiche wie das Benin-Königreich, das Oyo-Imperium oder das Sokoto-Kalifat. Diese Kulturen haben nicht nur kunstvolle Bronzeskulpturen und komplexe politische Systeme hervorgebracht, sondern auch tief verwurzelte soziale und spirituelle Strukturen. Ab dem späten 19. Jahrhundert wurde Nigeria Teil des britischen Kolonialreichs und erlangte erst 1960 seine Unabhängigkeit – ein wichtiger Meilenstein, der von einer neuen Ära der Selbstbestimmung, aber auch von politischen Umbrüchen geprägt war.

Heute ist Nigeria eine föderale Republik mit über 250 ethnischen Gruppen und mehr als 500 gesprochenen Sprachen – allen voran Hausa, Yoruba und Igbo. Diese Vielfalt ist ein kultureller Schatz, führt aber auch immer wieder zu Spannungen, gerade im Kontext von Religion, Ressourcenverteilung und politischer Macht. In der jüngeren Geschichte stand Nigeria oft im Fokus internationaler Berichterstattung – sei es wegen der Terrorgruppe Boko Haram, der Entführung von Schulmädchen oder der #EndSARS-Bewegung gegen Polizeigewalt. Gleichzeitig ist das Land ein Ort unermüdlicher Hoffnung, Innovation und Kreativität.

Wirtschaftlich ist Nigeria ein Schwergewicht auf dem afrikanischen Kontinent – vor allem wegen seiner Ölreserven. Doch das Land hat weitaus mehr zu bieten: eine boomende Tech-Szene, die besonders in Städten wie Lagos oder Abuja wächst, sowie eine junge, digital vernetzte Bevölkerung mit einer enormen kulturellen Strahlkraft. Ob Mode, Musik oder Film – nigerianische Kreative setzen weltweit Trends. Musiker wie Burna Boy oder Wizkid füllen internationale Arenen, und Nollywood zählt zu den größten Filmindustrien der Welt.

Die Literatur Nigerias ist besonders bemerkenswert: Schon Chinua Achebe hat mit „Things Fall Apart“ (1958) ein weltliterarisches Ausrufezeichen gesetzt, das bis heute nachhallt. Auch Wole Soyinka, der erste afrikanische Literaturnobelpreisträger, stammt aus Nigeria. In den letzten Jahren haben Autor*innen wie Chimamanda Ngozi Adichie, Teju Cole oder Akwaeke Emezi globale Bekanntheit erlangt – ihre Werke beschäftigen sich mit Themen wie Migration, Identität, Feminismus und postkolonialer Geschichte und zeigen, wie vielschichtig die nigerianische Erfahrung ist.

Nigeria ist sportlich ebenfalls präsent – vor allem im Fußball, mit Erfolgen auf kontinentaler und internationaler Ebene. Die „Super Eagles“ sind dreifacher Afrikameister und regelmäßiger Teilnehmer an Weltmeisterschaften. Aber auch in der Leichtathletik, im Basketball und neuerdings im E-Sport gewinnt Nigeria an Bedeutung.

Geografisch beeindruckt das Land mit seiner Vielfalt: von den Savannen des Nordens über das zentrale Plateau bis hin zu den tropischen Regenwäldern und Küsten im Süden. Der Niger und der Benue, die beiden großen Flüsse des Landes, prägen nicht nur das Landschaftsbild, sondern auch die kulturelle Identität vieler Volksgruppen. Naturwunder wie der Zuma Rock oder die Olumo-Felsen sind genauso Teil der nigerianischen Realität wie der chaotische Verkehr von Lagos oder das farbenfrohe Treiben auf lokalen Märkten.

Fläche: Nigeria (923.769 km²) ist mehr als doppelt so groß wie Deutschland und das größte Land Westafrikas.
Bevölkerung: Mit etwa 223 Millionen Menschen (2024) ist Nigeria das bevölkerungsreichste Land Afrikas.
Bevölkerungsdichte: Etwa 241 Personen/km² – vergleichbar mit Deutschland.
Wirtschaft: Nigeria ist eine der größten Volkswirtschaften Afrikas. Neben Öl und Gas spielen Landwirtschaft, Telekommunikation und Dienstleistungen eine wachsende Rolle. Die Hauptstadt Abuja ist das politische Zentrum, während Lagos als wirtschaftliches und kulturelles Herz des Landes gilt.


