Read around the world: Nigeria

Nigeria ist das bevölkerungsreichste Land Afrikas und zugleich eines der facettenreichsten. Während viele beim Stichwort „Nigeria“ an Afrobeat oder Nollywood denken – und das völlig zurecht –, lohnt sich ein Blick auf die tiefere Geschichte und die beeindruckende kulturelle Vielfalt dieses westafrikanischen Landes. Ich selbst war noch nie in Nigeria, aber das Land steht weit oben auf meiner Wunschliste: allein schon wegen der faszinierenden literarischen Stimmen, die von dort kommen, aber auch wegen der dynamischen Kunstszene und der unglaublichen Lebendigkeit, die das Land ausstrahlt.

Nigeria blickt auf eine jahrtausendealte Geschichte zurück: Bereits vor der Kolonialisierung existierten mächtige Reiche wie das Benin-Königreich, das Oyo-Imperium oder das Sokoto-Kalifat. Diese Kulturen haben nicht nur kunstvolle Bronzeskulpturen und komplexe politische Systeme hervorgebracht, sondern auch tief verwurzelte soziale und spirituelle Strukturen. Ab dem späten 19. Jahrhundert wurde Nigeria Teil des britischen Kolonialreichs und erlangte erst 1960 seine Unabhängigkeit – ein wichtiger Meilenstein, der von einer neuen Ära der Selbstbestimmung, aber auch von politischen Umbrüchen geprägt war.

Heute ist Nigeria eine föderale Republik mit über 250 ethnischen Gruppen und mehr als 500 gesprochenen Sprachen – allen voran Hausa, Yoruba und Igbo. Diese Vielfalt ist ein kultureller Schatz, führt aber auch immer wieder zu Spannungen, gerade im Kontext von Religion, Ressourcenverteilung und politischer Macht. In der jüngeren Geschichte stand Nigeria oft im Fokus internationaler Berichterstattung – sei es wegen der Terrorgruppe Boko Haram, der Entführung von Schulmädchen oder der #EndSARS-Bewegung gegen Polizeigewalt. Gleichzeitig ist das Land ein Ort unermüdlicher Hoffnung, Innovation und Kreativität.

Wirtschaftlich ist Nigeria ein Schwergewicht auf dem afrikanischen Kontinent – vor allem wegen seiner Ölreserven. Doch das Land hat weitaus mehr zu bieten: eine boomende Tech-Szene, die besonders in Städten wie Lagos oder Abuja wächst, sowie eine junge, digital vernetzte Bevölkerung mit einer enormen kulturellen Strahlkraft. Ob Mode, Musik oder Film – nigerianische Kreative setzen weltweit Trends. Musiker wie Burna Boy oder Wizkid füllen internationale Arenen, und Nollywood zählt zu den größten Filmindustrien der Welt.

Die Literatur Nigerias ist besonders bemerkenswert: Schon Chinua Achebe hat mit „Things Fall Apart“ (1958) ein weltliterarisches Ausrufezeichen gesetzt, das bis heute nachhallt. Auch Wole Soyinka, der erste afrikanische Literaturnobelpreisträger, stammt aus Nigeria. In den letzten Jahren haben Autor*innen wie Chimamanda Ngozi Adichie, Teju Cole oder Akwaeke Emezi globale Bekanntheit erlangt – ihre Werke beschäftigen sich mit Themen wie Migration, Identität, Feminismus und postkolonialer Geschichte und zeigen, wie vielschichtig die nigerianische Erfahrung ist.

Nigeria ist sportlich ebenfalls präsent – vor allem im Fußball, mit Erfolgen auf kontinentaler und internationaler Ebene. Die „Super Eagles“ sind dreifacher Afrikameister und regelmäßiger Teilnehmer an Weltmeisterschaften. Aber auch in der Leichtathletik, im Basketball und neuerdings im E-Sport gewinnt Nigeria an Bedeutung.

Geografisch beeindruckt das Land mit seiner Vielfalt: von den Savannen des Nordens über das zentrale Plateau bis hin zu den tropischen Regenwäldern und Küsten im Süden. Der Niger und der Benue, die beiden großen Flüsse des Landes, prägen nicht nur das Landschaftsbild, sondern auch die kulturelle Identität vieler Volksgruppen. Naturwunder wie der Zuma Rock oder die Olumo-Felsen sind genauso Teil der nigerianischen Realität wie der chaotische Verkehr von Lagos oder das farbenfrohe Treiben auf lokalen Märkten.

Fläche: Nigeria (923.769 km²) ist mehr als doppelt so groß wie Deutschland und das größte Land Westafrikas.
Bevölkerung: Mit etwa 223 Millionen Menschen (2024) ist Nigeria das bevölkerungsreichste Land Afrikas.
Bevölkerungsdichte: Etwa 241 Personen/km² – vergleichbar mit Deutschland.
Wirtschaft: Nigeria ist eine der größten Volkswirtschaften Afrikas. Neben Öl und Gas spielen Landwirtschaft, Telekommunikation und Dienstleistungen eine wachsende Rolle. Die Hauptstadt Abuja ist das politische Zentrum, während Lagos als wirtschaftliches und kulturelles Herz des Landes gilt.


Gelesen habe ich zwei sehr unterschiedliche Bücher für diesen Stopp. Einmal Nacherzählungen klassischer nigerianischer und europäischer Sagen und einen Roman über die katastrophalen Auswirkungen eines unerfüllten Kinderwunsches.

In all deinen Farben – Bolu Babaola erschienen im Eisele Verlag, übersetzt von Ursula C Sturm

Bolu Babalola versammelt darin 13 Liebesgeschichten – viele davon inspiriert von Mythen und Legenden aus aller Welt. Besonders gefallen haben mir die Erzählungen, die einen direkten Bezug zu Nigeria hatten: Sie wirkten lebendig, gefühlvoll und waren atmosphärisch unglaublich stark. Auch der feministische Ansatz der Sammlung hat mich beeindruckt – Babalola rückt Frauen ins Zentrum, die sonst oft nur Randfiguren in solchen Geschichten sind, und schreibt sie mit Stärke, Selbstbestimmung und Tiefe.

Was mir allerdings gefehlt hat war queere Repräsentation. Ich hatte sehr gewünscht, es hätte auch eine Geschichte aus dem LGBTQ+-Spektrum gewünscht, insbesondere da das Buch ansonsten mit so viel Anspruch auf Inklusivität daherkommt. Trotzdem mochte ich die Grundidee sehr, dass hier Stimmen Raum bekommen, die in der westlich dominierten Popkultur oft überhört oder gar ausgelassen werden.

Osun war es gewohnt, angeschaut zu werden, aber von diesem Moment an würde sie sich daran gewöhnen, wirklich gesehen zu werden.

Babalola schreibt sinnlich, humorvoll und klug – und schafft es, uralte Geschichten in die Gegenwart zu holen, ohne ihren Zauber zu verlieren. Sie lässt ihre Figuren auf Augenhöhe lieben, begehren und scheitern. Besonders schön fand ich die wiederkehrende Botschaft, dass Liebe nicht nur bedeutet, gesehen zu werden, sondern erkannt zu werden.

Besonders die Geschichten mit einem Bezug zu Nigeria haben mich dabei tief berührt, nicht nur, weil sie kulturell reich und atmosphärisch dicht sind, sondern auch, weil Babalola sie mit viel Feingefühl in die Gegenwart holt.

Trotzdem habe ich gemerkt: Ich bin einfach kein großer Fan von mythologischen Nacherzählungen. Mich verlieren Geschichten schnell, wenn zu viel Symbolik oder mythische Struktur im Spiel ist – das ist natürlich Geschmackssache. Aber für Leser*innen, die sich für feministische, diverse und vor allem empowernde Liebesgeschichten interessieren, ist dieses Buch eine echte Empfehlung. Vor allem Fans von Madeleine Miller (z. B. Ich bin Circe) oder auch von romantischer Fantasy werden hier glücklich.

Bolu Babalola ist eine nigerianisch-britische Autorin, Journalistin und selbsternannte „Romcom-Connoisseurin“. Bevor sie als Schriftstellerin bekannt wurde, machte sie sich mit witzigen Twitter-Posts und scharfsinnigen Beobachtungen über Popkultur einen Namen. In all deinen Farben ist ihr literarisches Debüt, und es zeigt eindrucksvoll, dass romantische Geschichten nicht trivial, sondern kraftvoll und politisch sein können – vor allem, wenn sie Stimmen Raum geben, die im Mainstream oft übersehen werden.

Ich danke dem Eisele Verlag für das Rezensionsexemplar.

Literarisch ging es dann mit dem folgenden Roman weiter:

Bleib bei mir – Ayòbámi Adébáyò erschienen im Piper Verlag, übersetzt von Maria Hummitzsch

Ayọ̀bámi Adébáyọ̀ erzählt darin die Geschichte von Yejide, einer kinderlosen Frau im Nigeria der 1980er-Jahre – eindringlich, emotional und mit einer starken literarischen Stimme.

Ich mochte das Buch, merke aber auch, dass mir persönlich der Zugang zum Thema Mutterschaft schwerfällt – schlicht, weil ich mich nicht wirklich damit identifizieren kann. Der zentrale Konflikt – der unerfüllte Kinderwunsch und das gesellschaftliche Stigma rund um Kinderlosigkeit – ist eindrucksvoll erzählt, aber für mich emotional manchmal schwer greifbar gewesen. Auch die sehr dramatische Erzählweise, mit wenigen beschreibenden Passagen und eher kargem Kontext, machte es mir manchmal schwierig, mich wirklich in die Figuren hineinzufühlen. An manchen Stellen hätte ich mir mehr Einbettung in die politischen und kulturellen Hintergründe gewünscht.

Dennoch bleibt Yejides Geschichte eine kraftvolle, und in vielen Momenten tief berührende. In ihrer Verzweiflung lässt sie sich sogar auf einen „Wunderglauben“ ein und stillt eine Ziege – eine Szene, die zugleich absurd-komisch und tragisch ist. Sie zeigt, wie weit Frauen gehen, um gesellschaftlichen Erwartungen gerecht zu werden – und wie groß der Druck ist, der auf ihnen lastet.

Ich hoffte, dass er durch das Halten meiner Hand seine Qualen in meinen Körper überführen könnte und frei wäre

Als Yejide schließlich doch Mutter wird, erlebt sie eine neue Art von Schmerz: den Verlust. Ihre Kinder sind krank, ihr Mann Akin wird zum Komplizen des patriarchalen Systems – und trotzdem stellt sie ihm morgens das Frühstück hin.

Bleib bei mir ist ein kraftvolles Debüt mit Schwächen, aber auch mit vielen Stärken – allen voran einer Autorin, die zeigt, wie lebendig und mutig nigerianische Gegenwartsliteratur sein kann.

Ayọ̀bámi Adébáyọ̀ wurde 1988 in Lagos, Nigeria, geboren und gehört zu den spannendsten Stimmen der zeitgenössischen nigerianischen Literatur. Sie studierte Literatur und Kreatives Schreiben an der Obafemi Awolowo University in Nigeria sowie an der University of East Anglia in Großbritannien, wo sie unter anderem von Margaret Atwood und Chimamanda Ngozi Adichie gefördert wurde.

Ihr Debütroman Stay With Me erschien 2017 und wurde sofort international gefeiert. Das Buch war unter anderem für den Baileys Women’s Prize for Fiction nominiert und wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt. Adébáyọ̀ verbindet in ihrer Arbeit komplexe familiäre Themen mit politischen und gesellschaftlichen Realitäten Nigerias, besonders mit Blick auf Geschlechterrollen, Verlust und persönliche Autonomie.

Ich kann euch natürlich nicht aus Nigeria abreisen lassen ohne euch auch ein bißchen Lust auf die Musik- und Filmszene dort zu geben. Bei der Lektüre lasse ich gerne

Während der Lektüre lasse ich gerne Radio Garden laufen, bei dem man sich in Radiosender aus aller Welt einklicken kann und man sich ein kleines bißchen so fühlt als sei man vor Ort. Diese beiden Vertreter*innen aus dem Bereich Afrofusion mochte ich besonders:

Ich habe bislang noch keinen Film aus Nigeria geschaut, aber „dieser hier“Lionheart“ ist schon eine Weile auf meiner Wunschliste. Der erste nigerianische Film auf Netflix – und gleichzeitig der erste, der von Nigeria jemals für den Oscar eingereicht wurde. Regisseurin und Hauptdarstellerin Genevieve Nnaji erzählt eine kluge Geschichte über Familie, Verantwortung und weibliche Stärke in einem männerdominierten Geschäft.


Wer noch mal die zurückliegenden Stationen besuchen will:

China
Vietnam
Afghanistan
Chile
Polen
USA
Kongo
Japan
Belarus
Israel
Südkorea

Und wer noch mehr Lust auf Nigeria hat, bisher besprochen habe ich folgende Bücher:

Meine Schwester die Serienmörderin – Oyinkan Braithwaite
Purple Hibiskus und Dear Ijeawele von Chimamanda Ngozi Adachi

Und jetzt ihr bitte: Wart ihr schon mal in Nigeria? Habt ihr Empfehlungen für Bücher, Filme und Musik? Freue mich sehr von euch zu hören.

Februar Lektüre

Diesen Monat war ich überall: in Italien mit den Mann-Brüdern, in Israel mitten in einer moralischen Zwickmühle, in einem japanischen Teehaus mit Franka Potente – und sogar auf Großwildjagd im Kongo – ein Hörbuch, das mich völlig überrascht hat. Truman Capote nahm mich mit in ein sonniges Baumhaus. Mit Deniz Ohde sah ich den Industrieschnee fallen, und die poetischen Worte und Bilder von Robert Macfarlane und Jackie Morris ließen mich staunen.

Welche Bücher davon kennt ihr und welche landen vielleicht auf eure Leseliste?

Beteigeuze – Barbara Zeman erschienen im dtv Verlag

Barbara Zemans „Beteigeuze“ ist ein sprachgewaltiger Roman, der mich wirklich komplett in seinen Bann gezogen hat. Ich habe in den letzten Tagen quasi in dem Buch gewohnt. Ein Buch, das man nicht nur liest, sondern erlebt – funkelnd, irrlichternd, poetisch. So unfassbar wie schön. Ohne zu zögern habe ich ihm fünf Sterne gegeben, denn es ist ein Werk, das auf eine Weise leuchtet, die in der Literatur selten geworden ist.

Beteigeuze, der rote Riesenstern im Sternbild Orion, trägt den Hauch der Vergänglichkeit in sich. Er ist ebenso flimmernd, poetisch und irrlichternd wie dieser Roman.

Das letzte Mal, dass ich ihn hier an dieser Stelle sah, da stand er höher. Rotes Scheibchen Beteigeuze, links unterhalb des Mondes. Wie ich mich auf den Winterhimmel freue. Da machen sich die Sterne in der Dunkelheit groß wie die Goldäpfel im Märchen, dass ich sie mir aus dem Himmel brocke und einen nach dem anderen verspeise, wenn ich denn einen essen will.

Wenn der rote Riese schließlich explodiert, wird der Himmel für Wochen in einem überirdischen Leuchten erstrahlen. Ein kosmischer Abgang, ein letztes Feuerwerk. Doch noch glimmt sein Feuer. Noch trotzt er der Dunkelheit. Und genau diese Vergänglichkeit, dieses Flackern und Leuchten spiegelt sich in Zemans Roman wider. Die Protagonistin Theresa Neges, deren Name übersetzt „Du solltest Nein sagen“ bedeutet, lebt in einer kleinen blauen Wohnung in Wien. Ohne festen Beruf, ohne Geld, mit einem Freund, den sie vielleicht liebt, aber nicht wirklich besitzt. In ihrem großen grauen Mantel streift sie durch die Stadt, legt sich im Hallenbad auf den Beckengrund und übt das Luftanhalten, sucht den Schwindel auf einem Karussell – sie möchte ins Leichte, ins Schwebende, näher an Beteigeuze, diesen brennenden Riesen, der ihr seit ihrer Kindheit vertraut ist.

Immer zärtlicher nimmt sie den Schnee wahr als etwas zur ihr Gehöriges. Ihre Adern, die sind winzige, eisig blaue Flüsse. Gefrierend knisternd. Und ihre Gedanken sind schwer, verlieren alle Schnelligkeit. Welch schöne Muster der Frost ihnen gibt. Wie von Zauberhand sind sie zu Kristallen gereiht.

Zeman schreibt nicht einfach eine Geschichte. Sie erschafft ein Sprachkunstwerk, aufgespannt zwischen Weltraum und Unterwasserwelt, zwischen Absturz und Schweben. Es funkelt in hell und dunkel, im Zentrum ein tanzender Stern. Die Sprache vibriert, schillert, greift nach den Lesenden. Es ist einer dieser seltenen Romane, bei denen es mir komplett egal ist, worum es geht – weil jeder einzelne Satz schon Grund genug ist, das Buch zu lieben. Barbara Zeman, geboren 1981 im Burgenland, lebt in Wien. Sie ist Historikerin, Journalistin und erhielt 2012 den Wartholzpreis. Ihr Debüt „Immerjahn“ erschien 2019, und mit einem Auszug aus „Beteigeuze“ war sie 2022 für den Ingeborg-Bachmann-Preis nominiert.

Sie versteht es, mit Sprache umzugehen, wie es nur wenige tun. Ihre Sätze sind ein Kaleidoskop aus Bildern und Tönen, manchmal messerscharf, manchmal melancholisch verwaschen – eine Supernova von einem Roman.

„Beteigeuze“ ist ein Roman, der in mir nachglüht wie sein namensgebender Stern. Er schwankt zwischen Explosion und Erlöschen, zwischen Schönheit und Schmerz. Ein poetisches Meisterwerk, das man vermutlich entweder nach ein paar Seiten entnervt in die Ecke wirft oder feiert.

Die Grasharfe – Truman Capote erschienen im Suhrkamp Verlag, übersetzt von Friedrich Podszus und Annemarie Seidel

Truman Capote war ein Meister der poetischen Prosa, ein Schriftsteller, der mit wenigen Worten ganze Welten erschaffen konnte. Sein Roman „Die Grasharfe“ ist ein gutes Beispiel dafür. Capote, bekannt für Werke wie „Frühstück bei Tiffany“ und „Kaltblütig“, schöpft hier aus seinen eigenen Erinnerungen an seine Kindheit im Süden der USA. Der Roman trägt eine autobiografische Note, denn Collin Fenwick, der Erzähler, weist deutliche Parallelen zu Capotes eigenem Werdegang auf: ein vaterloser Junge, der bei exzentrischen Verwandten aufwächst und in der Natur eine Zuflucht findet.

Dieses kleine Buch ist ein sonnendurchfluteter Spätsommerroman, voller Nostalgie und Lebensweisheit. Es erzählt die Geschichte von Dolly Talbo, einer sanften, intuitiven Frau, die sich von ihrer dominanten Schwester Verena abwendet, um mit ihrer Catherine, die sie ein Leben lang begleitet sowie ihrem Neffen Collin in einem Baumhaus Zuflucht zu suchen. Sie werden bald von zwei weiteren Außenseitern begleitet: Riley Henderson, ein draufgängerischen Jungen aus der Stadt, und Richter Charlie Cool, einem alten Mann, der nach einem Leben voller Urteile endlich Freiheit sucht. Gemeinsam bilden sie eine provisorische Familie, eine Gemeinschaft jenseits gesellschaftlicher Zwänge.

Was mich an Die Grasharfe am meisten berührt hat, ist die Atmosphäre. Capote gelingt es, die Natur als einen lebendigen, atmenden Raum darzustellen – ein Ort des Friedens, aber auch der Erkenntnis. Die leise flüsternden Grashalme, die Titel gebende „Grasharfe“, scheinen Geschichten aus der Vergangenheit zu erzählen, Geschichten von Verlorenen und Suchenden. Es ist ein Buch über Zugehörigkeit, über Liebe und die Wahl, seinen eigenen Weg zu gehen. Dabei bleibt die Erzählung immer leicht, schwebend, durchzogen von einem feinen Humor, aber auch von einer tiefen Melancholie.

Es war ein Schiff, und wenn man dort oben saß, konnte man die wolkengesäumten Küsten aller Träume entlangsegeln.

Jedes Wort dieses kleinen Romans ist mit Bedacht gewählt, jeder Satz trägt eine poetische Kraft. Man spürt man die Wehmut in jeder Zeile. Man möchte wieder Kind sein, durch Felder streifen, sich in den Ästen eines Baumes verstecken und den Stimmen der Natur lauschen. Der Roman ist kein großes Drama, kein aufwühlendes Epos – er ist eine kleine stille Meditation über das Leben und die Menschen, die es prägen. Dennoch bleibt er spannend, weil Capote es versteht, dass die Leser*innen sich den Figuren verbunden fühlen. Besonders Dolly ist eine sehr faszinierendste Figur, herzlich mit einer fast tiefen Verbindung zur Natur. Es gibt eine Szene, in der Collin beschreibt, wie Dolly das Wetter vorhersagen, Pilze und Wildhonig finden und die süßesten Früchte aufspüren kann – als wäre sie selbst ein Teil des Waldes. Diese sanfte Weisheit ist es, die sie so unvergesslich macht.

Während Capote oft mit seinen düsteren Reportagen und Charakterstudien in Kaltblütig oder Frühstück bei Tiffany in Verbindung gebracht wird, zeigt er hier seine lyrische Seite. Es war sein zweiter Roman und sein erster kommerzieller Erfolg. Die Grasharfe liest sich fast wie ein langes Gedicht, voller Bilder, die nachhallen. Und ja – es macht Lust, ein Baumhaus zu bauen, einen Ort der Freiheit zu schaffen, an dem man den Zwängen der Welt entfliehen kann.

Wer dieses Buch liest, sollte sich Zeit nehmen. Es ist kein Roman, den man hastig konsumiert. Er will in der Sonne gelesen werden, mit dem Wind in den Haaren und dem Rascheln der Blätter im Hintergrund. Es ist ein literarisches Kleinod, das von Freiheit, Freundschaft und den Geschichten erzählt, die in uns weiterleben.

Längst fällige Verwilderung – Simone Lappert erschienen im Diogenes Verlag

In Simone Lapperts Lyrik vermoosen Gedanken und leuchtet der Mond siliziumhell. Die Liebe schmeckt nach Quitte, die Katastrophe nach Erdbeeren, und die Dichterin fragt sich, fragt uns: ›sag, wie kommt man noch gleich ohne zukunft durch den winter?‹ Gedichte über Aufbrüche, Sehnsüchte, Selbstbestimmung und die fragile Gegenwart. Alle Sinne verdichten sich, aller Sinn materialisiert sich in diesen Texten voller Schönheit, Klugheit und Witz.

Ein sehr schöner Gedichtband, den ich gerne gelesen habe. Habe noch zwei Romane im Regal stehen von Simone Lappert, auf die freue ich mich jetzt noch mehr. Eine Autorin die wunderbar mit Sprache spielen kann, die einen Gedichtband verfasst hat, den ich vielleicht auch Leuten in die Hand drücken würde, die sich sonst nicht wirklich an Lyrik herantrauen. Wirklich schön.

Teufels Bruder – Matthias Lohre erschienen im Piper Verlag

Matthias Lohres Roman „Teufels Bruder“ ist die Geschichte über die beiden Brüder Thomas und Heinrich Mann, die gemeinsam eineinhalb Jahre in Italien verbringe. Das wird nicht nur spannend, sondern auch atmosphärisch dicht erzählt und es scheint so viel italienische Sonne durch den Roman, man möchte direkt los reisen.

Lohre gelingt es unwahrscheinlich gut, historische Fakten mit literarischer Fiktion zu verweben. Er zeichnet die Beziehung der beiden Brüder in all ihren Facetten: die Rivalität, die Bewunderung, die unterschiedlichen Lebensentwürfe. Heinrich, der ältere, bereits als Schriftsteller anerkannte Bruder, der sich in die Schauspielerin Lina verliebt, und Thomas, der suchende, schwankende jüngere Bruder, der sich immer wieder in seiner Faszination für einen lockigen melancholischen Jüngling verliert. Gerade diese Passagen fand ich anfangs faszinierend, irgendwann aber etwas zu ausschweifend. Das ständige Hinterherschleichen und die intensiven Grübeleien hätten für meinen Geschmack etwas gestrafft werden können – aber das ist Jammern auf hohem Niveau.

Was Lohre besonders gut macht, ist die psychologische Tiefe seiner Figuren. Thomas Mann wird nicht als der überlebensgroße Literat dargestellt, sondern als junger Mensch, der seinen Platz in der Welt sucht, zwischen bürgerlichen Erwartungen und künstlerischer Ambition. Man spürt seinen inneren Zwiespalt, die Bewunderung für den älteren Bruder, die Unsicherheit, das Staunen über die eigene wachsende Schaffenskraft. Dass diese Reise nicht nur einen literarischen, sondern auch einen persönlichen Wendepunkt für ihn darstellt, wird immer deutlicher, je weiter der Roman voranschreitet.

Heinrich leerte sein Glas in wenigen Zügen und ließ sich den Weg zu den Waschräumen zeigen. Auch wenn der Verlegersohn nur aussprach, wovon er selbst überzeugt ar, war dessen Gestus doch anstössig. Junior schien unter der Schlechtigkeit der Menschen nicht zu leiden, sondern sie zu genießen.

Die Atmosphäre des südlichen Italiens fängt Lohre hervorragend ein. Man fühlt sich in die Hitze Neapels versetzt, hört das geschäftige Treiben Roms und spürt die Melancholie Venedigs. Gerade die Szenen in Palestrina, wo Thomas Mann dem „Bösen schlechthin“ begegnet, haben eine fast unheimliche Intensität. Es bleibt unklar, was genau dort geschah, aber die Andeutungen reichen aus, um die Schwere dieses Erlebnisses zu erahnen.

