Read around the world: Belgien

Der nächste Halt meiner literarischen Weltreise führt uns wieder in ein Nachbarland – eines, das meine allererste Auslandsreise überhaupt war, meine Schul-Abschlussfahrt vor mehreren Äonen. Dort habe ich zum ersten Mal das Meer gesehen, stand staunend vor dieser unendlichen Weite, die ich bis dahin nur aus Filmen und Büchern kannte. Brügge und Gent haben mich damals richtig verzaubert, mit seinen Kanälen, dem Kopfsteinpflaster, den Häusern, die aussehen, als würde jeden Moment Ms Marple um die Ecke kommen. Und Brüssel habe ich gleich zweimal besucht – eine Stadt, die ich sehr gerne mag und ich erinnere mich an ein wahnsinnig gutes Abendessen in einem Restaurant in einer alten Bank – Belga Queen – kann ich sehr empfehlen und wenn ich mich recht erinnere, kam das Restaurant sogar in einem Roman vor, den ich vor einer Weile gelesen habe, in Robert Manesses „Die Hauptstadt“. Belgien ist also ein Nachbarland, das ich zumindest ein bißchen kenne, und dennoch eines, das in seiner Tiefe, Vielfalt und Komplexität immer noch weiter entdeckt werden kann.

Belgien wirkt auf den ersten Blick überschaubar: klein, dicht besiedelt, eines dieser Länder, das man leicht auf der Europakarte übersehen könnte, wenn man nicht gerade Pommes liebt. Es entfaltet dann aber bei näherem Hinsehen eine erstaunliche kulturelle und politische Vielschichtigkeit. Die drei offiziellen Sprachen: Niederländisch, Französisch und Deutsch sind keine bloßen Verwaltungsakte, sondern Ausdruck historischer Prägungen, Identitäten und rivalisierender kultureller Räume. Wer Belgien bereist, bewegt sich ständig zwischen ihnen: Flandern mit seinen flämischen Städten wie Gent oder Antwerpen, die französischsprachige Wallonie mit Lüttich oder Namur, dazwischen das politisch pulsierende Herz Brüssel sowie im Osten jene kleine deutschsprachige Gemeinschaft, die oft vergessen wird, die aber ihr ganz eigenes literarisches und kulturelles Erbe trägt.

Das Spannende an Belgien ist dieses Gefühl, dass die Vielfalt nicht wie in fernen, weiten Ländern als bunter Flickenteppich erscheint, sondern in dichter Nachbarschaft lebt. Man fährt nur wenige Kilometer und landet sprachlich in einer anderen Welt, mit anderen Traditionen, anderer Mentalität, anderem Humor. Schön ist, dass sich das in der Literatur widerspiegelt: Geschichten, die zwischen Sprachen wandern, zwischen Erinnerungen, Identitäten und Brüchen, zwischen regionalen Eigenheiten und europäischer Weite.

Politisch zeigt sich Belgien als föderale konstitutionelle Monarchie, in der sich die regionalen und sprachlichen Besonderheiten tief in die politischen Strukturen eingeschrieben haben. Regierung und Koalitionsbildung sind oft ein Geduldsspiel nicht, weil Belgier*innen besonders streitlustig wären, sondern weil die Macht zwischen Regionen und Gemeinschaften so fein austariert ist, dass jede Entscheidung mehrere Ebenen durchlaufen muss. Das Land besteht aus Regionen (Flandern, Wallonien, Brüssel) und Sprachgemeinschaften (niederländisch-, französisch- und deutschsprachig), die jeweils eigene Zuständigkeiten haben. Politik ist hier ein Balanceakt, eine ständige Suche nach Kompromissen und Koalitionen, die manchmal fragil wirken, aber doch seit Jahrzehnten dafür sorgen, dass das Land trotz Krisen und Spannungen funktioniert.

In gewisser Weise ist Belgien vielleicht eines der prototypisch europäischen Länder: klein, föderal, vielfältig, kompliziert – und gerade deshalb so interessant. Es steht für ein Miteinander, das nicht immer friktionsfrei ist, aber in seiner Reibung Ideen, Geschichten und Perspektiven hervorbringt, die untrennbar mit seiner kulturellen Identität verbunden sind.

Hier wie immer die vergleichenden Daten:

  • Bevölkerung: ca. 11,8 Mio. Menschen (Stand 2025)
  • Fläche: rund 30.700 km² (etwa so groß wie Baden-Württemberg)
  • Bevölkerungsdichte: sehr hoch, vor allem in Flandern und rund um Brüssel
  • Sprachen: Niederländisch, Französisch, Deutsch
  • Politisches System: föderale konstitutionelle Monarchie mit stark regionalisierten Zuständigkeiten

Auch wenn Belgien heute häufig überwiegend mit „Brügge sehen und sterben“ oder Pommes assoziiert wird man darf nicht vergessen, wie stark das Land die Pop- und Comic-Kultur geprägt hat. Tim und Struppi ist wohl das berühmteste Beispiel dafür: Der belgische Zeichner Hergé (bürgerlich Georges Remi) schuf mit dem Reporter Tim und seinem treuen Foxterrier Struppi eine der erfolgreichsten und einflussreichsten Comicserien Europas. Der erste Band erschien 1929, die Reihe lief bis zum Tod Hergés 1983 und zwischenzeitlich wurden über 230 Millionen Alben verkauft, in unzählige Sprachen übersetzt. Tim und Struppi sind nicht nur ein Stück Abenteuer- und Kindheitsnostalgie, sondern auch ein Symbol für Belgien als Land, das mit einem Fuß in der Belletristik, dem anderen in der Pop- und Drachen-Kultur steht ein Beleg, wie sehr Geschichten, Erzählungen und Bildwelten belgisch sind.

Musikalisch steht Belgien für mich ganz klar unter dem Stern des DUNK! Festivals. Ich habe es bisher noch nicht geschafft diese Kultstätte des Postrocks zu besuchen, aber irgendwann klappt das sicherlich noch mal. Mein lieber Blognachbar Gerhard vom Blog Kulturforum hat schon des Öfteren davon berichtet.

Vorstellen möchte ich euch heute die Band „We stood like Kings“ die ich vor ein paar Jahrenlive bei einem ganz besonderen Event erleben durfte. Auch hier gibts im Kulturforum entsprechendes nachzulesen – und das lohnt sich 🙂

Auch filmisch liefert Belgien ordentlich ab. Chantal Akerman gilt als eine der bedeutendsten belgischen Regisseurinnen und als zentrale Stimme des feministischen und experimentellen Kinos. Ihr Film „Jeanne Dielman, 23, quai du Commerce, 1080 Bruxelles“ (1975) ist ein radikal ruhiges, minutiös beobachtetes Porträt weiblicher Alltagsroutine und innerer Zermürbung ist wirklich ein Meilenstein der Filmgeschichte, der zeigt, wie politisch und effektiv scheinbar unspektakuläre Gesten sein können. Kann den Film wirklich nur empfehlen.

Nach all den Musik- und Filmtipps möchte ich Belgien nun auch literarisch vorstellen und habe dafür „Dius“ von Stefan Hertmans gelesen:

Dius – Stefan Hertmans erschienen im Diogenes Verlag, übersetzt von Ira Wilhelm

Es gibt Zufälle, die so schräg sind als wäre kurz ein Riss im Raum-Zeit-Kontinuum entstanden und man zweifelt, ob das Buch sich vielleicht ins echte Leben ausgedehnt hat. Während ich Stefan Hertmans’ „Dius“ las – ein Buch, in dem Vittore Carpaccios Bilder eine recht zentrale Rolle spielen – fand ich auf meinem täglichen Spaziergang mit der kleinen Gasthündin im offenen Bücherschrank ausgerechnet einen Bildband dieses Malers. Carpaccio, nicht da Vanci oder Michaelangeo, ein Maler, den man nun wirklich nicht an jeder Ecke erwartet. Plötzlich wurde aus einer ohnehin schon intensiven Lektüre ein kleines multimediales Erlebnis: Musik über die Playlist, die beim Diogenes-Zoom-Abend mit dem Autor empfohlen wurde, Hertmans’ Worte im Buch –und dann diese Bilder, die direkt daneben aufschlugen und die mich wirklich sehr fasziniert haben.

Im Zentrum des Romans steht Anton, ein Kunsttheoretiker voller Sehnsucht, der oft eher beobachtet als handelt. Schon früh gibt es eine Szene, die sich ins Gedächtnis brennt: ein Autounfall, ein Hirsch, eine beinahe tödliche Bewegung. Hertmans schreibt das mit einer Intensität, die einen sofort in Antons Kopf zieht. An seiner Seite steht Dius, zunächst sein Student, dann sein Freund impulsiver, unmittelbarer, ein Künstler, der die Welt mit den Händen begreift. Zwischen den beiden entsteht eine enge, zugleich fragile Verbindung, getragen von Gesprächen über Kunst und Natur, aber auch von all dem, was unausgesprochen bleibt. Am Ende geht Dius nach Italien, Anton bleibt zurück und die Lücke zwischen ihnen erzählt ebenso viel wie ihre gemeinsamen Jahre.

In solchen Momenten weiß ich warum Dius in mein Leben treten musste: weil wir beiden den Durst nach längst vergangenen Zeiten teilen, die uns durch die frühen Erinnerungen irgendwie in den Körper eingeschrieben sind und uns unbehaust werden lassen im Lärm unserer Gegenwart. Kultur ist etwas Unbegreifliches; das Höchste ist mit dem Abgründigsten verwandt, und voll all den Jahrhunderten voller Schmerz, Verzückung und Verwirrung bleibt uns am Ende nur diese himmlische Musik, bei der sich mein Herz vor Verlangen zusammenkrampft, während ich unter der leichten Daunendecke liege….


Hertmans verankert diese Freundschaft in einem alten Bauernhaus in den weiten Westflämischen Poldern, einer Landschaft, die wie ein Resonanzraum wirkt, Seine Naturbeschreibungen sind präzise und voller Zärtlichkeit, und immer wieder stellt der Text die Frage, wie man Schönheit überhaupt fassen kann – ob Sprache reicht, um zu vermitteln, was Kunst, Landschaft oder ein Mensch in uns auslösen können.


Anton, ist Kunsttheoretiker, der oft an den Rändern des Lebens entlanggleitet. Einer, der eher denkt als handelt, der seine Sehnsüchte und seine Melancholie mit sich herumträgt und im Gegensatz Ein Gegenpol, lebendig, impulsiv, handfest im besten Sinn. Er denkt nicht nur über Kunst nach, er greift nach ihr, verschmilzt mit Material und Werkzeug, ein Mensch, der mit seiner Umgebung in eine Art physischer Resonanz tritt. Zwischen den beiden entsteht eine Freundschaft, die nicht idyllisch ist, sondern vibrierend; eine Beziehung, in der Nähe und Verrat, Inspiration und Verletzlichkeit von Anfang an mitschwingen.

Gerade weil Dius kein klassisch plotgetriebenes Buch ist, wirkt das, was geschieht, umso intensiver. Hertmans schildert ein Leben, das von Verlust, Erinnerung und dem Bedürfnis nach Nähe geprägt ist – aber auch von dem Versuch, sich über Kunst und die Betrachtung der Welt neu zu verorten. Durch die kunsthistorischen Exkurse, die Musik und die Naturbeobachtungen entsteht ein Geflecht, das gleichzeitig poetisch, scharf und berührend ist. Es ist ein Buch über das Sehen – im wörtlichen wie im übertragenen Sinn. Dius hat mich sehr berührt, und als Nächstes wartet nun Hertmans’ Krieg und Terpentin auf mich. Danke an Susanne vom Diogenes Verlag für ihre treffsichere Empfehlung – und natürlich an den Diogenes Verlag für das Rezensionsexemplar.

Wer noch mal zu den vorherigen Stationen (Sri Lanka, Italien, Trinidad & Tobago, Nigeria, Südkorea, China, Israel, Belarus, Japan, DR & Republik Kongo, USA, Polen, Chile, Afghanistan, Vietnam, Ukraine, Mauretanien, Mexiko, Niederlande, Malaysia) zurückreisen möchte wird in meiner Kategorie „Read around the World“ fündig.

Weitere Romane belgischer Autor*innen die ich gelesen und empfehlen kann:

  • I who have never known men – Jacqueline Harpman
  • Trophäe – Gesa Schoeters
  • Auf der Suche nach Marie – Madeleine Bourdouxhe
  • Der Buchhändler von Archangelsk – George Simenon
  • Mit Staunen und Zittern – Amélie Nothomb

Was sind eure Tipps für Belgien? Würde gerne mal wieder hin und welche Buch-Musik-Film Tipps habt ihr? Freue mich von euch zu hören und bin sehr gespannt!

Read around the world: Malaysia

Der nächste Stopp auf der literarischen Weltreise: Malaysia – einem Land, dem ich bei unseren Reisen durch Südostasien schon recht nahe gekommen bin, das wir aber leider noch nie besucht haben. Vielleicht habe ich mich deshalb auch so sehr auf diesen Stopp gefreut, weil ich doch immer wieder mal Sehnsucht habe in diese Ecke der Welt zurückzukehren. Malysia steht für diese Erinnerung an Farben, Gerüchen, Geräuschen, einer Vielfalt, die sich gar nicht in ein einziges Bild fassen lässt. Ich erinnere mich an Begegnungen mit Menschen aus der Region – in Thailand, Singapur oder Laos – und daran, wie oft Malaysia auch irgendwie dabei mitschwang, als eine Art kulturelle Kreuzung zwischen Welten. Britisches Erbe trifft auf chinesische, indische und malaiische Traditionen; Islam, Hinduismus, Buddhismus und Christentum existieren nebeneinander, und überall scheint die Frage spürbar, was „Heimat“ in einem Land bedeutet, das von so vielen Einflüssen geprägt ist.

Malaysia liegt im Herzen Südostasiens, teilt sich in die malaiische Halbinsel mit der Hauptstadt Kuala Lumpur und den Bundesstaaten des Festlandes sowie die Insel Borneo mit den Regionen Sabah und Sarawak. Rund 34 Millionen Menschen leben hier (Stand 2025) auf einer Fläche von etwa 330.000 km² – also fast so groß wie Deutschland, aber mit einer deutlich geringeren Bevölkerungsdichte. Kuala Lumpur ist das pulsierende Zentrum des Landes, modern, dicht, kontrastreich, während Orte wie Penang oder Melaka ihre koloniale Vergangenheit wie in Schichten tragen – britisch, niederländisch, portugiesisch, malaiisch, chinesisch. Diese Mischung macht den Reiz Malaysias aus: Das Land ist ein Mosaik aus Sprachen, Küchen, Religionen und Geschichten. Offizielle Sprache ist Bahasa Malaysia, aber Englisch ist weit verbreitet, ebenso Mandarin, Kantonesisch oder Tamil – ein Echo der Handelsrouten, die das Land seit Jahrhunderten prägen.

Hier wie immer die vergleichenden Daten:

  • Bevölkerung: Rund 34 Millionen Menschen leben in Malaysia (Stand 2025), also etwas weniger als die Hälfte der deutschen Bevölkerung.
  • Fläche: Mit etwa 330.000 km² ist Malaysia fast so groß wie Deutschland (≈ 357.000 km²).
  • Bevölkerungsdichte: Im Durchschnitt leben rund 100 Einwohner pro km² hier – deutlich weniger als in Deutschland. Besonders dicht besiedelt sind die Regionen um Kuala Lumpur, Penang und die Küstenstädte der malaiischen Halbinsel.
  • Wirtschaft: Malaysia gehört zu den sogenannten „Tigerstaaten“ Südostasiens. Wichtige Wirtschaftszweige sind Elektronik, Palmöl, Tourismus, Erdöl, Kautschuk und zunehmend erneuerbare Energien. Der Lebensstandard ist im regionalen Vergleich hoch, die Mittelschicht wächst, gleichzeitig bestehen jedoch deutliche Unterschiede zwischen Stadt und Land.

Die Geschichte Malaysias ist eine Geschichte von Begegnungen, aber auch von Besetzungen. Lange war die Region Teil globaler Handelsnetzwerke, berühmt für Gewürze, Zinn und Kautschuk. Im 19. Jahrhundert wurde sie zur britischen Kolonie und wie viele postkoloniale Staaten ringt Malaysia bis heute mit diesem Erbe. Der Unabhängigkeitstag 1957 markierte einen Neuanfang, doch die kolonialen Strukturen – wirtschaftlich, sozial und kulturell – wirken fort. Tan Twan Eng greift diese Themen in seinen Romanen meisterhaft auf: Wie sich Identität, Zugehörigkeit und Erinnerung in einem Land verschränken, das selbst ein vielschichtiges Hybridwesen ist. Doch dazu später mehr.