Gelesen habe ich zwei sehr unterschiedliche Bücher für diesen Stopp. Einmal Nacherzählungen klassischer nigerianischer und europäischer Sagen und einen Roman über die katastrophalen Auswirkungen eines unerfüllten Kinderwunsches.

In all deinen Farben – Bolu Babaola erschienen im Eisele Verlag, übersetzt von Ursula C Sturm

Bolu Babalola versammelt darin 13 Liebesgeschichten – viele davon inspiriert von Mythen und Legenden aus aller Welt. Besonders gefallen haben mir die Erzählungen, die einen direkten Bezug zu Nigeria hatten: Sie wirkten lebendig, gefühlvoll und waren atmosphärisch unglaublich stark. Auch der feministische Ansatz der Sammlung hat mich beeindruckt – Babalola rückt Frauen ins Zentrum, die sonst oft nur Randfiguren in solchen Geschichten sind, und schreibt sie mit Stärke, Selbstbestimmung und Tiefe.

Was mir allerdings gefehlt hat war queere Repräsentation. Ich hatte sehr gewünscht, es hätte auch eine Geschichte aus dem LGBTQ+-Spektrum gewünscht, insbesondere da das Buch ansonsten mit so viel Anspruch auf Inklusivität daherkommt. Trotzdem mochte ich die Grundidee sehr, dass hier Stimmen Raum bekommen, die in der westlich dominierten Popkultur oft überhört oder gar ausgelassen werden.

Osun war es gewohnt, angeschaut zu werden, aber von diesem Moment an würde sie sich daran gewöhnen, wirklich gesehen zu werden.

Babalola schreibt sinnlich, humorvoll und klug – und schafft es, uralte Geschichten in die Gegenwart zu holen, ohne ihren Zauber zu verlieren. Sie lässt ihre Figuren auf Augenhöhe lieben, begehren und scheitern. Besonders schön fand ich die wiederkehrende Botschaft, dass Liebe nicht nur bedeutet, gesehen zu werden, sondern erkannt zu werden.

Besonders die Geschichten mit einem Bezug zu Nigeria haben mich dabei tief berührt, nicht nur, weil sie kulturell reich und atmosphärisch dicht sind, sondern auch, weil Babalola sie mit viel Feingefühl in die Gegenwart holt.

Trotzdem habe ich gemerkt: Ich bin einfach kein großer Fan von mythologischen Nacherzählungen. Mich verlieren Geschichten schnell, wenn zu viel Symbolik oder mythische Struktur im Spiel ist – das ist natürlich Geschmackssache. Aber für Leser*innen, die sich für feministische, diverse und vor allem empowernde Liebesgeschichten interessieren, ist dieses Buch eine echte Empfehlung. Vor allem Fans von Madeleine Miller (z. B. Ich bin Circe) oder auch von romantischer Fantasy werden hier glücklich.

Bolu Babalola ist eine nigerianisch-britische Autorin, Journalistin und selbsternannte „Romcom-Connoisseurin“. Bevor sie als Schriftstellerin bekannt wurde, machte sie sich mit witzigen Twitter-Posts und scharfsinnigen Beobachtungen über Popkultur einen Namen. In all deinen Farben ist ihr literarisches Debüt, und es zeigt eindrucksvoll, dass romantische Geschichten nicht trivial, sondern kraftvoll und politisch sein können – vor allem, wenn sie Stimmen Raum geben, die im Mainstream oft übersehen werden.

Ich danke dem Eisele Verlag für das Rezensionsexemplar.