Besonders gelungen fand ich die literarischen Bezüge. Wer Thomas Manns Werk kennt, wird hier viele Motive und Anklänge wiederfinden – sei es an „Buddenbrooks“, „Tod in Venedig“ oder „Doktor Faustus“. Doch auch ohne Vorkenntnisse funktioniert der Roman, denn Lohre erzählt eine eigenständige Geschichte, die sich nicht in literarischen Anspielungen verliert, sondern ihre ganz eigene Kraft entfaltet.

Insgesamt ist „Teufels Bruder“ ein großartiger Roman, der sowohl als fiktionale Biografie als auch als eigenständige Erzählung überzeugt. Er hätte vielleicht 100 Seiten kürzer sein können, aber das ändert nichts daran, dass ich ihn sehr mochte. Eine klare Leseempfehlung und ich möchte nach „Felix Krull“ das mich letztes Jahr so begeistert hat dieses Jahr unbedingt die „Buddenbrooks“ lesen. Lohre hat mir da echt Lust drauf gemacht.

Antarctica – Claire Keegan auf deutsch unter dem Titel „Wo das Wasser am tiefsten ist“ im Steidl Verlag erschienen

Mit Claire Keegans Debüt Kurzgeschichten Band bin ich überhaupt nicht warm geworden. Die erste titelgebende Geschichte war krass, sehr düster und an die denke ich immer noch. Alle anderen haben nicht gefunkt bei mir und sind irgendwie alle ineinander geflossen. Ich mochte ihren Schreibstil, möchte auch gerne noch einen ihrer Romane lesen, aber bei den Kurzgeschichten bin ich raus.

Hat einer von euch etwas von Claire Keegan gelesen? Welchen Roman würdet ihr empfehlen?

Löwen wecken – Ayelet Gundar-Goshen erschienen im Kein & Aber Verlag übersetzt von Ruth Achlama

Der Roman den ich für den Stopp in Israel auf meiner literarischen Weltreise gelesen habe. Meine Rezension dazu könnt ihr hier nachlesen.

Zehn – Franka Potente erschienen im Piper Verlag

Wir hatten ein paar wirklich graue Tage in München und irgendwann habe ich beschlossen eine kleine „Reise nach Japan“ zu unternehmen und unser wunderschönes japanisches Teehaus zu besuchen. Entsprechende Reiselektüre habe ich auch eingepackt und Franka Potentes Kurzgeschichten haben mich gut unterhalten. Zehn feine kleine Geschichten mit Beobachtungen aus dem japanischen Alltag, viel Augenmerk auf Essen und Heizgeräte 😉

Besonders gern mochte ich die erste Kurzgeschichte „Götterwinde“ über eine Frau die einen Laden für handgemachte Fächer hat und eine besondere Begegnung mit einem Kunden hat. Perfekte Begleitlektüre für meinen Ausflug.

Streulicht – Deniz Ohde erschienen im Suhrkamp Verlag

Industrieschnee markiert die Grenzen des Orts, eine feine Säure liegt in der Luft, und hinter der Werksbrücke rauschen die Fertigungshallen – Deniz Ohde entwirft in ihrem Debütroman Streulicht eine Kulisse, die mir seltsam vertraut ist. Ich bin und bleibe wohl eine Identifikationsleserin. Und selten habe ich mich einer Protagonistin so nahe gefühlt wie hier.

Ohde erzählt von einer jungen Frau, die in einem westdeutschen Arbeiterhaushalt aufwächst, deren Vater tagein, tagaus Aluminiumbleche beizt, deren Mutter irgendwann ihre Koffer packt und verschwindet, deren Großvater an seiner eigenen Stille und Unbeweglichkeit fast erstickt. Sie erzählt von einem Mädchen, das sich in einem Bildungssystem behaupten muss, das Chancengleichheit verspricht, aber (unsichtbare) Hürden aufbaut, die für manche kaum zu überwinden sind. Vom frühen Schulabbruch, von der Anstrengung, sich durchzukämpfen, von der Angst, nicht zu genügen, und der Scham, wenn man doch immer wieder zurückverwiesen wird auf den Platz, den andere für einen vorgesehen haben.

Ich kenne dieses Gefühl so gut. Es ist das Gefühl, mit jedem Schritt, den man geht, gegen eine unsichtbare Wand zu laufen. Das Gefühl, dass der eigene Hintergrund sich wie ein bleierner Schatten über alle Ambitionen legt. Deniz Ohde hat es geschafft, all das in eine Sprache zu fassen, die so unfassbar präzise ist, dass man das Gefühl hat sich manchmal blutige Schrammen zu holen. Ihre Sätze sind zurückgenommen und gleichzeitig eindringlich, jede Beobachtung sitzt, jedes Detail erzählt eine eigene Geschichte.

Und während ich lese, denke ich auch zurück. Ich bin nicht schaumgeboren, sondern ölofendunstgeboren. Der Geruch, der mich sofort in meine Kindheit zurückkatapultiert, ist der von Öl, das aus der Kanne in den Ofen gegossen wird. Dieser alles durchdringende, stechende Geruch, der nicht nur im Keller bei den riesigen Öltanks vorherrschte, sondern sich auch in unser Essen schlich. Denn meine Oma lagerte aus Platzmangel unsere Vorräte im Keller – Kartoffeln, Karotten, Kohl, direkt neben den Tanks.

Der eingebaute Schrank, in dem die Ölkannen standen. Heizungsölgeruch in den Klamotten und immer die Sorge, andere können das an einem riechen. Wir lebten in einer Reihe von vier Mietskasernen, doch nur unsere Reihe hatte keine Heizung. Sie war für die Aussiedler und Flüchtlinge vorgesehen. Heute sind es Eigentumswohnungen – ein absurdes Schicksal für diese Bauten, oder? Krass, wie sehr die Orte, in denen wir aufwachsen, uns formen, wie tief sich ihre Geschichten in unsere Körper einschreiben.

Ohde beschreibt diese Welt ohne Pathos, aber mit einer Wahrhaftigkeit, die manchmal schwer auszuhalten ist. Sie zeigt, was es bedeutet, wenn Herkunft nicht nur eine Tatsache, sondern ein Stigma ist. Wie Klassismus sich in feinen, kaum sichtbaren Rissen im Selbstbewusstsein eingräbt. Wie er sich als verinnerlichte Abwertung manifestiert – und wie schwer es ist, sich davon zu befreien. Und dann sind da noch die anderen Linien der Ausgrenzung: subtiler Rassismus, Armut, psychische Krankheiten, alles ineinander verschränkt, alles spürbar in jeder Begegnung, jedem Blick, jeder Geste.


Wenn einem etwas angetan wird, dann ist er nicht selbst schuld daran; wenn einer in einem System versagt, das von vornherein auf sein Versagen angelegt ist, liegt die Schuld nicht bei ihm. Für wen ist das Netz gebaut. Für wen ist es ein Fangnetz, und für wen ist der Abgrund darunter bestimmt.

Ich habe diesen Roman nicht nur gelesen – ich habe ihn durchlebt. Ich saß mit der Protagonistin im Klassenzimmer und habe die Lehrer verflucht, ich sah mit ihr auf den Industriepark mit seinen hohen Schloten, ich spürte ihre Resignation auf meinen eigenen Schultern lasten. Und ich ging mit ihr mühevolle Schritte mit dem Gefühl, falsch zu sein, selbst schuld zu haben, durchs Raster gefallen zu sein – in einem Land, das gleiche Bildungschancen proklamiert.

Deniz Ohde hat meinen tiefsten Respekt für diesen Roman. Es ist eine Geschichte, die bleiben wird, weil sie nicht nur erzählt, sondern auch entblößt. Weil sie einen nicht nur an die Hand nimmt, sondern einem auch einen Spiegel vorhält. Und weil sie mich – und sicher viele andere – an Dinge erinnert, die sonst oft unsichtbar bleiben. Ich bin gespannt auf alles, was sie noch schreiben wird. Denn wenn Streulicht eines bewiesen hat, dann das: Es gibt Literatur, die uns nicht nur etwas über andere erzählt, sondern uns mit jedem Wort mehr über uns selbst verrät. Was für ein Roman!

Die verlorenen Wörter – John Macfarlene & Jackie Morris erschienen bei Naturkunden im Matthes & Seitz Verlag, übersetzt von Daniela Seel

Es gibt Bücher, die man liest, bewundert und dann wieder ins Regal stellt. Und es gibt Bücher wie „The Lost Words/Die verlorenen Wörter“ von Robert Macfarlane und Jackie Morris, die man nicht nur liest, sondern immer wieder zur Hand nimmt, weil sie einen ganz tief berühren. Dieses Buch ist mehr als eine Sammlung von Versen und Illustrationen – es ist ein Zauberbuch, das verlorene Worte und damit verlorene Welten zurückruft.

Die Geschichte hinter diesem Buch ist ein bißchen traurig, hat enthält aber auch einen Hauch Hoffnung: Als das Oxford Junior Dictionary 2007 Wörter wie „Eichel“, „Dachs“ und „Königsfischer“ strich, um Platz für Begriffe wie „Broadband“ und „Voicemail“ zu machen, war das ein bezeichnendes Zeichen unserer Zeit. Ein Kind, das keine Worte für die Natur hat, verliert nicht nur die Fähigkeit, sie zu benennen, sondern auch, sie wirklich wahrzunehmen. Sprache formt unsere Vorstellungskraft, und wenn uns die Worte für das Wilde, das Ursprüngliche fehlen, wird es Stück für Stück unsichtbar.

Macfarlane und Morris haben darauf mit einer poetischen „Rebellion“ geantwortet. Sie haben nicht einfach ein Kinderbuch geschaffen – sie haben eine Sammlung von „Zaubersprüchen“ geschrieben, Verse, die die verlorenen Worte zurückholen und ihnen neues Leben einhauchen. Jackie Morris’ Illustrationen sind wunderschön, detailverliebt und von einer tiefen Liebe zur Natur durchdrungen. Würde so gerne so zeichnen können! Jedes Bild, jede Seite ist ein kleiner Zauber, der die Magie der Sprache und der Wildnis feiert.



Ja, es ist eigentlich ein Kinderbuch – aber es weckt eine tiefe Sehnsucht nach der Natur, egal wie alt man ist. „Die verlorenen Wörter“ sollte vielleicht vom Arzt als Antidepressiva verschrieben werden, als Gegenmittel gegen Doom-Scrolling, Betontristesse und die allgemeine Entzauberung der Welt.

Dieses Buch zaubere ich jetzt in jedes Klassenzimmer, jede Bibliothek, jedes Zuhause. Es ist eine Einladung, die Natur wieder zu entdecken. Denn nur was wir benennen können, können wir auch lieben. Und nur was wir lieben, werden wir bewahren.

Geschafft! Was waren eure Februar Highlights? Freue mich von euch zu hören!

Januar Lektüre

Neues Jahr, neue Bücher! Nach einem herausragenden Lesejahr 2024, in dem ich bereits im Januar drei Jahreshighlights entdecken durfte, startete 2025 etwas durchwachsener. Zwar gab es keinen völligen Reinfall, aber die beiden 5-Sterne-Bücher waren „Re-Reads“ – trotzdem war der Januar insgesamt ein interessanter und abwechslungsreicher Lesemonat.

Auf dem Bild oben fehlt im Übrigen leider F Scott Fitzgeralds „This side of Paradise“. Glatt vergessen auf dem Gruppenfoto. Aber in der Einzelbesprechung wird’s dabei sein. Heute glaub ich machen wir das einfach mal alphabetisch rückwärts, damit es hier keinem langweilig wird.

Und los geht’s:

Butter – Asako Yuzki erschienen im Blumenbar Verlag, übersetzt von Ursula Gräfe

Ich habe Butter von Asako Yuzuki fast in einem Rutsch gelesen – was irgendwie passend ist, wenn man bedenkt, wie sehr Essen und Genuss im Mittelpunkt dieses Romans stehen. Die Geschichte kombiniert Elemente eines Krimis mit tiefgehender Sozialkritik und ich bewundere jeden, der es schafft diesen Roman zu lesen ohne permanent hungrig zu sei. Ich mußte sogar die Lektüre unterbrechen um mir Reis mit Butter zu kochen.

Die Handlung dreht sich um Rika Machida, eine ehrgeizige Journalistin, die sich an einem spektakulären Fall die Zähne ausbeißt: die mysteriöse Manako Kajii, die mehrere Männer umgebracht haben soll. Kajii ist eine faszinierende Figur – talentierte Köchin, Femme fatale und zugleich Ziel von unerbittlicher medialer Hetze wegen ihres Aussehens und ihrer Lebensweise.

Was mich besonders an Butter beeindruckt hat, ist, wie Yuzuki den Fokus auf die Themen Misogynie, Körperbild und gesellschaftliche Erwartungen richtet. Während Rika Kajii immer wieder im Gefängnis besucht, verschwimmen die Grenzen zwischen Recherche und persönlicher Obsession. Die Gespräche der beiden Frauen sind mal provokativ, mal tiefsinnig, und sie zeigen, wie Essgewohnheiten und Selbstwahrnehmung oft von Kindheitstraumata und gesellschaftlichen Zwängen geprägt sind.

Essen war ein zutiefst persönliches und egoistisches Verlangen. Gourmets waren im Prinzip Suchende. Sie waren Tag für Tag mit ihren Bedürfnissen beschäftigt und auf Entdeckungsreise. Je aufwändiger sie kochten, desto besser gelang es ihnen, die Außenwelt auszuschließen und eine innere Festung zu errichten. Mit Klingen und Flammen rückten sie den Zutaten zu Leibe, um sie nach ihrem Willen zu formen.

Die Parallelen zwischen Rika und Kajii fand ich dabei spannend, aber auch beklemmend. Während Rika immer tiefer in die Welt von Kajii eintaucht, wird sie selbst zur Zielscheibe ähnlicher Kritik: Ihr wachsender Appetit und die Gewichtszunahme werden von ihrem Umfeld kommentiert und abgewertet – ein Spiegel dessen, was Kajii erlebt hat. Das macht die Geschichte nicht nur persönlich, sondern auch universell, denn es geht um viel mehr als einen Mordfall: Es geht darum, wie Frauen in Japan (und weltweit) zwischen widersprüchlichen Erwartungen zerrieben werden. Ich konnte es gar nicht fassen, dass die Protagonistin mehrfach als unfassbar fett betitelt wird und dabei kaum 60kg auf die Waage bringt.

Asako Yuzuki, geboren 1981 in Tokio, ist eine recht bekannte japanische Autorin, die sich durch ihre scharfsinnigen gesellschaftlichen Analysen einen Namen gemacht hat. Bevor sie ihre Karriere als Schriftstellerin begann, arbeitete sie selbst als Journalistin, was man in Butter spürt: Die Recherche, die Tiefe und die Präzision in ihrer Darstellung von Medien und Gesellschaft wirken authentisch und fundiert. Butter wurde in Japan zu einem Bestseller und zeigt, wie Yuzuki mit feministischen Themen auf leise, aber eindringliche Weise umgeht.

Mir hat der Roman gefallen, er hätte aber gut und gerne 1/3 kürzer sein können, er war stellenweise etwas repetitiv.

„Butter“ von Asako Yuzuki habe ich im Zuge meines Projektes „Read around the World – Japan“ gelesen.

Tram 83 – Fiston Mwanza Mujila erschienen im Zsolnay Verlag, übersetzt von Katharina Meyer und Lena Müller

Tram 83 von Fiston Mwanza Mujila ist ein wilder Fiebertraum, ein literarisches Abenteuer, das mich anfangs fast überforderte – und dann vollständig in seinen Bann zog. Der Roman spielt in einer heruntergekommenen Großstadt, die stark an Kinshasa erinnert, und führt uns mitten hinein in das pulsierende Herz dieser Welt: den Nachtclub „Tram 83“. Hier treffen sich Ex-Kindersoldaten, Glücksritter, Kleinkriminelle, Babyhuren, Touristen und Schriftsteller, alle auf der Suche nach Ablenkung, Überleben oder schnellem Geld. Der Club ist laut, chaotisch, voller Musik und Wortfetzen – und genauso fühlt sich auch das Buch an.

Anfangs fragte ich mich immerzu: Hä? Wer spricht? Worüber? Doch genau in diesem Durcheinander liegt der Reiz. Der Roman vermittelt ein Gefühl von Überforderung, von Orientierungslosigkeit – als ob man selbst zum ersten Mal in diese Stadt kommt, den Stimmen lauscht, die Leuchtreklamen betrachtet, aber nicht alles versteht. Mujilas Sprache hat einen fieberhaften Rhythmus, der wie eine Jazzimprovisation immer wiederkehrende Motive und Melodien aufgreift. Es ist chaotisch, manchmal schwer fassbar, aber gleichzeitig unglaublich lebendig.

Requiem war noch immer nicht zurück. Der Mann mit den Dampflokschuhen kam nur nach Hause, um Kohlen abzuladen oder welche zu holen

Im Zentrum der Geschichte stehen Lucien, ein idealistischer Schriftsteller, und sein Freund Requiem, ein charmanter Gauner. Während Lucien versucht, inmitten von Korruption und Gewalt seiner Berufung treu zu bleiben, bewegt sich Requiem geschickt durch die Abgründe dieser „Bordellstadt“. Ihre Dynamik, eingebettet in die explosive Atmosphäre von „Tram 83“, verleiht dem Buch eine erzählerische Tiefe, die hinter der scheinbaren Oberflächlichkeit der Kulisse überraschend vielschichtig ist.

Die Nacht trug Bikini und Unterwäsche, die sie nicht ausgewrungen hatte

Mujila zeichnet ein groteskes, schillerndes Porträt eines postkolonialen Afrikas, das von Kriegen, Korruption und Globalisierung geprägt ist. Dabei wird die Stadt selbst zu einem Charakter – lebendig, gewalttätig und unvergesslich. Der Roman ist nicht leicht zugänglich, aber gerade das macht ihn so aufregend. Am Ende fühlte ich mich, als hätte ich tatsächlich einen Abend im „Tram 83“ verbracht – überwältigt, ein wenig verloren, aber fasziniert und voller Eindrücke, die noch lange nachhallen.

Wenn du Familie bei der Bahn hast, arbeitest du bei der Bahn, ansonsten zerschellst du wie ein Schiff am Ufer der Hoffnung.

Tram 83 ist ein Buch wie Musik: chaotisch, rhythmisch und unverwechselbar. Ein literarisches Erlebnis, das den Leser fordert – und belohnt.

The Poisonwood Bible – Barbara Kingsolver auf deutsch unter dem Titel „Die Giftholzbibel“ im Piper Verlag erschienen, übersetzt von Ruth Frank

The Poisonwood Bible von Barbara Kingsolver ist ein fesselnder Roman, der die komplexe Geschichte der Familie Price erzählt, die 1959 aus den USA in den Belgisch-Kongo zieht. Nathan Price, ein starrköpfiger und fanatischer Missionar, will das Christentum in eine kleine Dorfgemeinschaft bringen, doch seine Ignoranz gegenüber der lokalen Kultur und Umwelt bringt unvorhersehbare Konflikte und tiefgreifende Tragödien mit sich.

Erzählt wird die Geschichte aus den Perspektiven von Nathans Frau Orleanna und ihren vier Töchtern – Rachel, Leah, Adah und Ruth May. Besonders Adah, die durch ihre poetische, introspektive Sichtweise hervorsticht, hat mich tief berührt. Ihre Wortspiele und ihr besonderer Blick auf die Welt, geprägt von ihrem körperlichen Handicap und ihrer Intelligenz, machen sie zu einer einzigartigen Erzählerin. Auch ihre Zwillingsschwester Leah, die zwischen Loyalität zu ihrem Vater und der Liebe zum Kongo hin- und hergerissen ist, hat mich beeindruckt. Beide Schwestern spiegeln die inneren Konflikte und das Spannungsfeld zwischen Kolonialismus, Familie und persönlicher Identität eindrucksvoll wider.

Everything you’re sure is right can be wrong in another place.

Der erste Teil des Romans, der überwiegend im Kongo spielt, hat mich besonders fasziniert. Kingsolver schildert die Landschaft und das Leben im Dorf so lebendig, dass ich mich mitten in der Wildnis wiederfand. Leider empfand ich die Zeitsprünge in der zweiten Hälfte des Buches als zu groß und etwas abrupt. Während die Schwestern in alle Winde verstreut werden und ihre Mutter zunehmend in den Hintergrund rückt, geht der Zusammenhalt der Familie verloren – etwas, das ich als sehr schmerzlich empfand. Dieser Verlust an Nähe und Vertrautheit, der durch die Erzählstruktur noch verstärkt wird, hat mich beim Lesen melancholisch gestimmt.

As long as I kept moving, my grief streamed out behind me like a swimmer’s long hair in water. I knew the weight was there but it didn’t touch me. Only when I stopped did the slick, dark stuff of it come floating around my face, catching my arms and throat till I began to drown. So I just didn’t stop.

Trotz dieser Kritik bleibt The Poisonwood Bible ein beeindruckendes Werk, das auf vielschichtige Weise die Themen Kolonialismus, kulturelle Missverständnisse und die Dynamik von Macht und Familie beleuchtet. Für meine literarische Weltreise in den Kongo ist dieses Buch ein bewegender, wenn auch bittersüßer Halt, der noch lange nachklingt.

Tram 83 und die Poisonwood-Bibel habe ich im Zuge meines Projektes „Read around the World – Kongo“ gelesen.

Mascha Kaléko – In meinen Träumen läutet es Sturm erschienen im dtv Verlag

Mein erstes 5-Sterne-Buch für dieses Jahr. Es war ein „Re-Read“ des Gedichtbandes „In meinen Träumen läutet es Sturm“ der wunderbaren Mascha Kaléko.

Kaléko zählt für mich zu den beeindruckendsten Stimmen der deutschen Literatur. Gemeinsam mit Kästner, Tucholsky und Irmgard Keun gehörte sie zu den wichtigsten Vertreter*innen der Neuen Sachlichkeit und der Gebrauchslyrik im Deutschland der 1920er Jahre. Ihre Werke sind geprägt von einem feinen, oft melancholischen Humor, messerscharfer Gesellschafts-kritik und einer ganz eigenen Sanftheit, die ihre Gedichte so besonders macht.

Mascha Kaléko wurde 1907 in Galizien geboren und wuchs in Berlin auf, wohin ihre Familie vor den politischen Unruhen in ihrer Heimat floh. In den goldenen Zwanzigern blühte sie in der Berliner Literaturszene auf und schrieb für verschiedene Zeitungen. Doch mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde ihr jüdischer Hintergrund zur Gefahr. 1938 emigrierte sie mit ihrer Familie nach New York. Dort arbeitete sie weiterhin als Dichterin, fand jedoch nie wieder die gleiche Resonanz wie in ihrer Berliner Zeit. Ihre Gedichte, die oft wie kleine, bittersüße Momentaufnahmen des Lebens wirken, handeln von Liebe, Verlust, Exil, Sehnsucht und dem Leben in der Fremde.

Es sprach zum Mister Goodwill
ein deutscher Emigrant:
„Gewiß, es bleibt dasselbe,
sag ich nun land statt Land,
sag ich für Heimat homeland
und poem für Gedicht.
Gewiß, ich bin sehr happy;
Doch glücklich bin ich nicht“

Ein Gedichtband, der mich immer wieder aufs Neue berührt und den ich anläßlich des Konzertes mit den großartigen Vertonungen der Gedichte von @dota_kehr wiedergelesen habe. Große Empfehlung!

Tove Jansson – Mumins einsame Insel erschienen im Reprodukt Verlag übersetzt von Annette von der Weppen

In diesem Buch beschließen die Mumins, eine unbewohnte Insel mit einem verlassenen Leuchtturm zu erkunden. Die romantische Vorstellung eines idyllischen Insellebens wird jedoch bald von rauen Winden, unerwarteten Herausforderungen und melancholischer Einsamkeit überschattet. Während Mumin-Papa sich mit der Geschichte des Leuchtturms beschäftigt und nach Bedeutung sucht, kämpft Mumin mit Gefühlen der Unsicherheit. Mumin-Mama hingegen findet Trost und Halt in den Büchern, die sie an Bord des Piratenschiffes findet – ich kann sie da sehr sehr gut verstehen. Das Buch ist eines der späteren Mumin-Werke und hat eine nachdenklichere, melancholische Atmosphäre als die früheren Abenteuer. Es geht um Selbstfindung, Einsamkeit und die Sehnsucht nach einem Platz in der Welt.

Tove Jansson (1914–2001) war eine finnlandschwedische Schriftstellerin, Malerin und Illustratorin. Die Mumin-Bücher, die sie zwischen 1945 und 1970 schrieb, machten sie weltberühmt. Ihr Werk vereint skandinavische Naturverbundenheit, philosophische Tiefe und feinsinnigen Humor. Jansson war selbst eine Inselbewohnerin – sie verbrachte viele Sommer mit ihrer Partnerin auf einer kleinen Insel im finnischen Schärengarten, was sich in ihren Geschichten widerspiegelt. Neben den Mumin-Büchern schrieb sie später auch Erzählungen für Erwachsene.

Tove Janssons langjährige Lebensgefährtin war Tuulikki Pietilä (1917–2009), eine finnische Künstlerin und Grafikerin. Die beiden lernten sich in den 1950er-Jahren kennen und verbrachten gemeinsam viele Sommer auf der kleinen Insel Klovharun im finnischen Schärengarten. Ihre Beziehung war nicht nur privat, sondern auch künstlerisch sehr inspirierend – Pietilä half unter anderem bei der Gestaltung von Mumin-Illustrationen und Modellen für Ausstellungen.

Tuulikki Pietilä diente als Vorbild für die Figur Too-ticki in den Mumin-Büchern. Too-ticki ist eine pragmatische, kluge und ruhige Gestalt mit einer Vorliebe für den Winter und praktisches Handwerk. Too-ticki verkörpert Gelassenheit und einen pragmatischen Lebensansatz, der im Kontrast zu der oft verträumten und emotionalen Mumin-Familie steht.