Wirtschaftlich ist Malaysia längst mehr als ein Rohstofflieferant: Elektronik, Palmöl, Tourismus und zunehmend nachhaltige Technologien prägen das Land. Trotz seiner Fortschritte bleibt der Spagat zwischen Entwicklung und Umweltbewusstsein eine der großen Herausforderungen. Der Regenwald Borneos zählt zu den ältesten der Erde, doch Abholzung, Rohstoffabbau und Klimawandel bedrohen ihn massiv. Gleichzeitig bemüht sich das Land um Naturschutzprojekte und Ökotourismus, um diesen einzigartigen Lebensraum zu bewahren.

Gesellschaftlich ist Malaysia ein Spiegel seiner ethnischen Vielfalt. Etwa zwei Drittel der Bevölkerung sind Malaien, dazu kommen große chinesische und indische Gemeinschaften sowie indigene Gruppen auf Borneo. Diese Vielfalt ist Reichtum und Herausforderung zugleich: Sprache, Religion, Bildung und Politik sind eng mit ethnischer Zugehörigkeit verflochten. Seit der Unabhängigkeit versucht Malaysia, ein Gleichgewicht zwischen den Gruppen zu wahren – ein Prozess, der immer wieder Spannungen, aber auch bemerkenswerte Formen des Zusammenlebens hervorbringt. In den letzten Jahren haben sich jüngere Generationen zunehmend von den starren Grenzen früherer Jahrzehnte gelöst, soziale Medien und Kultur treiben eine vorsichtige Liberalisierung voran, besonders in den urbanen Zentren.

Malaysia ist ein Fest für die Sinne: von Streetfood in Penang, das zum UNESCO-Weltkulturerbe zählt, über Musik und Tanzformen mit indischen, arabischen und chinesischen Einflüssen bis hin zur Architektur, die Moscheen, Kolonialhäuser und futuristische Hochhäuser in einem Stadtbild vereint. Politisch ist Malaysia eine konstitutionelle Monarchie mit einem komplexen föderalen System. In den letzten Jahren hat das Land turbulente Zeiten erlebt – Korruptionsskandale, Machtwechsel, Koalitionen, die sich auflösen und neu formieren. Doch die Demokratie lebt: zäh, lebendig, manchmal laut, oft pragmatisch. Auch hier steht Malaysia an einem Wendepunkt zwischen Tradition und Moderne, Religion und Liberalität, Wachstum und Nachhaltigkeit.

So offen und vielfältig Malaysia in kultureller Hinsicht ist, so restriktiv ist das Land leider gegenüber der LGBTQ+ Community. Gleichgeschlechtliche Beziehungen sind nach Artikel 377A des Strafgesetzbuchs, einem Überbleibsel der britischen Kolonialzeit, strafbar und können mit mehrjährigen Haftstrafen geahndet werden. Zusätzlich verbieten viele Bundesstaaten in Malaysia auf Grundlage der Scharia-Gesetze für Muslime homosexuelle Handlungen, geschlechtsangleichende Maßnahmen oder „unislamisches Verhalten“.

In der Praxis werden diese Gesetze nicht immer konsequent, aber doch regelmäßig angewendet. Es kommt zu Razzien, öffentlichen Bloßstellungen und Verhaftungen, vor allem wenn Aktivist*innen versuchen, sich öffentlich zu organisieren. Pride-Veranstaltungen sind nicht erlaubt, und queere Sichtbarkeit bleibt ein Risiko. Auch in den Medien gilt Zensur: Inhalte, die als „fördernd für Homosexualität“ gelten, werden oft geschnitten oder verboten.

Trotz dieser schwierigen Lage gibt es eine kleine, engagierte LGBTQ+-Szene – vor allem in Kuala Lumpur. Aktivistinnen, Künstlerinnen und NGOs wie Justice for Sisters oder Pelangi Campaign versuchen, Aufklärungsarbeit zu leisten und sichere Räume zu schaffen. In den letzten Jahren haben soziale Medien dazu beigetragen, dass queere Malaysier*innen sichtbarer und vernetzter werden, auch wenn sie dabei Anfeindungen riskieren.

Die rechtliche und gesellschaftliche Situation erinnert daran, dass Malaysia sich noch in einem tiefen Spannungsfeld zwischen konservativer Religionspolitik und einer jungen, urbanen Generation befindet, die zunehmend liberaler denkt. Gerade in Städten wie Kuala Lumpur, Penang oder Johor Bahru wächst das Bewusstsein, dass Diversität nicht nur ethnisch, sondern auch geschlechtlich und sexuell verstanden werden kann – auch wenn der Weg zu echter Gleichberechtigung noch weit ist.

Jetzt aber der Blick auf die Kultur: eine Band aus Malaysia die ich sehr mag ist die Postrock Band MIM – live habe ich sie noch nicht gesehen, würde ich aber sehr gerne. Hier mit ihrem Song „Bah“ aus ihrem Album „Arakian“:

Filme aus Malaysia habe ich tatsächlich noch keine gesehen, aber dieser Horror Film steht auf meiner Liste. Eine kleine unabhängige Produktion und das Regie-Debüt von Emir Ezwan. Die NYT zeigt sich ganz beeindruckt von diesem Folk Horror Film der in nur zwei Wochen im Wald südlich von Kuala Lumpur gedreht wurde.

und einer der Romane von Tan Twan Eng ist von Tom Lin Shu-yu verfilmt worden, den möchte ich mir auf jeden Fall auch ansehen, er handelt von der japanischen Besetzung Malaysias:

Jetzt kommen wir aber endlich zum Buch das ich für diesen Stopp gelesen habe. Ebenfalls ein Roman des malayischen Autors Tan Twan Eng der einer der berühmtesten seiner Heimat ist und der 1972 in Penang geboren wurde: „The House of Doors“ ein Roman der 2023 auf der Longlist des Booker Prizes stand:

The House of Doors – Tan Twan Eng auf deutsch unter dem Titel „Das Haus der Türen“ im Dumont Verlag erschienen übersetzt von Michaela Grabinger

Auf Tan Twan Engs „The House of Doors“ hab ich mich schon lange gefreut und es hat mich umgehend gepackt mit einer leisen, fast hypnotischen Intensität, die einen unmerklich in eine andere Zeit und Welt zieht. Schon nach wenigen Seiten war ich mitten in der flirrenden Hitze Malaysias, konnte das Rascheln der Palmen hören und den Geruch von Regen und Meer beinahe spüren.

Ich habe eine besondere Schwäche für Romane, in denen Schriftsteller selbst zu Figuren werden – Geschichten über das Erzählen, über die Macht und die Verantwortung, die mit dem Schreiben einhergehen – und genau das bietet The House of Doors auf meisterhafte Weise. Im Zentrum steht Lesley Hamlyn, die in den 1940ern auf einer Farm in Südafrika lebt und auf ihr früheres Leben im kolonialen Penang zurückblickt. Dort begegnet sie 1921 William Somerset Maugham – „Willie“ –, der mit seinem Sekretär und Lebensgefährten Gerald Haxton reist. Maugham, 1874 in Paris geboren und einer der meistgelesenen britischen Autoren seiner Zeit, ist auf der Suche nach Geschichten, nach den feinen Rissen hinter den Fassaden menschlicher Beziehungen. Haxton begleitet ihn seit Jahren auf all seinen Reisen, ihre Beziehung bewegt sich zwischen tiefer Zuneigung, Abhängigkeit und dem permanenten Druck, ihre Liebe in einer Zeit der gesellschaftlichen Enge verbergen zu müssen.

Tan Twan Eng beschreibt diese beiden mit einer Zartheit und Genauigkeit, die weit über bloße Hommage hinausgeht. Seine Beobachtungsgabe erinnert an Maugham selbst – doch Eng nutzt die Perspektive der Kolonisierten, um die moralischen und kulturellen Bruchstellen dieser Welt offenzulegen. Lesley, gefangen zwischen Loyalität, Schuld und dem Wunsch nach Wahrheit, steht am Schnittpunkt dieser Spannungen. Das titelgebende „Haus der Türen“ ist dabei weit mehr als ein Schauplatz: Es ist ein Sinnbild für Erinnerung und Erzählung, für die unzähligen Türen, die wir im Leben öffnen oder verschlossen halten. Eng gelingt es, historische Begebenheiten – die Begegnung mit dem Revolutionär Sun Yat-sen, den realen Mordfall Ethel Proudlock – mit fiktionaler Raffinesse zu verweben, ohne den emotionalen Kern aus den Augen zu verlieren.

Der Roman liest sich wie ein fein komponiertes Musikstück, getragen von Melancholie, von der Schönheit des Vergehens und der Frage, wie aus Leben Literatur wird. Tan Twan Eng, selbst in Penang geboren, beweist einmal mehr sein Gespür für Atmosphäre, für leise Zwischentöne und das Unsagbare zwischen den Zeilen. Am Ende hat mich The House of Doors nicht nur berührt, sondern auch ganz schön neugierig gemacht – auf Maugham selbst, auf seine Romane, seine Kurzgeschichten und vor allem auf das faszinierende, widersprüchliche Leben eines Mannes, der wie kaum ein anderer wusste, dass jede Geschichte zwei Seiten hat: die erzählte – und die verschwiegene.

Wer noch mal zu den vorherigen Stationen (Sri Lanka, Italien, Trinidad & Tobago, Nigeria, Südkorea, China, Israel, Belarus, Japan, DR & Republik Kongo, USA, Polen, Chile, Afghanistan, Vietnam, Ukraine, Mauretanien, Mexiko, Niederlande) zurückreisen möchte wird in meiner Kategorie „Read around the World“ fündig.

Meine einzige andere Lektüre aus Malaysia war:

  • Nothing but blackened teeth – Cassandra Khaw

Habt ihr Malaysia schon besucht? Habt ihr Buch-Film-Musik-Tipps? Freue mich auf eure Rückmeldungen.

Read around the World: Ukraine

Wie fasst man ein Land wie die Ukraine in Worte, ohne ihm unrecht zu tun? Ein Land, das seit Jahrhunderten zwischen Imperien zerrieben wird, das unermesslich viel Leid erfahren musste – und sich dennoch seine Kultur, Sprache, Selbstachtung und seinen Freiheitswillen bewahrt hat. Ein Land, das heute weltweit im Fokus steht – als Opfer eines brutalen Angriffskrieges, aber auch als Hoffnungsträger für Demokratie, Widerstandskraft und kulturelle Selbstbestimmung.

Immer wieder wird der Vorwurf laut, dass der Krieg in der Ukraine die Menschen in Europa weit mehr bewegt als andere Konflikte – etwa in Syrien, im Sudan oder anderswo. Und für mich persönlich kann ich das leider bestätigen, auch wenn ich weiß, dass das nicht gerecht ist. Dennoch habe ich gemerkt, wie stark mich dieser Krieg emotional berührt hat – vor allem durch den direkten, täglichen Austausch mit unseren zahlreichen Kolleg*innen in der Ukraine.

Plötzlich kannte man Menschen persönlich, deren Urlaubs- und Familienbilder man auf Instagram gesehen hatte. Menschen, mit denen man zusammengearbeitet, gesprochen und gelacht hat – und deren Alltag nun von Sirenen, Bombenalarm und Angst geprägt ist. Das hat den Krieg auf eine völlig neue, unmittelbare Weise spürbar gemacht.

Ich erinnere mich an Videokonferenzen, bei denen unsere Kolleg*innen aus Kiew, Charkiw oder Lwiw aus Bunkern oder Kellern zugeschaltet waren, während draußen Bomben einschlugen. Das war erschütternd. Niemand wurde zur Arbeit gedrängt – im Gegenteil, viele sagten, dass ihnen die Arbeit ein Gefühl von Struktur, Halt und ein Stück Normalität inmitten des Chaos gab.

Ich hatte telefonischen Kontakt zu Kolleg*innen, die mit ihren Kindern auf der Flucht waren – auf der Suche nach sicheren Übernachtungsmöglichkeiten auf dem Weg nach Deutschland, Polen oder in die Niederlande. Diese ganz persönlichen Erfahrungen haben den Krieg in einer Weise präsent gemacht, wie es bei anderen Konflikten für mich nie der Fall war.

Trotzdem gilt: Krieg, Leid und Zerstörung dürfen nicht gegeneinander aufgerechnet werden. Jedes menschliche Schicksal zählt. So sehr ich mir weltweiten Frieden wünsche, bin ich überzeugt: Demokratie und Freiheit müssen geschützt und – wenn nötig – auch verteidigt werden.

Ich starte heute mal mit dem Vergleich zwischen Deutschland und der Ukraine:

  • Fläche: Die Ukraine (603.700 km²) ist fast doppelt so groß wie Deutschland (357.000 km²) und das flächenmäßig größte Land Europas – wenn man Russland außen vor lässt.
  • Bevölkerung: Mit etwa 36 Millionen Einwohner:innen (2024, stark gesunken durch Flucht und Krieg) liegt die Ukraine deutlich unter Deutschland (ca. 84 Millionen), war aber vor dem Krieg bei knapp über 40 Millionen.
  • Bevölkerungsdichte: Rund 60 Personen/km² – deutlich dünner besiedelt als Deutschland (ca. 240 Personen/km²).
  • Wirtschaft: Vor dem Krieg war die Ukraine stark von Landwirtschaft, Industrie (v.a. Stahl, Maschinenbau) und IT-Dienstleistungen geprägt. Sie gilt als Kornkammer Europas – das Land ist einer der größten Exporteure von Weizen und Sonnenblumenöl weltweit. Der Krieg hat die Wirtschaft massiv geschwächt, doch gerade der Tech-Sektor zeigt sich erstaunlich resilient.

Die Geschichte der Ukraine ist eine Geschichte der Fremdbestimmung. Jahrhunderte lang war das heutige Staatsgebiet Spielball konkurrierender Großmächte: Polen-Litauen, Habsburgerreich, Osmanisches Reich, Russland, Sowjetunion. Für die Bevölkerung bedeutete das wechselnde Herrschaftsverhältnisse, Unterdrückung der Sprache, Enteignung, Deportation – und immer wieder blutige Gewalt.

Besonders grausam waren die 1930er Jahre unter Stalin: Der Holodomor, eine durch den sowjetischen Staat verursachte Hungersnot, forderte Millionen Menschenleben. Im Zweiten Weltkrieg wurde die Ukraine zum Schauplatz schwerster Kämpfe, zur Hölle für ihre jüdische Bevölkerung, die in Pogromen und durch die Shoah fast vollständig ausgelöscht wurde. Orte wie Babyn Jar stehen heute stellvertretend für diesen Zivilisationsbruch.


Und dennoch – oder gerade deshalb – entwickelte sich in der Ukraine über die Jahrhunderte eine beeindruckende kulturelle Identität. Literatur, Musik, bildende Kunst und Film florierten, oft im Schatten, oft im Widerstand gegen Zensur und Gewalt

1991 wurde die Ukraine unabhängig – nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, den viele Ukrainer:innen nicht nur als geopolitisches, sondern auch als persönliches Befreiungserlebnis empfanden. Doch die ersten Jahrzehnte waren geprägt von wirtschaftlicher Instabilität, Korruption und einem zähen Ringen zwischen Westorientierung und russischem Einfluss.

2004 die Orangene Revolution. 2014 die Maidan-Proteste – ein demokratischer Aufstand gegen ein korruptes, russlandfreundliches Regime. Der Preis war hoch: Dutzende Tote, die Annexion der Krim durch Russland, der bis heute andauernde Konflikt im Donbass. Und dann, am 24. Februar 2022, der Albtraum: ein großangelegter russischer Angriffskrieg, der ganze Städte in Trümmer legte und Millionen zur Flucht zwang.

Und doch – oder gerade deshalb – wächst auch der Zusammenhalt. Die Ukraine hat sich als widerstandsfähige Demokratie erwiesen, mit einer engagierten Zivilgesellschaft, einer lebendigen Medienlandschaft und einem klaren Blick auf Europa. Präsident Selenskyj, selbst jüdischer Herkunft und einst Schauspieler, wurde zum Symbol für diesen neuen, selbstbewussten ukrainischen Patriotismus.

Und auch gesellschaftlich bewegt sich einiges. Die Situation für LGBTQ+-Personen ist in der Ukraine zwar nach wie vor herausfordernd – Homosexualität ist legal, doch Diskriminierung, Gewalt und gesellschaftliche Ablehnung sind weit verbreitet. Der Krieg hat die Community zusätzlich unter Druck gesetzt, aber auch sichtbar gemacht: queere Soldat:innen kämpfen offen für ihr Land, Aktivist:innen setzen sich weiterhin für Gleichstellung ein, auch in Zeiten größter Not.

Der erste Pride in Kiew fand 2013 unter massivem Polizeischutz statt, mittlerweile gibt es – trotz Krieg – immer wieder kleinere Aktionen und große internationale Solidarität. Es ist noch ein weiter Weg, aber die Ukraine ist auf diesem Weg – und das ist mehr, als man von vielen anderen postsowjetischen Staaten sagen kann.