Literarisch ging es dann mit dem folgenden Roman weiter:

Bleib bei mir – Ayòbámi Adébáyò erschienen im Piper Verlag, übersetzt von Maria Hummitzsch

Ayọ̀bámi Adébáyọ̀ erzählt darin die Geschichte von Yejide, einer kinderlosen Frau im Nigeria der 1980er-Jahre – eindringlich, emotional und mit einer starken literarischen Stimme.

Ich mochte das Buch, merke aber auch, dass mir persönlich der Zugang zum Thema Mutterschaft schwerfällt – schlicht, weil ich mich nicht wirklich damit identifizieren kann. Der zentrale Konflikt – der unerfüllte Kinderwunsch und das gesellschaftliche Stigma rund um Kinderlosigkeit – ist eindrucksvoll erzählt, aber für mich emotional manchmal schwer greifbar gewesen. Auch die sehr dramatische Erzählweise, mit wenigen beschreibenden Passagen und eher kargem Kontext, machte es mir manchmal schwierig, mich wirklich in die Figuren hineinzufühlen. An manchen Stellen hätte ich mir mehr Einbettung in die politischen und kulturellen Hintergründe gewünscht.

Dennoch bleibt Yejides Geschichte eine kraftvolle, und in vielen Momenten tief berührende. In ihrer Verzweiflung lässt sie sich sogar auf einen „Wunderglauben“ ein und stillt eine Ziege – eine Szene, die zugleich absurd-komisch und tragisch ist. Sie zeigt, wie weit Frauen gehen, um gesellschaftlichen Erwartungen gerecht zu werden – und wie groß der Druck ist, der auf ihnen lastet.

Ich hoffte, dass er durch das Halten meiner Hand seine Qualen in meinen Körper überführen könnte und frei wäre

Als Yejide schließlich doch Mutter wird, erlebt sie eine neue Art von Schmerz: den Verlust. Ihre Kinder sind krank, ihr Mann Akin wird zum Komplizen des patriarchalen Systems – und trotzdem stellt sie ihm morgens das Frühstück hin.

Bleib bei mir ist ein kraftvolles Debüt mit Schwächen, aber auch mit vielen Stärken – allen voran einer Autorin, die zeigt, wie lebendig und mutig nigerianische Gegenwartsliteratur sein kann.

Ayọ̀bámi Adébáyọ̀ wurde 1988 in Lagos, Nigeria, geboren und gehört zu den spannendsten Stimmen der zeitgenössischen nigerianischen Literatur. Sie studierte Literatur und Kreatives Schreiben an der Obafemi Awolowo University in Nigeria sowie an der University of East Anglia in Großbritannien, wo sie unter anderem von Margaret Atwood und Chimamanda Ngozi Adichie gefördert wurde.

Ihr Debütroman Stay With Me erschien 2017 und wurde sofort international gefeiert. Das Buch war unter anderem für den Baileys Women’s Prize for Fiction nominiert und wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt. Adébáyọ̀ verbindet in ihrer Arbeit komplexe familiäre Themen mit politischen und gesellschaftlichen Realitäten Nigerias, besonders mit Blick auf Geschlechterrollen, Verlust und persönliche Autonomie.

Ich kann euch natürlich nicht aus Nigeria abreisen lassen ohne euch auch ein bißchen Lust auf die Musik- und Filmszene dort zu geben. Bei der Lektüre lasse ich gerne

Während der Lektüre lasse ich gerne Radio Garden laufen, bei dem man sich in Radiosender aus aller Welt einklicken kann und man sich ein kleines bißchen so fühlt als sei man vor Ort. Diese beiden Vertreter*innen aus dem Bereich Afrofusion mochte ich besonders:

Ich habe bislang noch keinen Film aus Nigeria geschaut, aber „dieser hier“Lionheart“ ist schon eine Weile auf meiner Wunschliste. Der erste nigerianische Film auf Netflix – und gleichzeitig der erste, der von Nigeria jemals für den Oscar eingereicht wurde. Regisseurin und Hauptdarstellerin Genevieve Nnaji erzählt eine kluge Geschichte über Familie, Verantwortung und weibliche Stärke in einem männerdominierten Geschäft.