Das „eins zum Einschlafen“ bezieht sich hier nicht auf ihre Lektüre in der Hand, sondern auf die Frage wieviel Rum getrunken werden soll 😉 Und nur dass ihr Bescheid wisst, ich bin ganz und gar dafür, dass die Mumin-Mama die Weltherrschaft übernimmt und werde sie fest dabei unterstützen – ich gehe einfach mal davon aus, dass ihr damit kein Problem habt 😉

F. Scott Fitzgerald – This side of Paradise auf deutsch unter dem Titel „Diesseits vom Paradies“ im Diogenes Verlag erschienen, übersetzt von Martina Tichy und Bettina Blumenberg

F. Scott Fitzgeralds Debütroman „This Side of Paradise“ (1920) ist ein Bildungsroman, der die Entwicklung des jungen Amory Blaine begleitet – von seiner privilegierten, aber exzentrischen Kindheit über seine Zeit an der Princeton University bis hin zu seinen ersten beruflichen und romantischen Enttäuschungen. Der Roman ist stark autobiografisch geprägt und reflektiert Fitzgeralds eigene Erfahrungen und Beobachtungen der amerikanischen Gesellschaft der 1910er und frühen 1920er Jahre.

Amory ist ein junger Mann auf der Suche nach Identität, sowohl intellektuell als auch emotional. Er probiert verschiedene Denkweisen, Ideologien und Liebesbeziehungen aus, stets auf der Jagd nach einer Art „Enlightenment“. .

Auch muss er erkennen, dass Erfolg und gesellschaftlicher Aufstieg weniger mit Talent oder Fleiß zu tun haben als mit Geburtsprivilegien und Zufällen. Dies führt ihn schließlich zu einer fast zufälligen Annahme sozialistischer Ideen – nicht aus tiefer Überzeugung, sondern aus der Hoffnung heraus, dass eine Revolution ihm vielleicht zufällig einen Platz weiter oben in der Hierarchie zulosen könnte.

I’m a cynical idealist.

Fitzgerald porträtiert in This Side of Paradise eine Generation, die desillusioniert und auf der Suche nach Sinn ist – ein Motiv, das später in The Great Gatsby noch stärker ausgearbeitet wird. Der Roman war zu seiner Zeit ein Bestseller, weil er das Lebensgefühl der jungen Nachkriegsgeneration einfing: die Ablehnung traditioneller Werte, das Streben nach Individualität und die schmerzhafte Erkenntnis, dass gesellschaftliche Strukturen schwer zu durchbrechen sind.

Besonders interessant ist die Parallele zur heutigen Zeit: Wenn immer deutlicher wird, dass soziale Mobilität ein Mythos sein kann und dass Privilegien oft vererbt werden, steigt die Gefahr, dass Menschen nicht an Reformen, sondern an den totalen Zusammenbruch glauben.

And he could not tell why the struggle was worthwhile, why he had determined to use the utmost himself and his heritage from the personalities he had passed…He stretched out his arms to the crystalline, radiant sky.I know myself,“ he cried, „But that is all.

Fitzgeralds einziger Bestseller zu Lebzeiten – geliebt vom Publikum, skeptisch beäugt von Kritikern ist ein Muss für alle, die sich für Fitzgeralds Werk oder für die Geburtsstunde der „verlorenen Generation“ interessieren. Ich habe den Roman sehr gerne gelesen, an den „Great Gatsby“ kommt er für mich aber nicht heran.

Helen Dunmore – A spell of winter auf deutsch unter dem Titel „Der Duft des Schnees“ im Bastei Lübbe Verlag erschienen, übersetzt von Lore Pilgram

Achtung: Hier gibt es einen Spoiler – wer das Buch noch lesen möchte, der sollte den zweiten Absatz überspringen!
Helen Dunmores A Spell of Winter wird als Gothic-Roman bezeichnet, doch für mich blieb er in dieser Hinsicht hinter den Erwartungen zurück. Zwar bringt der Roman viele klassische Elemente mit – ein düsteres, halb verfallenes Herrenhaus, eine bedrückende Familiengeschichte, Geheimnisse, Isolation –, doch das, was für mich einen wirklich fesselnden Gothic-Roman ausmacht, fehlte weitgehend: die unheilvolle Atmosphäre, die stetig wachsende Spannung, das Gefühl des Unausweichlichen.

Stattdessen ist A Spell of Winter eher eine melancholische Charakterstudie, ein leiser, introspektiver Roman über Verlust, Einsamkeit und die zerstörerische Macht familiärer Bindungen. Erzählt wird die Geschichte aus der Perspektive von Cathy, die mit ihrem Bruder Rob in einem alten Haus lebt, von der Außenwelt weitgehend abgeschottet. Ihre Eltern sind verschwunden – die Mutter fortgegangen, der Vater in einer Anstalt gestorben –, und so wachsen die beiden Geschwister unter der strengen Aufsicht ihres Großvaters und einer Gouvernante auf. Dass ihre Beziehung nicht nur geschwisterlich bleibt, sondern eine Grenze überschreitet, ist eines der dunklen Geheimnisse des Romans. Doch genau an dieser Stelle hätte Dunmore für mich intensiver werden müssen. Der Schrecken dieser verbotenen Liebe wird eher angedeutet als wirklich spürbar gemacht, und statt ein Gefühl von Bedrohung oder fataler Leidenschaft zu erzeugen, bleibt die Erzählweise fast distanziert.

You have to keep on with a house, day after day, I think. Heating, cleaning, opening and closing windows, making sounds to fill the silence, cooking and washing up, laundering and polishing. As soon as you stop, there may as well never have been any life at all. A house dies as quickly as a body.

Dunmores Sprache ist zweifellos poetisch, stellenweise wunderschön, doch mir fehlte das Bedrückende, das Bedrohliche, das man von einem Roman erwartet, der sich in der Tradition der Gothic Fiction bewegt. Die Kälte, die das Buch thematisiert – Winter, Einsamkeit, emotionale Erstarrung –, wird immer wieder beschrieben, aber selten wirklich fühlbar. Selbst die Momente des Verfalls und des Schreckens, die durchaus vorhanden sind, haben nicht die durchdringende Intensität, die mich als Leserin völlig in ihren Bann gezogen hätte.

Was bleibt, ist ein Roman, der eher durch seine stille Melancholie als durch echte Spannung besticht. Insgesamt aber ein etwas lauwarmes Lesevergnügen.

John Banville – Snow erschienen bei Faber & Faber UK, bislang nicht auf deutsch erschienen

John Banvilles Snow ist ein klassischer Krimi mit viel Atmosphäre, doch leider hat er mich nicht wirklich überzeugt. Die Geschichte beginnt vielversprechend: Ein Mord in einem alten Landhaus, eine wohlhabende Familie mit dunklen Geheimnissen und ein Ermittler, der in dieser Welt ein Fremder bleibt. Das klingt nach perfektem Stoff für einen spannenden Whodunit – doch leider blieb die Geschichte für mich letztlich etwas blutleer.

Inspektor St. John Strafford ist ein kühler, distanzierter Ermittler, und genau das machte es mir schwer, eine Verbindung zu ihm aufzubauen. Er bleibt blass, wirkt fast teilnahmslos, und seine Ermittlungen haben für mich nicht die Sogwirkung entfaltet, die ich mir von einem Krimi wünsche. Die übrigen Figuren sind zwar gut gezeichnet, doch keiner von ihnen hat mich wirklich berührt oder nachhaltig beeindruckt.

His life was a state of peculiar calm, of tranquil equilibrium. His strongest drive was curiosity, the simple wish to know, to be let in on what was hidden from others. Everything to him had the aspect of a cipher. Life was a mundane mystery, the clues to the solving of which were strewn all about, concealed or, far more fascinatingly, hidden in plain view, for all to see but for him alone to recognize. The dullest object could, for him, flare into sudden significance, could throb in the sudden awareness of itself.

Auch die Auflösung des Falls ließ mich eher unbeeindruckt zurück. Banville versteht es zweifellos, eine dichte, stimmungsvolle Kulisse zu erschaffen – die eisige Kälte des Winters, die düstere Atmosphäre des Herrenhauses –, doch die eigentliche Handlung plätschert eher vor sich hin. Ich hatte nie das Gefühl echter Dringlichkeit oder unbedingt wissen zu wollen was passiert ist – wie es ein guter Kriminalroman eigentlich bieten sollte. Stattdessen bleibt Snow eine stilistisch makellose, aber letztlich eher unaufgeregte Lektüre. Interessant fand ich, dass ich die Geschichte viel früher verortet hätte als die 1950er Jahre. Es schien in seinem Setting für mich ein „Golden-Age-Krimi“ zu sein, merkte erst im Nachhinein dann, dass er eigentlich Anfang der 1950er Jahre spielen sollte. Nun gut.

Banvilles Sprache ist natürlich elegant, und sein Talent für stimmungsvolle Beschreibungen ist unbestritten. Wer sich von der Atmosphäre eines langsam erzählten, subtilen Krimis einfangen lassen kann, wird hier sicher zufrieden sein. Für mich aber fehlte es an Spannung, an Charakteren mit echtem Sog und an einem Kriminalfall, der mich wirklich mitgerissen hätte. Solide Unterhaltung, ja – aber leider nicht mehr als das.

OK – das wars. Es fehlt noch die Rezension des Hörbuchs das ich gelesen habe, aber die kommt in den nächsten Tagen im Zuge des nächsten Weltreise-Stopps.

Welche der Bücher kennt ihr? Wie haben sie euch gefallen und/oder konnte ich euch auf das eine oder andere Lust machen? Was war euer Januar-Highlight.

Read around the world: DR & Republik Kongo

Der Kongo, ein Land, das mit seiner beeindruckenden Naturkulisse und seiner komplexen Geschichte gleichermaßen fasziniert, ist eine wahre Schatzkammer an Geschichten und Naturwundern. Beginnen wir mit der Geografie: Die Demokratische Republik Kongo, kurz DR Kongo, liegt im Herzen Afrikas und ist das zweitgrößte Land des Kontinents. Der gewaltige Kongo-Fluss, nach dem das Land benannt ist, durchzieht es in einem majestätischen Bogen. Mit seinen zahllosen Nebenflüssen ist er einer der größten Flusssysteme der Welt und wird nur vom Amazonas übertroffen, wenn es um den Wasserreichtum geht. Rund um den Fluss erstrecken sich dichte Regenwälder – ein riesiges Ökosystem, das als grüne Lunge Afrikas gilt.

Die Flora und Fauna dieses Landes sind von einer atemberaubenden Vielfalt. Hier leben Gorillas, Waldelefanten und Okapis, die auch als „Waldgiraffen“ bezeichnet werden. Viele dieser Tiere sind endemisch, was bedeutet, dass sie nirgendwo sonst auf der Welt vorkommen. Der Kongo-Regenwald selbst ist nach dem Amazonas der zweitgrößte der Welt und ein wahres Paradies für Biologen und Naturliebhaber.

Fotos: Wikipedia & Pixelbay

Die menschliche Geschichte des Kongo ist ebenso beeindruckend wie tragisch. Die Region war lange Zeit Heimat zahlreicher indigener Gruppen, darunter die Bantu-Völker, die sich vor etwa 2000 Jahren in der Gegend niederließen und die Basis für viele heutige Kulturen legten. Später, im Mittelalter, entstanden im Kongobecken bedeutende Reiche, darunter das Königreich Kongo, das im 14. Jahrhundert eine Blütezeit erlebte. Das Königreich war für seine gut organisierten Strukturen und seine Handelsbeziehungen mit Portugal bekannt, das im 15. Jahrhundert auf der Bildfläche erschien. Es war eine Zeit des kulturellen Austauschs, aber auch des beginnenden Kolonialismus.

Die dunkelste Stunde der Geschichte des Kongo schlug zweifellos im 19. Jahrhundert, als der belgische König Leopold II. das Land zu seinem persönlichen Besitz erklärte. Der sogenannte „Freistaat Kongo“ wurde zwischen 1885 und 1908 zur grausamen Bühne einer der schlimmsten Ausbeutungen der Kolonialzeit. Unter Leopolds Herrschaft wurden Millionen von Kongolesen versklavt und getötet, um Ressourcen wie Elfenbein und Kautschuk zu gewinnen. Der internationale Druck führte schließlich dazu, dass Belgien dem Kongo offiziell den Status einer Kolonie gab, doch die Ausbeutung und Unterdrückung gingen weiter.

Erst 1960 erlangte der Kongo seine Unabhängigkeit, doch die Euphorie war nur von kurzer Dauer. Das Land stürzte in politische Unruhen, und der erste Premierminister, Patrice Lumumba, wurde 1961 ermordet. Seine Ermordung, an der auch ausländische Mächte beteiligt waren, gilt als eines der symbolischen Ereignisse für die Schwierigkeiten postkolonialer Staaten. Es folgten Jahrzehnte der Diktatur unter Mobutu Sese Seko, der das Land in Zaire umbenannte und mit seinem autokratischen Regime für weitverbreitete Korruption sorgte. Der Sturz Mobutus in den 1990er Jahren markierte den Beginn einer neuen Ära, die jedoch von bürgerkriegsähnlichen Zuständen und internationalen Konflikten geprägt war.

Die Kongokriege, oft als „Afrikanischer Weltkrieg“ bezeichnet, involvierten zahlreiche Nachbarstaaten und forderten Millionen von Todesopfern, sei es durch direkte Gewalt, Hunger oder Krankheiten. Bis heute leidet das Land unter den Folgen dieser Konflikte. Doch es gibt auch Hoffnung: Die reiche Kultur des Kongo, mit ihrer Musik, Kunst und Literatur, blüht trotz aller Widrigkeiten auf. Kinshasa, die pulsierende Hauptstadt, ist bekannt für ihre lebendige Musikszene, insbesondere den Congolese Rumba, der weltweit Anerkennung findet.

Es ist wichtig zu erwähnen, dass es zwei Länder gibt, die den Namen Kongo tragen: Die Demokratische Republik Kongo (DR Kongo) und die Republik Kongo. Die DR Kongo, oft als „Kongo-Kinshasa“ bezeichnet, ist mit einer Fläche von rund 2,3 Millionen Quadratkilometern eines der größten Länder Afrikas und hat über 95 Millionen Einwohner. Politisch ist die DR Kongo eine Präsidialrepublik, doch die politische Lage bleibt aufgrund von Korruption und Konflikten instabil. Die Mehrheit der Bevölkerung ist christlich, wobei der Katholizismus eine dominierende Rolle spielt.

Die Republik Kongo, oft „Kongo-Brazzaville“ genannt, ist mit etwa 342.000 Quadratkilometern deutlich kleiner und hat rund 5,8 Millionen Einwohner. Auch hier handelt es sich um eine Präsidialrepublik, wobei die politische Lage vergleichsweise stabiler ist als in der DR Kongo. Brazzaville, die Hauptstadt, liegt direkt gegenüber von Kinshasa, nur durch den Kongo-Fluss getrennt. In der Republik Kongo ist das Christentum ebenfalls vorherrschend, jedoch spielen traditionelle Religionen und der Islam eine größere Rolle als in der DR Kongo.

Was die Ressourcen angeht, so ist der Kongo sowohl gesegnet als auch verflucht. Er besitzt einige der weltweit größten Reserven an Kupfer, Kobalt und Diamanten. Insbesondere Kobalt, das für die Herstellung moderner Batterien unverzichtbar ist, macht den Kongo zu einem Schlüsselland in der globalen Wirtschaft. Doch der Ressourcenreichtum hat oft mehr Konflikte als Wohlstand gebracht, da zahlreiche Akteure um die Kontrolle dieser Schätze kämpfen.

Der Kongo ist ein Land der Extreme. Seine Geschichte erzählt von den Höhen und Tiefen menschlicher Errungenschaften und Tragödien. Gleichzeitig ist es ein Ort unglaublicher natürlicher Vielfalt und eine Erinnerung daran, wie eng das Schicksal der Menschheit mit der Natur verbunden ist. Wer den Kongo bereist, begegnet nicht nur einer faszinierenden Landschaft, sondern auch einer ungebrochenen menschlichen Widerstandskraft und Kreativität, die in jedem Lied, jeder Geschichte und jedem Lächeln der Menschen spürbar ist.

Hier noch ein paar Fakten:

Demokratische Republik Kongo (DR Kongo):

  • Fläche: 2,3 Millionen km² (ca. 6,5-mal so groß wie Deutschland)
  • Bevölkerung: ca. 95 Millionen
  • Bevölkerungsdichte: ca. 41 Einwohner/km²

Republik Kongo:

  • Fläche: 342.000 km² (etwa so groß wie Deutschland)
  • Bevölkerung: ca. 5,8 Millionen
  • Bevölkerungsdichte: ca. 17 Einwohner/km²

Deutschland:

  • Fläche: 357.000 km²
  • Bevölkerung: ca. 84 Millionen
  • Bevölkerungsdichte: ca. 235 Einwohner/km²

Für die Weltreise habe ich dieses Mal gleich zwei Bücher gelesen. Einmal unser Januar Bookclub Buch „The Poisonwood Bible“ von Barbara Kingsolver das im Kongo spielt und Fiston Mwanza Mujilas „Tram 83“ das ich bereits im Regal stehen hatte.

The Poisonwood Bible – Barbara Kingsolver auf deutsch unter dem Titel „Die Giftholzbibel“ im Piper Verlag erschienen, übersetzt von Ruth Frank

The Poisonwood Bible von Barbara Kingsolver ist ein fesselnder Roman, der die komplexe Geschichte der Familie Price erzählt, die 1959 aus den USA in den Belgisch-Kongo zieht. Nathan Price, ein starrköpfiger und fanatischer Missionar, will das Christentum in eine kleine Dorfgemeinschaft bringen, doch seine Ignoranz gegenüber der lokalen Kultur und Umwelt bringt unvorhersehbare Konflikte und tiefgreifende Tragödien mit sich.

Erzählt wird die Geschichte aus den Perspektiven von Nathans Frau Orleanna und ihren vier Töchtern – Rachel, Leah, Adah und Ruth May. Besonders Adah, die durch ihre poetische, introspektive Sichtweise hervorsticht, hat mich tief berührt. Ihre Wortspiele und ihr besonderer Blick auf die Welt, geprägt von ihrem körperlichen Handicap und ihrer Intelligenz, machen sie zu einer einzigartigen Erzählerin. Auch ihre Zwillingsschwester Leah, die zwischen Loyalität zu ihrem Vater und der Liebe zum Kongo hin- und hergerissen ist, hat mich beeindruckt. Beide Schwestern spiegeln die inneren Konflikte und das Spannungsfeld zwischen Kolonialismus, Familie und persönlicher Identität eindrucksvoll wider.

Everything you’re sure is right can be wrong in another place.

Der erste Teil des Romans, der überwiegend im Kongo spielt, hat mich besonders fasziniert. Kingsolver schildert die Landschaft und das Leben im Dorf so lebendig, dass ich mich mitten in der Wildnis wiederfand. Leider empfand ich die Zeitsprünge in der zweiten Hälfte des Buches als zu groß und etwas abrupt. Während die Schwestern in alle Winde verstreut werden und ihre Mutter zunehmend in den Hintergrund rückt, geht der Zusammenhalt der Familie verloren – etwas, das ich als sehr schmerzlich empfand. Dieser Verlust an Nähe und Vertrautheit, der durch die Erzählstruktur noch verstärkt wird, hat mich beim Lesen melancholisch gestimmt.

As long as I kept moving, my grief streamed out behind me like a swimmer’s long hair in water. I knew the weight was there but it didn’t touch me. Only when I stopped did the slick, dark stuff of it come floating around my face, catching my arms and throat till I began to drown. So I just didn’t stop.

Trotz dieser Kritik bleibt The Poisonwood Bible ein beeindruckendes Werk, das auf vielschichtige Weise die Themen Kolonialismus, kulturelle Missverständnisse und die Dynamik von Macht und Familie beleuchtet. Für meine literarische Weltreise in den Kongo ist dieses Buch ein bewegender, wenn auch bittersüßer Halt, der noch lange nachklingt.

Tram 83 – Fiston Mwanza Mujila erschienen im Zsolnay Verlag, übersetzt von Katharina Meyer und Lena Müller



Tram 83 von Fiston Mwanza Mujila ist ein wilder Fiebertraum, ein literarisches Abenteuer, das mich anfangs fast überforderte – und dann vollständig in seinen Bann zog. Der Roman spielt in einer heruntergekommenen Großstadt, die stark an Kinshasa erinnert, und führt uns mitten hinein in das pulsierende Herz dieser Welt: den Nachtclub „Tram 83“. Hier treffen sich Ex-Kindersoldaten, Glücksritter, Kleinkriminelle, Babyhuren, Touristen und Schriftsteller, alle auf der Suche nach Ablenkung, Überleben oder schnellem Geld. Der Club ist laut, chaotisch, voller Musik und Wortfetzen – und genauso fühlt sich auch das Buch an.

Anfangs fragte ich mich immerzu: Hä? Wer spricht? Worüber? Doch genau in diesem Durcheinander liegt der Reiz. Der Roman vermittelt ein Gefühl von Überforderung, von Orientierungslosigkeit – als ob man selbst zum ersten Mal in diese Stadt kommt, den Stimmen lauscht, die Leuchtreklamen betrachtet, aber nicht alles versteht. Mujilas Sprache hat einen fieberhaften Rhythmus, der wie eine Jazzimprovisation immer wiederkehrende Motive und Melodien aufgreift. Es ist chaotisch, manchmal schwer fassbar, aber gleichzeitig unglaublich lebendig.

Requiem war noch immer nicht zurück. Der Mann mit den Dampflokschuhen kam nur nach Hause, um Kohlen abzuladen oder welche zu holen

Im Zentrum der Geschichte stehen Lucien, ein idealistischer Schriftsteller, und sein Freund Requiem, ein charmanter Gauner. Während Lucien versucht, inmitten von Korruption und Gewalt seiner Berufung treu zu bleiben, bewegt sich Requiem geschickt durch die Abgründe dieser „Bordellstadt“. Ihre Dynamik, eingebettet in die explosive Atmosphäre von „Tram 83“, verleiht dem Buch eine erzählerische Tiefe, die hinter der scheinbaren Oberflächlichkeit der Kulisse überraschend vielschichtig ist.

Die Nacht trug Bikini und Unterwäsche, die sie nicht ausgewrungen hatte

Mujila zeichnet ein groteskes, schillerndes Porträt eines postkolonialen Afrikas, das von Kriegen, Korruption und Globalisierung geprägt ist. Dabei wird die Stadt selbst zu einem Charakter – lebendig, gewalttätig und unvergesslich. Der Roman ist nicht leicht zugänglich, aber gerade das macht ihn so aufregend. Am Ende fühlte ich mich, als hätte ich tatsächlich einen Abend im „Tram 83“ verbracht – überwältigt, ein wenig verloren, aber fasziniert und voller Eindrücke, die noch lange nachhallen.

Wenn du Familie bei der Bahn hast, arbeitest du bei der Bahn, ansonsten zerschellst du wie ein Schiff am Ufer der Hoffnung.

Tram 83 ist ein Buch wie Musik: chaotisch, rhythmisch und unverwechselbar. Ein literarisches Erlebnis, das den Leser fordert – und belohnt.

So – jetzt kommen wir zu weiteren kulturellen Empfehlungen aus dem Kongo. Mein Filmtipp für den Kongo ist der Film „Félicité“ von Alain Gomis

Der Film erzählt die Geschichte von Félicité, einer selbstbewussten Sängerin aus Kinshasa, die alles daran setzt, das Geld für eine lebensrettende Operation ihres Sohnes aufzutreiben. Félicités Reise durch die lebendige, chaotische Stadt bietet nicht nur einen tiefen Einblick in die Lebensrealität in Kinshasa, sondern wird auch durch eindrucksvolle musikalische Szenen untermalt. „Félicité“ verbindet kongolesische Musik, Alltag und die Stärke einer Frau in einer herausfordernden Umgebung. Der Film wurde international gefeiert und zeigt ein authentisches Bild des kongolesischen Lebens.

Musikalisch fand ich die Band Staff Benda Bilili klasse:

Während der Lektüre der beiden Bücher habe ich es unglaublich genossen, kongolesische Radiosender über Radio Garten zu hören. Es war, als hätte ich eine authentische Klangkulisse direkt aus dem Kongo, die die Geschichten noch lebendiger gemacht hat. Radio Garten ist wirklich eine fantastische Plattform, um sich mit Musik, Nachrichten und Stimmen aus der ganzen Welt zu verbinden – perfekt, um jeder Lektüre eine einzigartige Atmosphäre zu verleihen. Das hat so viel Spaß gemacht, dass ich mir fest vorgenommen habe, künftig regelmäßig damit meine Lesereisen zu begleiten.

Falls ihr Lust auf die anderen Etappen habt, hier die Links zu den bisherigen Stationen:

Wer noch mehr Lust auf Literatur hat die im Kongo spielt, hier meine Empfehlungsliste:

  • Heart of Darkness – Joseph Conrad
  • Pandora im Kongo – Albert Pinol Sánchez
  • Trophäe – Gesa Schöter

Ich hatte sooo viel Spaß auf meinem ersten Stopp in Afrika – auch weil ich hier die allermeisten riesigen weißen Flecken habe und es mir Spaß machte so viel über ein Land zu erfahren, dass ich höchstwahrscheinlich nie besuchen werde.
Wie sieht das bei euch aus? Seid ihr schon mal dort gewesen oder habt ihr Pläne den Kongo mal zu besuchen? Kennt ihr Bücher die dort spielen, die ihr mir empfehlen könnt? Freue mich sehr auf eure Rückmeldung und ich hoffe ihr habt Lust auf den nächsten Stopp? So viel verrate ich schon mal – wir wechseln wieder den Kontinent…

Flirrende August Lektüre

Der August war ein wirklich guter Lesemonat mit acht Büchern, darunter zwei Highlights, viele weitere großartige Titel – kein einziger Ausfall, ich bin rundum zufrieden! Aber jetzt ohne groß Schnacken geht es direkt los. Bin gespannt, welche davon ihr bereits kennt oder auf welche ich euch Lust machen kann. Freue mich auf eure Rückmeldungen. Wie war euer Lesemonat August?