Was mich bei meiner Lektüre dieses Mal beeindruckt hat: die Vielstimmigkeit der ukrainischen Literatur. In ihr begegnen wir nicht nur der russisch-ukrainischen Spannung, sondern auch der jüdischen, tatarischen, polnischen, sowjetischen und europäischen Geschichte dieses Landes. Stimmen, die überleben wollten – und überlebt haben. Stimmen, die sich Gehör verschaffen – manchmal laut, manchmal leise, aber immer eindringlich.

Für diesen literarischen Stopp habe ich vier Bücher gelesen:

Vielleicht Esther – Katja Petrowskaja erschienen im Suhrkamp Verlag

Schon lange wollte ich dieses Buch lesen, und schlug es daher für unseren Bookclub vor. Petrowskaja hat mit „Vielleicht Esther“ ein ganz besonderes iterarisches Werk geschaffen – zart, klug, poetisch und fragmentarisch. Der Titel selbst ist bereits ein Programm: Was tun, wenn man nicht einmal weiß, wie genau die eigene Urgroßmutter hieß, die in Babyn Jar von den Nazis ermordet wurde? „Vielleicht Esther“ – diese zwei Worte tragen die ganze Unsicherheit, das Ringen mit dem Vergessen, das fragmentarische Erinnern, das Suchen zwischen Überlieferung, Vermutung und Verstummen.

Petrowskaja schreibt keine geradlinige Familienchronik, sondern einen assoziativen Text voller Leerstellen, Anspielungen und Sprachwitz. Es ist ein Buch über jüdische Geschichte, über Stalins Terror, über deutsche Schuld – und immer auch über Sprache als Speicher, als Stolperfalle, als Rettungsanker. Selten halt ein Buch in unserer Runde so einstimmig großartiges Feedback bekommen wie dieses. Unbedingte Leseempfehlung, kann sehr gut verstehen, dass der Text (ich meine Kapitel 5) den Bachmannpreis 2013 bekommen hat.

Katja Petrowskaja, 1970 in Kiew geboren, lebt seit 1999 in Berlin. Sie studierte in Tartu Literaturwissenschaft und Slawistik und promovierte in Moskau. Von 2000 bis 2010 schrieb sie für verschiedene russisch- und deutschsprachige Medien (Neue Zürcher Zeitung, taz, Deutsche Welle, Radio Liberty). Seit 2011 ist sie Kolumnistin der Frankfurter Allgemeinen Sonntagzeitung. Ihr literarisches Debüt Vielleicht Esther (2014) wurde in mehr als 30 Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet. 2022 erschien der Essayband Das Foto schaute mich an, 2025 der Essayband Als wäre es vorbei. Texte aus dem Krieg. Sie lebt in Berlin. Bin sehr beeindruckt wie poetisch sie in einer Sprache schreibt, die nicht einmal ihre Muttersprache ist. Habe zig Stellen angekreuzt, gar nicht einfach sich für ein Zitat hier zu entscheiden:

„Hitler hat die Leser getötet und Stalin die Schriftsteller, so fasste mein Vater das Verschwinden der Sprache zusammen. Diejenigen, die den Krieg überlebt hatten, waren wieder in Gefahr. Juden, Halbjuden, Vierteljuden – man lernte wieder, die Prozente zu schmecken, so dass die Zunge am kalten Eisen anfror. Sie wurden als heimatlose Kosmopoliten stigmatisiert, vielleicht weil man sie ungeachtet aller Grenzen tötete, sie, die verbotene Beziehungen mit dem Ausland unterhielten und deswegen nict zur großen Familie der sowjetischen Brudervölker gehören durften.“

Das Buch wurde 2013 mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet – völlig zurecht. Für mich persönlich eines der besten Bücher dieser Reise, fünf Sterne ohne Zögern.

Sie kam aus Mariupol – Natascha Wodin erschienen im Rowohlt Verlag

Dieses Buch liest sich wie ein Echo auf *Vielleicht Esther*, obwohl es einen ganz eigenen Weg geht. Wodin begibt sich auf die Spur ihrer Mutter, die in den 1940er Jahren als Zwangsarbeiterin aus der Ukraine nach Deutschland verschleppt wurde. Lange wusste die Autorin fast nichts über sie – nur, dass sie sich das Leben nahm, als Wodin noch ein Kind war. Die Spurensuche beginnt mit einer einfachen Google-Anfrage, entwickelt sich dann aber zu einer minutiösen Recherche, die von einem alten Friedhof bis ins digitale Unterholz führt.

Wodin teilt ihr Buch in zwei Hälften: Der erste Teil dokumentiert ihre Recherche, kühl, nüchtern, fast reportagehaft – der zweite Teil ist eine fiktionalisierte Nacherzählung des Lebenswegs der Mutter. Diese Zweiteilung funktionierte für mich erstaunlich gut und erlaubt einen doppelten Blick auf Erinnerung: erst als historische Spurensuche, dann als imaginierte Rekonstruktion.

„Über Mariupol wusste ich zu dieser Zeit so gut wie nichts. Auf der Suche nach meiner Mutter war es mir nie in den Sinn gekommen, mich über die Stadt kundig zu machen, aus der sie stammte. Mariupol, das vierzig Jahre lang Shdanow hieß und erst nach dem Zerfall der Sowjetunion wieder seinen alten Namen erhielt, blieb ein innerer Ort für mich, den ich niemals dem Licht der Wirklichkeit aussetzte. Seit jeher war ich im Ungefähren zu Hause, in meinen eigenen Bildern und Vorstellungen von der Welt. Die äußere Wirklichkeit bedrohte dieses innere Zuhause, und deshalb wich ich ihr nach Möglichkeit aus.“

Besonders spannend fand ich den Vergleich zu Petrowskaja: Wo diese die Lücken umarmt, will Wodin sie schließen. Wo Petrowskaja poetisch fragmentiert, strukturiert Wodin chronologisch. Beide Bücher ergänzen sich für mich wunderbar – und erzählen auf ihre je eigene Weise von Verlust, Herkunft, Zugehörigkeit und Trauma.

Natascha Wodin, 1945 als Kind sowjetischer Zwangsarbeiter in Fürth/Bayern geboren, wuchs erst in deutschen DP-Lagern, dann, nach dem frühen Tod der Mutter, in einem katholischen Mädchenheim auf. Für Sie kam aus Mariupol“ wurden ihr der Alfred-Döblin-Preis, der Preis der Leipziger Buchmesse und der Hilde-Domin-Preis für Literatur im Exil 2019 verliehen.

Baba Dunjas letzte Liebe – Alina Bronsky erschienen im Kiepenheuer & Witsch Verlag

Ein Buch, das ich – eine eher leichte Sommergeschichte trotz Tschernobyl Thematik erwartend sozusagen mit einem Lächeln begonnen und mit einem dicken Kloß im Hals beendet habe. Bronsky erzählt die Geschichte von Baba Dunja, einer alten Frau, die nach dem Reaktorunglück von Tschernobyl in ihr verlassenes Dorf zurückkehrt – und dort eine Art anarchisch-melancholische Gemeinschaft mit anderen alten Zurückgekehrten bildet. Es ist eine Geschichte über Altern, Selbstbestimmung, Widerstand und das kleine Glück inmitten des großen Abbruchs.

Was mich besonders berührt hat: die ruhige Würde dieser Frauen, ihre Härte, ihr Humor – und wie Bronsky es schafft, ihre Figuren nicht zu verklären und doch ganz ernst zu nehmen. Der Ton ist leichter als bei Petrowskaja oder Wodin, aber das macht den Roman nicht weniger eindrucksvoll.

„Nichts auf der Welt ist so furchtbar, wie jung zu sein. Als Kind geht es noch. Da gibt es, wenn du Glück hast, Menschen, die sich um dich kümmern. Aber ab sechzehn wird es herb. Du bist eigentlich immer noch ein Kind, doch alle sehen nur einen Erwachsenen in dir, den man leichter treten kann als einen, der älter und erfahrener ist. Niemand will dich mehr beschützen. Du bekommst ständig neue Aufgaben aufgehalst. Niemand fragt dich, ob du irgendwas verstanden hast von dem, was du neuerdings zu tun hast.“

Für mich war das auch eine Reise in meine eigene Kindheit: Ich bin selbst zwischen alten Frauen aufgewachsen, in einer Hausgemeinschaft, wo viel miteinander gestrickt, Obst und Gemüse geteilt und verarbeitet, manchmal im Treppenhaus gestritten und bei Gewitter auch mal gemeinsam auf Betten gesessen wurde. Vielleicht hat das meine Lesart dieses Romans besonders gefärbt. Aber ich glaube, viele werden sich ein kleines bißchen in Baba Dunja verlieben, spätestens auf Seite 12.

Eine Formalie in Kiew – Dmitrij Kapitelman erschienen im Hanser Verlag

Zum Schluss ein Buch, bei dem man sich vielleicht ein bisschen lernen muss sich auf den Tonfall einzulassen. Kapitelman nimmt uns mit auf eine kafkaesk-komische Reise nach Kiew, wo er ein bestimmtes Dokument braucht, um in Deutschland eingebürgert zu werden. Klingt banal – ist es nicht. Denn daraus entspinnt sich eine aberwitzige, traurige und politisch hochinteressante Geschichte über Identität, Staatsbürgerschaft, Erinnerung und Familie.

Der Begriff des „Ent-Dankens“ hat sich mir eingebrannt – Kapitelmans Beschreibung wie man richtig besticht.

„Wie zwei slawische Bauernpatrioten angezogen, landen Vater und ich also in Leipzig. Und stehen für unsere Rückkehr ins richtige Staatsleben an. Hier spotten die Landsleute auch über ihren Staat, würden ihm aber sofort ihr Leben anvertrauen, wenn es mal nichts mehr zu Lachen gäbe. Die Kanalisationsdeckel sind fest, die Feuerwehr kommt präventiv, Postboten besuchen Chirurgie-Grundkurse, Straßenhunde gibt es nicht und frei darf man sein. Sogar mit einem Galgen für den Hals der Kanzlerin demonstrieren. Dass die Faschisten trotzdem von der Macht in Deutschland tagträumen können, dass meine Landsleute wieder bereit sein könnten, ihnen alles zu opfern, ich werde es nie verstehen. Und immer weiter bekämpfen.“

Zwischen trockener Bürokratie, Alltagsrassismus, post-sowjetischem Humor und echtem Familienkrach zeigt das Buch ein modernes, zerrissenes, korruptes und zugleich menschlich berührendes Bild der Ukraine. Ein Roman, der nicht erklärt, sondern zeigt – und einen ganz eigenen Sound hat. Ich mochte ihn sehr.

Dmitrij Kapitelman, 1986 in Kyjiw geboren, kam im Alter von acht Jahren als »Kontingentflüchtling« mit seiner Familie nach Deutschland. Er studierte Politikwissenschaft und Soziologie an der Universität Leipzig und absolvierte die Deutsche Journalistenschule in München. Heute arbeitet er als freier Journalist.

Natürlich darf der kulturelle Rundumblick nicht fehlen: Was das ukrainische Kino angeht, bin ich leider noch ganz am Anfang – bisher habe ich leider noch keinen Film aus der Ukraine gesehen. Ganz oben auf meiner Wunschliste steht aktuell „My Thoughts Are Silent“ (2019) von Antonio Lukich. Der Film soll mit viel lakonischem Humor von einem jungen Toningenieur erzählen, der mit seiner Mutter durch die Westukraine reist, um Tiergeräusche aufzunehmen – eine scheinbar absurde, dabei aber tiefsinnige Geschichte über Familie, Identität und Freiheit.

Leider konnte ich den Film bislang in keinem meiner verfügbaren Programme oder Dienste finden – aber die Suche geht weiter. Habt ihr sonst noch Tipps für Filme aus der Ukraine?

Musikalisch war ich mit der Ukraine schon länger in losem Kontakt – insbesondere über die Post-Rock-Szene, die erstaunlich lebendig ist. Besonders die Band „Sleeping Bear“ hat es mir angetan: große, melancholische Klanglandschaften, ideal für regnerische Tage oder lange Bahnfahrten. Wer Post-Rock mag, wird sie lieben.


Auch bei der ESC-Gewinnerin „Jamala“ lohnt sich ein genauerer Blick (und vor allem ein genaueres Hinhören): Ihr Song „1944“ war nicht nur musikalisch stark, sondern auch eine politische Botschaft – über die Vertreibung der Krimtataren unter Stalin. Auch ihre späteren Alben zeigen, wie man Tradition, Pop und Haltung vereinen kann.

Für die Bookclub Diskussion zu Petrowskajas „Vielleicht Esther“ hatte ich auch fleißig ukrainisch gekocht – und dann komplett vergessen Fotos zu machen *grrr*. Geschmeckt hat es auf jeden Fall – es gab einen Spinat-Reis-Hackfleisch-gekochtes Ei-Eintopf mit Schmand (Rezept aus der Kindheit noch von einer ukrainischen Nachbarin – einen bestimmten Namen hatte es nicht das Gericht, außerdem gab es einen Rote-Beete-Salat sowie einen rote Zwiebel Dipp und zu allem natürlich jede Menge Dill.

Hier noch ein paar Empfehlungen für weitere Bücher aus der Ukraine:

Svetlana Alexievich – Tschernobyl eine Chronik der Zukunft
Andrey Kurkow – Graue Bienen
Sofi Oksanen – Putins Krieg gegen die Frauen

Wer noch mal zu den vorherigen Stationen (Sri Lanka, Italien, Trinidad & Tobago, Nigeria, Südkorea, China, Israel, Belarus, Japan, DR & Republik Kongo, USA, Polen, Chile, Afghanistan, Vietnam) zurückreisen möchte wird in meiner Kategorie „Read around the World“ fündig.

Und wie immer: Wenn ihr eigene Lese-, Film- oder Musiktipps zur Ukraine habt – her damit! Ich hoffe, auch dieser Stopp auf meiner literarischen Weltreise hat euch gefallen. Im nächsten Beitrag geht es weiter nach Mexiko.

Read around the World: Sri Lanka

Je verrückter die Welt wird – mit Kriegen, schwelenden Konflikten, Autokratien und einem brennenden Klima –, desto mehr meide ich Flugreisen. Das bedeutet leider, dass viele Orte für mich physisch unerreichbar bleiben. Glücklicherweise eröffnet mir die Literatur und das Kino Wege, diese fernen Länder zumindest geistig zu bereisen. Heute reisen wir gemeinsam nach Sri Lanka.

Bis vor Kurzem wußte ich kaum etwas über das Land: Ceylon, die Tamil Tigers, ein Inselstaat im Indischen Ozean – das war’s. Doch kaum beginnt man zu lesen und zu sehen, tauchen faszinierende Facetten auf.

Sri Lanka, die „Träne Indiens“ oder auch „Perle des Indischen Ozeans“, ist ein Inselstaat südlich des indischen Subkontinents. Seit 1948 unabhängig von Großbritannien, nennt sich das Land seit 1972 offiziell Demokratische Sozialistische Republik Sri Lanka.

Mit rund 65 600 km² ist Sri Lanka nur etwa ein Fünftel so groß wie Deutschland, etwas größer vielleicht als Rheinland-Pfalz, aber mit über 23 Millionen Menschen deutlich dichter besiedelt. Die Bevölkerung setzt sich mehrheitlich aus Singhales*innen (etwa 75 %) und Tamil*innen (etwa 15 %) zusammen – eine demografische Realität, die über Jahrzehnte hinweg zu tiefen Spannungen führte.

Ein zentrales Kapitel der jüngeren Geschichte – und auch ein wichtiges Thema in der Literatur über Sri Lanka – ist der blutige Bürgerkrieg zwischen der sri-lankischen Regierung und den sogenannten Tamil Tigers (LTTE, Liberation Tigers of Tamil Eelam). Diese militante Organisation kämpfte ab 1983 für einen unabhängigen Tamilenstaat im Norden und Osten der Insel, nachdem Tamil*innen über Jahre hinweg Diskriminierung durch die singhalesisch dominierte Regierung erfahren hatten.

Der Krieg dauerte fast drei Jahrzehnte und forderte über 100 000 Menschenleben, darunter viele Zivilisten. Besonders grausam war der „Schwarze Juli“ 1983 – ein Pogrom gegen Tamil:innen, der als Auslöser für den bewaffneten Konflikt gilt. Die LTTE verübte Selbstmordanschläge, rekrutierte Kindersoldaten und kontrollierte teilweise große Landesteile – bis sie 2009 militärisch besiegt wurden. Seitdem herrscht zwar offiziell Frieden, doch viele Wunden sind geblieben, und Aufarbeitung findet nur zögerlich statt.

Neben dieser bewegten Geschichte hat Sri Lanka eine jahrtausendealte Kultur vorzuweisen: buddhistische Königreiche mit beeindruckenden Ruinen in Anuradhapura, Polonnaruwa und Kandy; der sagenumwobene Felsen Sigiriya mit seinen Fresken; oder die Höhlentempel von Dambulla – allesamt UNESCO-Welterbe. Auch die Natur begeistert: wilde Elefanten in Minneriya, Leoparden im Yala-Nationalpark, Blauwale vor der Südküste. Die Artenvielfalt pro Quadratkilometer gehört zu den höchsten in ganz Asien.

