November Lektüre

Wieder ein wirklich hervorragender Lesemonat! Dieses Mal sogar noch besser als zuletzt – kein einziger Flop, nicht mal in Sichtweite. Alle Bücher lagen stabil zwischen 4 und 5 Sternen, und jedes einzelne hat mich auf ganz eigene Weise überrascht, bewegt oder begeistert. Würde ich mich für ein „Buch des Monats“ entscheiden müssen, wäre das fast unmöglich, denn die Qualität war durchgehend beeindruckend. Ein paar Favoriten kristallisieren sich trotzdem heraus, aber selbst da trennen sie nur Nuancen.

Hier die Bücher in alphabetischer Reihenfolge – los geht’s:

Balle, Solvej – Über die Berechnung des Rauminhalts II erschienen im Matthes & Seitz Verlag, übersetzt von Peter Urban Halle

If you know, you know. Wer einmal in diese seltsam klar leuchtende Zeitschleife geraten ist, den lässt sie nicht mehr los. Auch der zweite Band knüpft nahtlos an Tara Selters ewigen 18. November an ein Tag, der für alle anderen neu ist, nur für sie nicht. Und doch fühlt sich dieser Band anders an: ruhiger, wacher, fast schon meditativ.

Balle lässt Tara durch Europa ziehen, auf der Suche nach Jahreszeiten, die ihr verwehrt bleiben. Sie ahmt Feiertage nach, jagt Schneeflocken im Norden und Herbstlicht im Süden wie jemand, der verzweifelt versucht, seinem inneren Kalender zu glauben. Besonders stark ist, wie der Roman unsere fixen Erwartungen an Zeit, Wetter, Traditionen auseinandernimmt. Die Idee, dass Jahreszeiten psychologische statt meteorologische Phänomene sind?

Gleichzeitig schleicht sich ein dunklerer Ton ein: Tara als „Monster auf der Wanderschaft“, das die Welt verbraucht, weil nichts wieder aufgefüllt wird. Eine fast schon ökologische Parabel über Konsum, Spuren, Verantwortung – alles verdichtet in einem einzigen, endlosen Tag.

Es ist windstill, und ich denke, es muss die Stille sein, die mich weckt, die Abwesenheit der Geräusche. Das ist sicher so, weil es schneit, aber ich verstehe es nicht, denn wie kann der Schnee Geräusche dämpfen, wenn sowieso alles still ist.

Und dann wieder diese Momente, in denen Tara akzeptiert, dass ihre Zeit nicht fließt, sondern ein Raum ist ein Gefäß, in dem man sich einrichten kann. Vielleicht, weil wir alle unsere eigenen Räume in der Zeit haben, ob wir wollen oder nicht.Vielleicht ist das das Berührendste an diesem Band: die langsame, verletzliche Annäherung an ein Leben außerhalb des Bekannten.

Vielleicht brauchen wir Balle-Zeitreisenden irgendwann ein gemeinsames Erkennungszeichen, mit dem wir rund um die Erde den 18. November feiern. Ich weiß nur eines: Für die nächsten beiden bereits erschienenen Bände warte ich garantiert nicht wieder bis zum 18.11. ich will jetzt mit Tara weiterreisen. Seid ihr auch dabei?

Baltasar, Eva – Mammut erschienen im Schöffling Verlag, übersetzt von Petra Zickmann

Ein Buch wie ein Schlag in die Magengrube – es packt einen total und man weiß gar nicht genau warum, denn es ist roh, sperrig und unangenehm. Eva Baltasar wagt in Mammut etwas radikal Eigenes: Eine Protagonistin, die mit entwaffnender Klarheit weiß, was sie will und gleichzeitig jede Art von menschlicher Nähe verachtet. Zu ihrem 24. Geburtstag plant sie, durch einen One-Night-Stand schwanger zu werden; später flieht sie aus Barcelona, sie löst sich von der Stadt wie von einem alten, unpassenden Mantel um aufs Land zu fliehen, um endlich irgendetwas zu spüren.