Für den Zweifel – Carolin Emcke erschienen im S. Fischer Verlag

Beim Lesen von Carolin Emckes „Für den Zweifel“ als auch beim Besuch ihres Gesprächs mit Asal Dardan in der Monacensia in München im Juni habe ich unglaublich viel gelernt. Emcke denkt und spricht in Lichtgeschwindigkeit, und ich habe versucht, mir so viele Notizen wie möglich zu machen. Ihre kluge und gleichzeitig bescheidene Art, insbesondere ihr ständiges Zweifeln und das Eingeständnis, nicht alles zu wissen, hat mich sehr beeindruckt. Davon bräuchten wir heute viel mehr.

Emckes Buch ist eine tiefgehende Auseinandersetzung mit dem Thema Zweifel. Sie zeigt, dass Zweifel keine Schwäche, sondern ein wichtiger Teil des Erkenntnisprozesses ist. In einer Welt, die oft nach schnellen und einfachen Antworten sucht, erinnert sie uns daran, dass es wichtig ist, innezuhalten und gründlich nachzudenken. Ihre Bereitschaft, Unsicherheit zuzulassen und Fragen offen zu lassen, vermittelt eine wertvolle Lektion in Bescheidenheit und Offenheit.

„Dass es Erfahrungen geben kann, die sich nicht sofort beschreiben lassen, ja, dass es Erfahrungen gibt, die sich nicht einmal sofort verstehen lassen, weil sie uns überfordern, weil sie alles außer Kraft setzen, was sonst gilt, weil sie alle Erwartungen an das, was Menschen aneinander antun, übersteigen – das ist ungeheuerlich.“

Ein zentraler Punkt in Emckes Werk und im Gespräch war der Umgang mit Gewalt und Fanatismus in unserer Gesellschaft. Sie betont die Bedeutung des Dialogs und des Verständnisses für den Anderen, selbst wenn es schwierig ist. Sie fordert dazu auf, die Ursachen von Hass und Gewalt zu verstehen, anstatt vorschnelle Urteile zu fällen.

Ihre Erfahrungen als Reporterin in Krisengebieten verleihen ihren Argumenten eine besondere Authentizität. Emckes Berichte über ihre Begegnungen mit Gewalt und Entmenschlichung sind erschütternd und inspirierend zugleich. Sie zeigt, wie wichtig es ist, die Geschichten und Erfahrungen anderer Menschen zu hören, um die Welt besser zu verstehen.

In „Für den Zweifel“ fordert Emcke uns auf, immer wieder innezuhalten und zu reflektieren. Diese Haltung, stets neugierig und offen für Neues zu bleiben, sind inspirierend und da lasse ich gerne meine Hirnwindungen (ver)glühen…

Trespasses – Louise Kennedy auf deutsch unter dem Titel „Übertretung“ im Steidl Verlag erschienen, übersetzt von Claudia Glenewinkel und Hans-Christian Oeser

Ich muss ehrlich zugeben, dass es einige Themen in der Literatur gibt, um die ich normalerweise einen großen Bogen mache: zum Beispiel Mafia, Sport, Spionage oder auch der Nordirland-Konflikt. Doch manchmal purzeln durch meinen Bookclub Bücher auf meine Leseliste, die ich sonst wahrscheinlich nie in die Hand genommen hätte – und das ist wirklich gut so. Ein perfektes Beispiel dafür ist Louise Kennedys Trespasses, das mich gehörig aufgewühlt hat.

Die Geschichte spielt im Jahr 1975 in Nordirland, zu einer Zeit, in der der Alltag der Menschen von Gewalt und Terror geprägt war. Was mich besonders fasziniert hat, ist die Art und Weise, wie Kennedy den alltäglichen Schrecken darstellt. Diese Abgestumpftheit, die sich in den Menschen festsetzt, wenn Bedrohung und Anschläge zur traurigen Normalität werden, ist erschütternd und geht unter die Haut. Es ist kein Buch, das man leicht vergisst, weil es einem diese dunklen, tragischen Aspekte so unmittelbar vor Augen führt.

Im Zentrum der Handlung steht Cushla, eine junge katholische Lehrerin, die sich in einen älteren, verheirateten protestantischen Anwalt verliebt. Obwohl die Liebesgeschichte einen zentralen Teil des Buches ausmacht, hat sie mich persönlich weniger interessiert. Viel mehr habe ich mich auf die Darstellung des alltäglichen Lebens während der „Troubles“ konzentriert, auf die kleinen Details, die Kennedy so meisterhaft einfängt – wie den „soft dunt“ eines sich schließenden Kühlschranks oder die bedrückende Atmosphäre in einem Pub, in dem britische Soldaten die Gäste im Auge behalten.

Wir hatten eine wirklich spannende Diskussion im Bookclub, auch oder vielleicht gerade, weil es sehr unterschiedliche Meinungen zum Buch gab. Ein besonders spannender Aspekt bei der Diskussion über Trespasses in unserem Bookclub war, dass wir Informationen aus erster Hand hatten. Eine Teilnehmerin, die während der Troubles in Nordirland aufgewachsen ist – glücklicherweise auf dem Land, wo die Gewalt weniger spürbar war als in Belfast – lobte das Buch in den höchsten Tönen.Sie war besonders beeindruckt von der realistischen Darstellung der Ereignisse und bestätigte, wie genau Kennedy die bedrückende Atmosphäre jener Zeit eingefangen hat.

„Sprengfalle. Brandsatz. Plastiksprengstoff. Nitroglyzerin. Molotowcocktail. Gummigeschoss. Saracen. Internierung. Special Powers Act. Vortrupp. Was heutzutage zum Wortschatz eines siebenjährigen Kindes gehört.“

Kennedy ist eine Autorin, die erst spät zur Literatur gefunden hat, nachdem sie fast drei Jahrzehnte als Köchin gearbeitet hat. Vielleicht ist es gerade diese Lebenserfahrung, die ihrem Schreiben diese besondere Tiefe und Sensibilität verleiht. In Trespasses geht es nicht nur um die äußeren Umstände, sondern auch um die inneren Kämpfe der Charaktere – und genau das macht das Buch so lesenswert.

Ich bin froh, dass ich mich aus meiner literarischen Komfortzone herausgewagt habe, denn Trespasses ist ein Buch, bei dem ich eine Menge gelernt habe und das mir glaube ich noch lange in Erinnerung bleiben wird.

Ich danke dem @steidlverlag ganz herzlich für das Rezensionsexemplar.

Der grosse Sommer – Ewald Arenz erschienen im Dumont Verlag

I know I know dieses Buch hätte ich natürlich auf dem 10m Brett im Schwimmbad fotografieren müssen, aber die Schlange war zu lang, ihr müsst also mit dem Bächlein hinterm Haus vorlieb nehmen. Ich denke das Buch muss ich nicht großartig vorstellen. Gefühlt hat es schon jede*r gelesen und ich jetzt auch. Ich mochte es, es zu lesen fühlt sich nach Sommerferien, Freibadpommes und Gartenglück an.

„Nana blätterte weiter. Ein Regenbild am Abend. Sie konnte einfach so gut malen. Ich fühlte einen Stich. Ich wollte auch etwas können. Richtig können. Irgendwas.“

Vielleicht werde ich mich bald nicht mehr an allzu viel aus dem Buch erinnern – aber das macht nichts. Ich habe darin eine neben Dulcie aus „The Offing“ eine weitere wunderbare coole weise Lady kennengelernt – gute Role Models fürs Alter kann man gar nicht genug haben.

Hier kurz der Klappentext:
Die Zeichen auf einen entspannten Sommer stehen schlecht für Frieder: Nachprüfungen in Mathe und Latein. Damit fällt der Familienurlaub für ihn aus. Ausgerechnet beim gestrengen Großvater muss er lernen. Doch zum Glück gibt es Alma, Johann – und Beate, das Mädchen im flaschengrünen Badeanzug. In diesen Wochen erlebt Frieder alles: Freundschaft und Angst, Respekt und Vertrauen, Liebe und Tod. Ein großer Sommer, der sein ganzes Leben prägen wird.
Hellsichtig, klug und stets beglückend erzählt Ewald Arenz von den Momenten, die uns für immer verändern.

Ein Buch das bezaubert, an vergangene Sommer erinnert und wirklich sehr große Lust auf Arschbombe im Freibad macht.

Keyserlings Geheimnis – Klaus Modick erschienen im Kiepenheuer & Witsch Verlag

Klaus Modicks „Keyserlings Geheimnis“ liest sich ganz wunderbar am Ufer des Starnberger Sees. Wer also plant seine Sommerfrische dort zu verbringen, für den gibt es keine passendere Lektüre. Der Roman schafft es auf wunderbare Weise, die Stimmung des Fin de Siècle lebendig werden zu lassen und die Leser*innen in die Welt des Schriftstellers Eduard von Keyserling mitzunehmen. Modick verwebt geschickt historische Fakten mit Fiktion und lässt uns teilhaben an einem schicksalhaften Sommer am Starnberger See im Jahr 1901. Der Fokus liegt auf den letzten Lebensjahren von Keyserling, einem geheimnisvollen, von der Syphilis gezeichneten Dichter, der seine Vergangenheit sorgsam unter Verschluss hält.

Mir gefiel, wie Modick die Atmosphäre dieser Zeit einfängt – die Sommerfrische, die intellektuellen Gespräche in den Münchner Kneipen, die dekadente Bohème, die sich dort versammelt. Er schafft es, das Lebensgefühl jener Epoche einzufangen, ohne dabei kitschig oder nostalgisch zu werden. Stattdessen entsteht ein authentisches, lebendiges Bild, das Lust darauf macht, sich tiefer mit dieser Zeit und ihrer Literatur auseinanderzusetzen.

„Der wahre Sommer ist niemals der, den man gerade erlebt, sondern der andere, lichtdurchwobene, dufterfüllte, wundervolle, an den man sich eines Tages erinnert. Die heimatliche Sonne leuchtet heller in der Fremde, die Gärten der Kindheit duften stärker in der Erinnerung. Was verloren geht, das gerinnt zum Bild. Oder wird zu einer Geschichte. Es ist natürlich lästig, dass sie erst noch geschrieben werden muss, während die Erinnerung einfach da ist, die unauslöschliche Erinnerung an Ado oder auch an Veronika, an Vroni, die er in seinem Wiener Roman Tini genannt hat“

Die Figur des Eduard von Keyserling selbst, ein adeliger Dandy und Außenseiter, bleibt dabei rätselhaft und faszinierend. Durch die Augen des Malers Lovis Corinth, der Keyserling porträtiert, und des Dramatikers Max Halbe, der ihn zu dieser Sommerfrische eingeladen hat, erleben wir einen Mann, der charmant und wortgewandt ist, aber stets eine gewisse Distanz wahrt. Die Gerüchte um einen Skandal in seiner Jugendzeit, die ihn schließlich ins Exil trieben, werden nur angedeutet und tragen zur geheimnisvollen Aura bei, die den Schriftsteller umgibt.

Modicks Roman macht definitiv Lust mehr über Eduard von Keyserling zu erfahren. Geboren 1855 in einem deutsch-baltischen Adelsgeschlecht, führte Keyserling ein Leben, das ebenso schillernd wie tragisch war. Nach einem Skandal verließ er seine Heimat und verbrachte einen Großteil seines Lebens in München. Seine impressionistischen Werke, die oft von einer melancholischen Grundstimmung durchzogen sind, gehören zu den bedeutendsten literarischen Zeugnissen dieser Zeit.

Die Bagage – Monika Helfer erschienen im Hanser Verlag

Monika Helfer hat mit „Die Bagage“ einen Roman vorgelegt, der tief in die Geschichte einer armen und teilweise am Existenzminimum lebenden Familie eintaucht und gleichzeitig das Thema Herkunft auf nachdrückliche Weise behandelt. Die Autorin nimmt uns mit in ein abgelegenes österreichisches Bergdorf während des Ersten Weltkriegs, wo sie die Geschichte ihrer Großeltern Maria und Josef erzählt.

Maria, eine Frau von außergewöhnlicher Schönheit, und Josef, ihr schweigsamer und furchteinflößender aber ebenfalls sehr schöner Ehemann, stehen im Zentrum des Romans. Ihre Geschichte wird von den Gerüchten im Dorf über die Familie sowie aufgrund des drohenden Krieges überschattet. Als Josef eingezogen wird, geraten Maria und die Familie noch weiter ins Visier der Dorfbewohner, und die Unsicherheit über die wahre Herkunft eines ihrer Kinder wird zum Kern der Erzählung. Helfer erzählt eine ländlich geprägte Geschichte die dennoch universell erscheint.

Was Helfers Roman besonders auszeichnet, ist die Art und Weise, wie sie die Fragmentierung von Erinnerungen und Geschichten darstellt. „Die Bagage“ ist nicht nur ein Familienroman, sondern auch eine Reflexion darüber, wie Geschichte erzählt und wahrgenommen wird. Die Autorin gelingt es, die Balance zwischen dokumentarischer Genauigkeit und spekulativer Erzählung zu halten, wodurch die Lebensgeschichten ihrer Vorfahren in einem neuen Licht erscheinen. Helfer bleibt als Erzählerin meist im Hintergrund, lässt ihre Figuren jedoch durch kleine Details und liebevolle Beobachtung lebendig werden.

„Ihr braucht nicht mehr in die Schule zu gehen“ sagte sie. „Überhaupt nicht mehr. Nicht mehr, solange Krieg ist. Alles, was ihr in der Schule lernt, kann ich euch auch beibringen.“

„Die Bagage“ ist ein dichter und atmosphärischer Roman von nur knapp 160 Seiten, der durch seine präzise und doch poetische Sprache besticht. Die Art, wie Helfer die Beziehungen und Spannungen innerhalb der Familie schildert, lässt erahnen, wie schwer das „Gepäck“ der eigenen Herkunft wiegen kann. Besonders die Tatsache, dass das Buch auf realen Familienerinnerungen basiert, verleiht ihm eine zusätzliche Tiefe und Authentizität.

Monika Helfer hat mit diesem Roman nicht nur die Geschichte ihrer Familie auf beeindruckende Weise festgehalten, sondern gezeigt, dass ein Werk verfasst, das über das Individuelle hinausgeht und universelle Fragen nach Identität und Zugehörigkeit aufwirft. Ich habe auf jeden Fall Lust bekommen weitere Werke der Autorin zu entdecken.

Prodigal Summer – Barbara Kingsolver auf deutsch ist das Buch unter dem Titel „Im Land der Schmetterlinge“ im Piper Verlag erschienen, übersetzt von Anne Ruth Frank-Strauss

„Prodigal Summer“ von Barbara Kingsolver hat mich, nachdem ich „Demon Copperhead“ Anfang des Jahres verschlungen habe, wieder tief beeindruckt. Obwohl es nicht ganz an die Intensität von „Demon Copperhead“ heranreicht, war es wieder eine Lektüre, die ich kaum aus der Hand legen konnte. Besonders faszinierend fand ich es, über die Generation vor den Ereignissen in „Demon Copperhead“ zu lesen, und einen Einblick in das Leben der „Hillbillies“ in den Appalachen rund um das Jahr 2000 zu bekommen.

Das Leben auf den Farmen, das sich seit Jahrhunderten kaum verändert hat, bekommt zunehmend Risse. Man merkt wie der traditionelle Lebensstil immer mehr unter Druck gerät. Die Veränderungen in der Landwirtschaft, die Kingsolver beschreibt, wie das langsame Sterben kleiner Betriebe, die vom Farming allein nicht mehr leben können, machen deutlich, wie diese Entwicklung unaufhaltsam in die Armut und die Opioid-Krise der folgenden Jahrzehnte führen würde.

“Her body moved with the frankness that comes from solitary habits. But solitude is only a human presumption. Every quiet step is thunder to beetle life underfoot; every choice is a world made new for the chosen. All secrets are witnessed.“

Das Buch erzählt drei miteinander verwobene Geschichten von Menschen, die alle ihre Verbindung zur Natur auf unterschiedliche Weise leben und erleben. Die Protagonisten Deanna, Lusa und Garnett sind tief in ihrer Umgebung verwurzelt, und ihre jeweiligen Geschichten vermitteln ein starkes Gefühl für die Herausforderungen aber auch die Schönheiten des ländlichen Lebens. Besonders hat mir die Figur der Deanna gefallen, die als Park Rangerin allein in den Bergen lebt und sich für die dort ansässigen Kojoten einsetzt. Ihre Begegnungen mit einem jungen Mann bringen ihr selbstgewählt einsames Leben durcheinander und eröffnen spannende Perspektiven auf das Zusammenspiel von Mensch und Natur.

Lusa, die durch den plötzlichen Tod ihres Mannes in eine völlig neue Lebenssituation geworfen wird, muss sich in der rauen und teilweise feindseligen Schwiegerfamilie behaupten. Ihre Geschichte zeigt, wie tief verwurzelt Vorurteile und Traditionen in solch kleinen Gemeinschaften sein können, und wie schwer es sein kann, diese zu überwinden.

Das Buch vom Salz – Monique Truong erschienen im C. H. Beck Verlag und wurde von Barbara Rojahn-Deyk aus dem Englischen übersetzt.

„Das Buch vom Salz“ von Monique Truong ist eine Geschichte, die gleichzeitig melancholisch und von einer sommerlichen Leichtigkeit durchzogen ist. Die Erzählweise, ist fein und sinnlich, lässt einen förmlich den Duft frischer Kräuter und exotischer Gewürze in der Luft riechen.

Binh, der vietnamesische Koch von Gertrude Stein und Alice B. Toklas, ist die Hauptfigur dieses Romans. Durch seine Augen erleben wir nicht nur den Alltag dieser beiden berühmten Frauen, sondern vor allem seine eigene, schmerzhafte Geschichte des Exils und der Suche nach Zugehörigkeit. Die Art, wie Truong die Sinnlichkeit des Kochens und der Sprache miteinander verwebt, ist beeindruckend und lässt den/die Leser*in selbst in die Küche eilen, um etwas von dieser Magie einzufangen.

„Ich war sicher, daß ich die vertraute Schärfe von Salz spüren würde, aber was ich wissen mußte, war, was für eine Art von Salz: Küche, Schweiß, Tränen oder das Meer“

Die Melancholie, die über allem liegt, erinnert an die bittersüßen Momente, die das Leben so lebenswert machen. Gleichzeitig ist da aber auch eine Leichtigkeit, fast wie ein warmer Sommerwind, der durch die Seiten streicht wenn man Binhs „stream of consciousness“ folgt. Man fühlt mit Binh – mit seiner Sehnsucht, seinen Erinnerungen und seiner stillen Traurigkeit, aber auch mit seiner Leidenschaft für das Kochen und das Leben selbst.

Der Roman erinnert wie stark das Band zwischen Essen und Erinnerung sein kann, wie tief eine einfache Mahlzeit Gefühle und Vergangenheit miteinander verbinden kann. „Das Buch vom Salz“ ist ein sinnliches Erlebnis, das einen dazu einlädt, mit allen Sinnen zu lesen und danach den Kochlöffel in die Hand zu nehmen. Eine literarische Reise, auf die ich euch gerne mitnehmen möchte mit diesem Buch.

Liebesgeschichten – Marie Luise Kaschnitz erscheint im Suhrkamp Verlag

Marie Luise Kaschnitz’ „Liebesgeschichten“ wollte ich anfangs erst gar nicht so recht lesen, denn ich bin jetzt nicht unbedingt ein Fan von Liebesgeschichten. Ich hatte aber arge Lust wieder was von dieser spannenden Autorin zu lesen und aktuell war das alles was die heimische Bibliothek hergab. Zum Glück! Was für eine Überraschung – das schmale Büchlein enthält 11 Kurzgeschichten (ausgewählt von #elisabethborchers) , die auf faszinierende Weise das Unheimliche und Skurrile des Alltags offenbaren. Die erste Geschichte, spielte in Pompeji (juhu!!) und hat mich begeistert – die Atmosphäre ist so dicht und „unsettling“, damit hatte ich nicht gerechnet.

„Du hast deinen Kopf nach links und rechts gedreht, wie die Eisbären, und ich habe dich darum oft meinen Eisbären genannt.“

Die Erzählungen sind überraschend und oft auch beunruhigend. Besonders „Eisbären“ hat mich beeindruckt: Hier wird eine kleine Notlüge einer Frau zum Schicksalsschlag. Es zeigt, wie sehr unsere unausgesprochenen Erwartungen unser Leben prägen können. Auch „Die Füße im Feuer“ wird mir im Gedächtnis bleiben – eine Geschichte über jemanden, der keinen Schmerz empfindet und dadurch fast die Fähigkeit verliert, das Leben richtig zu spüren. Das fand ich unglaublich intensiv.

Kaschnitz, die 1901 geboren wurde und bis 1974 lebte, gehört für mich zu den spannendsten Erzählerinnen ihrer Zeit. Ihre Art zu schreiben ist so aufmerksam und präzise, dass sie die feinen Nuancen des Lebens mit wenigen Worten auf den Punkt bringt. Ich würde mir so wünschen, dass viel mehr Menschen #marieluisekaschnitz wieder entdecken. Mit diesem Band hier kann sie Shirley Jackson oder Muriel Spark absolut Konkurrenz machen. Große Leseempfehlung!

Danke fürs Durchhalten – ich hoffe, ihr hattet auch einen guten Lesemonat. Welches der Bücher würde euch am meisten interessieren?

Sonnige Juni Lektüre

Der Juni war literarisch gesehen ein ausgezeichneter Monat. Viele spannende, interessante und bereichernde Bücher haben mich begleitet. Anfang Juni waren wir noch in England unterwegs, und die Reiseberichte aus Cornwall, Devon sowie Bath und Oxford werden bald folgen.

Hier wieder im Schnelldurchlauf die gelesenen Bücher aus dem Juni in alphabetischer Reihenfolge. Bin wie immer gespannt. Welche kennt ihr? Wie fandet ihr sie? Auf welche konnte ich euch neugierig machen?

Über die Berechnung des Rauminhalts I/Om udregning af rumfang #1 – Solvej Balle aus dem dänischen übersetzt von Peter Urban-Halle, erschienen im Matthes & Seitz Verlag

In „Über die Berechnung des Rauminhalts I“ von Solvej Balle, meisterhaft aus dem Dänischen von Peter Urban-Halle übersetzt, wird die Geschichte von Tara Selter erzählt, einer Buchhändlerin, die nach dem Besuch einer Antiquariatsmesse in Bordeaux in eine mysteriöse Zeitschleife gerät. Während der Rest der Welt, einschließlich ihres Mannes Thomas, den 18. November immer wieder neu erlebt, ist Tara gefangen in einer ständigen Wiederholung dieses Tages. Diese einzigartige Prämisse bietet Balle die Möglichkeit, tief in die Mechaniken und die Monotonie einer solchen Zeitschleife einzutauchen und gleichzeitig eine ungewöhnliche Liebesgeschichte zu erzählen.

Obwohl Geschichten, die auf dem „Groundhog Day“-Prinzip beruhen, mich durch ihre Wiederholungen oft in den Wahsinn treiben, hat mich Balles Werk erstaunlicherweise komplett gefesselt. Die Ruhe und Poesie ihrer Sprache verleihen der Erzählung eine meditative Qualität, die mich sofort gepackt hat und auch tief bewegend ist. Der Text strahlte eine leise, Melancholie aus, die sich sehr mit meiner aktuellen inneren Wetterlage deckt.

„Das plötzliche Gefühl etwas Unerklärliches zu teilen, die Verwunderung, dass es den anderen gibt – den Menschen, der alles so einfach macht -, das Gefühl, Ruhe gefunden zu haben und gleichzeitig in Turbulenz versetzt worden zu sein.“

Balle beschreibt nicht nur die äußere Wiederholung, sondern auch die innere Entwicklung von Tara. Während die ersten sechzig Tage des „Schwindels“ für Tara noch eine Art Freiheit darstellen, beginnt sie allmählich die Konsequenzen ihrer Situation zu erkennen. Die Zeit bleibt für Thomas stehen, während Tara altert und sich verändert. Diese Diskrepanz führt zu einer schmerzhaften Distanz zwischen den beiden, die zuvor so innig miteinander verbunden waren. Die Beziehung des Paares wird auf eine harte Probe gestellt, als Tara zunehmend versessen darauf wird, aus der Zeitschleife auszubrechen.

Ein weiteres bemerkenswertes Element ist die Art und Weise, wie Balle die Protagonistin und den Leser dazu zwingt, eine besondere Sensibilität für Details zu entwickeln. Die repetitive Natur der Erzählung lenkt den Fokus auf die Feinheiten des Alltags und den Umgang mit der Umwelt.

Es entsteht eine „existenzielle Parabel“, die nicht nur die stille Panik der Heldin einfängt, sondern auch eine tiefere Reflexion über das menschliche Dasein anstößt.

Die Übersetzung von Peter Urban-Halle fängt den rhythmischen und tastenden Balle-Sound nahezu verlustfrei ein, was wesentlich zur Wirkkraft des Romans beiträgt. Minimalistisch und doch mit einem großen literarischen Rhythmusgefühl schafft es Balle, die stille Panik und die innere Zerrissenheit ihrer Protagonistin darzustellen.

Besonders spannend finde ich, dass „Über die Berechnung des Rauminhalts I“ nur der erste Band eines groß angelegten siebenbändigen Romanprojekts ist. Ich freue mich schon sehr auf die weiteren Bände. Balle hat mit diesem Werk nicht nur die Fiktion von der Wirklichkeit befreit, sondern auch eine faszinierende Geschichte über Zeit, Veränderung und Liebe geschaffen.

Insgesamt hat mich „Über die Berechnung des Rauminhalts I“ tief beeindruckt und berührt. Es ist ein Buch, das trotz seiner repetitiven Struktur eine meditative Ruhe ausstrahlt und den Leser in eine poetische Welt voller leiser Melancholie entführt. Solvej Balle hat ein Meisterwerk geschaffen, das die Mechaniken der Zeit auf faszinierende Weise erkundet und dabei eine ungewöhnliche und berührende Liebesgeschichte erzählt.