Kulturell prägt der Buddhismus (etwa 70 % der Bevölkerung) das öffentliche Leben. Daneben gibt es starke hinduistische, muslimische und christliche Minderheiten. In Adam’s Peak, einem heiligen Berg im zentralen Hochland, überlagern sich diese Religionen: Der Fußabdruck auf dem Gipfel wird je nach Glaube Buddha, Shiva, Adam oder dem Apostel Thomas zugeschrieben – ein faszinierendes Bild religiöser Vielschichtigkeit.

Sri Lanka ist außerdem Heimat einer stolzen Teekultur – Ceylon-Tee zählt zu den besten der Welt. Auch kulinarisch bietet das Land Vielfalt: von Kiribath (Kokosmilchreis) über würzige Currys und Dhal bis hin zu Hoppers (knusprige Reismehlpfannkuchen). Colombo, die Hauptstadt, hat sich zu einem spannenden urbanen Zentrum entwickelt – mit Rooftop-Bars, kolonialer Architektur und kreativen Kulturorten.

Bislang habe ich noch keinen Film aus Sri Lanka gesehen und konnte auch keinen finden, den ich für diesen Stopp hätte sehen können. Vielleicht habt ihr da eine Empfehlung?

Aber musikalisch bin ich fündig geworden. Besonders gefällt mir Nevi’im aus Colombo. Das könnte allen gefallen, die Explosions in the sky, Mogwai oder God is an Astronaut etc mögen:

Literarisch bin ich natürlich auch fündig geworden. Die Literatur Sri Lankas ist reich und vielfältig, geprägt von den kulturellen Einflüssen der singhalesischen, tamilischen und kolonialen Geschichte. Traditionell spielte die singhalesische Literatur, insbesondere Poesie und religiöse Texte in Pali, eine zentrale Rolle. Auch tamilische Literatur, oft mit starken spirituellen und politischen Themen, hat tiefe Wurzeln.

Zu den bekanntesten Autor*innen Sri Lankas gehört Michael Ondaatje, der international für Werke wie Der englische Patient bekannt wurde. Obwohl er lange in Kanada lebt, reflektiert seine Literatur oft seine sri-lankischen Wurzeln.

In der tamilischen Literatur ist Shobasakthi (Pseudonym des ehemaligen Tamil-Tiger-Kämpfers Antonythasan Jesuthasan) ein wichtiger zeitgenössischer Autor, der in seinen Werken Krieg, Migration und Identität thematisiert.

Sri Lankas Literaturszene ist lebendig und international vernetzt, wobei auch jüngere Stimmen wie Shehan Karunatilaka (Booker-Preis 2022 für The Seven Moons of Maali Almeida) weltweite Beachtung finden. Habe lange zwischen Karunatilakas und Ganeshananthans Buch hin und her überlegt, mich letztendlich dann aber für „Brotherless Night“ entschieden.

Brotherless Night – V. V. Ganeshananthan auf deutsch unter dem Titel „Der brennende Garten“ im Tropen Verlag erschienen, übersetzt von Sophie Zeitz

„Brotherless Night“ ist absolut keine Wohlfühllektüre – und gerade das macht es zu einem so wichtigen Buch. Mit großer erzählerischer Kraft und eindringlicher Sprache folgt der Roman der jungen Sashi, die in den 1980er Jahren in Sri Lanka aufwächst und miterlebt, wie ihre Welt zunehmend von Gewalt, Angst und politischem Fanatismus zersetzt wird. Als angehende Ärztin und Schwester verliert sie nicht nur ihre Brüder, sondern auch zunehmend den Glauben an eine glückliche Zukunft. Der Bürgerkrieg zwischen der sri-lankischen Regierung und den Tamil Tigers zerreißt Familien und ganze Gemeinschaften – das Buch zeigt dies schmerzhaft klar und erschütternd eindringlich.

Im Rahmen meiner literarischen Weltreise ist dieses Buch ein weiteres Beispiel für eine traurige Konstante: Immer wieder stoße ich auf Geschichten von Ländern, in denen sich Bevölkerungsgruppen gegenseitig zu vernichten versuchten. Es ist deprimierend, beinahe zermürbend, wie oft sich dieses Muster zeigt – als sei der Mensch einfach nicht fähig, dauerhaft friedlich zusammenzuleben. Stattdessen wiederholen sich Hass, Misstrauen und Gewalt in immer neuen Formen. Auch in Sri Lanka war es nicht anders – und „Brotherless Night“ verdeutlicht, wie aus Nachbarn Feinde wurden, wie Hoffnung in Ideologie und Ideologie in Terror umschlägt. Und doch – trotz der Schwere – ist das Buch wirklich lesenswert, gerade weil es ein tieferes Verständnis für die komplexe Geschichte Sri Lankas und besonders der tamilischen Bevölkerung ermöglicht. Es stellt keine einfachen Schuldzuweisungen auf, sondern zeichnet ein nuanciertes Bild von Menschen, die im Strudel des Krieges ihre Überzeugungen, ihre Angehörigen und oft auch sich selbst verlieren.

Die aktuelle Lage in Sri Lanka macht klar, dass der Konflikt auch nach dem offiziellen Ende des Bürgerkriegs im Jahr 2009 keineswegs wirklich überwunden ist. Noch immer werden Tamilen diskriminiert, enteignet oder in ihrer kulturellen und religiösen Identität unterdrückt. Zwar gab es jüngst ein wichtiges Urteil des Obersten Gerichtshofs, das die Enteignung tamilischen Landes stoppte, und es bestehen zaghafte Hoffnungen auf Rückgabe und Aufarbeitung – aber die tiefer liegenden Ungleichheiten bleiben bestehen. Viele warten weiter auf Gerechtigkeit, auf eine echte gesellschaftliche Versöhnung, auf Anerkennung des erlittenen Unrechts. Auch internationale Ermittlungen zu Kriegsverbrechen kommen kaum voran.

„Brotherless Night“ ist deshalb nicht nur ein Roman über die Vergangenheit, sondern auch ein Kommentar zur Gegenwart – er zwingt uns, hinzusehen, wo wir vielleicht lieber weggeschaut hätten. Für mich war es ein bedrückendes, aber notwendiges Kapitel meiner Weltreise durch die Literatur. Und auch wenn ich weiter hoffe, irgendwann ein Land zu lesen, in dem das friedliche Zusammenleben nicht durch Massaker, Vertreibung oder systematische Gewalt erschüttert wurde, so war dieses Buch ein würdiger und wertvoller Beitrag zum Verständnis jener Orte, an denen der Friede nach wie vor fragil ist.

V.V. Ganeshananthan, oft auch als Sugi Ganeshananthan bekannt, ist eine US-amerikanische Schriftstellerin mit srilankisch-tamilischen Wurzeln. Sie wurde in den USA geboren, ihre Familie stammt jedoch aus Sri Lanka – diese kulturelle und politische Spannung durchzieht ihr Schreiben auf kraftvolle Weise. Ganeshananthan ist nicht nur Romanautorin, sondern auch Journalistin, Hochschullehrerin und Mitgestalterin des renommierten Literatur-Podcasts Fiction/Non/Fiction.

Mit Brotherless Night gelang ihr 2023 der literarische Durchbruch: Das Buch wurde u. a. für den Women’s Prize for Fiction nominiert. Ganeshananthan verbindet präzise Recherche mit erzählerischer Tiefe – ihr Stil ist ebenso politisch wie poetisch, und sie schafft es, komplexe Konflikte durch individuelle Schicksale erfahrbar zu machen.

Neben ihrer schriftstellerischen Tätigkeit ist sie Professorin für kreatives Schreiben an der University of Minnesota und engagiert sich regelmäßig zu Fragen politischer Gewalt, Erinnerungskultur und der Rolle der Diaspora in der Literatur.
Wer noch mal zu den vorigen Stationen reisen möchte, bitte hier entlang:

China
Vietnam
Afghanistan
Chile
Polen
USA
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Japan
Belarus
Israel
Südkorea
Nigeria
Trinidad & Tobago
Italien

Kennt ihr Sri Lanka? Habt ihr Tipps für entsprechende Autor*innen / Filme / Bands?

Read around the World: Südkorea

Südkorea – ein Land, das oft für seine technologische Innovationskraft und Popkultur gefeiert wird, aber zugleich eine bewegte Geschichte und eine faszinierende Tradition besitzt. Wir waren schon in einigen Ländern Ostasiens unterwegs, aber ein Besuch in Südkorea hat sich bisher nicht ergeben. Ich habe aber große Lust das Land einmal zu besuchen.

Südkorea, offiziell die Republik Korea, liegt auf der südlichen Hälfte der koreanischen Halbinsel und grenzt im Norden an Nordkorea. Die Hauptstadt Seoul ist nicht nur das wirtschaftliche Zentrum, sondern auch eine pulsierende Metropole voller Kontraste – von hypermodernen Wolkenkratzern bis hin zu jahrhundertealten Palästen wie Gyeongbokgung. Neben Seoul gibt es weitere bedeutende Städte wie Busan, bekannt für seine Strände und Filmfestivals, oder Daegu, ein Zentrum der Textil- und Elektronikindustrie.

Die Geschichte Koreas reicht Jahrtausende zurück. Bereits in der Antike existierten Königreiche wie Goguryeo, Baekje und Silla, die ihre Spuren in Form von beeindruckenden Tempeln und Festungen hinterlassen haben. Im 20. Jahrhundert wurde Korea von Japan kolonialisiert und erst 1945 nach dem Zweiten Weltkrieg wieder befreit – allerdings nur, um kurz darauf in zwei Staaten geteilt zu werden. Der Koreakrieg (1950–1953) verfestigte diese Trennung und hinterließ eine der am schwersten bewachten Grenzen der Welt, die Demilitarisierte Zone (DMZ). Bis heute sind Nord- und Südkorea technisch gesehen im Kriegszustand, da nie ein offizieller Friedensvertrag unterzeichnet wurde.

Politisch ist Südkorea heute eine Demokratie, aber nicht ohne Herausforderungen. In der Vergangenheit gab es immer wieder Massenproteste gegen Korruption, und das Land hat eine komplexe Beziehung zu seinen Nachbarn – sei es China, Japan oder natürlich Nordkorea. Wirtschaftlich hat Südkorea eine beeindruckende Entwicklung hingelegt: Von einem armen Agrarstaat in den 1950ern ist es zur zwölftgrößten Volkswirtschaft der Welt aufgestiegen, mit Konzernen wie Samsung, Hyundai oder LG, die global führend sind. Gleichzeitig gibt es soziale Probleme wie Misogynie, Überarbeitung, eine hohe Suizidrate und eine rigide Arbeitskultur, die viele junge Menschen unter Druck setzt.

Die Kultur Südkoreas ist unglaublich lebendig und weltweit einflussreich. Die koreanische Welle („Hallyu“) hat mit K-Pop, K-Dramen und koreanischem Kino eine riesige Fangemeinde gewonnen. Bands wie BTS oder Blackpink brechen Rekorde, während Filme wie „Parasite“ internationale Preise abräumen. Auch die koreanische Literatur gewinnt zunehmend an Bedeutung. Han Kang, die mit ihrem Roman „Die Vegetarierin“ den Man Booker International Prize gewann, gehört zu den bekanntesten zeitgenössischen Autor*innen. Auch Kim Young-ha ist für seine kritischen Gesellschaftsanalysen bekannt. Klassische Werke wie „Der neunte Raum“ von Cho Chong-rae oder „Der Fluss“ von Choe In-ho beleuchten die koreanische Geschichte und Gesellschaft mit tiefgründiger Intensität. Ein weiteres zentrales Thema in der koreanischen Literatur ist die Teilung des Landes: Romane wie „Der alte Garten“ von Hwang Sok-yong oder „Das Generalsekretariat“ von Yi Mun-yol thematisieren die psychologischen und sozialen Folgen der Spaltung. Besonders bemerkenswert ist auch die wachsende Zahl junger Autorinnen wie Nam-joo Cho, die mit „Kim Jiyoung, geboren 1982“ ein gesellschaftskritisches Werk geschaffen hat, das feministische Debatten in Südkorea angestoßen hat.

Sportlich gesehen ist Südkorea besonders stark in Disziplinen wie Taekwondo, E-Sports und Bogenschießen. Die Olympischen Spiele 1988 in Seoul und die Fußball-WM 2002, die gemeinsam mit Japan ausgetragen wurde, haben das Land international als Sportnation gefestigt. Doch wie in vielen Bereichen Südkoreas gibt es auch hier eine strenge Leistungskultur, die mit einem hohen Erwartungsdruck einhergeht.

Neben all der Modernität bietet Südkorea auch beeindruckende Naturlandschaften: von den Bergen des Seoraksan-Nationalparks bis zu den Stränden der Insel Jeju. Traditionelle Feste wie Chuseok (das Erntedankfest) oder Seollal (das koreanische Neujahr) sind tief in der Gesellschaft verwurzelt und zeigen die enge Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart.

Fläche: Südkorea (100.363 km²) ist etwas größer als Bayern (70.550 km²), aber deutlich kleiner als Deutschland (357.022 km²).
Bevölkerung: Südkorea hat etwa 51,7 Millionen Einwohner, während Deutschland rund 84 Millionen zählt.
Bevölkerungsdichte: Mit etwa 516 Personen/km² ist Südkorea fast doppelt so dicht besiedelt wie Deutschland (233 Personen/km²).
Wirtschaft: Südkorea ist die zwölftgrößte Volkswirtschaft der Welt und bekannt für seine Hightech-Industrie und Popkultur.

Für Südkorea habe ich natürlich Han Kang gelesen, eine Autorin die ich seit ihrem Roman „Die Vegetarierin“ sehr sehr schätze.

Weiß – Han Kang erschienen im Aufbau Verlag, übersetzt von Ki-Hyang Lee

Han Kang, eine der bedeutendsten zeitgenössischen Schriftstellerinnen Südkoreas, hat sich mit ihrem international gefeierten Roman Die Vegetarierin als radikale Erzählerin des Verstörenden und Poetischen etabliert. Ihr Werk kreist um die Fragilität menschlicher Existenz, die Grenzen des Körpers und die tief sitzenden Wunden individueller wie kollektiver Traumata. Ihr Buch Weiß ist eine introspektive Meditation über Verlust, Erinnerung und die Bedeutung der Farbe Weiß.

In Weiß setzt sich Han Kang mit dem Tod ihrer früh verstorbenen älteren Schwester auseinander. Die Erzählerin reist nach Warschau, eine Stadt, die nach ihrer nahezu vollständigen Zerstörung im Zweiten Weltkrieg originalgetreu wieder aufgebaut wurde. Die Kulisse dieser wiedergeborenen Stadt wird zum Sinnbild für das zentrale Thema des Buches: Erinnerung und das fortwährende Ringen mit der Vergangenheit. In kurzen, fast lyrischen Fragmenten reflektiert Han Kang über weiße Dinge – von Schnee, Salz und Milch bis zu Totenhemden und Knochen – und verknüpft diese Assoziationen mit der eigenen Geschichte und dem Verlust ihrer Schwester.

Die Sprache in Weiß ist reduziert, aber hochgradig poetisch. Jede Seite ist durchzogen von einer fast meditativen Stille, die sich zwischen den Wörtern entfaltet. Dabei ist das Buch weniger eine durchgehende Erzählung als eine Sammlung von Gedanken und Erinnerungsbildern, die lose miteinander verwoben sind. Diese Struktur kann auf manche Leser*innen fragmentarisch oder gar unzusammenhängend wirken, doch genau darin liegt ihre Kraft: Han Kang erfasst das Wesen von Erinnerung – flüchtig, sprunghaft, immer wieder neu geformt.

Die Farbe Weiß steht in diesem Werk sowohl für Reinheit als auch für Abwesenheit. Sie symbolisiert Unschuld, aber auch Tod, Schmerz und das Verblassen von Leben. Die Erzählerin sucht nach einem Weg, ihre verstorbene Schwester in der Welt zu verankern, ihr eine Existenz zu verleihen, die über die wenigen Stunden ihres Lebens hinausgeht. So entsteht ein poetisches Gedenken, das sich mit der Frage beschäftigt, wie man einen Menschen erinnern kann, der kaum die Möglichkeit hatte, Spuren zu hinterlassen.

Verglichen mit Die Vegetarierin, das eine explosive Wucht besitzt und mit erschütternder Intensität in psychische und körperliche Abgründe vordringt, ist Weiß ein stilleres, intimeres Buch. Es fällt weniger durch narrative Radikalität auf, sondern vielmehr durch seine leisen Töne und seine meditative Sprache. Während Die Vegetarierin mit gesellschaftlichen Normen und Gewaltmechanismen bricht, ist Weiß ein tiefpersönliches, beinahe spirituelles Werk – eine Art poetische Trauerarbeit.