Wer noch mal die zurückliegenden Stationen besuchen will:

China
Vietnam
Afghanistan
Chile
Polen
USA
Kongo
Japan
Belarus
Israel
Südkorea

Und wer noch mehr Lust auf Nigeria hat, bisher besprochen habe ich folgende Bücher:

Meine Schwester die Serienmörderin – Oyinkan Braithwaite
Purple Hibiskus und Dear Ijeawele von Chimamanda Ngozi Adachi

Und jetzt ihr bitte: Wart ihr schon mal in Nigeria? Habt ihr Empfehlungen für Bücher, Filme und Musik? Freue mich sehr von euch zu hören.

Die Juli Bücher im Schnelldurchlauf

Habe gerade eine ziemliche Schreibflaute. Lesen geht immer, aber mich hinsetzen und sehr ausführlich über ein Buch schreiben, dafür ist es mir momentan zu warm, ist zu anstrengend, ich mag nicht, in der Zeit könnte ich ja schon wieder ein weiteres Buch lesen. Daher einfach ein Überblick ganz kurz und knapp über das im Juli gelesene und gehörte und ganz ohne schlechtes Gewissen – los geht’s 🙂

Korede ist verbittert. Und wär wäre es nicht? Ihre Schwester Ayoola steht immer im Mittelpunkt: sie ist das Lieblingskind, die Schöne, möglicherweise ist sie aber auch eine Serienkillerin, denn Ayoolas dritter Freund in Folge ist tot. Koredes praktische Fähigkeiten retten ihrer Schwester mehrfach den Hintern. Ob bei der Reinigung von Blut, mit einem Kofferraum der groß genug ist für eine Leiche, oder indem sie ihre leichtsinnige Schwester davon abhält, Bilder von ihrem Abendessen auf Instagram zu posten, wenn sie eigentlich um ihren „verschwundenen“ Freund trauern sollte… Aber wirklich Anerkennung bekommt sie dafür nicht…

Ein freundlicher, gut aussehender Arzt in dem Krankenhaus, in dem Korede arbeitet, ist der Lichtblick in ihrem Leben. Sie träumt von dem Tag, an dem er erkennen wird, dass sie perfekt füreinander sind. Doch als Ayoola eines Tages uneingeladen im Krankenhaus auftaucht, verfällt auch er sehr schnell ihrem Aussehen und begibt sich damit unter Umständen in tötliche Gefahr.

Oyinkan Braithwaite hat ein wunderbares, tödliches Debüt geschrieben, das zugleich unterhaltsam und schockierend ist, voller Scharfsinn und trockenem Humor.

Korede, ich habe ihn umgebracht.
Ich hatte gehofft, diese Worte nie wieder zu hören

Judith Hermann erzählt von einem Aufbruch: eine alte Welt geht verloren und eine neue entsteht.

Ihre Tochter ist eine Reisende, unterwegs in der Ferne. Ihrem Ex-Mann schreibt sie kleine Briefe, in denen sie erzählt, wie es ihr geht, in diesem neuen Leben am Meer und im Norden. Sie richtet sich ein Haus ein, schließt vorsichtige Freundschaften, versucht eine Affäre, fragt sich, ob sie heimisch werden könnte oder ob sie weiterziehen soll. Judith Hermann erzählt von einer Frau, die vieles hinter sich lässt, Widerstandskraft entwickelt und in der intensiven Landschaft an der Küste eine andere wird. Sie erzählt von der Erinnerung. Und von der Geschichte des Augenblicks. Melancholisch mit viel Atmosphäre, ein Buch das für mich viel zu schnell zu Ende war. Wäre sehr gerne noch ein wenig im Haus am Meer geblieben…

Wir sind Trabanten, denke ich, wir kreisen um unsere Sonnen, jeder um seine eigene.

Warwickshire im Jahr 1580. Agnes ist eine Frau, die wegen ihrer ungewöhnlichen Gaben ebenso gefürchtet wie begehrt ist. Sie lässt sich mit ihrem Mann in der Henley Street in Stratford nieder und bekommt drei Kinder: eine Tochter, Susanna, und dann Zwillinge, Hamnet und Judith. Der Junge, Hamnet, stirbt 1596 im Alter von elf Jahren. Etwa vier Jahre später schreibt der Ehemann ein Stück namens Hamlet.