Schlafen – Theresia Enzensberger erschienen im Hanser Verlag

Theresia Enzensbergers Buch ist ein philosophischer Streifzug durch die Nacht – und eine persönliche Erkundung der Schlaflosigkeit. Als langjährige, eigentlich lebenslange Schlaflosigkeitsveteranin weiß ich, wovon ich spreche, und man kann meiner Empfehlung hier vertrauen: Dieses Buch ist großartig und eine ganz große Empfehlung.

Enzensberger beginnt in der zähneknirschenden Leichtschlafphase mit einem Essay über die Moralisierung von Schlaf, Traum als politische Metapher und die Folgen allgemeinen Schlafmangels. Schlaf wird hier als gesellschaftlich und politisch aufgeladener Zustand dargestellt, der oft als persönliches Versagen gewertet wird, obwohl er viele komplexe Ursachen haben kann.

Fast unmerklich wird der Text in der Tiefschlafphase privater und innerlicher. Enzensberger eröffnet eine intensivere, persönlichere Sicht auf die Welt, die Kunst und die Literatur, indem sie ihre eigenen Erfahrungen mit Schlaflosigkeit reflektiert und mit den Gedanken anderer Künstler und Denker verknüpft. Diese Phase wirkt wie ein stilles Gespräch mit dem Leser, in dem Enzensberger ihre tiefsten Gedanken und Gefühle teilt.

Der Traum und die REM-Phase sind die Momente, in denen Enzensberger den Raum des Realen verlässt und etwas Neues wagt. Hier wird das Buch besonders spannend, da sie beginnt, die Essenz eines menschlichen Grundbedürfnisses zu begreifen, das sich unserer Macht entzieht. Sie nimmt den Leser mit auf eine Reise in die Welt der Träume und zeigt, wie diese unsere Wachwelt beeinflussen und widerspiegeln.

Enzensbergers Buch ist nicht nur eine persönliche Erzählung, sondern auch eine gesellschaftskritische Analyse. Sie zeigt, wie Schlaflosigkeit in unserer modernen Gesellschaft oft pathologisiert wird und welche wirtschaftlichen und politischen Interessen dahinterstehen. Der Leser erfährt, wie Schlafmangel genutzt wird, um gesellschaftliche Strukturen zu stützen, und wie dies unsere Wahrnehmung und Behandlung von Schlaflosigkeit beeinflusst. Enzensberger bietet aufschlussreiche Perspektiven zur Pathologisierung der Insomnie.

„Ich habe Phasen. Manchmal gleiche ich wochenlang einer Person, die von all diesen Problemen noch nie gehört hat – ich lege mich hin, mache die Augen zu und bin weg. Dann aber kommt verlässlich eine insomnische Phase. Es ist unmöglich, vorher zu wissen, wie lange sie dauern wird, aber immer ist sie gekennzeichnet durch nächtelanges Wachliegen und ein paar Stunden gnädigen Schlafs am Morgen. An Tag drei oder vier setzt die Verzweiflung ein, es wird immer schwieriger zu funktionieren. Meine Gedankenwelt wird obsessiv und panisch, und mich verfolgt die irrationale Frage: Was, wenn ich nie wieder schlafen kann?“

Schlaf wird nur dann gewürdigt wird, in unserer kapitalistischen Gesellschaft, wenn er die Arbeitskraft wiederherstellt; ansonsten wird er herabgewürdigt, auch sprachlich. Diese Gedanken sind nicht ganz neu, aber sie sind dennoch relevant und gut in den Kontext der modernen Gesellschaft eingebettet.

Zusammenfassend ist Theresia Enzensbergers Buch eine tiefgründige, fürsorgliche und bewegende Auseinandersetzung mit einem Thema, das viele Menschen betrifft, aber selten so ehrlich und umfassend behandelt wird. Ihre klugen Beobachtungen und persönlichen Einblicke machen das Buch zu einer wertvollen Lektüre für alle, die sich mit Schlaflosigkeit auseinandersetzen – sei es aus persönlicher Erfahrung oder aus Interesse an den gesellschaftlichen und philosophischen Implikationen.

Leben auf dem Land/A Country Year – Sue Hubbell übersetzt von Barbara Heller erschienen im Diogenes Verlag

„Leben auf dem Land“ von Sue Hubbell, aus dem Amerikanischen von Barbara Heller übersetzt und ergänzt durch ein Vorwort der Autorin sowie ein Nachwort von Literatur-Nobelpreisträger J.M.G. Le Clézio, ist ein charmantes und informatives Buch über das Landleben und die faszinierende Welt der Natur. Sue Hubbell, die einst als Bibliothekarin arbeitete und später zur Bienenzüchterin wurde, nimmt uns mit auf ihre Reise in die Ozark Mountains im südlichen Missouri, wo sie nach dem Ende ihrer dreißigjährigen Ehe ein neues Leben beginnt.

Das Buch ist mehr als eine einfache Erzählung über das Landleben; es ist eine Liebeserklärung an die Natur mit einem feinen Sinn für Humor und einer beeindruckenden naturwissenschaftlichen Kenntnis. Sie beschreibt das Zusammenspiel von Bienen, Insekten, Pflanzen und anderen Tieren. Ihre Begeisterung für diese kleinen Wunder der Natur ist wirklich ansteckend. Wer hätte gedacht, dass sechzigtausend Bienen, die gleichzeitig ihre Flügel schlagen, einen sanften Wind erzeugen, oder dass Fledermäuse mit Nachtfaltern kommunizieren – ihren potenziellen Mahlzeiten?

„Alles in allem aber hat die Welt meinen Versuchen, sie zu retten, listig und vergnügt widerstanden.“

Hubbell’s Mischung aus persönlichen Erlebnissen und wissenschaftlichen Beobachtungen macht das Buch besonders lesenswert. Sie erzählt ehrlich und mit einem trockenen Humor von den Herausforderungen und Freuden des Lebens auf einer einsamen Farm. Ihre Beschreibungen sind authentisch und erfrischend ungekünstelt, was das Buch umso sympathischer macht. Anstatt das Landleben idyllisch zu verklären, zeigt sie es in seiner ganzen Realität – mit all seinen schönen, aber auch anstrengenden Seiten.

Die vielen Spinnen, die im Buch vorkommen, könnten manchen Lesern etwas zu viel sein, aber die Bienen machen echt Lust sich selbst mal mit der Imkerei zu beschäftigen (das ging mir bei „The Offing“ auch gerade so) – ein Zeichen?

The Lowland – Jhumpa Lahiri auf deutsch unter dem Titel „Das Tiefland“ im Rowohlt Verlag erschienen

Jhumpa Lahiris Roman „The Lowland“ hat mich tief beeindruckt und stellt ein weiteres Highlight in meinem herausragenden Lesejahr 2024 dar.

Many thanks to @leila.ganesan for being an absolute gorgeous book model 🙂

Der Roman entfaltet eine vielschichtige Geschichte, die sowohl persönliche als auch politische Dimensionen berührt. Lahiri erzählt von den Brüdern Udayan und Subhash, die in den 1960er Jahren in Kalkutta aufwachsen. Während der jüngere Udayan sich der radikalen Naxaliten-Bewegung anschließt, bleibt der ältere Subhash zurückhaltend und pragmatisch. Udayans Tod durch die Polizei markiert einen Wendepunkt, der das Leben beider Brüder und ihrer Familien nachhaltig prägt.

Die Beziehung zwischen Bela und ihrer Mutter Gauri ist besonders eindrucksvoll und komplex geschildert. Gauri, die schwangere Witwe Udayans, wird von Subhash geheiratet, um sie vor dem Druck der konservativen Familie zu schützen. Doch trotz dieser Rettung bleibt Gauri emotional distanziert und konzentriert sich auf ihre akademische Karriere. Bela wächst mit dem Gefühl des Verlusts und der Entfremdung auf, geprägt von der Abwesenheit und emotionalen Kälte ihrer Mutter. Lahiri gelingt es, diese Mutter-Tochter-Beziehung mit großer Sensibilität und Tiefe darzustellen, was mich nachhaltig beschäftigt hat.

Udayans Engagement in der Naxaliten-Bewegung und sein tragisches Ende verdeutlichen, wie politische Ideologien und Kämpfe das individuelle Schicksal und die Familienbande beeinflussen können. Subhashs Flucht in die USA und sein Versuch, ein ruhigeres, geordnetes Leben zu führen, kontrastieren stark mit Udayans leidenschaftlichem, aber zerstörerischem Engagement.

„Were her mother ever to stand before her, even if Bela could choose any language on earth in which to speak, she would have nothing to say. But no, that’s not true. She remains in constant communication with her. Everything in Bela’s life has been in reaction. I am who I am, she would say, I live as I do because of you.“

Lahiris Prosa ist dabei von einer melancholischen Schönheit geprägt, die die Schauplätze lebendig werden lässt. Die Beschreibungen der Küstenlandschaften Neuenglands und die Erinnerungen an die Lowlands Kalkuttas sind besonders eindrucksvoll und man hat sofort einprägsame Bilder im Kopf. Die narrative Struktur des Romans, die zwischen verschiedenen Zeiten und Perspektiven wechselt, verleiht der Geschichte eine besondere Tiefe und Vielschichtigkeit.

„The Lowland“ ist kein epischer Roman im herkömmlichen Sinne, sondern eher eine intime Erzählung über die Zerbrechlichkeit menschlicher Beziehungen und die tiefen Wunden, die politische Konflikte hinterlassen können. Die Charaktere wirken in ihrer Misere oft isoliert und gefangen in ihrer persönlichen Trauer. Besonders Gauri bleibt in ihrer undurchsichtigen Art faszinierend und rätselhaft.

Lahiri hat mit „The Lowland“ einen Roman geschaffen, der durch seine emotionale Intensität und die feinfühlige Darstellung komplexer familiärer Beziehungen besticht. Es ist ein Buch, das nachhallt und zum Nachdenken anregt, nicht nur über die Charaktere und ihre Schicksale, sondern auch über die größeren politischen und sozialen Zusammenhänge, in denen sie sich bewegen. Ein wahrhaft bemerkenswertes Werk, das meinen Lesehorizont in diesem Jahr bereichert hat und ganz sicherlich nicht der letzte Roman den ich von Jhumpa Lahiri lesen werde.

Up at the Villa – W. Somerset Maugham auf deutsch unter dem Titel „Oben in der Villa“ im Diogenes Verlag erschienen

„Up in the Villa“ von W. Somerset Maugham ist ein packender Kurzroman, der einen von Anfang bis Ende nicht loslässt. Die Geschichte spielt in den malerischen Hügeln über Florenz und dreht sich um Mary Leonard, eine junge englische Witwe, die vor einer wichtigen Entscheidung steht. Maugham zeigt hier wieder einmal seine meisterhafte Erzählkunst und sein Gespür für menschliche Abgründe und Schicksalswendungen.

Mary wird von einem reichen, älteren Freund um ihre Hand gebeten, zögert aber mit ihrer Antwort. Bei einer abendlichen Fahrt in die Hügel trifft sie auf einen gut aussehenden, aber verzweifelten deutschen Flüchtling. Diese Begegnung löst eine Kette von Ereignissen aus, die Marys Leben komplett auf den Kopf stellen. Innerhalb weniger Stunden muss sie sich mit Leidenschaft, Gewalt und moralischen Dilemmas auseinandersetzen.

Maughams klarer und flüssiger Schreibstil macht das Buch zu einem echten Pageturner. „Up in the Villa“ ist nicht nur eine Geschichte über Liebe und Verlangen, sondern auch über das flüchtige Glück und die schwierigen Entscheidungen im Leben.

W. Somerset Maugham, geboren 1874 in Paris, war ein vielseitiger Autor, der oft die dunkleren Seiten des menschlichen Lebens in seinen Werken thematisierte. Seine zahlreichen Reisen und vielfältigen Erfahrungen fließen in seine Geschichten ein und geben ihnen Authentizität und Tiefe.

Die Verfilmung des Romans aus dem Jahr 2000, unter der Regie von Philip Haas, fängt die Atmosphäre und die emotionalen Nuancen des Buches hervorragend ein. Kristin Scott Thomas glänzt in der Rolle der Mary und bringt die inneren Konflikte der Figur überzeugend zur Geltung. Der Film bleibt der Vorlage treu und ergänzt sie durch beeindruckende Bilder der toskanischen Landschaft.

„The Princess gave him another of those quiet smiling looks of hers in which there was the indulgence of an old rip who has neither forgotten nor repented of her naughty past and at the same time the shrewdness of a woman who knows the world like the palm of her hand and come to the conclusion that no one is any better than he should be.“

„Up in the Villa“ hat mich wirklich überrascht und begeistert. Es war mein erstes Buch von Maugham, aber sicher nicht mein letztes. Die spannende Geschichte und die tiefgründigen Charaktere machen Lust auf mehr von diesem großartigen Autor.

The Offing – Benjamin Myers auf deutsch unter dem Titel „Offene See“ im Dumont Verlag erschienen, übersetzt von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann

Bin mir nie sicher, ob ich Dulcie sein möchte oder gerne eine Dulcie in meinem Leben hätte. Auch beim zweiten Lesen wieder so so schön. Auf dem Balkon sitzen, in Gedichtbänden blättern, Weißwein trinken und fluchen dass die Farbe von der Wand fällt – perfekt!

„There is poetry in silence but most of us don’t stop to hear it. They must talk, talk, talk, but say nothing because they are afraid of hearing their own heartbeat.

Let poetry and music and wine and romance guide the way. Let liberty prevail.“

Der junge Robert weiß schon früh, dass er wie alle Männer seiner Familie Bergarbeiter sein wird. Dabei ist ihm Enge ein Graus. Er liebt Natur und Bewegung, sehnt sich nach der Weite des Meeres. Daher beschließt er kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, sich zum Ort seiner Sehnsucht, der offenen See, aufzumachen. Fast am Ziel angekommen, lernt er eine ältere Frau kennen, die ihn auf eine Tasse Tee in ihr leicht heruntergekommenes Cottage einlädt. Eine Frau wie Dulcie hat er noch nie getroffen: unverheiratet, allein lebend, unkonventionell, mit sehr klaren und für ihn unerhörten Ansichten zu Ehe, Familie und Religion. Aus dem Nachmittag wird ein längerer Aufenthalt, und Robert lernt eine ihm vollkommen unbekannte Welt kennen.

Das wurde ganz überraschend für mich ein richtiges Herzensbuch. Jede:r von uns braucht eine Dulcie im Leben. Ein Buch das ich ganz besonders in diesen dunklen Zeiten empfehlen kann. Es macht die Welt ein kleines bisschen besser.

Mit brennender Geduld/El cartero de Neruda – Antonio Skármeta übersetzt von Willi Zurbrüggen erschienen im Piper Verlag

Antonio Skármetas Roman „Mit brennender Geduld“ ist eine liebevolle Hommage an den großen chilenischen Dichter Pablo Neruda und erzählt die Geschichte einer ungewöhnlichen Freundschaft. Der junge Mario Jiménez, ein träumerischer Briefträger in dem kleinen Dorf Isla Negra, hat nur einen einzigen Kunden: den weltberühmten Dichter Neruda. Zwischen dem naiven Mario und dem erfahrenen Literaten entwickelt sich eine tiefe Freundschaft. Mit Hilfe von Nerudas Gedichten gewinnt Mario das Herz seiner geliebten Beatriz. Die beiden heiraten, und Neruda wird Pate ihres ersten Sohnes.

Die politische Lage in Chile spiegelt sich in der Geschichte wider. Nach Salvador Allendes Wahlsieg 1970 wird Neruda Botschafter in Paris und gewinnt 1971 den Nobelpreis für Literatur. Nach dem Militärputsch unter Pinochet kehrt Neruda zurück nach Chile, das in Terror und Gewalt versinkt. Auch Marios Welt zerbricht, und Neruda stirbt wenige Tage nach dem Putsch unter mysteriösen Umständen.

Der Roman ist poetisch und melancholisch, eine Feier der Poesie und des Lebens. Skármeta erzählt die Geschichte mit einer Intensität, die tief unter die Haut geht.

Der Roman wurde zweimal verfilmt, wobei die zweite Verfilmung „Il Postino“ von Michael Radford besonders bekannt und einer meiner absoluten Lieblingsfilme ist. Der Film verlegt die Handlung von Chile in die 1950er Jahre an die Amalfi Küste.

Der Film, der auf den Inseln Procida und Salina im Golf von Neapel gedreht wurde, begeistert mich durch seine malerische Kulisse und die bewegende Geschichte.

Als ich kürzlich während meines Pompeij Aufenthaltes in Sorrento war, bin ich überraschend auf das Wohnhaus von Beatrice gestossen 😉

Das Buch und der Film ergänzen sich wunderbar. Während das Buch tief in die chilenische Geschichte eintaucht, bietet der Film eine romantische Interpretation in einem wunderschönen italienischen Setting. Beide Versionen machen Lust darauf, Nerudas Gedichte wieder hervorzukramen und sich von ihrer Magie verzaubern zu lassen.

Hier mein Lieblingsgedicht von Neruda:

Tonight I can write the saddest lines.

Write, for example, ‚The night is starry and the stars are blue and shiver in the distance.‘

The night wind revolves in the sky and sings.

Tonight I can write the saddest lines.
I loved her, and sometimes she loved me too.

Through nights like this one I held her in my arms.
I kissed her again and again under the endless sky.

She loved me, sometimes I loved her too.
How could one not have loved her great still eyes.

Tonight I can write the saddest lines.
To think that I do not have her. To feel that I have lost her.

To hear the immense night, still more immense without her.
And the verse falls to the soul like dew to the pasture.

What does it matter that my love could not keep her.
The night is starry and she is not with me.

This is all. In the distance someone is singing. In the distance.
My soul is not satisfied that it has lost her.

My sight tries to find her as though to bring her closer.
My heart looks for her, and she is not with me.

The same night whitening the same trees.
We, of that time, are no longer the same.

I no longer love her, that’s certain, but how I loved her.
My voice tried to find the wind to touch her hearing.

Another’s. She will be another’s. As she was before my kisses.
Her voice, her bright body. Her infinite eyes.

I no longer love her, that’s certain, but maybe I love her.
Love is so short, forgetting is so long.

Because through nights like this one I held her in my arms
my soul is not satisfied that it has lost her.

Though this be the last pain that she makes me suffer
and these the last verses that I write for her.

Translation by W. S. Merwin

Nah genug weit weg – Antje Rávic Strubel erschienen im Wallstein Verlag

In „Nah genug weit weg“ nimmt uns Antje Rávik Strubel auf eine spannende Reise durch die Bedeutung von Orten in der Literatur mit. Strubel ist eine Autorin, die für ihre tiefgründigen und oft politisch angehauchten Romane bekannt ist. Ihre Geschichten entstehen meistens in fremden Gegenden, wo sie sich selbst nicht wiedererkennt – genau dort, wo die Orientierung fehlt und neue Sichtweisen entstehen können.

Bei ihren Lichtenberg-Poetikvorlesungen in Göttingen im Februar 2023 sprach Strubel über ihren kreativen Prozess. Sie erklärte, wie aus persönlichen Erfahrungen literarisches Material wird und wie sich diese Erfahrungen poetisch umsetzen lassen. Besonders spannend ist ihre Frage, wie politisch Literatur heutzutage sein kann oder sogar sein sollte.

Strubel ist überzeugt, dass Orte und Landschaften einen großen Einfluss auf Menschen und ihre Denkweise haben. Sie fragt sich, ob die konkrete Erfahrung eines Ortes auch die Art und Weise beeinflusst, wie ihre Figuren sprechen und handeln. Und was passiert eigentlich an den Übergängen zwischen verschiedenen Orten? Ihre Werke zeigen, dass manche Orte vielleicht nur deshalb existieren, weil jemand über sie geschrieben hat – eine ziemlich interessante Idee.

„Und mit Virginia Woolf ließe sich hinzufügen: „Als Frau habe ich kein Land. Als Frau ist mein Land die ganze Welt“ Besitz, Herkunft, familäre Zugehörigkeit taugten nicht als Kriterien, um die Beziehung von Frauen zu Orten zu beschreiben. Frauen besaßen nichts, und wenn sie heirateten, tauschten sie den Wohnsitz der Herkunftsfamilie gegen den des Mannes. Sie wurden verschickt.
Wer aber kein Land hat, hinterlässt auch keine Spuren. Da ist keine feste Burg, in der man sich verschanzen, keine Mauern, denen etwas einprägt, keine Erde, der etwas eingepflanzt werden könnte, auf der man etwas hinterlässt.“

„Ein Holzhaus aus der Jahrhundertwende. Eine Schäreninsel. Ein Schiff. Ein Plattenbau. Felsen und Moore.“ Diese Orte haben für Strubel eine besondere Bedeutung und prägen ihre Geschichten. Sie lässt uns darüber nachdenken, wo wir uns selbst beim Schreiben oder Lesen befinden.

„Nah genug weit weg“ ist ein faszinierender Einblick in Strubels kreative Welt und zeigt, wie Orte nicht nur Kulisse, sondern auch Motor für Geschichten sein können.

Lichte Tage/Tin Man – Sarah Winman übersetzt von Elina Baumbach erschienen im Klett-Cotta Verlag

„Lichte Tage“ von Sarah Winman, im Klett-Cotta Verlag erschienen und von Elina Baumbach ins Deutsche übersetzt, ist ein wunderbares Buch, das mich sehr berührt hat. Es erzählt eine Geschichte über Freundschaft, Liebe und das Erwachsenwerden, die gleichzeitig melancholisch und voller Licht ist. Ich habe das Buch gelesen, weil ich dringend mehr lichte Tage brauchte, und es hat seinen Auftrag definitiv erfüllt.

Alles beginnt mit einem Gemälde: „Fünfzehn Sonnenblumen“ von Van Gogh. Dora Judd, eine Nebenfigur im Roman, hängt es an die Wand ihres Wohnzimmers und damit nimmt die Geschichte ihren Lauf. Dieses Bild wird zum Symbol für die Sehnsucht nach Kunst und Schönheit, die Ellis und Michael durch ihr ganzes Leben begleitet.

Ellis und Michael lernen sich in Oxford kennen, einem eher grauen und tristen Ort, aus dem sie beide entfliehen wollen. Ihre Freundschaft ist sofort tief und besonders, und gemeinsam machen sie sich auf den Weg in den sonnigen Süden Frankreichs. Dort, unter der warmen Sonne und umgeben von Poesie, entdecken sie, wer sie wirklich sind und was sie vom Leben wollen. Diese Reise ist nicht nur eine Flucht vor ihrem Alltag, sondern auch eine Suche nach sich selbst und nach Freiheit.

„Die erste Liebe hat so etwas an sich, nicht wahr?“ sagte sie. „Sie ist unantastbar für die, die nicht dabei waren. Aber sie ist der Maßstab für alles, was kommt.“

Im ersten Teil des Buches erfahren wir viel über Ellis. Er ist mittlerweile 46 Jahre alt und arbeitet in einer Autowerkstatt in Oxford. Seine Träume, Künstler zu werden, wurden nach dem Tod seiner Mutter von seinem strengen Vater zerschlagen. Jetzt ist er ein einsamer Mann, der immer noch um seine verstorbene Frau trauert. Seine Erinnerungen an die Vergangenheit sind sowohl schmerzhaft als auch schön.

Im zweiten Teil wechselt die Perspektive zu Michael. Er erzählt von seinem Leben in London und seiner besonderen Beziehung zu Ellis. Ihre kurze, aber intensive Liebesaffäre in Südfrankreich ist eine Mischung aus jugendlicher Sehnsucht und der bittersüßen Erkenntnis, dass manche Träume nie wahr werden. Michael erinnert sich an diese Zeit mit großer Wärme und Bedauern.

Sarah Winman schreibt mit einer Sensibilität und Einfühlsamkeit, die einen wirklich berührt. Ihre Beschreibungen von Beziehungen und Landschaften sind voller Energie und doch zurückhaltend. Besonders mochte ich, wie sie die Themen sexuelle Identität und die AIDS-Epidemie der 1980er Jahre behandelt – mit viel Verständnis und Mitgefühl.

„Lichte Tage“ ist ein Roman über die Möglichkeiten und verpassten Chancen des Lebens. Es geht um die Suche nach Identität, die Kraft der Freundschaft und die vielen Facetten der Liebe. Winman hat es geschafft, mit ihrer klaren Sprache und ihrem tiefen emotionalen Verständnis ein Buch zu schreiben, das lange nachhallt. „Lichte Tage“ hat mich daran erinnert, dass trotz aller Verluste und Schmerzen immer noch Hoffnung und Schönheit in der Welt existieren. Wenn du gerade lichte Tage brauchst, dann ist dieses Buch genau das Richtige für dich.

Der Salzpfad/The Salt Path – Raynor Winn übersetzt von Heide Horn und Christa Prummer-Lehmair erschienen im Goldmann Verlag

„Der Salzpfad“ von Raynor Winn ist eine inspirierende Geschichte, die zeigt, wie man auch in den dunkelsten Zeiten neuen Mut finden kann (!?). Raynor und ihr Mann Moth verlieren nach über 30 Jahren Ehe plötzlich alles: Ihr Haus wird gepfändet und Moth wird mit einer unheilbaren Nervenkrankheit diagnostiziert. In dieser ausweglosen Lage packen sie ihre Sachen und beschließen, den South West Coast Path zu wandern – einen mehr als tausend Kilometer langen Küstenpfad in Südengland.

Dieser Weg ist kein Spaziergang im Park. Er ist Englands längster Fernwanderweg, mit Höhenmetern, die dem vierfachen Aufstieg des Mount Everest entsprechen. Die beiden leben dreieinhalb Monate lang von Moths kleiner Rente, zelten wild und ernähren sich oft nur von Brombeeren und Löwenzahn. Doch „Der Salzpfad“ ist kein Überlebensratgeber. Es geht vielmehr darum, wie die beiden auf ihrer Reise wieder Hoffnung und neuen Lebenssinn finden.