Han Kang gelingt es, mit minimalistischem Stil eine große emotionale Tiefe zu erzeugen. Die scheinbare Schlichtheit des Textes trägt eine existenzielle Schwere, die lange nachhallt. Die Übersetzung von Deborah Smith erfasst dabei die Eleganz und Subtilität von Hans Prosa meisterhaft, sodass die Bedeutungsebenen und der Rhythmus der Sprache erhalten bleiben.

Weiß ist kein Roman im klassischen Sinne, sondern eher eine literarische Reflexion, die zwischen Essay, Lyrik und autobiografischer Prosa changiert. Es ist ein Buch für Leser*innen, die sich auf eine introspektive Reise begeben möchten, die mehr Fragen stellt als beantwortet. Obwohl es mich nicht so nachhaltig erschüttert hat wie Die Vegetarierin, hat es mich dennoch berührt und beeindruckt. Es ist ein stilles, intensives Buch, das sich mit der Vergänglichkeit des Lebens auseinandersetzt – und mit der Möglichkeit, Erinnerungen durch Sprache zu bewahren.

Unmöglicher Abschied – Han Kang erschienen im Aufbau Verlag, übersetzt von Ki-Hyang Lee

In „Unmöglicher Abschied“ kehrt Han Kang zu ihrer bewährten Thematik von Trauma, Erinnerung und Schmerz zurück und entfaltet eine meisterhafte Erzählung, die sich mit der historischen Tragödie des Jeju-Massakers von 1948 auseinandersetzt. Ich habe „Unmöglicher Abschied“ als Hörbuch gehört (aktuell in der ARD Audiothek). Die Hauptfigur Kyungha wird von ihrer Freundin, die verletzt in einem Krankenhaus liegt auf eine eigentlich nicht großartig dramatische Mission geschickt: Sie soll während eines Schneesturms auf die Insel Jeju reisen, um den Vogel ihrer Freundin Inseon zu versorgen. Doch ihre Reise nimmt zunehmend surreale Züge an, während sie in einen Raum des Schmerzes und der Erinnerungen eindringt, in dem sich Vergangenheit und Gegenwart, Traum und Wirklichkeit untrennbar vermischen.

Die Struktur des Romans ist ungewöhnlich und fragmentarisch, wobei jede Bewegung in der Erzählung einer Verschiebung des Bewusstseins gleicht. Während in Die Vegetarierin verschiedene Perspektiven um die zentrale Figur kreisen, bleibt die Erzählung „in We Do Not Part“Unmöglicher Abschied“ bei Kyungha – jedoch verändert sich ihr innerer Zustand so tiefgreifend, dass sich der Roman fast wie eine Abfolge unterschiedlicher Realitäten liest. Die poetische und karge Sprache Han Kangs schafft dabei eine dichte, fast meditative Atmosphäre, die sich mit jeder Seite weiter verdichtet.

Besonders beeindruckend ist der Umgang mit Farbe und Naturbildern. Schnee, Licht und Schatten durchziehen die Erzählung als zentrale Motive, die sowohl für Reinheit als auch für das Vergessen und die Kälte des Todes stehen. Han Kang verwebt diese Bilder mit erschütternden historischen Details über die Massaker, die auf Jeju stattfanden, und zeigt, wie tief sich kollektives Trauma in Landschaften, Körper und Erinnerungen einbrennt.

„Unmöglicher Abschied“ ist ein herausforderndes, aber zutiefst bewegendes Werk. Die Szenen im Krankenhaus rund um die Fingerkuppen haben mir total zugesetzt, da kommt für mich kein Horrorfilm mit. Aber insgesamt verbindet der Roman lyrische Schönheit mit schonungsloser Aufarbeitung von Gewalt und Geschichte. Han Kangs Fähigkeit, Schmerz in poetische Bilder zu übersetzen, macht den Roman zu einem eindrucksvollen literarischen Ereignis, das mich noch immer beschäftigt. Es ist ein Buch, das ich unbedingt noch einmal im Winter lesen möchte, wenn die Stille und Kälte der Jahreszeit seine Atmosphäre noch verstärken.

Einen Film für Südkorea aussuchen ist echt gar nicht so einfach. Bei vielen Ländern hab ich eher das Problem noch gar keinen Film aus dem Land gesehen zu haben oder es dauert bis ich einen finde, den ich irgendwo ansehen kann, nicht so Südkorea. Hier ist es eher die Qual der Wahl. Soll ich Parasite nehmen, den ich sehr mochte oder doch „The Host“ – ich habe mich dann aber für Burning von Lee Chang-dong entschieden, ein Film den ich vor ein paar Jahren im Kino gesehen habe und der auf einer Kurzgeschichte von Haruki Murakami beruht.

Mit K-Pop kann ich persönlich nicht so viel anfangen. Ich mag aber zum Beispiel die Band „Wings of the Isang“ sehr gerne:

Typisch für koreanisches Essen ist das gemeinsame Essen am Tisch, oft mit einem Grill in der Mitte. Witzigerweise haben wir die koreanische Küche vor allem in Japan kennengelernt, denn dort gab es unfassbar viele koreanische Restaurants die häufig deutlich günstiger waren als die japanischen. Ich esse sehr gerne koreanisch und mag auch die BBQs sehr gerne. Kimchi könnte ich täglich essen. Wir haben schon mal versucht es selbst zu machen, hat aber nicht so wirklich funktioniert.

Ich hoffe unser Ausflug nach Südkorea hat euch gefallen? Jetzt verlassen wir Asien erst einmal und begeben uns mal wieder auf den afrikanischen Kontinent.

Wer noch mal die zurückliegenden Stationen besuchen will:

Wer jetzt Lust auf weitere Lektüre aus Südkorea bekommen hat, dem empfehle ich die folgenden Romane:

Kennt ihr Südkorea? Habt ihr Lieblingsautor*innen oder Lieblingsfilme? Freue mich auf eure Rückmeldungen.

Read around the world: BELARUS

Belarus – ein Land, das oft im Schatten seiner großen Nachbarn steht, aber eine reiche Geschichte, eine lebendige Kultur und eine politische Situation hat, die die Welt seit Jahren bewegt. Obwohl ich selbst noch nicht dort war, habe ich mich intensiv mit dem Land beschäftigt, um einen Einblick in seine Vergangenheit und Gegenwart zu geben.

Belarus, oft als „die letzte Diktatur Europas“ bezeichnet, ist ein Land, das zwischen Europa und Russland liegt – sowohl geografisch als auch politisch. Im deutschen Sprachraum auch Weißrussland genannt, ist Belarus ein osteuropäischer Binnenstaat der an Litauen, Lettland, Russland, die Ukraine und Polen grenzt. Die Hauptstadt Minsk ist nicht nur das politische Zentrum, sondern auch das kulturelle Herz des Landes.

Historisch gesehen war Belarus lange Teil verschiedener Großreiche – von der Kiewer Rus über das Großfürstentum Litauen bis hin zum Russischen Reich und später der Sowjetunion. Erst 1991 wurde Belarus unabhängig, doch die sowjetischen Strukturen blieben in vielerlei Hinsicht erhalten. Dies zeigt sich besonders in der politischen Situation des Landes.

Seit 1994 wird Belarus von Alexander Lukaschenko regiert, der sich über Jahrzehnte hinweg durch Wahlfälschungen, Einschüchterung und Gewalt an der Macht gehalten hat. Die Präsidentschaftswahlen im August 2020 markierten einen Wendepunkt: Hunderttausende Menschen gingen auf die Straße, um gegen die offensichtliche Manipulation der Wahlergebnisse zu protestieren. Die Opposition, allen voran Swetlana Tichanowskaja, stellte sich gegen das Regime und gewann international an Unterstützung.

Die Antwort der Regierung war brutal: Massenverhaftungen, Folter von Demonstrierenden und ein systematisches Vorgehen gegen kritische Stimmen. Viele Aktivistinnen und Journalistinnen wurden inhaftiert oder ins Exil gezwungen. Trotz der Repressionen bleibt der Widerstand im Land lebendig – sei es durch kleine Akte des zivilen Ungehorsams oder die belarussische Diaspora, die im Ausland weiter für Veränderungen kämpft.

Fotos: Pixabay

Trotz der politischen Unsicherheiten ist die belarussische Kultur tief verwurzelt und vielfältig. Die belarussische Sprache, die lange durch Russisch verdrängt wurde, erlebt seit einigen Jahren eine Renaissance, besonders unter jüngeren Menschen und in der Oppositionsbewegung. Literatur spielt dabei eine große Rolle – Autor*innen wie Swetlana Alexijewitsch, die 2015 den Literaturnobelpreis gewann, haben das Land weltweit bekannt gemacht. Ihr Werk beschäftigt sich intensiv mit den Traumata der sowjetischen Vergangenheit und den gesellschaftlichen Herausforderungen der Gegenwart. Wahrscheinlich ist neben der Nobelpreisträgerinnen Swetlana Alexijewitsch einer der bekanntesten Künstler aus Belarus der Maler Marc Chagall, der in Wizebsk geboren wurde und später lange Zeit in Frankreich lebte. Die beliebteste Sportart der Belarussen ist Eishockey und die Nationalmannschaft steht auf Platz 14 der Weltrangliste. Im Tennis hat Wiktoryja Asaranka 2012 den ersten Platz der Weltrangliste erreicht.

Abseits der politischen Spannungen ist Belarus ein Land von beeindruckender Natur. Fast 40 % des Landes sind von Wäldern bedeckt, und der Białowieża-Nationalpark in dem sich einer der letzten und ältesten Urwälder Europas befindet, Heimat der letzten europäischen Wisente, gehört zum UNESCO-Welterbe. Die Naturverbundenheit spielt auch in der belarussischen Folklore eine große Rolle – alte Bräuche, wie das Feiern von Kupala-Nacht, werden immer noch gepflegt.

Belarus steht an einem Scheideweg. Die wirtschaftliche Abhängigkeit von Russland, die internationalen Sanktionen gegen das Regime und der Druck aus der eigenen Bevölkerung machen eine Veränderung auf lange Sicht unausweichlich. Doch wie diese Veränderung aussehen wird, bleibt ungewiss.

Während Belarus in den internationalen Medien oft auf seine politische Krise reduziert wird, ist es wichtig, das Land auch in seiner Tiefe zu betrachten – mit all seiner Geschichte, Kultur und den Menschen, die trotz aller Widrigkeiten für eine bessere Zukunft kämpfen.

Obwohl ich noch nicht dort war, ist Belarus ein Land, das mich durch seine Widersprüche und seine Resilienz fasziniert. Vielleicht wird es eines Tages möglich sein, es frei und ohne Angst zu bereisen – und die Schönheit, Gastfreundschaft und Kultur des Landes in voller Gänze zu erleben.

  • Fläche: Belarus (207.600 km²) ist etwas kleiner als Deutschland (357.022 km²).
  • Bevölkerung: Belarus hat etwa 9,3 Millionen Einwohner, während Deutschland rund 84 Millionen zählt.
  • Bevölkerungsdichte: Belarus (45 Personen/km²) ist deutlich dünner besiedelt als Deutschland (233 Personen/km²).
  • Wirtschaft: Belarus ist weltweit auf Rang 79 in Bezug auf das Bruttoinlandsprodukt.

Belarus gehört übrigens zu den Ländern mit dem höchsten Alkoholkonsum pro Kopf weltweit. Besonders beliebt ist Samogon, ein hausgemachter Schnaps, der in ländlichen Gebieten oft selbst gebrannt wird. Laut einem WHO-Bericht von 2018 lag der durchschnittliche Pro-Kopf-Konsum bei ca. 14,4 Litern reinem Alkohol pro Jahr (bezogen auf Personen ab 15 Jahren). Damit gehörte Belarus damals zu den Top 3 der Länder mit dem höchsten Alkoholkonsum weltweit. Wir müssen uns da in Deutschland aber gar nicht groß drüber mokieren, denn wir liegen mit 12,9 Litern nur knapp dahinter und immerhin noch vor Russland mit 11,7 Litern. Der weltweite Durchschnitt liegt bei etwa 6,2 Litern. Hui.

Musik und Kunst sind ebenfalls Ausdruck des Widerstands. Viele belarussische Musiker und Bands mussten das Land verlassen, weil ihre Lieder zur Hymne der Protestbewegung wurden. Straßenkunst und Graffiti, oft mit politischer Botschaft, prägen das Bild vieler Städte – solange sie nicht von den Behörden entfernt werden. Auch Sasha Filipenko musste 2020 sein Heimatland verlassen. Von ihm hörte ich im Rahmen dieser literarischen Weltreise den Roman „Kremulator“ als Hörbuch

Sasha Filipenko – Kremulator erschienen im Diogenes Verlag, übersetzt von Ruth Altenhofer

Sasha Filipenkos „Kremulator“ ist ein eindrucksvoller historischer Roman über die Brutalität der Stalin-Zeit, erzählt mit präziser, oft lakonischer Sprache. Der Protagonist Pjotr Nesterenko, Direktor des ersten Krematoriums in Moskau, hat den Tod so oft gesehen, dass er sich für unsterblich hält. In den Öfen seines Krematoriums verschwinden die Opfer der stalinistischen Säuberungen: angebliche Spione, Verräter, ehemalige Revolutionshelden. Doch im Sommer 1941, kurz nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion, wird Nesterenko selbst verhaftet. Er, der immer überlebt hat, steht nun einem Gegner gegenüber, der entschlossen ist, ihn zu brechen: Pawel Andrejewitsch Perpeliza, ein junger, ehrgeiziger Ermittler, der fest entschlossen ist, Nesterenko als Spion zu überführen.

Die Verhöre zwischen den beiden Männern bilden das Herzstück des Romans. Mit stoischer Ruhe erzählt Nesterenko seine Lebensgeschichte – eine atemberaubende Odyssee: erst Offizier im Bürgerkrieg, dann Flucht nach Serbien, Rumänien und Frankreich, schließlich die Rückkehr in die Sowjetunion, wo er sich dem System anpasst und dennoch nie wirklich sicher ist. Während Perpeliza gräbt, wird klar, dass Nesterenkos wahres Verbrechen nicht in Taten, sondern in seinem Überlebenswillen und seinen internationalen Kontakten liegt.

Filipenko schildert diesen Abstieg in die sowjetische Willkürherrschaft mit einem feinen Gespür für historische Details und psychologische Spannung. Immer wieder wird die Handlung von Briefen an Vera, Nesterenkos große Liebe seit Kindheitstagen, unterbrochen – ein leiser, menschlicher Gegenpol zur Grausamkeit des Systems. Diese Briefe, geschrieben in einem Tagebuch, sind sein einziger Trost in einer Welt, in der jede falsche Antwort den Tod bedeuten kann.

Besonders eindrucksvoll fand ich die nüchterne, fast unerschütterliche Stimme Nesterenkos, die mich an Count Alexander Rostov aus A Gentleman in Moscow erinnerte. Wie Rostov bewahrt er seine aristokratische Eleganz so ist auch Nesterenko ein Überlebenskünstler, gezeichnet von der Geschichte, aber nicht bereit, sich einfach dem Tod zu ergeben.

Filipenko, 1984 in Belarus geboren, ist einer der wichtigsten kritischen Stimmen der postsowjetischen Literatur. Seine Bücher beleuchten Mechanismen der Repression – sowohl historisch als auch in der Gegenwart. Seine Kritik am belarussischen Regime zwang ihn ins Exil, was seinen Werken eine besondere Dringlichkeit verleiht.

Kremulator ist ein Roman, der mich tief bewegt hat. Filipenko verzichtet auf Pathos und Effekthascherei; stattdessen bringt er die beklemmende Atmosphäre der Stalin-Zeit mit präziser Sprache, schwarzem Humor und psychologischer Tiefe zum Leben. Während man liest, spürt man förmlich den kalten Atem des Systems im Nacken – diese Ungewissheit, die Millionen Menschen das Leben kostete.

Ein herausragender Roman, klug komponiert und erschreckend aktuell. Unbedingt lesenswert. Mein einziger kleiner Wehmutstropfen war, dass ich nicht wirklich etwas über Belarus erfahren habe – ich habe im Nachhinein jetzt noch in 2-3 andere Romane von Sasha Filipenko reingelesen, er scheint aber überwiegend über Russland zu schreiben.

Hat jemand vielleicht eine Empfehlung für einen Roman von eine*m belarussischen Autor*in der auch dort spielt?

Meine Film-Empfehlung ist „Komm und sieh“ aus dem Jahr 1985 von Elem Klimov. Einer der eindrucksvollsten und erschütterndsten Antikriegsfilme der Filmgeschichte. Er zeigt die Schrecken des Zweiten Weltkriegs aus der Sicht eines jungen belarussischen Partisanen und wurde international (zu Recht) hochgelobt. Ich fand ihn gut, aber streckenweise nur schwer aushaltbar.