Was dann passiert, ist bizarr, düster, manchmal fast satirisch und immer kompromisslos. Baltasar kreeirt eine Figur, die ihr Leben mit kühler Pragmatik in die Hand nimmt und dabei permanent an die Grenzen des Erträglichen stößt – und uns mitreißt, obwohl wir nie ganz greifen können, warum. Genau das macht diese Figur so faszinierend: freundlich und menschenverachtend zugleich, brutal ehrlich, verletzlich ohne Sentimentalität.

Aber: Mammut ist kein Buch für jeden. Die Gewaltszenen besonders die gegenüber Tieren – haben mich abgestoßen, also hier echt mal Trigger Warning. Baltasar zeigt Natur und Mensch als ungeschönt brutal, fern jeder romantischen Dorfidylle. Leben ist hier immer auch Sterblichkeit, ob im Altenheim oder zwischen Schafen, Gicht und Einsamkeit.

Ein verstörendes, eigenwilliges Buch und vielleicht darum ziemlich einzigartig. Es ist der dritte Teil einer Trilogie, die aber komplett unabhängig voneinander gelesen werden kann. Große Empfehlung mit kleinen Abstrichen. Bin auf die anderen beiden Bände „Boulder“ und „Permafrost“ schon sehr gespannt.

Ich danke dem Schöffling Verlag für das Rezensionsexemplar.

Eng, Tan Twan – The House of Doors auf deutsch unter dem Titel das Haus der Türen im Dumont Verlag erschienen, übersetzt von Michaela Grabinger

Auf Tan Twan Engs „The House of Doors“ hab ich mich schon lange gefreut und es hat mich umgehend gepackt mit einer leisen, fast hypnotischen Intensität, die einen unmerklich in eine andere Zeit und Welt zieht. Schon nach wenigen Seiten war ich mitten in der flirrenden Hitze Malaysias, konnte das Rascheln der Palmen hören und den Geruch von Regen und Meer beinahe spüren.

Ich habe eine besondere Schwäche für Romane, in denen Schriftsteller selbst zu Figuren werden – Geschichten über das Erzählen, über die Macht und die Verantwortung, die mit dem Schreiben einhergehen und genau das bietet The House of Doors auf meisterhafte Weise. Im Zentrum steht Lesley Hamlyn, die in den 1940ern auf einer Farm in Südafrika lebt und auf ihr früheres Leben im kolonialen Penang zurückblickt. Dort begegnet sie 1921 William Somerset Maugham „Willie“, der mit seinem Sekretär und Lebensgefährten Gerald Haxton reist. Maugham, 1874 in Paris geboren und einer der meistgelesenen britischen Autoren seiner Zeit, ist auf der Suche nach Geschichten, nach den feinen Rissen hinter den Fassaden menschlicher Beziehungen. Haxton begleitet ihn seit Jahren auf all seinen Reisen, ihre Beziehung bewegt sich zwischen tiefer Zuneigung, Abhängigkeit und dem permanenten Druck, ihre Liebe in einer Zeit der gesellschaftlichen Enge verbergen zu müssen.

Willie’s words had polished the lens through which I had always viewed my husband, and yet, at the same time, they shifted him slightly out of focus.

Tan Twan Eng beschreibt diese beiden mit einer Zartheit und Genauigkeit, die weit über bloße Hommage hinausgeht. Seine Beobachtungsgabe erinnert an Maugham selbst doch Eng nutzt die Perspektive der Kolonisierten, um die moralischen und kulturellen Bruchstellen dieser Welt offenzulegen. Lesley, gefangen zwischen Loyalität, Schuld und dem Wunsch nach Wahrheit, steht am Schnittpunkt dieser Spannungen. Das titelgebende „Haus der Türen“ ist dabei weit mehr als ein Schauplatz: Es ist ein Sinnbild für Erinnerung und Erzählung, für die unzähligen Türen, die wir im Leben öffnen oder verschlossen halten. Eng gelingt es, historische Begebenheiten die Begegnung mit dem Revolutionär Sun Yat-sen, den realen Mordfall Ethel Proudlock mit fiktionaler Raffinesse zu verweben, ohne den emotionalen Kern aus den Augen zu verlieren.