Raynor beschreibt ihre Erlebnisse und Begegnungen mit den Menschen entlang des Weges mit viel Humor und einem scharfen Blick für Details. Ob Landwirte, Surfer, Soldaten oder Outdoor-Enthusiasten – die Vielfalt der Charaktere, denen sie begegnen, macht das Buch sehr interessant. Die Reise führt sie an den Rand der Gesellschaft und lässt sie das Leben aus einer ganz neuen Perspektive sehen.

Während unseres Urlaubs in England kürzlich sind wir an der Englischen Riviera ein Stück des Weges gewandert – großes Highlight!

Die Dialoge sind oft kurz und treffend, und Raynor erzählt ihre Geschichte mit einer angenehmen Portion Selbstironie. Gleich zu Beginn des Buches gibt es einen interessanten historischen Exkurs über die Verfolgung von Bettlern und Landstreichern in Großbritannien, was ihre eigene Situation als unfreiwillige Vagabunden in einen größeren Zusammenhang stellt.

Das Buch beginnt mit einem Zitat aus der Odyssee: „Muse, erzähl mir vom Manne, dem wandlungsreichen, den es oft abtrieb vom Wege.“ Dieser Satz passt perfekt zu der Geschichte von Raynor und Moth, die ohne klares Ziel losziehen und dabei nicht nur ihre Würde, sondern auch neue Lebensfreude finden. Raynor scheut sich nicht vor emotionalen Momenten, aber sie wird nie kitschig oder rührselig.

„Der Salzpfad“ ist ein warmherziger und menschlicher Reisebericht, der zeigt, dass Hoffnung und ein neuer Anfang möglich sind, selbst wenn alles verloren scheint. Raynor Winn nimmt uns mit auf eine Reise, die uns lehrt, uns der Schönheit der Natur und der Stärke des menschlichen Geistes bewußt zu werden. Kein Wunder, dass dieses Buch in Großbritannien so erfolgreich ist – es trifft mitten ins Herz und macht unfassbar Lust darauf selbst die Wanderschuhe zu schnüren – auf den Teil mit der Obdachlosigkeit und dem kompletten Bankrott würde ich nach Möglichkeit gerne verzichten.

Gerne gelesen, aber ich war nicht „blown-away“, muss die weiteren Bände nicht zwangsläufig lesen, würde es aber, wenn sie mir irgendwie, irgendwo in die Finger fallen.

So, falls ihr es tatsächlich bis hier unten ausgehalten habt – Respekt! Sorry ist doch a bisserl lang geworden fürchte ich. Hoffe ich konnte euch auf das eine oder andere Buch Lust machen und in ein paar Tagen gibt es dann den ersten Reisebericht. Kommt ihr mit?

April by the Book

Willkommen zu meinem Lesemonat April! Der war wirklich spannend, vor allem wegen meiner Reise nach Neapel und Pompeji. Aber auch im Kopf ging’s rund: Nele Pollatschek hat mich nach Oxbridge entführt, ich hab Zeit in Timor Kaleyas Sanatorium verbracht und eine Menge Einblicke in das Kastensystem der USA gelernt. Ich ließ mich von der poetischen Sprache Marie-Luise Kaschnitz‘ verzaubern habe über die die Sternstunden der Menschheit nachgedacht. Hier wieder ein kurzer Abriss meines Lesemonats in alphabetischer Reihenfolge:

Pompeii – Mary Beard auf deutsch unter dem gleichen Titel im Fischer Verlag erschienen, übersetzt von Ursula Blank-Sangmeister

Mary Beards Buch „Pompeii: The Life of a roman town“ ist ein faszinierender und humorvoller Streifzug durch die Stadt und die Geschichte. Sie liebt es gängige Annahmen über Pompeij zu widerlegen und kann dabei im Text ordentlich austeilen anderen Kolleg*innen gegenüber.

Beard betont immer wieder die Grenzen unseres Wissens und die Unbeständigkeit unserer Konstrukte. Sie widerlegt die Vorstellung, dass Pompeji eine „eingefrorene Stadt in der Zeit“ sei, wie es oft behauptet wird. Vielmehr zeigt sie auf, dass Pompeji von verschiedenen historischen Ereignissen geprägt wurde, angefangen von einem verheerenden Erdbeben bis hin zu Plünderungen und Bombardierungen im Zweiten Weltkrieg.

Das Buch bietet einen überraschenden Blick hinter die Kulissen von Pompeji und beleuchtet das tägliche Leben der Menschen, ihre Häuser, ihre Bäder und sogar ihre Bordelle. Beard führt uns durch die Straßen, in die Häuser und öffentlichen Gebäude und lässt uns die Stadt mit all ihren Gerüchen und Geräuschen erleben.

In fact, a marriage was normally contracted, as the Romans put it, ‘by practice’: that is, in our terms, ‘by cohabitation’. If you lived together for a year, you were married.

Besonders bemerkenswert ist Beards Fähigkeit, komplexe Themen auf eine zugängliche und unterhaltsame Weise zu präsentieren. Man kann förmlich spüren, wie sie durch die Ruinen von Pompeji spaziert und uns dabei mit ihrem Wissen und ihrer Begeisterung mitreißt.

Lästige Liebe – Elena Ferrante erschienen im Suhrkamp Verlag, übersetzt von Karin Krieger

„Elena Ferrante“ ist das Pseudonym einer italienischen Schriftstellerin, deren wahre Identität bis heute ein gut gehütetes Geheimnis ist. Ihre Romane setzen sich häufig mit Themen wie weiblicher Freundschaft, Familienbeziehungen und dem Leben im südlichen Italien auseinander.

Ihr Debütroman „Lästige Liebe“ (Originaltitel: „L’amore molesto“), veröffentlicht im Jahr 1992, ist eine eindringliche, ziemlich beklemmende Geschichte über eine Frau namens Delia, die nach dem mysteriösen Tod ihrer Mutter Amalia deren Tagebuch entdeckt. Während Delia versucht, die Wahrheit über den Tod ihrer Mutter aufzudecken, taucht sie immer tiefer in deren geheimnisvolle Vergangenheit ein.

Betritt man die Wohnung eines vor kurzem verstorbenen Menschen, fällt es schwer, sie für unbewohnt zu halten.

„Lästige Liebe“ ist ein Roman, der mich mit seiner düsteren Atmosphäre und den komplexen Charakteren stellenweise durchaus in seinen Bann ziehen konnte, bin aber nicht wirklich warm geworden mit den Figuren und ich war bei der Lektüre eigentlich abwechseln verwirrt oder ein bißchen verstört. Durchaus ein gelungener Debütroman, Frau Ferrante kann wirklich schreiben – aber ich kann nicht sagen, dass ich unbändige Lust bekommen habe noch weitere Romane von ihr zu lesen.

Pompeij – Robert Harris im Heyne Verlag erschienen, übersetzt von Christel Wiemken

Robert Harris‘ Pompeij ist ein faszinierender historischer Roman, der des verheerenden Ausbruchs des Vesuvs und der Zerstörung der Stadt erzählt. Mit einer Mischung aus akribischer historischer Recherche und fesselnder Erzählung entführt Harris die Leser in die Welt des antiken Roms und verwebt geschickt Fakten mit Fiktion.

Die Geschichte folgt dem jungen Ingenieur Marcus Attilius Primus, der nach Pompeji kommt, um die Wasserleitungen der Stadt zu reparieren. Doch bald entdeckt er Anzeichen für ungewöhnliche Aktivitäten des Vesuvs und wird in ein Netz aus Intrigen, Machtspielen und persönlichen Dramen verstrickt. Während Attilius verzweifelt versucht, die Bewohner vor der bevorstehenden Katastrophe zu warnen, bahnt sich das Unheil unaufhaltsam an.

What is leadership, after all, but the blind choice of one route over another and the confident pretense that the decision was based on reason

Harris gelingt es richtig gut, die Atmosphäre und das Leben im antiken Pompeji zum Leben zu erwecken. Durch seine detaillierte Darstellung der Stadt, ihrer Bewohner und ihrer Bräuche entsteht ein lebendiges Bild dieser Tage und es hat was sehr beklemmendes wenn man schon von der ersten Seite an weiß, dass sehr bald unweigerlich eine Katastrophe passieren wird.

Man spürt die intensive Recherche, die in den Roman eingeflossen ist, und die Liebe zum Detail, mit der Harris die Welt von Pompeji zum Leben erweckt.

„Pompeji“ ist ein packender historischer Roman, der nicht nur unterhält, sondern auch zum Nachdenken anregt. Er wirft Fragen nach der Natur der Macht, dem Verhalten in Krisensituationen und der Fragilität menschlicher Existenz auf.

Heilung – Timon Karl Kaleyta erschienen im Piper Verlag

Ein Sanatoriumsroman kann wie eine Reise in eine unbekannte Welt sein, eine Welt, in der die Grenzen zwischen Realität und Fiktion verschwimmen und der Leser selbst zum Mitreisenden wird. Timon Karl Kaleytas Roman „Heilung“ ist eine solche Reise, die den Leser in die verschneiten Berge des San Vita entführt, einem Ort, der mehr Geheimnisse birgt, als man auf den ersten Blick vermuten würde.

Die Geschichte dreht sich um einen namenlosen Protagonisten, der plötzlich von Schlaflosigkeit geplagt wird und sich auf eine Reise der Selbstfindung begibt. Seine Frau schickt ihn in das exklusive San Vita, nicht um eine Krankheit zu heilen, sondern um ein diffuses Unbehagen zu vertreiben. Unter der Leitung von Professor Trinkl durchläuft er unkonventionelle Behandlungsmethoden, die eher an ein Abenteuer als an eine medizinische Therapie erinnern. Doch bald schon bricht er aus dem engen Korsett des Sanatoriums aus und findet sich auf dem Bauernhof seines Jugendfreundes Jesper wieder, wo er eine ganz andere Art der Heilung erfährt.

Was diesen Roman so faszinierend macht, ist die Atmosphäre der Ambiguität, die er schafft. Kaleytas Erzählstil lässt bewusst viele Fragen offen, und genau das macht den Reiz des Romans aus. Man wird als Leser dazu eingeladen, selbst zu interpretieren und zu reflektieren, anstatt alle Antworten serviert zu bekommen.

Besonders beeindruckend ist die Art und Weise, wie Kaleytas die Themen Männlichkeit und Selbstfindung behandelt. Anders als viele zeitgenössische Autoren, die sich in autofiktionalen Werken in endlosen Selbstreflexionen verlieren, schlägt Kaleytas einen erfrischend anderen Weg ein. Sein Protagonist ist kein klassischer Held, sondern ein Durchschnittsmensch, der sich in einer Welt voller Widersprüche und Ambivalenzen verliert. Es ist diese Alltäglichkeit, die den Roman so zugänglich und gleichzeitig so tiefgründig macht.

Auch die Settings, sei es das exklusive Sanatorium oder der idyllische Bauernhof, sind meisterhaft inszeniert und tragen zur Atmosphäre des Romans bei. Man fühlt sich geradezu, als würde man selbst durch die verschneiten Berge streifen oder den Morgentau auf den Feldern spüren.

Ins San Vita kommen Menschen, die wissen, dass sie gesund sind. Sie haben bereits die besten Ärzte der Welt aufgesucht. Und nun wollen sie von uns bestätigt bekommen, dass auch darüber hinaus alles in Ordnung ist. Sie wollen, wie soll ich sagen, von einem unguten Gefühl befreit werden, von einem Unbehagen, dass sie belastet.

Natürlich hat der Roman auch seine Schwächen. Einige Passagen wirken etwas überkonstruiert, und der manierierte Erzählstil mag nicht jedermanns Geschmack treffen. Doch gerade diese Unvollkommenheiten verleihen dem Roman eine gewisse Authentizität und machen ihn zu einem echten Erlebnis.

Insgesamt hat mir „Heilung“ von Timon Karl Kaleytas außerordentlich gut gefallen. Die unkonventionelle Erzählweise, die fesselnde Atmosphäre und die tiefgründigen Themen haben mich von der ersten bis zur letzten Seite in ihren Bann gezogen. Wer gerne auf literarische Entdeckungsreise geht und sich von einem Roman überraschen lassen möchte, dem kann ich „Heilung“ nur wärmstens empfehlen.

Orte / Gedichte – Marie-Luise Kaschnitz erschienen im Insel bzw Suhrkamp Verlag

Ich bin so so glücklich diese wundervolle Autorin für mich entdeckt zu haben. Ein absoluter Zufallsfund aus dem Bücherschrank, den ich nach einem Gedicht gesehen bei @buddenbohm aufschlug und nicht mehr weglegen konnte.

In Marie-Luise Kaschnitz‘ Werk „Orte“ begeben sich Leser auf eine faszinierende Reise durch die Landschaften der menschlichen Seele. Kaschnitz, eine der bedeutendsten deutschen Schriftstellerinnen des 20. Jahrhunderts, verwebt in diesem Werk auf meisterhafte Weise poetische Sprache mit tiefgründigen Einblicken in die menschliche Existenz.

Marie-Luise Kaschnitz wurde am 31. Januar 1901 in Karlsruhe, Deutschland, geboren. Sie entstammte einer wohlhabenden Familie und erhielt eine umfassende Bildung, die ihre Liebe zur Literatur und zum Schreiben förderte. Ihr Schaffen umfasst eine Vielzahl von Gedichten, Erzählungen, Essays und Romanen. Kaschnitz‘ Werke zeichnen sich durch eine klare, prägnante Sprache aus, die oft existenzielle Themen wie Vergänglichkeit, Einsamkeit und die Suche nach Identität behandelt.

Ihr literarisches Schaffen erstreckte sich über mehrere Jahrzehnte, in denen sie eine Vielzahl von Preisen und Auszeichnungen erhielt, darunter den Georg-Büchner-Preis im Jahr 1955. Marie-Luise Kaschnitz verstarb am 10. Oktober 1974 in Rom, hinterließ jedoch ein bedeutendes Erbe in der deutschen Literaturgeschichte.

Paris 1939, und wie töricht und glücklich wir dort sind. Wie wir die in den Buchhandlungen ausliegenden pazifistischen Bücher, die Späße der Goliarden auf den Straßen für ein Zeichen der Überlegenheit nehmen, wie wir selbst, aus der Kaserne Deutschland für kurze Zeit entlassen, gelöst umhergehen, fast tanzend in unserem lateinischen Viertel, im Jardin du Luxembourg und die Seine entlang.

„Orte“ ist eine Sammlung von Texten, die die Vielschichtigkeit menschlicher Erfahrungen und Emotionen erkunden. Kaschnitz führt die Leser durch metaphorische Landschaften, in denen sie die Untiefen des menschlichen Geistes erkunden. Jeder Ort, den sie beschreibt, ist nicht nur ein geografischer Ort, sondern auch ein Zustand des Bewusstseins.

Die Erzählungen in „Orte“ sind oft fragmentarisch und lassen Raum für Interpretation. Kaschnitz spielt mit Symbolen und Bildern, um tiefe emotionale Resonanzen zu erzeugen. Sie beschreibt verlassene Orte, einsame Landschaften und verträumte Szenerien, die eine Reflexion des inneren Zustands der Protagonist*innen sind.
Kaschnitz‘ Sprache ist von einer tiefen Melancholie und einer unbestreitbaren Schönheit geprägt. Jedes Wort ist sorgfältig gewählt, jede Beschreibung ist kunstvoll ausgearbeitet.

Die Gedichte von Marie-Luise Kaschnitz sind oft von einer tiefen, introspektiven und existenziellen Stimmung geprägt. Ihre Poesie zeichnet sich durch eine präzise und zugleich poetische Sprache aus, die komplexe emotionale Zustände und philosophische Themen erforscht. Kaschnitz‘ Werke reflektieren häufig Themen wie Vergänglichkeit, Einsamkeit, Verlust und die Suche nach Sinn.

Dear Oxbridge – Nele Pollatschek erschienen im Galiani Verlag

Nele Pollatscheks „Dear Oxbridge“ bietet einen faszinierenden Einblick in die Welt der britischen Elite-Universitäten Oxford und Cambridge. Als langjährige Studentin dieser renommierten Institutionen beleuchtet Pollatschek nicht nur das akademische Leben, sondern wirft auch einen Blick hinter die Kulissen der britischen politischen Elite, die maßgeblich den Brexit beeinflusst hat.

Das Buch beginnt mit einer tragikomischen Pointe, als Pollatschek am Morgen des Brexit-Votums ihre Studienschulden begleichen kann, jedoch nicht aus Freude über den Ausgang der Abstimmung, sondern aus wirtschaftlicher Notwendigkeit. Von diesem Ausgangspunkt aus reflektiert sie über die Entstehung des Brexit und die Rolle der politischen Klasse, die von den Eliteuniversitäten geformt wird.

Pollatschek beschreibt Oxbridge als Symbol für Reichtum, Elite und Macht. Sie zeigt auf, wie diese Institutionen ein Milieu schaffen, das von seinen eigenen Privilegien überzeugt ist und diese über Generationen hinweg weitergibt. Dabei deckt sie auch die dunklen Seiten dieser Welt auf, wie die elitären Clubs und die Kultur der Abgeschlossenheit und menschenverachtenden Praktiken.

Trotz dieser kritischen Betrachtung ist Pollatschek jedoch nicht verbittert. Sie zeigt eine tiefe Zuneigung zu Großbritannien und seinen Universitäten, insbesondere zu der Leidenschaft für Wissen und Lehre, die dort herrscht. „Dear Oxbridge“ kann daher auch als eine Art universitärer Coming-of-Age-Text betrachtet werden, der neben dem Brexit vor allem Pollatscheks eigene intellektuelle Reifung thematisiert.

Der Politikertyp, der aus Oxbridge kommt, der vorher natürlich schon in Eton war, also Menschen wie David Cameron und Boris Johnson, das ist jemand, der immer schon alle Privilegien hatte, der immer schon etwas Besseres war, und der gleichzeitig gar nicht weiß, dass er sich das nicht erarbeitet hat, sondern dass das einfach ein Privileg ist, dass das einfach von Geburt an da ist. Und weil die vermehrt denken: Boah, das habe ich mir alles erarbeitet, das verdiene ich, kommt daraus eine Gnadenlosigkeit, also der Gedanke, dass diejenigen, die das nicht haben, was man selber hat, es auch nicht verdienen.

Das Buch besteht aus einer Reihe locker verbundener Essays, die humorvoll und pointiert geschrieben sind. Es offenbart Risse und Widersprüche in der britischen Gesellschaft und bietet gleichzeitig ein warmes Plädoyer dafür, immer wieder zuzuhören und die Menschlichkeit in den Diskussionen zu bewahren.

Ein großartiges Buch das ich sehr gerne gelesen habe und das nicht nur Einblicke in die Welt der Eliteuniversitäten bietet, sondern auch wichtige Fragen zur gesellschaftlichen und politischen Entwicklung Großbritanniens aufwirft. Wer verstehen möchte, was hinter den Türen von Oxbridge passiert und warum Großbritannien weiterhin von Bedeutung ist, sollte dieses Buch lesen.

Caste – The Origins of our Discontents – Isabel Wilkerson auf deutsch unter dem Titel „Kaste – Die Ursprünge unseres Unbehagens“ im Kjona Verlag erschienen, übersetzt von Jan Wilm

Isabel Wilkinsons „Kaste – Die Ursprünge unseres Unbehagens“ war mein Hörbuch im April, es wird von der New York Times als das bisher wichtigste Sachbuch des 21. Jahrhunderts gelobt. In ihrer Analyse betrachtet Wilkerson das System der Kaste als eine universelle Grammatik der Unterdrückung, die düstere Kontinuitäten wie Polizeigewalt, Wahlunterdrückung und Bildungsungleichheiten aufdeckt. Sie sieht wenig Platz für hoffnungsvolle Zukunftsszenarien, insbesondere in einer Welt nach Trump, in der die Frage „Weißsein oder Demokratie?“ im Mittelpunkt steht.

Radical empathy, on the other hand, means putting in the work to educate oneself and to listen with a humble heart to understand another’s experience from their perspective, not as we imagine we would feel. Radical empathy is not about you and what you think you would do in a situation you have never been in and perhaps never will. It is the kindred connection from a place of deep knowing that opens your spirit to the pain of another as they perceive it.

Empathy is no substitute for the experience itself. We don’t get to tell a person with a broken leg or a bullet wound that they are not in pain. And people who have hit the caste lottery are not in a position to tell a person who has suffered under the tyranny of caste what is offensive or hurtful or demeaning to those at the bottom. The price of privilege is the moral duty to act when one sees another person treated unfairly. And the least that a person in the dominant caste can do is not make the pain any worse.

Obwohl Wilkerson das Konzept der Kaste auf das gesamte gesellschaftliche Gefüge der USA anwendet, zeigt sich, dass dieses Konzept manchmal zu starr ist und den realen Fortschritten der Bürgerrechtsbewegung sowie einem langsamen, aber stetigen gesellschaftlichen Wandel entgegensteht.

Trotzdem präsentiert Wilkerson am Ende ihres Buches ein hoffnungsvolles Konzept der radikalen Empathie. Durch ein konsequentes Denken an der Stelle des Anderen hält sie eine Welt ohne Kaste grundsätzlich für möglich. Dieser Ansatz lässt Raum für Hoffnung und zeigt einen Weg auf, wie eine gerechtere und empathischere Gesellschaft erreicht werden könnte.

Vom Zauber des Untergangs – Gabriel Zuchtriegel erschienen im Propyläen Verlag

Gabriel Zuchtriegels Buch „Vom Zauber des Untergangs war die perfekte vorbereitende Reiselektüre auf meinen Besuch in Pompeij letzte Woche. Das Buch bietet nicht nur einen faszinierenden Einblick in die archäologischen Schätze Pompejis, sondern spannt auch einen Bogen von der Antike bis in die Gegenwart.

Gabriel Zuchtriegel, ein 42-jähriger Archäologe leitet seit 2021 den Archäologiepark Pompeji in Italien. Sein Buch reflektiert nicht nur die Geschichte der antiken Stadt, sondern wirft auch einen neuen Blick auf ihre Bedeutung für unsere heutige Zeit. Als ich durch die gut erhaltenen Überreste von Garküchen, Sklavenzimmern und Tempeln wanderte, wurde mir klar, dass diese vergangenen Zivilisationen mehr mit unserer Gegenwart zu tun haben, als wir oft glauben.

Zuchtriegel beschreibt in seinem Buch nicht nur die archäologischen Ausgrabungen und Restaurierungen, sondern auch die neuen Forschungsergebnisse, die ständig ans Licht kommen. Dabei schlägt er immer wieder eine Brücke zwischen der antiken Welt und unserer modernen Gesellschaft. Er stellt Fragen nach dem Wandel der Gesellschaft und der Bedeutung von Kultur und Erbe für unsere Identität.

Während man die beeindruckenden Überreste der antiken Villen und Theater bewundert, kommt man nicht umhin, darüber nachzudenken, wie sich das Leben in Pompeji vor dem verheerenden Ausbruch des Vesuvs abspielte. Doch Zuchtriegel erinnert uns daran, dass Pompeji nicht nur eine historische Stätte ist, sondern auch eine Quelle der Inspiration und Reflexion für unsere heutige Zeit.

Zuchtriegels Buch ist nicht nur eine Sammlung von Fakten und Daten über Pompeji, sondern auch eine persönliche Reise durch die Geschichte und Kultur einer vergangenen Zivilisation. Seine Leidenschaft für die Archäologie und sein Engagement für den Schutz und die Bewahrung des kulturellen Erbes sind in jedem Wort spürbar und ansteckend.

Gibt es auch heute Sachverhalte, von denen zukünftige Generationen sagen werden, dass uns dafür die Begriffe fehlten? Und welche könnten das sein?

Pompeji ist nicht nur eine historische Stätte, sondern auch ein Symbol für die Vergänglichkeit des Lebens und die Notwendigkeit, unser kulturelles Erbe zu schützen und zu bewahren.

Gabriel Zuchtriegel lädt uns ein, Pompeji mit neuen Augen zu sehen und die versteckten Geschichten und Geheimnisse dieser faszinierenden antiken Stadt zu entdecken. Eine Lektüre, die nicht nur für Archäologen und Geschichtsinteressierte, sondern für alle, die sich für die menschliche Geschichte und Kultur interessieren, von Interesse ist.

Sternstunden der Menschheit – Stefan Zweig erschienen im S. Fischer Verlag

Stefan Zweigs „Sternstunden der Menschheit“ ist ein zeitloses Meisterwerk, das die Leser auf eine faszinierende Reise durch die Geschichte menschlicher Errungenschaften führt. Mit seiner unvergleichlichen Erzählkunst fängt Zweig vierzehn historische Momente ein, die als Sternstunden der Menschheit gelten können.

Von bedeutenden Persönlichkeiten wie Napoleon und Dostojewski bis hin zu wagemutigen Entdeckern und begabten Künstlern erzählt Zweig von den wegweisenden Ereignissen, die die Geschichte maßgeblich geprägt haben. Jeder dieser Augenblicke wird von Zweig mit einer novellistischen Intensität und einem tiefen Verständnis für die menschliche Natur dargestellt.

Immer sind Millionen Menschen innerhalb eines Volkes nötig, damit ein Genius entsteht, immer müssen Millionen müßige Weltstunden verrinnen, ehe eine wahrhaft historische, eine Sternstunde der Menschheit in Erscheinung tritt.

Durch Zweigs meisterhafte Erzählungen werden die Leser in die Atmosphäre und die Bedeutung dieser historischen Momente hineingezogen. Man spürt die Spannung von Napoleons Niederlage in Waterloo, erlebt die Aufregung der Entdeckung Kaliforniens und fühlt die Erleichterung von Dostojewskis Begnadigung.

„Sternstunden der Menschheit“ ist mehr als nur eine Sammlung von Geschichten – es ist eine Hommage an die Menschheit und ihre Fähigkeit, in entscheidenden Momenten über sich hinauszuwachsen. Stefan Zweigs Werk bleibt auch nach 125 Jahren ein unverzichtbarer Bestandteil der Weltliteratur und fasziniert weiterhin Leser auf der ganzen Welt.

Das war insgesamt ein richtig guter Lesemonat. Fast durchweg Bücher, denen ich 4-5 Sterne gegeben habe, bis auf Elena Ferrante auch alles Autor*innen die ich definitiv wieder lesen würde.