Einen Hauch stolz bin ich, dass ich tatsächlich von mir behaupten kann, eine Lieblingsband aus Belarus zu haben. Ich finde Molchat Doma richtig gut. Die Band wurde 2017 in Minsk gegründet und besteht aus Egor Shkutko (Gesang), Roman Komogortsev (Gitarre, Synthesizer) und Pavel Kozlov (Bass, Synthesizer). Ihr Sound ist stark von New Wave, Post-Punk und Synth-Pop der 80er beeinflusst – oft verglichen mit Joy Division, The Cure, Depeche Mode oder Kino. Besonders ihr Album Etazhi, 2018 wurde durch Social Media und Plattformen wie TikTok und Bandcamp weltweit bekannt. Ihr düster-melancholischer Stil, kombiniert mit hypnotischen Synth-Melodien und monotonem, fast lethargischem Gesang, hat sie zu einer Kultband im Darkwave-Revival gemacht. Seit 2020 stehen sie bei Sacred Bones Records unter Vertrag, was ihre internationale Popularität weiter gesteigert hat.

Hört unbedingt mal rein:

https://domamolchat.bandcamp.com/album/etazhi-2018

Ich hoffe, der Stopp in Belarus hat euch gefallen und ich konnte euch ein paar Einblicke in ein Land geben, in dem vermutlich so einige von uns noch nicht waren. Oder seid ihr schon mal da gewesen und könnt eure Eindrücke mit uns teilen? Fände ich sehr spannend!

Falls ihr Lust habt, noch mal an die eine oder andere vorherige Station zu reisen dann klickt bitte hier:

Unser nächster Stopp ist knapp 4500 km entfernt und ein Land das ich zur Abwechslung bereits bereist habe. Ich hoffe, ihr seid dann auch wieder dabei.

Read around the world: Japan

Im Jahr 2016 reisten wir für drei unvergessliche Wochen durch Japan – ein Land, das uns immer wieder überrascht und manchmal auch vor Herausforderungen gestellt hat. Taxifahren war zum Beispiel jedes Mal ein kleines Abenteuer. Aus irgendeinem Grund schien es, als wären sämtliche Taxifahrer mindestens 80 Jahre alt. Sie trugen stets makellose weiße Handschuhe, und die Autos waren mit weißen Häkeldeckchen auf den Sitzen dekoriert. Schon das Einsteigen war besonders, da die Türen automatisch öffneten – ein Detail, das uns jedes Mal aufs Neue verblüffte.

Was die Navigation anging, wurde es allerdings kurios: Statt moderner Navigationssysteme griffen die Fahrer zu Papierkarten und teilweise riesigen Lupen, um die Adressen zu finden. In Kyoto erlebten wir gleich zwei skurrile Taxifahrten hintereinander: Der erste Fahrer war so verloren, dass er uns höflich wieder aus dem Auto bat. Der zweite machte sich immerhin auf den Weg, hielt aber nach kurzer Zeit bei einer Polizeistation an, um sich den Weg zu unserem AirBnB erklären zu lassen. Dieser Mischung aus Höflichkeit, Improvisation und Entschlossenheit begegneten wir des Öfteren auf unserer Reise

Kulinarisch gesehen war Japan eine Offenbarung. Wir haben durchweg gut gegessen – von Sushi, Kobe Rind und Ramen bis hin zu weniger bekannten lokalen Spezialitäten. Allerdings mögen die Japaner ihr Essen offensichtlich sehr frisch. So frisch, dass es uns manchmal die Sprache verschlug.

Ein Erlebnis, das wir nicht so schnell vergessen werden, war in einem Restaurant, in dem am Nachbartisch ein noch lebender Fisch serviert wurde. Der Fisch war in einer speziellen Halterung fixiert und zappelte noch, während ihm bei lebendigem Leib Sushi-Stücke herausgeschnitten wurden. Wir saßen mit offenem Mund da und mussten uns wirklich zusammenreißen, nicht ohnmächtig zu werden. Es war ein Moment, der uns tief verstörte – kulturelle Unterschiede hin oder her.

Auch die Auswahl an Snacks war… eigenwillig. Das rosafarbene Zeug, das auf einem Bild oben zu sehen ist, waren vermutlich dünn geschnittene und getrocknete Quallen, die in Bars oft als kleine Häppchen auf der Theke standen. Der Geschmack? Fischig-würzig, nicht schlecht, aber definitiv gewöhnungsbedürftig.

Die Bars in Japan sind oft winzig – manche kaum größer als ein Handtuch – und haben eine unverwechselbare Atmosphäre. Besonders beeindruckt hat uns die Auswahl an hochwertigen lokalen Whiskys, die an vielen Orten serviert wurde. Einzig der ständig dudelnde Jazz, der oft recht chaotisch klang, ging mir manchmal ein bisschen auf den Zwirn. Es war, als ob die Musik das Gegenteil der japanischen Perfektion widerspiegelte, die wir in anderen Bereichen des Lebens erlebten.

Eine weitere Entdeckung, die uns faszinierte, waren die Buchläden. Egal, welche Stadt wir besuchten – Tokio, Kyoto oder Kobe – Buchhandlungen waren allgegenwärtig, und noch beeindruckender war die schiere Größe der Manga-Abteilungen. Mangas sind in Japan ein Massenphänomen, das sich durch alle Altersgruppen und sozialen Schichten zieht. Manche Manga-Bände waren so dick wie Telefonbücher, und in der U-Bahn konnte man leicht einen Blick über die Schulter der anderen Passagiere werfen, die in ihre Geschichten vertieft waren.

Allerdings waren wir überrascht, wie brutal und explizit viele der Mangas sind – sowohl was Gewalt als auch Sexualität betrifft. Manche Inhalte hätten bei uns wahrscheinlich ganze Debatten ausgelöst, in Japan gehören sie jedoch zum Alltag.

Ein Highlight der Reise war eine mehrtägige Wanderung im Hinterland von Kyoto. Die üppige Natur, die uralten Wälder und die ruhige Atmosphäre entlang der Wege boten einen faszinierenden Kontrast zu den pulsierenden Städten. Übernachtet haben wir in traditionellen Ryokans, den japanischen Herbergen, die einen tiefen Einblick in die Kultur des Landes geben. Der Aufenthalt in einem Ryokan folgt einem festen Ritual: Nach der Ankunft nimmt man ein heißes Bad in einem Onsen, legt anschließend den bereitgelegten Yukata (eine Art leichter Kimono) an und genießt das Abendessen zusammen mit anderen Gästen. Dabei sitzt man auf den klassischen niedrigen Tatami-Matten, die zunächst ungewohnt, aber erstaunlich bequem sind. Die Mahlzeiten, ein Kunstwerk aus regionalen Spezialitäten, waren durchweg köstlich – bis auf das rohe Pferdefleisch, auf das wir rückblickend gerne verzichtet hätten. 😉

Was uns besonders überraschte, war die Tatsache, dass selbst in einer kosmopolitischen Stadt wie Tokio nur wenige Menschen Englisch sprechen. Außerhalb der Hauptstadt war es fast unmöglich, sich verbal zu verständigen. Und doch klappte alles erstaunlich gut, denn in Japan scheint alles darauf ausgelegt zu sein, intuitiv verstanden zu werden. Das U-Bahn-Netz in Tokio ist beispielsweise so gut durchdacht, dass man sich mit etwas Orientierungssinn selbst ohne Sprachkenntnisse zurechtfindet. Auch die Plastikmodelle der Gerichte vor den Restaurants waren ein wahrer Segen: Man wusste immer, was man bestellte – zumindest, wie es aussehen würde!

Ein unerwartetes kulturelles Hindernis stellten Tätowierungen dar. In Japan sind sie nach wie vor stark stigmatisiert, da sie traditionell mit der Yakuza (japanische Mafia) assoziiert werden. Viele Onsen verweigern daher den Zutritt, wenn man sichtbare Tätowierungen trägt. Auch wenn es nachvollziehbar ist, dass diese Regel tief in der Geschichte verwurzelt ist, fanden wir es dennoch etwas befremdlich, dass keinerlei Unterschiede zwischen harmlosen Touristen und Mitgliedern der Unterwelt gemacht werden. Aber gut – andere Länder, andere Sitten.

Eine Sache, die uns nachhaltig beeindruckt hat, war der unglaubliche Perfektionismus, der in so vielen Aspekten des japanischen Alltags sichtbar wird. Der Shinkansen, der Hochgeschwindigkeitszug, fährt buchstäblich auf die Sekunde genau ab und bringt einen in Windeseile von Tokio nach Kyoto. Dabei ist er nicht nur effizient, sondern auch durchdacht: Die Sitze lassen sich drehen, sodass man stets in Fahrtrichtung sitzt, und der Service an Bord ist makellos. Auch der Umgang mit Müll war bemerkenswert: Die Menschen nehmen ihren Abfall überall selbstverständlich mit nach Hause oder händigen ihn auf dem Bahnsteig dem warttenden Personal aus.

Japan fasziniert durch seine Gegensätze: die pulsierende Hektik in Tokio und die meditative Ruhe eines Ryokans; die futuristische Technologie des Shinkansen und die zeitlose Tradition der Teezeremonie. Es ist ein Land, das uns nicht nur zum Staunen brachte, sondern auch eine Lektion darin lehrte, wie harmonisch Gegensätze miteinander koexistieren können.

Japan besteht aus insgesamt 6.852 Inseln, von denen die vier größten – Honshu, Hokkaido, Kyushu und Shikoku – etwa 97% der Gesamtfläche ausmachen. Eine Besonderheit Japans ist seine Gebirgslandschaft: Rund 75% der Landesfläche sind von Bergen oder Wäldern bedeckt. Der höchste Gipfel, der ikonische Mount Fuji, ragt 3.776 Meter in die Höhe und wird von Einheimischen und Besuchern gleichermaßen verehrt.

Mit einer Bevölkerung von etwa 126 Millionen Menschen (Stand 2023) ist Japan das 11. bevölkerungsreichste Land der Welt. Die Bevölkerungsdichte liegt bei etwa 333 Einwohnern pro Quadratkilometer, was deutlich über der Dichte Deutschlands liegt, die bei etwa 232 Einwohnern pro Quadratkilometer liegt. Japan ist allerdings auch von einem demografischen Wandel geprägt: Die Bevölkerung schrumpft und altert rapide, was Herausforderungen für die Wirtschaft und das soziale Gefüge des Landes mit sich bringt.

Japan blickt auf eine über 2.000-jährige Geschichte zurück, die von Kaiserdynastien, Samurai-Traditionen und einer außergewöhnlichen Mischung aus Isolation und Offenheit geprägt ist. Im 19. Jahrhundert gelang Japan mit der Meiji-Restauration ein beispielloser Modernisierungssprung, der das Land zu einer der führenden Industrienationen der Welt machte.

Traditionen spielen trotz des technologischen Fortschritts eine zentrale Rolle. Rituale wie die Teezeremonie oder das Hanami (Betrachten der Kirschblüte) sind tief in der japanischen Kultur verwurzelt. Auch die japanische Religion, eine Mischung aus Shintoismus und Buddhismus, prägt den Alltag vieler Japaner.

Japan gehört zu den größten Volkswirtschaften der Welt und ist insbesondere für seine Technologie- und Automobilindustrie bekannt. Marken wie Toyota, Sony und Nintendo haben das Land zu einem Synonym für Innovation gemacht. Trotz dieser Modernität bewahrt Japan eine starke Verbindung zu seinen handwerklichen Traditionen, sei es in der Herstellung von Katana-Schwertern, Keramik oder Seide.

Trotz seiner dichten Besiedlung hat Japan atemberaubende Naturlandschaften zu bieten. Neben dem Mount Fuji sind die heißen Quellen (Onsen), die Wälder von Yakushima und die malerischen Dörfer in den japanischen Alpen besonders sehenswert. Japan ist auch ein Land der Extreme: Es liegt am sogenannten Pazifischen Feuerring und ist regelmäßig von Erdbeben, Vulkanausbrüchen und Tsunamis betroffen.

Japan ist ein Land der Gegensätze und Harmonie: Moderne Megastädte wie Tokio und Osaka stehen im Kontrast zu den stillen Schreinen und Tempeln, während die Hightech-Wirtschaft durch tiefe Traditionen ergänzt wird. Mit seiner reichen Kultur, faszinierenden Geschichte und beeindruckenden Natur ist Japan nicht nur ein beliebtes Reiseziel, sondern auch ein Land, das in vielerlei Hinsicht einzigartig ist.

Hier noch ein paar Fakten:

  • Fläche: Japan (377.975 km²) ist etwas größer als Deutschland (357.022 km²).
  • Bevölkerung: Japan hat etwa 125 Millionen Einwohner, während Deutschland rund 84 Millionen zählt.
  • Bevölkerungsdichte: Japan (334 Personen/km²) ist dichter besiedelt als Deutschland (233 Personen/km²).
  • Wirtschaft: Japan ist die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt (nach den USA und China), während Deutschland auf Platz 4 folgt.

Die japanische Literaturszene ist vielfältig und reich an Stimmen, die weltweit Anerkennung finden. Ich lese wahnsinnig gerne Literatur aus Japan und sie ist auch weit verbreitet in deutschen Buchläden. Ich würde sagen Literatur aus Japan erlebt einen wahnsinnigen Boom (neben Südkorea) und Autor*innen wie Haruki Murakami, Banana Yoshimoto, Yogo Ogawa, Syaka Murate, Fuminori Nakamura um nur ein paar zu nennen, sind auch aus der deutschen Literaturlandschaft nicht mehr wegzudenken. Literatur hat in Japan einen hohen Stellenwert; Buchhandlungen und Lesekultur sind tief in der Gesellschaft verankert, und Autoren genießen großes Ansehen, insbesondere für ihre Fähigkeit, die menschliche Erfahrung in poetischer Klarheit darzustellen.

Da ich ein Buch vorstellen wollte, das ich bisher noch nicht gelesen habe, entschied ich mich für Butter von Asako Yuzuki.

Butter – Asako Yuzki erschienen im Blumenbar Verlag, übersetzt von Ursula Gräfe

Ich habe Butter von Asako Yuzuki fast in einem Rutsch gelesen – was irgendwie passend ist, wenn man bedenkt, wie sehr Essen und Genuss im Mittelpunkt dieses Romans stehen. Die Geschichte kombiniert Elemente eines Krimis mit tiefgehender Sozialkritik und ich bewundere jeden, der es schafft diesen Roman zu lesen ohne permanent hungrig zu sei. Ich mußte sogar die Lektüre unterbrechen um mir Reis mit Butter zu kochen.

Die Handlung dreht sich um Rika Machida, eine ehrgeizige Journalistin, die sich an einem spektakulären Fall die Zähne ausbeißt: die mysteriöse Manako Kajii, die mehrere Männer umgebracht haben soll. Kajii ist eine faszinierende Figur – talentierte Köchin, Femme fatale und zugleich Ziel von unerbittlicher medialer Hetze wegen ihres Aussehens und ihrer Lebensweise.

Was mich besonders an Butter beeindruckt hat, ist, wie Yuzuki den Fokus auf die Themen Misogynie, Körperbild und gesellschaftliche Erwartungen richtet. Während Rika Kajii immer wieder im Gefängnis besucht, verschwimmen die Grenzen zwischen Recherche und persönlicher Obsession. Die Gespräche der beiden Frauen sind mal provokativ, mal tiefsinnig, und sie zeigen, wie Essgewohnheiten und Selbstwahrnehmung oft von Kindheitstraumata und gesellschaftlichen Zwängen geprägt sind.

Essen war ein zutiefst persönliches und egoistisches Verlangen. Gourmets waren im Prinzip Suchende. Sie waren Tag für Tag mit ihren Bedürfnissen beschäftigt und auf Entdeckungsreise. Je aufwändiger sie kochten, desto besser gelang es ihnen, die Außenwelt auszuschließen und eine innere Festung zu errichten. Mit Klingen und Flammen rückten sie den Zutaten zu Leibe, um sie nach ihrem Willen zu formen.

Die Parallelen zwischen Rika und Kajii fand ich dabei spannend, aber auch beklemmend. Während Rika immer tiefer in die Welt von Kajii eintaucht, wird sie selbst zur Zielscheibe ähnlicher Kritik: Ihr wachsender Appetit und die Gewichtszunahme werden von ihrem Umfeld kommentiert und abgewertet – ein Spiegel dessen, was Kajii erlebt hat. Das macht die Geschichte nicht nur persönlich, sondern auch universell, denn es geht um viel mehr als einen Mordfall: Es geht darum, wie Frauen in Japan (und weltweit) zwischen widersprüchlichen Erwartungen zerrieben werden. Ich konnte es gar nicht fassen, dass die Protagonistin mehrfach als unfassbar fett betitelt wird und dabei kaum 60kg auf die Waage bringt.

Asako Yuzuki, geboren 1981 in Tokio, ist eine recht bekannte japanische Autorin, die sich durch ihre scharfsinnigen gesellschaftlichen Analysen einen Namen gemacht hat. Bevor sie ihre Karriere als Schriftstellerin begann, arbeitete sie selbst als Journalistin, was man in Butter spürt: Die Recherche, die Tiefe und die Präzision in ihrer Darstellung von Medien und Gesellschaft wirken authentisch und fundiert. Butter wurde in Japan zu einem Bestseller und zeigt, wie Yuzuki mit feministischen Themen auf leise, aber eindringliche Weise umgeht.