Der Roman liest sich wie ein fein komponiertes Musikstück, getragen von Melancholie, von der Schönheit des Vergehens und der Frage, wie aus Leben Literatur wird. Tan Twan Eng, selbst in Penang geboren, beweist einmal mehr sein Gespür für Atmosphäre, für leise Zwischentöne und das Unsagbare zwischen den Zeilen. Am Ende hat mich The House of Doors nicht nur berührt, sondern auch ganz schön neugierig gemacht – auf Maugham selbst, auf seine Romane, seine Kurzgeschichten und vor allem auf das faszinierende, widersprüchliche Leben eines Mannes, der wie kaum ein anderer wusste, dass jede Geschichte zwei Seiten hat: die erzählte und die verschwiegene.

Ich habe das Buch für den Bookclub und den „Read around the World“ Stopp in Malaysia gelesen.

Harpman, Jacqueline – I Who Have Never Known Men auf deutsch unter dem Titel Ich, die ich Männer nicht kannte im Klett-Cotta Verlag erschienen, übersetzt von Luca Homburg

Was für ein großartiges, wiederentdecktes Juwel aus den 1980er-Jahren. Der Roman folgt 40 Frauen, eingesperrt in einem Bunker, ohne irgendeine Erklärung weder für sie noch für uns. Unsere Erzählerin ist die Jüngste unter ihnen, aufgewachsen in Gefangenschaft, ohne Erinnerung an eine Welt davor. Und genau hier liegt die eigentliche Sprengkraft des Buches: Es verweigert sich jeder Form von Auflösung. Wer Antworten braucht, klare Strukturen, eine Art „Aha, deshalb“, wird hier garantiert scheitern. Aber wer bereit ist, durch die Finsternis zu gehen und sich vom Nichtwissen tragen zu lassen, wird mit einer Erfahrung belohnt, die einen noch lange verfolgt.

Trotz des dystopischen, beinahe außerweltlichen Settings ist „I Who Have Never Known Men“ zutiefst menschlich. Harpman stellt große Fragen, ganz ohne philosophisches Trommelwirbel:
Was macht uns eigentlich zu Menschen? Wie verändern sich Zeit, Erinnerung und Identität, wenn die Welt unverständlich wird?

Besonders faszinierend ist die Dynamik zwischen der Erzählerin und den anderen Frauen. Während die 39 Gefährtinnen noch ums Festhalten an früheren Leben ringen, kennt die Erzählerin diese Welt nur aus ihren bruchstückhaften Erinnerungen. Das macht sie analytischer, neugieriger und auf eine seltsame Weise freier. Die Beziehungen zwischen den Frauen, ihr ständiges Anpassen, ihr Zusammenwachsen und Zerfallen: Das alles wirkt gleichzeitig zart und gnadenlos.

I was forced to acknowledge too late, much too late, that I too had loved, that I was capable of suffering, and that I was human after all.

Und ja, das Buch ist düster. Richtig düster. The Road wirkt dagegen fast gemütlich. Harpman erspart uns jede Form von Trost. Keine Erklärungen, keine Erlösungen, keine epische Enthüllung am Ende. Nur die Frage, was bleibt, wenn alles, was wir für menschlich halten: Liebe, Nähe, Hoffnung einfach weg ist.

Die Stille in diesem Roman ist lauter als jedes World-Building. „I Who Have Never Known Men“ ist brillant, zutiefest verstörend, philosophisch – ein Roman mit einem letzten Satz, der einem quasi in die Magengrube haut.