Was waren Eure Highlights im April und konnte ich euch auf das eine oder andere Buch hier Lust machen? Freu mich von Euch zu hören.

Dezember by the Book

Ich muss mein Lesen ändern. Pünktlich zur Weihnachtszeit habe ich mich nicht an Plätzchen, Lebkuchen oder Weihnachtsstollen überfressen sondern an spooky cozy Gothic Literatur. Habe davon in den letzten Monaten einfach ein bißchen viel gelesen. Die waren alle ganz gut, ich habe sie auch gern gelesen, aber jetzt ist einfach dieses leicht üble Gefühl da, wenn man einfach zu viel Junk Food hatte und ich brauche jetzt erst mal wieder was literarisch gesundes in den nächsten Wochen 😉

Aber ich will auch nicht zu streng sein mit mir. Die letzten Wochen waren wirklich fordernd für mich, vielleicht ist das dann der Ausgleich gewesen, dass es mich eher zu wohliger Wohlfühl-Grusel-Lektüre zog. Am Januar wird alles anders, da wird nur literarisch hochwertiges gelesen – ich schwör!

Ich hoffe, ich kann euch dennoch Lust auf das eine oder andere Buch machen und ich habe euch mit meinem Intro nicht gleich alle vertrieben 😉

Marple – inspiriert von Agatha Christie, neu erzählt von 12 Autorinnen erschienen bei Harper Collins, bislang noch nicht ins deutsche übersetzt

Wie bei wahrscheinlich fast jeder Compilation haben mir hier nicht alle Geschichten gleich gut gefallen, aber ich habe die Geschichten insgesamt alle sehr gerne gelesen. Naomi Alderman, Leigh Bardugo, Alyssa Cole, Lucy Foley, Elly Griffiths, Natalie Hayes, Jean Kwok, Val McDermid, Karen M. McManus, Dreda Say Mitchell, Kate Mosse und Ruth Ware hauchen der wohl berühmtesten Detektivin der Welt frischen Wind ein und lassen Miss Marple in gleich mehreren Geschichten um die Welt düsen. Miss Marple ermittelt außerhalb ihres Heimatdörfchens St. Mary Mead auch in der Karibik, in New York, in Hong Kong, London und an der Amalfi Küste. Die Dame kommt rum. Sie hat auch deutlich moderne Ansichten was ich als erfrischend empfand.

Jede Autorin und jeder Autor stellt Agatha Christies Marple aus ihrer ganz eigenen Perspektive dar und bleibt dabei den Merkmalen des Cozy Crime treu.

“Ah, my dear,” Aunt Jane smiles kindly, “the problem with that, you see, is that no one is ever the murdering sort until they are.”

Miss Marple wurde den Lesern zum ersten Mal in einer Geschichte vorgestellt, die Christie 1927 für das Royal Magazine schrieb, und hatte ihren ersten Auftritt in einem kompletten Roman in „The Murder at the Vicarage“ von 1930. Es ist 45 Jahre her, dass Agatha Christies letzter Marple-Roman, „Sleeping Murder“, 1976 posthum veröffentlicht wurde, zum Glück haben die zwölf Autorinnen alles dafür getan uns daran zu erinnern warum Jane Marple die berühmteste Detektivin aller Zeiten bleiben wird.

This House is haunted – John Boyne auf deutsch unter dem Titel „Haus der Geister“ im Piper Verlag erschienen, übersetzt von Sonja Finck

England 1867. Die junge Eliza Caine reist in die Grafschaft Norfolk, um eine Stellung als Gouvernante anzutreten. Als sie an einem nebeligen Novemberabend müde und durchgefroren die Empfangshalle von Gaudlin Hall betritt, wird sie von ihren beiden Schützlingen Isabella und Eustace begrüßt. Überrascht stellt Eliza fest, dass die beiden offenbar allein in dem viktorianischen Anwesen leben. Von den Eltern und anderen Angestellten fehlt jede Spur. Da sie die Kinder unmöglich ihrem Schicksal überlassen kann, bleibt sie – und stellt schon bald fest, dass sie doch nicht allein sind …

Before we learn to feel afraid of things, our bodies know how to do them anyway. It’s one of the more disappointing aspects of growing older. We fear more so we can do less.

So richtig warm geworden bin ich nicht mit dem Buch. Es war alles ein bißchen zu vorhersehbar aber vielleicht hat er ja auch eine Persiflage auf den Gothic Roman schreiben wollen und ich habe das nur nicht gemerkt? Falls das der Fall ist und einige Menschen auf Goodreads glauben das durchaus, dann hat das Jane Austen mit „Northanger Abbey“ etwas besser gemacht. Das ist ordentliche Unterhaltung, kann man gut lesen – aber schlaflose Nächte macht es nicht.

The Dark is rising – Susan Cooper auf deutsch unter dem Titel „Wintersonnenwende“ im CBT Verlag, übersetzt von Annemarie Böll

Habe ich nicht gelesen, sondern bei der BBC als Audio Drama gehört (gesprochen von Robert Mcfarlane unter anderem) – das war ein sehr großes Vergnügen und ich schicke noch mal einen lieben Dank an die liebe Bookclub Freundin die mich darauf aufmerksam machte. Die Fantasy Reihe die aus fünf Bänden besteht, kennt in UK jedes Kind – ob das hier in Deutschland auch der Fall ist weiß ich gar nicht. Auf TikTok ist es auf jeden Fall seit einer Weile Trend das Buch jedes Jahr am 20. Dezember (dem Tag vor Wills 11. Geburtstag) zu lesen, zwölf Tage lang jeweils ein Kapitel. Ein sehr schönes Ritual und das Buch ist perfekt dafür. Es spielt genau zu dieser Zeit, es gibt jede Menge Schnee, Weihnachten ist vor der Tür und die Geschichte selbst nimmt einen innerhalb kürzester Zeit gefangen.

In Cornwall, wo die Mythen um König Artus wurzeln, schrecken die Kräfte der Finsternis vor nichts zurück, um die Mächte des Lichts für immer zu besiegen. Gemeinsam mit den Mächten des Lichts und ihren Gefährten Will und Bran nehmen die Geschwister Jane, Barney und Simon den Kampf gegen das Böse auf.

“The strange white world lay stroked by silence. No birds sang. The garden was no longer there, in this forested land. Nor were the out-buildings nor the old crumbling walls. There lay only a narrow clearing round the house now, hummocked with unbroken snowdrifts, before the trees began, with a narrow path leading away.”

Will Stanton erfährt an seinem elften Geburtstag, dass er zu den Uralten gehört. Als Letzter einer langen Reihe von Auserwählten muss er den entscheidenden Kampf gegen das Böse ausfechten. Ohne zu zögern stellt er sich dieser Aufgabe. In der entscheidenden Nacht, während eines Schneesturms, holen die Mächte der Dunkelheit zu ihrem finsteren Schlag aus …

Große Leseempfehlung oder hört euch das an – das geht sicherlich auch jetzt gleich Anfang des Jahres noch gut, wenn alles noch ruhiger und gelassener ist als später im Jahr. Oder ihr wartet eben auch auf den 20. Dezember.

The Haunting Season – Ghostly Tales for long Winter Nights auf deutsch unter dem Titel „Schaurige Nächte“ im Dumont Verlag erschienen, übersetzt von Werner Löcher-Lawrence

Lange bevor Charles Dickens und Henry James die Tradition des übernatürlichen Horrors populär machten, waren die dunklen Winternächte eine Zeit, in der sich die Menschen bei flackerndem Kerzenlicht versammelten und sich voller Nervenkitzel gruselige Geschichte erzählten.

Acht Autor*innen erfinden diese Tradition neu und nehmen uns mit in frostige Sümpfe, dunkle Häuser, auf tief verschneite Anwesen oder auf einen Londoner Weihnachtsmarkt – das Gruselige ist immer und überall. Bridget Collins, Imogen Hermes Gowar, Natasha Pulley, Jess Kidd, Laura Purcell, Andrew Michael Hurley, Kiran Millwood Hargrave und Elizabeth Macneal sind mit jeweils einer Geschichte vertreten. Am besten hat mir „The Chillingham Chair“ von Laura Purcell gefallen.

Fires blazed merrily in every hearth. Delicious scents of cinnamon and roast meat drifted up from the kitchen, and all the windows were laced with frost. It seemed impossible to believe that this house, this very chair, had appeared so menacing by night.

Die Spukgeschichten in der Sammlung haben mir gut gefallen. Die Atmosphäre ist wunderbar wohlig gruselig, am besten liest man die am Kaminfeuer und Kerzenlicht in einem alten Gebäude in dem es immer an der richtigen Stelle zu knacken und zu knarzen beginnt. Kann ich absolut empfehlen, die Geschichten sind auch wunderbar zum Vorlesen geeignet und was gibt es Schöneres als vorzulesen oder vorgelesen zu bekommen?

The Animals at Lockwood Manor – Jane Healey auf deutsch erschienen unter dem Titel „Die stummen Wächter von Lockwood Manor“ im Hanser Verlag, übersetzt von Susanne Keller

Hetty Cartwright muss eine Sammlung des Londoner Natural History Museum vor dem heraufziehenden Krieg in Sicherheit bringen – ins verfallene Herrenhaus Lockwood Manor. Doch das Haus wirkt auf Hetty wie verflucht: Ihre geliebten Exponate, der ausgestopfte Panther, die Kolibris und der Eisbär, verschwinden, werden zerstört und scheinen nachts umherzuwandern. Zusammen mit der Tochter des tyrannischen Hausherrn, Lucy Lockwood, versucht Hetty, die nächtlichen Geschehnisse zu ergründen, und bringt ein tragisches Geheimnis ans Licht. Eine fesselnde und betörende Geschichte über eine große Liebe und den Wahnsinn einer Familie, ihre lang vergrabenen Geheimnisse und versteckten Sehnsüchte.

Perhaps I could be like some desert plant, and these months together could be the rarest of summer rainstorms, could be all the water I would ever need to survive, to live on—but I knew that could not be true, for I was a creature of flesh and blood.

Hatte mich sehr auf das Buch gefreut. Ein großes Herrenhaus in dem es vielleicht spukt, dunkle Geheimnisse und eine queere Liebesgeschichte, das klang so perfekt – aber leider ging es mir hier wie mit dem Buch von John Boyne – ich wurde einfach nicht richtig warm mit der Geschichte. Das war mir alles viel zu an den Haaren herbeigezogen, die Stimmen der Protagonistinnen waren sich für meinen Geschmack zu ähnlich und mir gingen die ausgestopften Tiere auf die Nerven.

Muss man nicht lesen – das schnulzige Cover hätte mir eine Warnung sein sollen.

The Mistletoe Murder and other stories – P. D. James auf deutsch unter dem Titel „Der Mistelzweig-Mord: Weihnachtliche Kriminalgeschichten“ im Droemer Knaur Verlag erschienen

Mit PD James kann man ja nicht viel falsch machen. In diesem hübschen Bändchen finden wir vier bisher unveröffentlichte Kurzgeschichten, die alle mehr oder weniger mit Weihnachten zu tun haben und perfekte kleine Krimihappen sind, die man wunderbar unterm Weihnachtsbaum lesen kann.

Der Mistelzweig-Mord«, die titelgebende Story, handelt von einer Weihnachtsfeier im Landhaus, die unter keinem guten Stern steht. In »A Very Commonplace Murder« geht es um eine illegale Affäre, die mit Mord endet und »The Boxdale Inheritance« und »The Twelve Clues of Christmas« sind neue Fälle für P. D. Jamesʼ Kult-Ermittler Commander Adam Dalgliesh, der längst in die Krimi-Literaturgeschichte eingegangen ist.

Bereavement is like a serious illness. One dies or one survives, and the medicine is time, not a change of scene.

Diese vier Weihnachts-Krimis zeigen das ganze Können der englischen Bestseller-Autorin P. D. James, von ihrem eleganten Stil über ihre Akribie bis zum unbestechlichen Blick hinter alle Fassaden

Wo die Wölfe sind – Charlotte McConaghy erschienen im S. Fischer Verlag, übersetzt von Tanja Handels

Juhuuuu – endlich mal kein Grusel, keine Herrenhäuser, keine Dienstboten! Hier geht es um Wölfe die in Schottland wieder ausgewildert werden sollen. „Wo die Wölfe sind“ von Charlotte McConaghy dreht sich um die Inti Flynn, eine Biologin, die sich für die Wiederansiedlung von Wölfen in den schottischen Highlands einsetzt. In der Geschichte geht es um die Beziehungen zwischen Mensch und Tier, Umweltschutz und die Folgen unseres Handelns für die Natur. Bei der Bewältigung ihrer anspruchsvollen Mission muss Inti auch mit persönlichen Dämonen fertig werden und sich mit der Komplexität der menschlichen Natur auseinandersetzen.

Der Roman ist sehr vielschichtig. Da sind zum einen die Herausforderungen der Gegenwart, denen sich Inti bei ihrer Arbeit mit den Wölfen stellen muss, und der Versuch, die Menschen in der Gegend, die Ackerbau und Viehzucht betreiben und Angst vor den Wölfen haben, davon zu überzeugen, dass die Wiederansiedlung eine gute Sache ist. Sie kümmert sich auch um ihre Zwillingsschwester, die ein Trauma erlitten hat.

Wir erhalten einen Einblick in die Vergangenheit der Schwestern, in der sie abwechselnd bei ihrer pragmatischen Mutter, einer Polizeidetektivin in Australien, und ihrem Vater, einem ehemaligen Holzfäller, einem Einsiedler, einem „fast verrückten“ Umweltschützer in Kanada, lebten.

“My father used to say the world turned wrong when we started separating ourselves from the wild, when we stopped being one with the rest of nature, and sat apart.”

Die Stärke des Romans ist für mich der Schreibstil, die klaren und schönen Beschreibungen der Wölfe, der Natur. Ich habe jede Menge Sätze rausgeschrieben, die ich großartig fand. Mein vielleicht einziger Kritikpunkt ist, dass ich erhofft hatte noch mehr über Wölfe zu erfahren. Vielleicht muß ich mir dafür mal ein Sachbuch besorgen, auf jeden Fall hat die Autorin mir diese Tiere immens nahe gebracht.

Charlotte McConaghy ist eine sehr talentierte Autorin und ich freue mich schon sehr darauf demnächst „Migrations“ zu lesen

Bellman & Black – Diane Setterfield auf deutsch erschienen im Karl Blessing Verlag unter dem Titel „Aufstieg und Fall des Wollspinners William Bellman“ übersetzt von Anke und Eberhard Kreutzner

Dark, atmospheric … utterly riveting sagt die Daily Mail und ich frage mich, ob ich eventuell ein anderes Buch gelesen habe. Ich fand Bellman & Black einfach nur sterbenslangweilig. Ich habe gelesen und gelesen und mich permanent gefragt wann jetzt mal irgendwas Bemerkenswertes passiert und dann war das Buch fertig. Vielleicht hätte der deutsche Titel mir eine Warnung sein können, hätte ich ihn vorher gewußt, denn nach der Lektüre weiß ich jetzt soviel mehr über das Wollspinnen als ich jemals wissen wollte und die großzügigen drei Sterne die ich vergeben habe auf Goodreads liegen einzig an ein paar schön geschriebenen Szenen.

“He felt something move in his chest, as though an organ had been removed and something unfamiliar left in its place. A sentiment he had never suspected the existence of bloomed in him. It traveled from his chest along his veins to every limb. It swelled in his head, muffled his ears, stilled his voice, and collected in his feet and fingers. Having no language for it, he remained silent, but felt it root, become permanent.”

William Bellman tötet als Kind eine Krähe, um seinen drei besten Freunden zu beweisen, wie gut er mit der Steinschleuder umgehen kann. Am Abend nach der Tat glaubt er, unter dem Baum, auf dem die Krähe saß, einen schwarz gekleideten Jungen zu sehen. Zunächst scheint dies kein schlechtes Omen zu sein: Als Jugendlicher beginnt William in der Wollspinnerei seines Großvaters zu arbeiten, sein Onkel ernennt ihn bald zum Teilhaber, und als die beiden plötzlich sterben, übernimmt William die Spinnerei und macht daraus ein Erfolgsunternehmen. Doch dann häufen sich die mysteriösen Todesfälle in seiner Umgebung, seine Frau und seine Kinder erkranken schwer. Und William begegnet immer wieder einer dunklen Gestalt, die ihm schließlich einen verhängnisvollen Pakt anbietet, um seine Existenz und sein Glück zu retten …

Habe hier noch „The Thirteenth Tale“ von der Autorin liegen, werde ich so schnell nicht lesen – laut der Kritiken soll es aber deutlich besser sein.

Ich hoffe euch ist mein Schauer-Grusel-Krimi-Marathon nicht auch auf den Magen geschlagen. Konnte ich euch für das eine oder andere Buch interessieren? Welche kanntet ihr, zu welchen hattet ihr ggf ganz andere Meinungen als ich?

Ich freue mich auf das neue Lesejahr mit euch und verspreche – es wird auch wieder etwas gehaltvoller.

Lektüre März 2023 oder auch Hirngymnastik Physik & Mathematik

Unsere März Bookclub Lektüre „When we cease to understand the world“ hat mich ordentlich in ein Mathematik & Physik-Rabbithole geschickt. Mein Hirn hat ordentlich geraucht, aber es hat auch wirklich Spaß gemacht. Ein insgesamt guter Lesemonat.

Dann mal ohne lange Vorrede gleich Butter bei die Fische und wie üblich bin ich sehr auf eure Meinung gespannt. Was habt ihr schon gelesen, was plant ihr davon zu lesen? Wie waren eure Eindrücke?

Heute mal wieder der Einfachheit halber in alphabetischer Reihenfolge:

Atlas of AI – Kate Crawford erschienen im Yale Verlag

Kate Crawford geht der Frage nach was passiert, wenn künstliche Intelligenz das politische Leben bestimmt und die Ressourcen unseres Planeten verbraucht? Wie formt KI unser Verständnis von uns selbst und unseren Gesellschaften? Sie beobachtet wie KI einen Wandel hin zu undemokratischen Regierungsführungen und zunehmender rassistischer, geschlechtsspezifischer und wirtschaftlicher Ungleichheit vorantreibt. KI verschwendet Ressourcen in großem Maßstab, nicht nur Energie und Mineralien, die für den Aufbau und die Aufrechterhaltung der Infrastruktur benötigt werden, sondern sie verschwendet auch die Kräfte ausgebeuteter Arbeiter, die hinter den „automatisierten“ Dienstleistungen stehen, wie bei Amazon zB, bis hin zu den Daten, die KI von uns sammelt.

Auch wenn technische Systeme den Anschein von Objektivität erwecken, sind sie immer auch Systeme die überwiegend den Mächtigen nutzen und bestehende ungerechte Systeme verfestigen. Ein wichtiges Buch das zeigt was auf dem Spiel steht, wenn Technologieunternehmen künstliche Intelligenz nutzen um sich weiter zu bereichern und dabei den Planeten zerstören.

WeWork, the coworking behemoth that burned itself out over the course of 2019, quietly fitted its work spaces with surveillance devices in an effort to create new forms of data monetization.

Schrödingers Katze auf dem Mandelbrotbaum – Ernst Peter Fischer erschienen im Pantheon Verlag.

Einstein, Schrödinger und Planck hatten ihr Herz an die klassische Physik des 19. Jahrhunderts verloren und konnten mit der Quantenphysik nie glücklich werden. Sie versuchten vergeblich ihr Leben lang die Forschungsergebnisse aus der Quantenphysik ihrer jüngeren Kollegen wie Heisenberg, Pauli etc zu widerlegen. Es gab ein paar Ausnahmen wie Nils Bohr oder auch Max Born die das Umdenken schafften, aber zum größten Teil kann man auch an diesen berühmten Forschern sehen wie schwer es teilweise ist Denkmodelle zu revidieren mit denen man aufgewachsen ist und die einen auch zu dem gemacht haben der man ist. Alte Denkmodelle sterben meistens aus, sie werden viel seltener von den vorherigen Generationen überarbeitet.

Physik bot auf einmal nur noch Wahrscheinlichkeiten wo jahrhundertelang Sicherheiten da waren.

Wissenschaft wird von Menschen gemacht, und manche von ihnen haben so gute Ideen, dass wir ihre Namen damit verbinden: Mandelbrots Baum, Maxwells Dämon, Schrödingers Katze, Poincarés Vermutung oder Einsteins Spuk. Ernst Peter Fischer versteht es wie kein Zweiter, die Faszination von Wissenschaft ebenso anschaulich wie unterhaltsam zu vermitteln. Er erläutert auf verständliche Weise, was sich hinter den genannten Entdeckungen verbirgt, und liefert so durch die Hintertür eine Einführung in die faszinierende Welt der modernen Naturwissenschaften.

Der Vater der Katze hatte in und zu seinem großen Verdruss nichts anderes erreicht, als nachzuweisen, dass Heisenberg und seine Anhänger recht hatten. Besonders ärgerlich war zudem, dass Schrödingers Gleichungen dies für Fachleute zugleich viel einfacher und überzeugender nachzuvollziehen gestatteten.

Und dann verschwand die Zeit (The High House) – Jessie Greengrass erschienen im Kiepenheuer & Witsch Verlag übersetzt von Andrea O’Brien

Auf einer Anhöhe abseits einer kleinen Stadt am Meer liegt das High House. Dort leben Grandy und seine Enkeltochter Sally sowie Caro und ihr Halbbruder Pauly. Das Haus verfügt über ein Gezeitenbecken und eine Mühle, einen Gemüsegarten und eine Scheune voller Vorräte – die Vier sind vorerst sicher vor dem steigenden Wasser, das die Stadt zu zerstören droht. Aber wie lange noch?

Caro und ihr jüngerer Halbbruder Pauly kommen im High House an, nachdem ihr Vater und ihre Stiefmutter, zwei Umweltforscher*innen, sie aufgefordert haben, London zu verlassen, um im höher gelegenen Haus Zuflucht zu suchen. In ihrem neuen Zuhause, einem umgebauten Sommerhaus, das von Grandy und seiner Enkelin Sally betreut wird, lernen die Vier, miteinander zu leben. Doch das Leben ist anstrengend, besonders im Winter, die Vorräte sind begrenzt. Wie lange bietet das Haus noch die erhoffte Sicherheit?

Ein atemberaubender, emotional präziser Roman über Elternschaft, Aufopferung, Liebe und das Überleben unter der Bedrohung der Auslöschung, der unter die Haut geht und zeigt, was auf dem Spiel steht.

Das ist mein zweiter Roman von Jessie Greengrass – hier habe ich über ihren Roman „Was wir von einander wissen“ geschrieben. Ich mag ihren Stil sehr und werde auf jeden Fall auch die kommenden Bücher von ihr lesen.

.. betraf das alles nur unsere kleine Welt, nicht den gesamten Planeten. Weder die Überflutungen noch der Sturm. Ein paar Quadratkilometer, einige Dutzend Menschen. Solche Dinge waren immer wieder passiert, überall, immer schon. Aber ist nicht jedes Ende absolut für diejenigen, die es erleben?

Er erzählte Dad, es sei ganz schrecklich für ihn, mitansehen zu müssen, wie so vieles in Vergessenheit geriet – die kunstvolle Fertigung der hölzernen Schiffe, sagte er, und alles, was dazugehöre, die bemannten Leuchttürme, Sextanten, Navigation nach den Gestirnen. Alles verschwunden. Jahre hatte es ihn gekostet, das alles zu erlernen, nur um zu erleben, wie seine Fertigkeiten obsolet wurden.

Physik und Philosophie – Werner Heisenberg erschienen im Ullstein Verlag

Werner Heisenberg (1901 – 1976) war einer der bedeutendsten theoretischen Physiker des 20. Jahrhunderts. Seine Heisenberg’sche Unschärferelation spielte eine wichtige Rolle bei der Entwicklung der Mechanik und übte großen Einfluß auf die moderne Philosoophie aus. 1932 erhielt er den Nobelpreis für Physik.

Diese Sammlung von Vorlesungen erschien 1958 zum ersten Mal. Sie stellt in allgemein verständlicher Weise die Ursprünge und die physikalischen Probleme dar, die zur Entwicklung der Quantenmechanik geführt haben. Werner Heisenberg lässt Epochen der Physik Revue passieren, die das Weltbild verändert und den Menschen zum Umdenken gezwungen haben. Er erörtert die Gedanken der modernen Physik in einer verständlichen Sprache, studiert ihre philosophischen Folgen und vergleicht sie mit anderen Traditionen.

Die Beobachtung selbst ändert die Wahrscheinlichkeitsfunktion unstetig. Sie wählt von allen möglichen Vorgängen den aus, der tatsächlich stattgefunden hat. Da sich durch die Beobachtung unsere Kenntnis des Systems unstetig geändert hat, hat sich auch ihre mathematische Darstellung unstetig geändert, und wir sprechen daher von einem Quantensprung.

Der Übergang vom Möglichen zum Faktischen findet also während des Beobachtungsaktes statt.

Klara und die Sonne (Klara and the Sun) – Kazuo Ishiguro auf deutsch erschienen im Blessing Verlag übersetzt von Barbara Schaden

Klara ist eine künstliche Intelligenz, entwickelt, um Jugendlichen eine Gefährtin zu sein auf dem Weg ins Erwachsenwerden. Vom Schaufenster eines Spielzeuggeschäfts aus beobachtet sie genau, was draußen vor sich geht, studiert das Verhalten der Kundinnen und Kunden und hofft, bald von einem jungen Menschen als neue Freundin ausgewählt zu werden. Als sich ihr Wunsch endlich erfüllt und ein Mädchen sie mit nach Hause nimmt, muss sie jedoch bald feststellen, dass sie auf die Versprechen von Menschen nicht allzu viel geben sollte.

Klara und die Sonne ist ein beeindruckendes, berührendes Buch und Klara eine unvergessliche Erzählerin, deren Blick auf unsere Welt die fundamentale Frage aufwirft, was es heißt zu lieben.