Dies ist das herzzerreißende Drama hinter Shakespeares berühmtestem Stück. Und das alles, ohne den Namen William Shakespeare auch nur einmal zu erwähnen!

Unsere Juli-Lektüre im Bookclub und es hat fast durch die Bank weg von allen höchste Punktzahl bekommen.

Mehr Shakespeare Inspirationen findet ihr übrigens hier.

What is given may be taken away, at any time. Cruelty and devastation wait for you around corners, inside coffers, behind doors: they can leap out at you at any time, like a thief or brigand. The trick is never to let down your guard. Never think you are safe. Never take for granted that your children’s hearts beat, that they sup milk, that they draw breath, that they walk and speak and smile and argue and play. Never for a moment forget they may be gone, snatched from you, in the blink of an eye, borne away from you like thistledown.

Jean McClellan verbringt ihre Zeit in fast völliger Stille und beschränkt sich auf nur hundert Worte pro Tag. Wenn sie mehr sagt, fließen tausend Volt Strom durch ihre Adern.

Jetzt, wo die neue Regierung an der Macht ist, hat sich alles geändert. Frauen sind auf das Haus beschränkt, dürfen nicht arbeiten, müssen sich nur um ihre Männer und Kinder kümmern und dürfen vor allem nicht mehr als hundert Worte pro Tag sprechen. „Armband“ nennen sie das Gerät, das ihre Worte zählt und elektronische Schocks aussendet, wenn sie die festgelegte Zahl überschreiten. Dr. Jean McClelland, einst eine erfolgreiche und renommierte Wissenschaftlerin, sieht sich in ihrem Leben stark eingeschränkt und bereut all die Märsche, an denen sie nicht teilgenommen hat, die Petitionen, die sie nicht unterschrieben hat, und die Zeichen, die sie falsch gedeutet hat. Als der Bruder des Präsidenten fast tödlich verunglückt, wird sie als fähigste Ärztin und Wissenschaftlerin gebraucht und so gerät Jean unverhofft in die Lage, möglicherweise Bedingungen zu stellen und einen Fluchtweg aus dem Land zu finden.

Diese Dystopie ist in vielerlei Hinsicht höchst beunruhigend, irgendwie kann man sich leicht ausmalen, dass eine solche Situation Realität werden könnte. Nicht wenige Männern fühlen sich ihrer Überlegenheit beraubt und würden alles dafür tun, um die Zeit zurückzudrehen.

Eine Dystopie, die sehr an Margaret Atwoods „The Handmaid’s Tale“ erinnert und die ich sehr gerne gelesen habe.

Denk darüber nach, was du tun musst, um frei zu bleiben. Tja, mehr zu tun als rein gar nichts, hätte ein guter Anfang sein können.

Think Again ist ein Buch über den Nutzen des Zweifels und darüber, wie wir besser darin werden können, das Unbekannte zu akzeptieren und durchaus auch mal Freude am Irrtum und an Ambivalenz zu haben. Es ist erwiesen, dass überdurchschnittlich kreative Menschen nicht an einer Identität festhalten, sondern ständig bereit sind, ihre Positionen zu überdenken und das Führungskräfte, die zugeben, dass sie etwas nicht wissen, und sich um kritisches Feedback bemühen, produktivere und innovativere Teams haben.

Umdenken ist eine Fähigkeit, die erlernt werden kann, und Grant erklärt, wie man die dafür notwendigen Qualitäten entwickelt. Im ersten Teil wird untersucht, warum es uns schwerfällt, umzudenken, im zweiten Teil wie wir unsere „Argumentationskompetenz“ ausbauen können und im letzten Teil geht es darum, wie Schulen, Unternehmen und Regierungen es aktuell noch versäumen, eine Kultur zu fördern, die zum Umdenken ermutigt.