Im Grunde könnte meine Rezension lauten: I who have never known a book like that.
Jacqueline Harpman ist eine Autorin die man unbedingt wiederentdecken sollte.

Hertmans, Stefan – Dius erschienen im Diogenes Verlag übersetzt von Ira Wilhelm

Es gibt Zufälle, die so schräg sind als wäre kurz ein Riss im Raum-Zeit-Kontinuum entstanden und man zweifelt, ob das Buch sich vielleicht ins echte Leben ausgedehnt hat. Während ich Stefan Hertmans’ „Dius“ las ein Buch, in dem Vittore Carpaccios Bilder eine recht zentrale Rolle spielen fand ich auf meinem täglichen Spaziergang mit der kleinen Gasthündin im offenen Bücherschrank ausgerechnet einen Bildband dieses Malers. Carpaccio, nicht da Vanci oder Michaelangeo, ein Maler, den man nun wirklich nicht an jeder Ecke erwartet. Plötzlich wurde aus einer ohnehin schon intensiven Lektüre ein kleines multimediales Erlebnis: Musik über die Playlist, die beim Diogenes-Zoom-Abend mit dem Autor empfohlen wurde, Hertmans’ Worte im Buch und dann diese Bilder, die direkt daneben aufschlugen und die mich wirklich sehr fasziniert haben.

Im Zentrum des Romans steht Anton, ein Kunsttheoretiker voller Sehnsucht, der oft eher beobachtet als handelt. Schon früh gibt es eine Szene, die sich ins Gedächtnis brennt: ein Autounfall, ein Hirsch, eine beinahe tödliche Bewegung. Hertmans schreibt das mit einer Intensität, die einen sofort in Antons Kopf zieht. An seiner Seite steht Dius, zunächst sein Student, dann sein Freund impulsiver, unmittelbarer, ein Künstler, der die Welt mit den Händen begreift. Zwischen den beiden entsteht eine enge, zugleich fragile Verbindung, getragen von Gesprächen über Kunst und Natur, aber auch von all dem, was unausgesprochen bleibt. Am Ende geht Dius nach Italien, Anton bleibt zurück – und die Lücke zwischen ihnen erzählt ebenso viel wie ihre gemeinsamen Jahre.


Hertmans verankert diese Freundschaft in einem alten Bauernhaus in den weiten Westflämischen Poldern, einer Landschaft, die wie ein Resonanzraum wirkt, Seine Naturbeschreibungen sind präzise und voller Zärtlichkeit, und immer wieder stellt der Text die Frage, wie man Schönheit überhaupt fassen kann – ob Sprache reicht, um zu vermitteln, was Kunst, Landschaft oder ein Mensch in uns auslösen können.

In solchen Momenten weiß ich warum Dius in mein Leben treten musste: weil wir beiden den Durst nach längst vergangenen Zeiten teilen, die uns durch die frühen Erinnerungen irgendwie in den Körper eingeschrieben sind und uns unbehaust werden lassen im Lärm unserer Gegenwart. Kultur ist etwas Unbegreifliches; das Höchste ist mit dem Abgründigsten verwandt, und voll all den Jahrhunderten voller Schmerz, Verzückung und Verwirrung bleibt uns am Ende nur diese himmlische Musik, bei der sich mein Herz vor Verlangen zusammenkrampft, während ich unter der leichten Daunendecke liege….


Anton, ist Kunsttheoretiker, der oft an den Rändern des Lebens entlanggleitet. Einer, der eher denkt als handelt, der seine Sehnsüchte und seine Melancholie mit sich herumträgt und im Gegensatz Ein Gegenpol, lebendig, impulsiv, handfest im besten Sinn. Er denkt nicht nur über Kunst nach, er greift nach ihr, verschmilzt mit Material und Werkzeug, ein Mensch, der mit seiner Umgebung in eine Art physischer Resonanz tritt. Zwischen den beiden entsteht eine Freundschaft, die nicht idyllisch ist, sondern vibrierend; eine Beziehung, in der Nähe und Verrat, Inspiration und Verletzlichkeit von Anfang an mitschwingen.