Mir hat der Roman gefallen, er hätte aber gut und gerne 1/3 kürzer sein können, er war stellenweise etwas repetitiv.

Mein Filmtipp für Japan dürfte wenig überraschend sein für alle, die mich ein bißchen kennen, denn ich habe diesen Film schon massig empfohlen und hochgelobt: „Perfect Days“ von Wim Wenders – einer meiner absoluten Lieblingsfilme 2024:

Perfect Days von Wim Wenders ist ein ruhiges, poetisches Porträt eines introvertierten Toilettenreinigers in Tokio, der durch die kleinen Momente des Alltags und seine Liebe zu Büchern und Musik die Schönheit des Lebens feiert.

Musikalisch kann es für mich nur eine Band aus Japan geben: MONO – eine ikonische Post-Rock-Band bekannt für ihre epischen, emotionalen Klanglandschaften. Seit ihrer Gründung im Jahr 1999 haben sie zahlreiche Alben veröffentlicht und ich hatte auch schon das Glück sie live zu erleben. Alben wie Hymn to the Immortal Wind (2009), eine Mischung aus orchestralen Arrangements und intensiven Gitarrenwänden, und You Are There (2006), ein Meisterwerk voller melancholischer Schönheit, gehören zu ihren wichtigsten Werken. Ihre Musik ist introspektiv, dramatisch und zeitlos – ein Erlebnis, das unter die Haut geht.

Habt ihr jetzt vielleicht Lust bekommen, euch noch mal auf die anderen Stationen der Weltreise zu begeben? Dann bitte hier entlang:

Großen Applaus für alle, die bis hier hin durchgehalten haben. Ich hoffe euch hat der Ausflug nach Japan Spaß gemacht – ich habe auf jeden Fall riesige Lust mal wieder hinzufahren. Eines meiner aufregensten Reiseerlebnisse bisher.

Möchtet ihr noch ein bißchen in Japan bleiben? Hier sind weitere japanische Bücher die ich hier rezensiert habe: Tatsuki Fujimoto – Goodbye Eri, Waka Hirako – My broken Mariko, Yasushi Inoue – Der Tod des Teemeisters, Natsu Miyashita – Der Klang der Wälder, Lucy Fricke – Takeshis Haut, Haruki Murakami – Mr. Aufziehvogel, Erste Person Singular, Von Beruf Schriftsteller, Sayaka Murata – Convenience Store Woman, Fuminori Nakamura – The Thief, Die Maske, Sosuke Natsukawa – The cat who saved books, Yoko Ogawa – The Memory Police, Marion Poschmann – Die Kieferninseln, Franka Potente – Zehn, Natsume Soseki – Der Bergmann, Rin Usami – Idol Burning, Edmund de Waal – Der Hase mit den Bernsteinaugen, Banana Yoshimoto – NP, Ein seltsamer Ort

Seid ihr schon mal nach Japan gereist? Wie hat es euch gefallen? Welche japanischen Autor*innen / Bands / Filme könnt ihr empfehlen? Ich freue mich sehr von euch zu hören.

Der nächste Stopp ist etwa 8000km entfernt – kommt ihr wieder mit?

Read around the World: USA

Ich hatte bei meiner Reihe „Read around the World“ natürlich viel an ferne Länder gedacht, von denen ich selten bis nie Bücher lese. Aber da ich einen Zufallsgenerator nutze, um die nächsten Länder auszuwählen, über die ich schreiben möchte, traf es mich recht früh in der Reihe – die USA. Ich lese ohnehin viel Literatur aus den USA, so dass ich mir nicht sicher war, ob ich hier Neues entdecken könnte. Doch dann fiel mir Tommy Oranges Roman „There There“ ein, der schon länger auf meiner To-Read-Liste stand. Es erschien mir plötzlich unglaublich passend, dieses Buch im Rahmen dieser Reihe zu lesen.

Die USA – ein Land, das jedem irgendwie bekannt ist. Selbst wer noch nie persönlich dort war, hat unzählige Eindrücke über Filme, Serien, Musik und Bücher gesammelt. Als ich das erste Mal die USA besuchte, speziell New York, war ich erstaunt darüber, wie vertraut mir alles vorkam. Ich hatte das Gefühl, bereits dort gewesen zu sein. Doch abseits der Großstädte änderte sich mein Eindruck. Da spürte ich zum ersten Mal die schiere Größe dieses Landes. Wir wissen natürlich alle, dass die USA riesig sind. Aber das Gefühl, zB am Ufer des Michigansees zu stehen – einem Gewässer, das fast so groß wie die Schweiz ist – war einfach surreal.

Die Geschichte der Vereinigten Staaten ist eine Geschichte der Kontraste: von Expansion und Unabhängigkeit, aber auch von Kolonialismus und tiefgreifender Ungerechtigkeit. Ursprünglich war das heutige Gebiet der USA von zahlreichen indigenen Stämmen besiedelt, deren Kulturen sich über Jahrtausende entwickelten. Die ersten bekannten Kontakte mit Europäern erfolgten Ende des 15. Jahrhunderts, doch es dauerte bis zum 17. Jahrhundert, bis europäische Kolonialmächte wie England, Frankreich und Spanien hier dauerhaft Fuß fassten. 1776 erklärten 13 britische Kolonien entlang der Ostküste ihre Unabhängigkeit – ein mutiger Schritt, der zur Gründung der Vereinigten Staaten von Amerika führte.

Anfang der 2000er verbrachte ich mal eine Weile in New York und hatte auch die wahnwitzige Idee meine Abfindung dazu zu nutzen dort einen Buchladen aufzumachen. Nun ja, das ist alles schon an die Wand gefahren, bevor es richtig Fahrt aufnehmen konnte und zeugt vermutlich von meinen großartigen unternehmerischen Talenten und praktischen Fähigkeiten. Aber es ist immer eine coole Geschichte, die man auf Parties erzählen kann.

Die Unabhängigkeitserklärung von 1776 gilt als Geburtsstunde der amerikanischen Demokratie. Sie basierte auf den Prinzipien der Aufklärung, insbesondere den Ideen von Gleichheit, Freiheit und dem Recht auf das Streben nach Glück. Doch die Umsetzung dieser Ideale war von Anfang an unvollkommen. Die Verfassung von 1787, die bis heute das Fundament der amerikanischen Demokratie bildet, war ein bahnbrechendes Dokument, das ein System von Checks and Balances schuf, um die Macht zwischen Exekutive, Legislative und Judikative zu verteilen. Dennoch blieben Frauen, indigene Bevölkerungen und versklavte Menschen von diesen Rechten ausgeschlossen.

Im Laufe der Jahrhunderte wurde das demokratische System der USA weiterentwickelt, oft durch harte Kämpfe um bürgerliche Rechte und soziale Gerechtigkeit. Die Abschaffung der Sklaverei, das Frauenwahlrecht und die Bürgerrechtsbewegung des 20. Jahrhunderts sind Meilensteine auf dem Weg zu einer inklusiveren Demokratie. Doch die Spannungen zwischen Idealen und Realitäten der Demokratie bestehen weiterhin.

In der jüngeren Vergangenheit wurden die Grundpfeiler der amerikanischen Demokratie zunehmend in Frage gestellt. Die Wahl von Donald Trump im Jahr 2016 war ein Wendepunkt, der tiefe gesellschaftliche und politische Gräben offenbarte. Trumps Rhetorik und Politik haben die Institutionen der Demokratie auf die Probe gestellt. Besonders besorgniserregend war sein Umgang mit der Wahlniederlage 2020 und die darauf folgende Erstürmung des Kapitols am 6. Januar 2021. Dieses Ereignis, ein Angriff auf den Sitz der amerikanischen Demokratie, unterstrich die Fragilität des Systems.

Gleichzeitig haben Polarisierung, Desinformation und Angriffe auf die Pressefreiheit die demokratische Kultur geschwächt. Viele Beobachter*innen sind besorgt, dass das Vertrauen in die Wahlen und die Unabhängigkeit der Gerichte abnimmt. Doch es gibt auch Zeichen der Hoffnung: Bewegungen für soziale Gerechtigkeit, Klimaschutz und Menschenrechte zeigen, dass viele Amerikanerinnen und Amerikaner weiterhin für die Werte ihrer Demokratie einstehen.

Die Geschichte der indigenen Völker Nordamerikas reicht weit vor die Ankunft europäischer Kolonisatoren zurück. Vor der Kolonialisierung lebten schätzungsweise bis zu 10 Millionen Menschen auf dem Gebiet der heutigen USA, organisiert in hunderten verschiedenen Stämmen mit eigenen Sprachen, Traditionen und Lebensweisen. Diese Kulturen waren tief mit der Natur verwoben und oft durch komplexe soziale Strukturen geprägt.

Die Ankunft der Europäer brachte nicht nur Gewalt, sondern auch Krankheiten, gegen die die indigenen Bevölkerungen keine Immunität hatten. Pocken, Masern und andere Seuchen dezimierten die Bevölkerung innerhalb weniger Jahrzehnte drastisch. Während der Kolonialzeit und später im jungen US-amerikanischen Staat wurden indigene Gemeinschaften systematisch marginalisiert. Landraub und Assimilationspolitik bestimmten das Verhältnis der US-Regierung zu den indigenen Völkern.

Im 20. Jahrhundert änderten sich die Ansätze. Zwar wurden indigene Gemeinschaften weiterhin diskriminiert, doch ab den 1960er Jahren kam es zu einer Renaissance indigener Kulturen. Aktivisten kämpften für Landrechte, politische Autonomie und kulturelle Anerkennung. Heute leben über fünf Millionen Menschen indigener Abstammung in den USA, die Mehrheit davon in Städten. Tommy Oranges Roman „There There“ thematisiert genau diese städtische indigene Erfahrung – eine Perspektive, die in der Literatur selten zu finden ist.

Hier noch ein paar Fakten zu den USA

  • Fläche: 9,8 Millionen km², damit etwa 27 mal so groß wie Deutschland
  • Bevölkerung ca. 332 Millionen, in Deutschland etwa 84 Millionen
  • Bevölkerungsdichte USA: 36 Einwohner/km², Deutschland: 235 Einwohner/km²

Für die Weltreise habe ich wie oben schon erwähnt Tommy Oranges Roman „There There“ ausgewählt, der 2019 im Hanser Verlag unter dem Titel „Dort, Dort“ veröffentlicht wurde.

„There There“ hat mich hat mich wirklich sehr berührt – ein Buch, das mir nicht nur neue Perspektiven eröffnet, sondern auch einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen hat. Schon beim Hören des Hörbuchs war ich überwältigt von der Kraft und Schönheit seiner Sprache. Ständig hatte ich den Wunsch, Sätze zu markieren, sie zu unterstreichen und immer wieder zu lesen. Dieses Buch, das zu Recht so viel Aufmerksamkeit und Hype erhalten hat, ist eines, das ich unbedingt noch einmal in Buchform lesen möchte.

Der Titel des Romans bezieht sich auf Gertrude Steins berühmte Bemerkung über Oakland, Kalifornien: „There is no there there“. Oakland, Oranges Heimatstadt, bildet den Schauplatz des Romans und wird zu einem Symbol für das Erbe und die Erfahrung indigener Gemeinschaften in den USA. Orange, selbst ein Mitglied der Cheyenne und Arapaho, erzählt die Geschichten einer Gruppe indigener Menschen, deren Leben auf komplexe Weise miteinander verflochten sind. Schon das Eröffnungsprolog, das nüchtern und zugleich tief erschütternd die koloniale Unterdrückung und Gewalt gegenüber indigenen Völkern schildert, setzt den Ton für das, was folgt.

Was dieses Buch für mich so besonders macht, ist die Balance zwischen Schmerz, Verzweiflung aber auch Hoffnung. Orange verzichtet bewusst auf romantisierte Darstellungen indigener Kultur oder nostalgische Bilder von offenen Prärien. Stattdessen zeigt er das Leben indigener Menschen in städtischen Räumen – in all seiner Widersprüchlichkeit, Zerbrechlichkeit und Schönheit. Figuren wie der durch fetales Alkoholsyndrom gezeichnete Tony Loneman, der Dokumentarfilmer Dene Oxendene oder der junge Orvil Red Feather, der sich mit gestohlener Regalia auf ein Powwow vorbereitet, sind so lebendig und greifbar, dass sie mir während des Lesens regelrecht ans Herz gewachsen sind.

Besonders beeindruckt hat mich, wie Orange es schafft, die Geschichte und Gegenwart der indigenen Bevölkerung der USA miteinander zu verbinden. Das Powwow in Oakland, das den zentralen Schauplatz der Handlung bildet, steht nicht nur für den Versuch, kulturelle Traditionen zu bewahren, sondern auch für die Herausforderungen und Spannungen, die damit einhergehen. Die unterschiedlichen Perspektiven und Lebenswege der Charaktere verdichten sich hier zu einem explosiven Finale, das irgendwie schockierend und zugleich unvermeidlich wirkt. Es ist ein Ende, das beschäftigt – ein Spiegel der Realität, in der Gewalt und Ungleichheit allgegenwärtig sind.

Die Beziehung zwischen Jacquie und ihrer Schwester Opal, die versuchen, alte Wunden zu heilen und sich einander wieder anzunähern, hat mich besonders bewegt. Ihre Geschichte, die bis zur Besetzung von Alcatraz in den späten 1960er Jahren zurückreicht, zeigt, dass auch inmitten von Verlust und Schmerz die Möglichkeit besteht, etwas Neues zu schaffen. Dieses Spannungsfeld zwischen Resignation und Widerstand, zwischen Zerstörung und Wiederaufbau durchzieht das gesamte Buch und nimmt einen wirklich mit.

We are the memories we don’t remember, which live in us, which we feel, which make us sing and dance and pray the way we do, feelings from memories that flare and bloom unexpectedly in our lives like blood through a blanket from a wound made by a bullet fired by a man shooting us in the back for our hair, for our heads, for a bounty, or just to get rid of us.

Ich habe bei der Lektüre unglaublich viel über die Geschichte und Gegenwart indigener Gemeinschaften gelernt. Es war eine harte, aber notwendige Auseinandersetzung mit einer Realität, die oft verdrängt wird. Oranges Buch zwingt uns, hinzusehen und zuzuhören. Es gibt denjenigen eine Stimme, die zu lange überhört wurden, und fordert uns auf, die Komplexität und Menschlichkeit indigener Erfahrungen anzuerkennen.

There There ist für mich ein Meisterwerk – eines der Bücher, das man nicht nur liest, sondern das einen verändert. Es hat mich dazu gebracht, über meine eigenen Vorstellungen von Identität, Geschichte und Gemeinschaft nachzudenken. Tommy Orange hat mit diesem Roman etwas Großes geschaffen, das nicht nur unterhält, sondern auch berührt und inspiriert. Ich kann diesen Roman nur jedem wärmstens empfehlen.

Mein Filmtipp ist der herausragende Film „The new World“ aus dem Jahr 2005 von einem meiner Lieblingsregisseure Terrence Malick:

Falls ihr Lust auf die anderen Etappen habt, hier die Links zu den bisherigen Stationen:

Unser nächster Stopp führt uns wieder in entferntere Gefilde, aber ich bin trotzdem gespannt von euch zu hören. Wie ist euer Verhältnis zu den USA? Habt ihr es schon bereist, dort gelebt oder lässt es euch eher kalt und ihr habt wenig Interesse an einem Besuch?

Read around the world: Polen

Unser erster Stopp in Europa und wir besuchen heute das schöne Polen – kann gar nicht glauben, dass ich unser Nachbarland noch nie besucht habe, das sollten wir schleunigst mal ändern.

Polen, im Herzen Europas gelegen, ist ein Land mit einer bewegten Geschichte, einer reichen Kultur und einer starken literarischen Tradition. Seine Anfänge als politisches Gebilde lassen sich bis ins Jahr 966 zurückverfolgen, als Mieszko I., der erste historische Herrscher, das Christentum annahm. Damit wurde Polen Teil der westlichen christlichen Welt und etablierte sich in den folgenden Jahrhunderten als bedeutende Macht in Mitteleuropa. Unter der Jagiellonen-Dynastie, die vom 14. bis zum 16. Jahrhundert herrschte, erlebte das Land eine Blütezeit. In dieser Zeit formte die enge Verbindung mit Litauen die Polnisch-Litauische Union, die zeitweise das größte Staatsgebilde Europas war und kulturell wie wirtschaftlich aufblühte.