Neue Informationen müssen dazu führen, dass wir unsere Glaubenssätze hinterfragen und auch liebgewonnene Überzeugungen müssen immer wieder auf den Prüfstand. Scientific Method for President 😉

If knowledge is power, knowing what we don’t know is wisdom.

Die weltfremde junge Effi Briest wird mit dem Baron von Innstetten verheiratet, einem strengen und ehrgeizigen Beamten, der doppelt so alt ist wie sie und nur wenig Zeit für seine neue Frau hat. Isoliert und gelangweilt findet Effi Trost und Ablenkung in einer kurzen Liaison mit Major Crampas, einem verheirateten Mann mit einem gefährlichen Ruf.

Doch Jahre später, als Effi ihre Affäre schon fast vergessen hat, holt sie das Geheimnis wieder ein – mit fatalen Folgen. In straffer, ironischer Prosa schildert Fontane eine Welt, in der die Sexualität und der Wille, das Leben zu genießen, durch gesellschaftliche Enge und die Verpflichtungen der Umstände erstickt werden. Dieser Roman, der als sein größter gilt, ist ein menschliches, unsentimentales Porträt einer jungen Frau, die zwischen ihren Pflichten als Ehefrau und Mutter und den Instinkten ihres Herzens hin- und hergerissen ist.

Mit „Effi Briest“ hat Fontane eine spannende Sozialstudie über gesellschaftliche Konventionen und die Folgen eines Ausbruchs aus diesen Zwängen geliefert. Ein zeitloser Klassiker der deutschen Literatur und insbesondere des bürgerlichen Realismus. Habe ich sehr gerne gelesen.

Wir müssen verführerisch sein, sonst sind wir gar nichts.

Eine faszinierende Einblick in die Welt der Erinnerung, warum wir vergessen und was wir tun können, um unsere Erinnerungen zu bewahren und uns zumindest ein wenig vor Alzheimer zu schützen.

Jeder hat vermutlich schon mal einen Moment der Panik erlebt, wenn man sich partout nicht mehr an den Namen des Schauspielers erinnern kann aus dem Film, den man vor ein paar Tagen gesehen hat, oder wenn man einen Raum betritt und nicht mehr weiß was man da eigentlich wollte? Vielleicht hat man sogar Schiss, dass diese Gedächtnislücken ein frühes Anzeichen von Alzheimer oder Demenz sein könnten. In Wirklichkeit sind diese Fälle von Vergesslichkeit für die große Mehrheit von uns völlig normal. Und warum? Weil das Gedächtnis zwar ziemlich bemerkenswert, aber bei weitem nicht perfekt ist. Unser Gehirn ist nicht darauf ausgelegt, sich an jeden Namen zu erinnern oder an jeden Tag, den wir erleben. Nur weil das Gedächtnis manchmal versagt, heißt das nicht, dass es kaputt ist oder an einer Krankheit leidet. Vergessen gehört zum Menschsein dazu.

In Remember geht die Neurowissenschaftlerin Lisa Genova – deren Buch „Leben ohne Gestern“ ich hier gemeinsam mit Claudia vom Blog „Das graue Sofa“ in der Reihe „Women in Science schon mal vorgestellt hatte – der Frage nach, wie Erinnerungen entstehen und wie wir sie abrufen. Sie erklärt, wann vergessene Erinnerungen vorübergehend unzugänglich sind oder für immer gelöscht werden und warum manche Erinnerungen nur für ein paar Sekunden bestehen (wie ein Passcode), während andere ein ganzes Leben lang halten können (zB der Tag, an dem man heiratet). Sie erklärt den Unterschied zwischen normalem Vergessen (wo man das Auto geparkt hat) und Vergessen aufgrund von Alzheimer (dass man ein Auto besitzt).