Ich mochte „The Buried Giant“ noch einen Ticken lieber, aber Ishiguro bleibt auch weiterhin einer meiner liebsten Autoren.

Until recently, I didn’t think that humans could choose loneliness. That there were sometimes forces more powerful than the wish to avoid loneliness.”

Hope,’ he said. ‘Damn thing never leaves you alone.

There was something very special, but it wasn’t inside Josie. It was inside those who loved her.

Devotion – Hannah Kent erschienen im Pan Macmillan Verlag

Preußen, 1836. Hanne ist fast fünfzehn, und die häusliche Welt der Frau rückt schnell näher an sie heran. Als Naturkind sehnt sie sich stattdessen nach dem Rauschen des Flusses und dem Wind, der sie umspielt. Hanne findet wenig Trost bei den Mädchen des Ortes, und Freundschaft fällt ihr nicht leicht, bis sie Thea kennenlernt und in ihr einen verwandten Geist und schließlich Akzeptanz findet.

Hannes Familie ist altlutherisch, und in ihrem kleinen Dorf werden die Gottesdienste im Geheimen abgehalten – eine Gemeinschaft, die bedroht ist. Doch als ihnen die sichere Überfahrt nach Australien gewährt wird, jubelt die Gemeinschaft: Endlich ein Ort, an dem sie ohne Angst beten können, ein dauerhaftes Zuhause. Freiheit.

Ein Freiheitsversprechen, das für Hanne und Thea verheerende Folgen haben wird, doch auf der langen und brutalen Reise erweist sich ihr Band als zu stark, als dass selbst die Natur es brechen könnte…

Thea, if love were a thing, it would be the sinew of a hand stretched in anticipation of grasping. See, my hands, they reach for you. My heart is a hand reaching.

When we cease to understand the world (Das blinde Licht) – Benjamin Labatut auf deutsch erschienen im Suhrkamp Verlag, übersetzt von Thomas Brovot

Sie sind Pioniere und Verdammte. Eroberer von Raum und Zeit. Träumer des Absoluten. Sie verändern den Lauf der Geschichte und verzweifeln an sich selbst: Werner Heisenberg, dessen Gleichungen – im Wahn auf der Insel Helgoland entstanden – zum Bau der Atombombe führen. Der Mathematiker Alexander Grothendieck, der es vorzieht, seine Formeln zu verbrennen, um die Menschheit vor ihrem zerstörerischen Potential zu schützen. Oder Fritz Haber, dessen physikalische Verfahren eine Hungerkrise vermeiden und zugleich das diabolischste Werkzeug der Nationalsozialisten hervorbringen werden …

In vier so bizarren wie betörenden Geschichten erzählt Benjamín Labatut vom schmalen Grat zwischen Genie und Wahnsinn, von menschlicher Hybris und der zwiespältigen Kraft der Wissenschaft. Und von dem verhängnisvollen Moment, an dem wir aufhören, die Welt zu verstehen.

We can pull atoms apart, peer back at the first light and predict the end of the universe with just a handful of equations, squiggly lines and arcane symbols that normal people cannot fathom, even though they hold sway over their lives. But it’s not just regular folks; even scientists no longer comprehend the world. Take quantum mechanics, the crown jewel of our species, the most accurate, far-ranging and beautiful of all our physical theories. It lies behind the supremacy of our smartphones, behind the Internet, behind the coming promise of godlike computing power. It has completely reshaped our world. We know how to use it, it works as if by some strange miracle, and yet there is not a human soul, alive or dead, who actually gets it. The mind cannot come to grips with its paradoxes and contradictions. It’s as if the theory had fallen to earth from another planet, and we simply scamper around it like apes, toying and playing with it, but with no true understanding.

Fall of the Man in Wilmslow. The Life and Death of Alan Turing – David Lagercrantz auf deutsch unter dem Titel „Der Sündenfall von Wilsmlow“ im Piper Verlag erschienen, übersetzt von Wolfgang Butt

England, 1954, der kalte Krieg hält die Welt in seinem eisernen Griff – und im kleinen Städtchen Wilmslow wird ein Mann tot aufgefunden. Es ist der Mathematiker Alan Turing, neben seinem Bett liegt ein mit Zyankali versetzter Apfel, alles deutet auf Selbstmord hin. Hat Turing die Repressionen nicht mehr ertragen, unter denen er als Homosexueller zu leiden hatte? Oder hat sein Tod doch etwas mit seiner Arbeit für den Geheimdienst während des 2. Weltkriegs zu tun? Der junge Detective Sergeant Leonard Corell, selbst einst ein vielversprechender Mathematiker, hegt den Verdacht, dass höhere Mächte ihre Finger im Spiel haben. Gegen Widerstände beginnt er, die Teile eines Puzzles zusammenzusetzen, das vielleicht eines der am besten gehüteten Geheimnisse des Kriegs offenbart.

Those who are different, also have a tendency to think differently.

Hier gibt es ein sehr interessantes Interview mit David Lagercrantz über seine Faszination für Alan Turing.

Spiegel von Cixin Liu auf deutsch erschienen im Heyne Verlag übersetzt von Marc Hermann

China in der nahen Zukunft. Der junge, ehrgeizige Beamte Song Cheng stößt auf einen gewaltigen Korruptionsskandal. Doch plötzlich wird er selbst ins Gefängnis geworfen. Dort taucht ein geheimnisvoller Mann mit einem Supercomputer auf, der ebenfalls verfolgt wird – weil er alles weiß. Einfach alles. Wie kann das sein? Und welche Konsequenzen hat das?

Mit seiner Novelle Spiegel erweist sich Cixin Liu, Autor des Weltbestsellers Die drei Sonnen, einmal mehr als scharfer Beobachter der chinesischen Gegenwart und als literarischer Visionär der Welt von morgen. 

Dieses Büchlein ist ein wahnsinnig spannendes Gedankenexperiment und ich konnte mehrere Abendessen lang überhaupt nicht mehr aufhören darüber zu philosophieren 😉

Bertrand Russell ist einer der Ersten, der das Unbehagen der Physiker mit dem Prinzip von Ursache und Wirkung in Worte fasst, und er lässt kein gutes Haar daran: „Das Kausalgsetz“, so beginnt Russell seinen Aufsatz von 1912 über das Thema, „ist, wie so vieles, das unter Philosophen allgemein akzeptiert wird, ein Relikt aus einer vergangenen Zeit, das, wie auch die Monarchie, nur überlebt, weil irrtümlich von ihm angenommen wird, dass es keinen Schaden anrichte.“

Wie war euer Lesemonat März? Im April geht es bei mir in die Natur. Ihr dürft euch auf Bücher zum Thema Pilze, Wälder und einen Abstecher nach Irland freuen.

Lektüre Februar 2023

Meine Februar Lektüre war geprägt von einer Arbeits/Urlaubsreise nach Paris, daher mag ich damit starten und habe dieses Mal keine Lust auf alphabetische Reihenfolge. Steigt ein, der Zug fährt in wenigen Minuten ab und wir treffen uns dann am Gare de L’Est 🙂 Wie der große Walter Benjamin schon sagte: Paris ist ein großer Bibliothekssaal, der von der Seine durchströmt wird – wir haben also einiges zu besprechen:

Becoming Beauvoir – Kate Kirkpatrick auf deutsch unter dem Titel „Simone de Beauvoir – ein modernes Leben“ im Piper Verlag erschienen, übersetzt von Erica Fischer, Christine Richter-Nilsson

„Becoming Beauvoir“ ist eine Biografie der französischen existenzialistischen Philosophin und Feministin Simone de Beauvoir von Kate Kirkpatrick die auf bislang unveröffentlichte Tagebücher und Briefe zurückgreift. Kate Kirkpatrick, Dr. phil., unterrichtete an der University of Hertfordshire, am St Peter’s College, University of Oxford, sowie am King’s College in London. Aktuell ist sie Fellow in Philosophie am Regent’s Park College, University of Oxford. Das Buch untersucht Beauvoirs Leben und ihre intellektuelle Entwicklung, von ihrer Kindheit in einer bürgerlichen Familie in Paris bis zu ihrem Aufstieg zu einer bedeutenden Feministin und existenzialistischen Denkerin. Kirkpatrick untersucht die wichtigsten Themen und Ideen in Beauvoirs Werk, darunter ihre Kritik am Patriarchat und den Geschlechterrollen, ihre Vorstellungen von Freiheit und Authentizität sowie ihre Beziehung zu Jean-Paul Sartre. Die Biografie beleuchtet auch Beauvoirs persönliches Leben, einschließlich ihrer langjährigen Liebesbeziehung zu Sartre und ihrer Erfahrungen als Frau im Frankreich der Mitte des 20. Jahrhunderts.

Ich bekam die Biografie bereits vor 2 Jahren zu Weihnachten geschenkt, wollte sie aber unbedingt in oder auf dem Weg nach Paris lesen und dann vor Ort de Beauvoirs Spuren folgen. Sie ist eine wahnsinnig spannende Frau über die ich schon sehr viel gelesen habe und obwohl das bei Weitem nicht meine erste Biografie war, hat mir Kirkpatricks Biografie mit Abstand am besten gefallen. Sie setzt vieles noch mal in Relation, findet immer wieder spannende, neue Perspektiven. Ganz große Empfehlung! Eine gut verständliche, tiefblickende intellektuelle Lektüre.

But that is my way. I have (sic) rather not things at all as doing them mildly.

She didn’t believe that any single point in her life showed „the“ Simone de Beauvoir because „there is no instant in a life where all moments are reconciled

Die schwarzen Fahnen von Paris – Leonard Fuest erschienen im Corso Verlag

Die „Stadt der Liebe“ in einem anderen Licht. Leonhard Fuest geht auf besonderen Spuren: Er folgt Dichtern und Denkern ins Labyrinth ihrer Gedanken und Texte. Der Leser begegnet dem verstörten Flaneur Charles Baudelaire, dem schlaflosen Aphoristiker E. M. Cioran, dem melancholischen Intellektuellen Roland Barthes, dem deprimierten Zyniker Michel Houllebecq – sie und andere tauchen die Stadt an der Seine in das Licht der schwarzen Sonnen.

Immer wenn ich Paris besucht habe, überkommen mich Zweifel. Bin ich wirklich dort gewesen? Aber ja, ich bin doch durch viele Straßen gelaufen, habe Menschen und Plätze und Gebäude gesehen und allerlei erfahren, wovon ich erzählen könnte. Indes: Wo genau in Raum und Zeit habe ich mich denn aufgehalten? War es nicht so, dass ich an jedem Tag durch die verschiedensten Epochen und Zeitläufe gegangen bin?

The Paris Bookseller – Kerri Maher auf deutsch unter dem Titel „Die Buchhändlerin von Paris“ im Suhrkamp Verlag erschienen, übersetzt von Claudia Feldmann

Eine Buchhandlung mitten in Paris. Für die junge Amerikanerin Sylvia Beach ist ein Traum in Erfüllung gegangen. Dass sie mit »Shakespeare & Company« in die Geschichte der Weltliteratur eingehen wird, ahnt sie bei der Eröffnung 1919 nicht. Schon bald wird »Shakespeare & Company« zum literarischen Treffpunkt in Paris: Hemingway, Gide, Valéry und Gertrude Stein gehen hier ein und aus – und nicht zuletzt aber James Joyce. Als nach Abdruck einzelner Episoden die vollständige Publikation seines umstrittenen Romans Ulysses verboten wird, ist es die unerschrockene Sylvia Beach, die ihn gegen alle Widerstände veröffentlicht  – und damit ihre ganze Existenz aufs Spiel setzt.

Doch in der gleichgesinnten französischen Buchhändlerin Adrienne Monnier findet Sylvia Beach nicht nur eine wagemutige Mitstreiterin, sondern auch die Liebe ihres Lebens.

Ein Roman über zwei starke Frauen, das »gefährlichste Buch des Jahrhunderts« und eine Liebe im Paris der zwanziger Jahre.

Paris? Check – Lesbische Buchändlerinnen? Check – die literarische haute volée der 20 Jahre? Check und ja, ich mochte das Buch sehr, ABER es war mir stellenweise einen Hauch zu schmalzig. Habe vor einer ganzen Weile Sylvia Beachs „Shakespeare & Company“ gelesen, ihr autobiografischer Bericht über den Buchladen und das Buch gefiel mir ein kleines bißchen besser, weil eben nicht ganz so schmonzettig, aber das ist Jammern auf hohem Niveau – ich mochte das Buch ansonsten schon sehr.

I hold it true, whate’er befall; I feel it, when I sorrow most; ’Tis better to have loved and lost than never to have loved at all.

Madame de Staël – Maria Fairweather erschienen bei Carroll & Graf Publishers New York

Zu ihren Lebzeiten wurde allgemein gesagt, dass es in Europa drei politische Mächte gab – Großbritannien, Russland und Madame de Stäel. Byron beschrieb sie als „die erste weibliche Schriftstellerin dieses, vielleicht jedes Zeitalters“. Germaine de Stäel war zweifellos die bemerkenswerteste Frau ihrer Zeit, und sie bleibt einzigartig – sowohl wegen des Umfangs ihrer künstlerischen und intellektuellen Leistungen als auch wegen der Kraft ihres politischen Einflusses, der zum Sturz Napoleons beitrug. Germaine de Stäel wurde 1766 in Paris als Tochter von Jacques Necker, dem einflussreichen und reformorientierten Finanzminister Ludwigs XVI. geboren und wuchs im Salon ihrer Mutter inmitten der Philosophen der französischen Aufklärung auf. Mit ihrem erstaunlichen und disziplinierten Intellekt, ihrem Bedürfnis nach Liebe und ihrer Freiheitsliebe sowie ihrem bemerkenswerten Mut im öffentlichen wie im privaten Leben setzte sich Germaine de Stäel über Gefahren und Konventionen hinweg, oft um den Preis eines hohen Preises.

Ihre Bücher waren meist schon wenige Monate nach ihrem Erscheinen ausverkauft. Immer wieder bewies sie Skeptikern (milde ausgedrückt) wie Lord Byron und schließlich sogar Napoleon, dass sie besser zuhören und ihre Ideen berücksichtigen und sie sich besser nicht zum Feind machen sollten.

Mir hat die Biografie gut gefallen, ich habe eine Menge gelernt und erfahren über eine ganz und gar ungewöhnliche Frau, die ich sehr gerne kennengelernt hätte. Nichtsdestotrotz hätte das Buch für mich gerne ein ganzes Stück kürzer sein dürfen.

Lord Byron: „‘I do not love Madame de Staël but depend upon it – she beats all your natives hollow as an Authoress – in my opinion – and I would not say this if I could help it.’ In his diary he admitted: ‘she is a woman by herself and has done more than the rest of them together, intellectually – she ought to have been a man’“

A history of wild places – Shea Ernshaw erschienen bei Atria / Schuster & Schuster

Travis Wren hat ein ungewöhnliches Talent für das Aufspüren vermisster Personen. Oft von Familien als letzter Ausweg angeheuert, übernimmt er den Fall von Maggie St. James – einer bekannten Autorin düsterer, makabrer Kinderbücher – und wird bald an einen Ort geführt, den viele nur für eine Legende hielten.

Diese zurückgezogene Gemeinschaft mit dem Namen Pastoral wurde in den 1970er Jahren von Gleichgesinnten auf der Suche nach einer einfacheren Lebensweise gegründet. Allem Anschein nach sollte die Kommune nicht mehr existieren, und kurz nachdem Travis über sie gestolpert ist… verschwindet er. Genau wie Maggie St. James.

Jahre später entdeckt Theo, ein lebenslanges Mitglied von Pastoral, Travis‘ verlassenen Truck jenseits der Grenze der Gemeinschaft. Niemand darf rein oder raus, nicht, wenn die Gefahr besteht, dass eine Krankheit – eine Seuche – nach Pastoral eingeschleppt wird. Die Enträtselung des Geschehens bringt Geheimnisse ans Licht, die Theo, seine Frau Calla und ihre Schwester Bee voreinander verbergen. Geheimnisse, die beweisen, dass ihre perfekte, isolierte Welt nicht so sicher ist, wie sie glaubten – und dass die Dunkelheit

Die Zeichnung der Charaktäre war richtig gut, die spannende Atmosphäre unheimlich gelungen. Eine kluge, düstere, spannende und sehr empfehlenswerte Reise, die man nicht verpassen sollte! Es ist der erste Roman der Autorin den sie nicht für ein „Young Adult“ Publikum geschrieben hat und er hat auch in unserem sonst oft sehr strengen Bookclub ordentlich Punkte eingefahren. Volle Empfehlung!

There is no history in a place until we make it, until you live a life worth remembering.

Silence can hold a thousand untold stories.

Die Welt geht unter, und ich muss trotzdem arbeiten – Sara Weber erschienen im Kiepenheuer & Witsch Verlag

Im März 2020 änderte sich alles. Homeoffice war plötzlich die neue Norm. Alle mussten sich digitalisieren und transformieren – ob sie wollten oder nicht. Die Arbeit drängte weiter ins restliche Leben, zur Erwerbsarbeit kam noch mehr Carearbeit. Die Schere zwischen systemrelevanten Berufen und Bürojobs ging weiter auf. Covid hat uns gezeigt, was in der Arbeitswelt nicht mehr funktioniert.

Und da ist nicht nur die Pandemie. Überschwemmungen, Waldbrände, Inflation, Krieg – unsere Welt steht in Flammen, im wahrsten Sinne des Wortes. Und wir? Brennen aus, um bloß keine Deadline zu reißen. Was zur Hölle machen wir da eigentlich? Warum tun wir uns das an?

Immer mehr Menschen stellen sich diese Fragen, einige ziehen Konsequenzen. In den USA hat der Trend sogar schon einen Namen: „The Great Resignation“, das große Kündigen. Es bricht eine neue Ära an, aber weder durch agile Methoden noch durch Yoga im Alltag wird es gelingen, ein für uns alle und für den Planeten verträgliches Wirtschaften zu realisieren. Wir müssen uns überlegen, wie Arbeit heute und morgen wirklich funktionieren kann – mit einem Fokus auf Gerechtigkeit, Zukunftsfähigkeit und den Menschen.

Ein Buch das ich bereits mehr als einmal verschenkt habe und das die Fragen und Probleme unserer Zeit einfängt und auf den Punkt bringt. Mein Hörbuch des Monats!

„Am Anfang klatschten wir noch für die Pflegekräfte vom Balkon, trugen brav unsere selbst genähten Masken. Aber irgendwann wurde das Klatschen leiser. Viele Menschen waren einfach viel zu müde vom Home-schooling und all den Meetings und der zwölften Diskussion über die Impfung. Wir hatten uns nichts mehr zu erzählen, denn niemand erlebte irgendwas – außer Arbeit.“

Darm mit Charme – Giulia Enders erschienen im Ullstein Verlag

Unser Darm ist ein fabelhaftes Wesen voller Sensibilität, Verantwortung und Leistungsbereitschaft. Wenn man ihn gut behandelt, bedankt er sich dafür. Das tut jedem gut: Der Darm trainiert zwei Drittel unseres Immunsystems. Aus Brötchen oder Tofu-Wurst beschafft er unserem Körper die Energie zum Leben. Und er hat das größte Nervensystem nach dem Gehirn. Allergien, unser Gewicht und eben auch unsere Gefühlswelt sind eng mit unserm Bauch verknüpft. In diesem Buch erklärt die junge Wissenschaftlerin Giulia Enders, was die medizinische Forschung Neues bietet und wie wir mit diesem Wissen unseren Alltag besser machen können. Die dazu gehörigen Illustrationen stammen aus der Feder ihrer Schwester Jill. Die aktualisierte Neuauflage wird um ein Kapitel ergänzt: Die Schwestern Enders geben hier ein Update zu neuen Forschungsergebnissen und der Welt der Mikroben

Wer mehr über eines unserer wichtigsten Bereiche unseres Körpers lernen will sei Enders Buch auf jeden Fall empfohlen. Sie hat nicht nur Tipps zum richtigen Kacken auf Lager, sondern auch eine ganze Menge Hintergrundwissen über ein Organ, das einem in der Regel eher unangenehm ist und das nicht gerade das beste Image hat.

Übergewicht, Depressionen und Allergien hängen mit einem gestörten Gleichgewicht der Darmflora zusammen und wir tun alle gut daran uns ein kleines bißchen mehr mit diesem hochkomplexen Organ zu beschäftigen und es in Schwung zu halten. Gelegentlich hat mich die etwas bemüht lustige Sprache genervt, aber insgesamt ein gelungenes Buch.

Die Wissenschaft hat mit dem Mikrobiom ein Problem, dass die Generation Google gerade auch hat: Wir stellen eine Frage – und sechs Millionen Quellen antworten uns gleichzeitig. Da sagt man nicht einfach „Jetzt jeder nocheinmal einzeln“. Wir müssen kluge Bündel packen, deftig aussortieren und wichtige Muster erkennen.

Der Inselmann – Dirk Geiselmann erschienen im Kiepenheuer & Witsch Verlag

Anfang der Sechziger in einem entlegenen Teil Deutschlands. Das Ehepaar Roleder zieht auf eine unbewohnte Insel inmitten eines großen Sees. Es ist eine Flucht nach innen, vor der Stadt und der Wirklichkeit. Mit dabei ist ihr Sohn Hans, der auf der Insel ein neues Zuhause findet. Und noch so viel mehr. Denn mit der Zeit scheint der schüchterne Junge geradezu mit der Insel, den Bäumen, dem Laub, dem Moos und dem Gestein zu verwachsen. Hans wird zum König der Insel. Bis, mit dem Bescheid der Schulbehörde, die Realität in seine kleine große Traumwelt einbricht und ihn von Insel und Eltern trennt. Es ist der Beginn einer beschwerlichen Odyssee, gelenkt zunächst von gnadenlosen Institutionen des Staates und schließlich dem einen großen, pochenden Wunsch: zurückzukehren auf seine Insel, in die ersehnte Einsamkeit im Schatten der Welt. Doch: Wie wird die Insel, wie werden die Eltern ihn empfangen?

Dirk Gieselmanns Debüt ist die faszinierende literarische Studie eines Insellebens und erzählt von der Sehnsucht nach Einsamkeit in einer Gesellschaft, die das Individuum niemals alleine lässt, im Guten wie im Schlechten. »Der Inselmann« ist ein Roman, der nachhallt, voller berückender Bilder, leuchtender Sätze und magischer Kulissen.

„Hans wollte sie beide umarmen, den Vater, die Mutter, damit sie und diese Welt nicht gleich wieder zerbräche, ganz fest umarmen, damit alles heil bliebe und eins.“

Eine ruhige, poetische Geschichte mit wunderschönen Naturbeschreibungen – habe ich sehr gerne gelesen.

Der Ursprung der Welt – Liv Strömquist erschienen im Avant Verlag übersetzt von Katharina Erben

In „Der Ursprung der Welt“ zeichnet die Autorin Liv Strömquist die Kulturgeschichte der Vulva nach – von der Bibel bis Freud, vom unbeholfenen Biologieunterricht bis hin zur aktuellen Tamponwerbung. Sie bedient sich des Mediums Comic, um in sieben Episoden auf nonchalante und scharfsinnige Art die noch immer geltenden patriarchalen Machtverhältnisse in Frage zu stellen und bestehende Probleme pointiert zu benennen.

Die studierte Politikwissenschaftlerin Liv Strömquist ist nicht nur eine umtriebige Künstlerin, sondern auch eine über die Grenzen der schwedischen Comic-Szene hinaus viel beachtete Stimme, die ihre politische Haltung und das soziologische Interesse zu feministischen und popkulturellen Phänomenen in den Fokus ihres Schaffens stellt. In ihren beliebten TV- und Radioformaten geht sie mit bissigem Humor und vernichtender Kritik gegen bestehende gesellschaftliche Machtstrukturen an.

Sieben Nächte – Simon Strauss erschienen im Aufbau Verlag

Es ist Nacht, ein junger Mann sitzt am Tisch und schreibt. Er hat Angst. Davor, sich entscheiden zu müssen. Für eine Frau, einen Freundeskreis, einen Urlaubsort im Jahr. Er hat Angst, dass ihm das Gefühl abhandenkommt. Dass er erwachsen wird. Doch ein Bekannter hat ihm ein Angebot gemacht: Sieben Mal um sieben Uhr soll er einer der sieben Todsünden begegnen. Er muss gierig, hochmütig und wollüstig sein, sich von einem Hochhaus stürzen, den Glauben und jedes Maß verlieren. »Sieben Nächte« ist ein Streifzug durch die Stadt, eine Reifeprüfung, die vor zu viel Reife schützen soll, ein letztes Aufbäumen im Windschatten der Jugend.

Dieses Büchlein steht zu Recht ganz am Ende – puh ist mir das auf die Nerven gegangen. Das jammerige Mimimi des Jungmannes der rumheult weil er bald 30 wird und dem die Welt nicht romantisch genug ist, hab ich nicht ganz so gut ertragen. Es gab ein paar schöne Sätze und es war ja auch nicht wirklich lang, daher kann man das schon lesen, aber für mich war das nix. Simon Strauß habe ich vor meinem geistigen Auge als Baby gesehen der schon mit Wildleder-Patches am Ellbogen auf die Welt gekommen ist…

Ich, der ich von Anfang an dicht bei der warmen Heizung gesessen habe, immer schon satt gefüttert, mit allen Chancen versehen. Das Opernabo gleich bei der Geburt abgeschlossen. Ich bin schon als Schwächling auf die Welt gekommen, und meine Privilegien haben mich nur noch weiter geschwächt. Was Gefahr heißt, habe ich nie gespürt….

So meine Lieben, das war es für diesen Monat. Ich hoffe es war etwas dabei für euch! Worauf konnte ich euch Lust machen, welche der vorgestellten Bücher kennt ihr oder möchtet ihr gerne gelesen. Ich hoffe, ihr habt jetzt wenigstens ein Taxi nach Paris bestellt 😉

Nächsten Monat wird es wissenschaftlich-physikalisch, soviel verrate ich schon mal. Ich freue mich sehr von Euch zu hören!