Fotos: Pixabay

Doch das 18. Jahrhundert brachte mit den drei Teilungen Polens durch die Nachbarmächte Russland, Preußen und Österreich das Ende der staatlichen Unabhängigkeit. Über 123 Jahre war Polen von der Landkarte verschwunden, doch der Widerstand der polnischen Bevölkerung blieb lebendig, insbesondere in der Kultur und Literatur, die zur Bewahrung der nationalen Identität beitrugen. Nach dem Ersten Weltkrieg gelang Polen 1918 die Wiedererlangung der Souveränität, nur um diese wenige Jahrzehnte später im Zweiten Weltkrieg erneut zu verlieren. Das Land wurde von Deutschland und der Sowjetunion besetzt und erlebte während des Krieges unvorstellbares Leid, darunter den Holocaust, der Millionen jüdischer Polen das Leben kostete. Nach 1945 wurde Polen Teil des sowjetisch geprägten Ostblocks, bevor es 1989 durch die friedlichen Reformen der Solidarność-Bewegung zur Demokratie zurückfand und 2004 Mitglied der Europäischen Union wurde.

Die polnische Kultur ist tief verwurzelt in Traditionen, Religion und einer facettenreichen Literatur. Zu den bedeutendsten Schriftstellern des Landes zählen Adam Mickiewicz, der mit seinem Werk „Pan Tadeusz“ den Freiheitskampf der Polen romantisch verklärt darstellte, auch beim Literaturnobelpreis war Polen beachtlich oft erfolgreich. Neben Olga Tokarczuk (2018) und Wisława Szymborska (1996) haben auch Czesław Miłosz (1980), Władysław Reymont (1924) und Henryk Sienkiewicz (1905) einen bekommen.

Geografisch erstreckt sich Polen über die Norddeutsche Tiefebene bis hin zu den Karpaten im Süden und ist geprägt von Flüssen wie der Weichsel, die das Land durchzieht. Die kulturelle Vielfalt zeigt sich in der Architektur von Städten wie Krakau, deren Altstadt zum UNESCO-Weltkulturerbe zählt, und in den landschaftlichen Highlights wie der masurischen Seenplatte. Polen ist ein Land, das trotz seiner oft tragischen Geschichte stets ein starkes kulturelles Erbe bewahrt und gleichzeitig den Blick nach vorn richtet.

Hier noch ein paar Fakten zu Polen:

  • Fläche: 312.696 km², damit etwas kleiner als Deutschland
  • Bevölkerung ca. 38 Millionen, also deutlich weniger als hier und mit deutlich mehr Platz für den Einzelnen wie man im nächsten Punkt klar erkennen kann
  • Bevölkerungsdichte Polen: 121 Einwohner/km², Deutschland: 235 Einwohner/km²

Für unsere Weltreise habe ich das neueste Werk Olga Tokarzuks „Empusion“ ausgewählt. Der Roman ist 2022 im Kampa Verlag erschienen und wurde von Lisa Palmes und Lothar Quinkenstein übersetzt.


Olga Tokarczuks Empusion ist nicht nur ein wirklich meisterhaft erzähltes Werk, sondern auch ein subtil subversiver feministischer Roman. Tokarczuk legt die tief verwurzelte Frauenverachtung offen, die die patriarchalischen Strukturen der damaligen Zeit durchzieht, und sie tut dies mit einer Mischung aus bitterem Ernst und ironischem Unterton. Das Sanatorium, in dem sich Mieczysław Wojnicz aufhält, wird zu einer Bühne, auf der die männlichen Protagonisten ihre Ansichten über die Welt – und insbesondere über Frauen – zum Besten geben. Tokarczuk entlarvt diese Perspektiven, indem sie den Figuren reale frauenfeindliche Zitate in den Mund legt und damit die grotesken Abgründe dieser Denkweisen sichtbar macht.

Ein besonders einprägsames Beispiel ist das berühmte Zitat von Platon: „Das Weib ist nichts anderes als ein missglückter Mann.“ Dieses philosophische Fundament der Misogynie wird im Roman nicht nur unkritisch von den männlichen Patienten zitiert, sondern auch in ihren Gesprächen auf erschreckend beiläufige Weise weitergesponnen. Die Männer betrachten Frauen oft als irrational, schwach oder gar als Bedrohung – eine Haltung, die von Tokarczuk scharf beobachtet und satirisch zugespitzt wird. Jean-Paul Sartres Satz „Die Hölle, das sind die anderen“ wird in diesem Kontext zu einem Ausdruck männlicher Angst vor der weiblichen Andersartigkeit, die die Protagonisten nicht verstehen und daher abwerten.

Tokarczuk gibt den Frauen jedoch eine leise, aber kraftvolle Gegenstimme. Die wenigen weiblichen Figuren, die im Sanatorium auftauchen – oft nur als Schatten oder mal als Krankenschwestern oder Patientinnen –, wirken zunächst marginalisiert, doch in ihren Handlungen und Reaktionen spiegeln sich Stärke und Widerstandskraft. Tokarczuk zeigt, wie Frauen trotz der sie umgebenden feindlichen Kultur ihren Platz behaupten und mit subtiler Macht agieren.

Die Art und Weise, wie Tokarczuk diese Frauenfeindlichkeit einbettet, ist meisterhaft: Sie karikiert die Männer in ihrer Selbstgewissheit und lässt ihre vermeintlich „hohen“ Gespräche immer wieder ins Lächerliche abgleiten. Dabei macht sie klar, dass die frauenfeindlichen Ideen nicht nur historische Relikte sind, sondern auch heute noch in subtilen Formen existieren. Der Roman wird so zu einem feministischen Kommentar, der die Leser*innen dazu bringt, sich mit den mysogynen Überzeugungen auseinanderzusetzen, die über Jahrhunderte hinweg fortgeschrieben wurden.

Empusion ist damit nicht nur ein Roman über Krankheit, Heilung und Risse in der Realität, sondern auch ein Werk, das die Machtstrukturen zwischen den Geschlechtern aufdeckt und dekonstruiert. Es fordert den Leser heraus, die patriarchalen Narrative zu hinterfragen, die nicht nur die Figuren im Sanatorium, sondern auch unsere eigene Gesellschaft prägen.

Ganz große Leseempfehlung. Der Roman regt nicht nur zum Denken an, er ist auch wahnsinnig atmosphärisch und Mieczysław Wojnicz ist ein Protagonist, den man nicht so schnell vergisst und den man unbedingt beschützen möchte.

Wer noch mehr Lust auf polnische Literatur hat, hier meine Empfehlungsliste:

Filmtipps habe ich dieses Mal zwei. Zum einen die Verfilmung von Olga Tokarzuks Buch „Gesang der Fledermäuse“ der unter dem Titel „Spoor / Pokot“ im Jahr 2017 von Agnieszka Holland und Kasia Adamik verfilmt wurde:

sowie das ziemlich abgefahrene Horror-Musical-MashUp „The Lure“ von Agnieszka Smoczyńska aus dem Jahr 2015:

Musikalisch bin ich ein großer Fan der polnischen Post Rock Band Spoiwo:

Das Kochen haben wir dieses Mal vergessen, aber nächstes Mal gibt es garantiert auch wieder kulinarische Tipps für unseren Stopp.

So jetzt ihr: Wart ihr schon mal in Polen und wenn ja, könnt ihr Empfehlungen für meinen ersten Trip dorthin machen. Welche Romane, Filme, Bands mögt ihr? Habt ihr Empusion schon gelesen oder etwas anderes von Olga Tokarzuk? Freue mich sehr von euch zu hören und ich hoffe ihr seid auch beim nächsten Stopp wieder dabei.

Falls ihr Lust auf die anderen Etappen habt, hier die Links zu den bisherigen Stationen:

Read around the World: Chile

Wir haben knapp 15.000 km hinter uns gelassen und sind in Chile gelandet. Ich hatte mit 17,18 eine heftige Isabell Allende Phase und wenn mich damals jemand gefragt hätte, welche Länder ich einmal im Leben garantiert bereist haben werde, hätte ich sicherlich ohne Zögern Chile gesagt. Ich wollte da so unbedingt hin, fand es faszinierend, landschaftlich total reizvoll und einfach spannend. Was soll ich sagen? Bin viel gereist in meinem Leben, aber nach Südamerika habe ich es leider nie geschafft. Hätte ich echt nicht gedacht.

Daher auch hier eine etwas umfassendere Einführung in Geschichte, Geographie und Kultur bevor wir uns mit dem Buch beschäftigen, das ich für Chile ausgewählt habe.

Chile erstreckt sich entlang der Westküste Südamerikas über eine Länge von etwa 4.300 Kilometern, während es an seiner schmalsten Stelle nur etwa 90 Kilometer breit ist. Diese außergewöhnliche Geografie umfasst atemberaubende Kontraste, von der trockensten Wüste der Welt, der Atacama, im Norden, über die fruchtbaren Täler Zentralchiles bis hin zu den eisigen Fjorden und Gletschern Patagoniens im Süden. Chile grenzt im Osten an die Anden und im Westen an den Pazifik.

Die Hauptstadt Santiago liegt zentral und ist das wirtschaftliche, politische und kulturelle Herz des Landes. Chiles besondere Lage macht es zudem anfällig für Erdbeben und Vulkanausbrüche, da es entlang des sogenannten Pazifischen Feuerrings liegt.

Fotos: Pixabay

Chile war ursprünglich Heimat verschiedener indigener Völker, darunter die Mapuche, die auch heute noch eine bedeutende kulturelle und politische Rolle spielen. Mit der Ankunft der Spanier im 16. Jahrhundert begann die Kolonialisierung, und Chile wurde ein Teil des spanischen Kolonialreichs. 1818 erlangte das Land seine Unabhängigkeit.

Im 20. Jahrhundert erlebte Chile eine wechselvolle politische Geschichte. Besonders prägend war die Zeit um Salvador Allende, der 1970 als erster demokratisch gewählter marxistischer Präsident der Welt in sein Amt trat. Seine Regierung setzte auf umfassende Sozialreformen und eine verstaatlichte Wirtschaft, was auf erheblichen Widerstand sowohl innerhalb Chiles als auch international, insbesondere seitens der USA, stieß. Am 11. September 1973 wurde Allende durch einen von General Augusto Pinochet angeführten Militärputsch gestürzt. Allende beging während des Angriffs auf den Regierungspalast angeblich Suizid.

Die anschließende Diktatur unter Pinochet dauerte bis 1990 und war geprägt von brutaler Unterdrückung, Menschenrechtsverletzungen und wirtschaftlicher Liberalisierung nach neoliberalen Prinzipien. Heute ist Chile eine stabile Demokratie, wenngleich die Gesellschaft weiterhin mit den Nachwirkungen der Diktatur und sozialen Ungleichheiten ringt.

Chile besitzt eine reiche literarische Tradition und hat zwei Literaturnobelpreisträger hervorgebracht: Gabriela Mistral (1945) und Pablo Neruda (1971). Isabel Allende, die Nichte von Salvador Allende, ist eine der bekanntesten zeitgenössischen Autorinnen des Landes. Sie ist durch Werke wie Das Geisterhaus, Die Geschichten der Eva Luna oder Paula international berühmt geworden. Die meisten ihrer Werke sind stark autobiografisch gefärbt. Meine Ausgabe von „Das Geisterhaus“ ist noch die original DDR-Ausgabe vom Aufbau-Verlag aus dem Jahr 1986 oder 1987 glaube ich (es steht tatsächlich kein Erscheinungsjahr im Buch) und wurde von Anneliese Botond übersetzt.

Die chilenische Küche ist geprägt von ihrer geografischen Lage: Fisch und Meeresfrüchte sind zentrale Bestandteile. Weitere traditionelle Gerichte sind empanadas, curanto (ein Eintopf aus Fleisch, Fisch und Gemüse). Wir haben versucht Empanadas zu basteln, aber irgendwie wollte es nicht klappen – daher gibt es dieses Mal leider Fotos aus der Pixabay-Konserve und nix selbstgekochten – ich gelobe Besserung! Gibt auch wirklich sehr selten chilenische Restaurants, oder?

Hier noch ein paar Fakten zu Chile:

  • Fläche: Chile ist etwa 756.000 km² groß, fast doppelt so groß wie Deutschland mit 357.000 km².
  • Einwohnerzahl: Chile hat etwa 19,5 Millionen Einwohner (Stand: 2023), deutlich weniger als Deutschland mit etwa 84 Millionen.
  • Bevölkerungsdichte: Mit etwa 25 Einwohnern pro km² ist Chile sehr dünn besiedelt, während Deutschland eine Bevölkerungsdichte von rund 235 Einwohnern pro km² aufweist.

Jetzt aber zu einem der wohl berühmtesten Romane des Landes: Isabel Allendes „Roman „Das Geisterhaus „(La Casa de los Espíritus, 1982) ist ein Meisterwerk des magischen Realismus und erzählt die Geschichte der Familie Trueba über vier Generationen hinweg. Der Roman verknüpft die persönlichen Schicksale der Figuren mit den politischen und sozialen Umwälzungen in einem fiktiven Land, das an Chile angelehnt ist.

Im Zentrum steht Esteban Trueba, ein patriarchaler, ehrgeiziger Großgrundbesitzer, dessen Leben und Handeln die Entwicklung der Familie prägen. Seine Ehefrau Clara, die über spirituelle Fähigkeiten verfügt, repräsentiert das Herz der Familie und den Kontrast zu Estebans Materialismus. Die Geschichte verfolgt die Schicksale ihrer Kinder und Enkelkinder, insbesondere ihrer Enkelin Alba, die sich in einer von politischen Unruhen geprägten Zeit für Gerechtigkeit und Freiheit einsetzt.

Der Roman schildert die zunehmende Politisierung der Gesellschaft, den Aufstieg einer sozialistischen Regierung (die an Salvador Allendes Präsidentschaft erinnert) und den darauffolgenden Militärputsch, der von einem brutalen Regime geprägt ist. Alba wird während der Diktatur verhaftet und gefoltert, überlebt jedoch durch ihre innere Stärke und die Hilfe ihres Großvaters Esteban, der schließlich Einsicht in seine Fehler gewinnt.

Das zentrale Thema des Romans ist der Konflikt zwischen Tradition und Wandel, zwischen persönlicher Schuld und gesellschaftlicher Verantwortung. Gleichzeitig steht die Familie als Mikrokosmos für die chilenische Gesellschaft, die in dieser Zeit durch tiefe Spaltungen geprägt war.

Der Putsch von 1973 und die anschließende Militärdiktatur unter Augusto Pinochet hatten einen direkten Einfluss auf Isabel Allende und ihr Schreiben. Viele der brutalen Ereignisse, die im Roman geschildert werden, spiegeln die politische Realität in Chile während und nach Salvador Allendes Präsidentschaft wider. Die Verhaftung und Folter Albas steht symbolisch für das Leid vieler Oppositioneller während der Diktatur. Allendes magischer Realismus dient dazu, die Verbindung zwischen individueller Erfahrung und historischen Prozessen auf eine poetische Weise auszudrücken.

Das Geisterhaus ist somit nicht nur eine Familiengeschichte, sondern auch ein literarisches Monument, das die Herausforderungen und Traumata einer ganzen Nation einfängt. Ein paar Jahre lang habe ich nahezu fanatisch jeden Roman gelesen, den Isabel Allende herausbrachte, aber irgendwann bin ich nicht nur aus ihr, sondern allgemein aus den lateinamerikanischen Romanen und dem Magic Realism herausgewachsen. Frau Allende ist aber nach wie vor eine großartige, spannende Frau und ich folge ihr gerne auf Instagram.

Auch wenn „Das Geisterhaus“ 1993 mit großer Starbesetzung verfilmt wurde, ist mein Film-Tipp für euch das Drama „Una Mujer Fantástica/A fantastic woman“ (Sebastián Lelio) der 2018 den Oscar für den besten fremdsprachigen Film erhielt und von Marina handelt, einer trans Frau, die nach dem plötzlichen Tod ihres Partners gegen Vorurteile und Diskriminierung kämpfen muss. Großartiger Film der einen ganz schön mit nimmt.

Musikalisch habe ich zwei Tipps für euch und zwar „Baikonur“ eine Post Rock Band aus Santiago die auch vor ein paar Jahren auf dem DUNK! Festival auftrat:

und die Trip Hop / Electronic Band Dënver, ein Duo das allerdings seit 2013 getrennt ist:

Kennt ihr das Geisterhaus oder andere Bücher von Isabel Allende? Habt ihr andere Lieblingsautor*innen aus Chile oder seid ihr vielleicht sogar schon mal dort gewesen? Könnt ihr es als Reiseland empfehlen? Was verbindet ihr mit dem Land? Bin sehr gespannt auf eure Rückmeldungen.

Danke schon mal für eure Rückmeldungen und ich werde auf die Kommentare auch noch separat eingehen. Fast hätte ich aber vergessen euch noch ein paar weitere Buchempfehlungen zu geben, denn ich habe ein paar richtig gute Bücher aus Chile gelesen. Hier meine Empfehlungen (außer dem Geisterhaus):

  • Maniac – Benjamin Labatut
  • When we cease to understand the world – Benjamin Labatut
  • Das Geisterhaus – Isabel Allende
  • Mit brennender Geduld – Antonio Skármeta