Darüberhinaus erfährt man viel darüber, wie sehr das Gedächtnis durch Bedeutung, Emotionen, Schlaf, Stress und Kontext beeinflusst wird. Wenn man die „Sprache“ des Gedächtnisses und seine Funktionsweise, seine unglaublichen Stärken und verrückten Schwächen, seine natürlichen Schwachstellen und potenziellen Superkräfte verstanden hat, kann man ggf. seine Erinnerungsfähigkeit deutlich verbessern und vor allem auch viel weniger beunruhigt sein, wenn man wieder einmal verzweifelt überlegt, wie die eine oder andere Schauspielerin heißt. Sie können gebildete Erwartungen an Ihr Gedächtnis stellen und so eine bessere Beziehung zu ihm aufbauen. Sie müssen es nicht mehr fürchten. Und das kann lebensverändernd sein.

These declines in memory creation, retrieval, and processing speed aren’t all inevitable, are they? You’re not gonna like this, but appears the answer is ultimately yes. If you eat a daily diet of doughnuts, only go for a run if someone is chasing you, regularly sacrifice sleep by binge watching entire seasons of the latest show on Netflix until 3 AM, and are chronically stressed, you’ll most definitely accelerate the ageing of your memory.

In „Mutation der Menschheit“, ging es Bertaux um die „Überlebenschancen der Menschheit“ angesichts der vom Menschen selbst bewirkten waffentechnologischen Entwicklung; damit befassten sich in den 1950er Jahren recht viele Philosophen und Physiker, die Originalität von Bertaux lag darin, wie sehr er den Grundgedanken durchzog, „dass die biologische Entwicklung nicht abgeschlossen ist, dass in ihrem Verlauf die gegenwärtige Menschheit nur ein Durchgangsstadium darstellt, dass aus den Menschen etwas hervorgehen wird, das sich zwar von ihm herleitet, aber dem nicht mehr genau entsprechen wird, was wir uns unter dem Wort ‘Mensch’ vorstellen.“

Der Mann, der von einer biologischen Mutation des Menschen der „neotechnischen Ära“ überzeugt war, kombinierte ein Leben lang Wissenschaft, Praxis und unbefangene Neugier. Womit er eigentlich überall aneckte. Pierre Bertaux (1907 bis 1986), war kein „Futurologe“, sondern Germanist und ist heute weitgehend unbekannt. Eventuell ist er Hölderlin-Forschern noch ein Begriff, da er die These vertrat, Hölderlin sei gar nicht verrückt gewesen, sondern habe nur simuliert.

Ein Zufallsfund aus dem Bücherschrank, wollte eigentlich nur mal kurz reinlesen, blieb dann aber hängen. Waren ein paar sehr spannende Gedanke enthalten und ich habe das Buch in einem Rutsch durchgelesen.

Vielleicht der reinste, größte und originellste Ausdruck der europäischen Kultur und Weisheit ist: Daß ich recht habe, will noch lange nicht sagen, daß die unrecht hätten, welche anders denken als ich. Toleranz ist nicht nur eine Tugend, sie ist auch eine hohe Form der Klugheit. Das geistige Entgegenkommen, die Bemühung, das Bezugssystem derer zu verstehen, die nicht so denken wie wir, ist eine – und zwar die fruchtbarste – Form der Überlegenheit.

Verstehen bedeutet nicht unbedingt übernehmen; vielmehr handelt es sich darum, „unser“ Bezugssystem und das des „anderen“ in ein Bezugssystem höheren Grades zu integrieren, das beide umfaßt, und so kommt man einen Schritt weiter.

Hier noch mal die Bücher im Überblick:

  • Meine Schester die Serienmörderin von Oyinkan Braithwaite erschienen im Blumenbar Verlag
  • Daheim von Judith Hermann erschienen im Fischer Verlag
  • Hamnet von Maggie O’Farrell auf deutsch erschienen unter dem Titel „Judith und Hamnet“ im Piper Verlag
  • Vox von Christina Dalcher erschienen im Fischer Verlag
  • Think Again von Adam Grant bisher noch nicht auf deutsch erschienen
  • Remember von Lisa Genova bisher noch nicht auf deutsch erschienen
  • Effie Briest von Theodor Fontane erschienen im Fischer Verlag
  • Mutation der Menschheit von Pierre Bertaux erschienen im Suhrkamp Verlag

Wie war Euer Lesemonat? Was waren Eure Highlights?