Gerade weil Dius kein klassisch plotgetriebenes Buch ist, wirkt das, was geschieht, umso intensiver. Hertmans schildert ein Leben, das von Verlust, Erinnerung und dem Bedürfnis nach Nähe geprägt ist aber auch von dem Versuch, sich über Kunst und die Betrachtung der Welt neu zu verorten. Durch die kunsthistorischen Exkurse, die Musik und die Naturbeobachtungen entsteht ein Geflecht, das gleichzeitig poetisch, scharf und berührend ist. Es ist ein Buch über das Sehen im wörtlichen wie im übertragenen Sinn. Dius hat mich sehr berührt, und als Nächstes wartet nun Hertmans’ Krieg und Terpentin auf mich. Danke an Susanne vom Diogenes Verlag für ihre treffsichere Empfehlung und natürlich an den Diogenes Verlag für das Rezensionsexemplar.

Dius war außerdem die Lektüre für meinen Read around the World Belgien Stop.

Kim, Monika – Das Beste sind die Augen erschienen im Kiepenheuer & Witsch Verlag, übersetzt von Jasmin Humburg

Ich hatte mich durchaus auf Horror eingestellt – aber was Monika Kim in diesem Debüt abliefert, hat meine Vorstellung doch noch mal ordentlich übertroffen. Es geht um die koreanisch-amerikanische Schülerin Ji-won, die versucht, ihre Familie zusammenzuhalten, während sie sich gleichzeitig durch alltägliche Mikroaggressionen, Fetischisierung und unterschwelligen Rassismus kämpft. Und irgendwo auf diesem Weg kippt etwas in ihr – langsam, aber unaufhaltsam.


Ji-won ist keine Karikatur und keine reine Horrorfigur, sondern eine vielschichtige, verletzte, wütende junge Frau die irgendwann einen Weg wählt, der definitiv ins Dunkle führt. Und ja, es geht um Augen. Um das Essen von Augen. Um eine Obsession, die eng mit dem neuen Freund ihrer Mutter zusammenhängt, einem weißen Mann, der die Familie so unverhohlen exotisiert, dass es einem schon beim Lesen unangenehm wird.

Stark fand ich die Stellen, in denen Kim zeigt, wie unterschiedlich Rassismus aussehen kann: Der offensichtliche, laute Typ wie George – aber auch die Sorte, die sich hinter vermeintlichem „Ich bin doch einer von den Guten“ versteckt. Diese leisen, schmierigen, hohlen Gesten, die sich erst später als echte Gefahr entpuppen.

Männer wie George sind nicht wie wir. Nicht wie ich, nicht wie Ji-hyun. Nicht einmal mein Vater, ein anderer Mann, kann George das Wasser reichen, da seine Macht nicht allein der Tastsache entspringt, dass er einen Penis hat. Sie basiert auf seiner weißen Haut. Für uns ist diese Art der Bestimmtheit und Selbstsicherheit unmöglich. Uns Mädchen wird von klein auf eingebläut, dass wir nachweislich weniger wert sind als unsere männlichen Zeitgenossen. Wir sind kleiner, schwächer, dümmer. Wenn wir Erfolg haben, dann nur, weil Männer es uns erlauben. Und als asiatische Frauen sind wir besonders machtlos und fremdartig, mit unserer vermeintlichen Porzellanhaut, der zierlichen Figur, der „Schlitzaugenpussy“ und dem ruhigen, unterwürfigen Naturell.

Allerdings wirken einige der Charaktere ziemlich schablonenhaft und bestimmte Wendungen waren schon früh vorhersehbar. Noch eine Warnung: wer empfindlich auf Splatter reagiert, sollte sich auf etwas gefasst machen. Einige Szenen gehen wirklich an die Grenze selbst mir wurde es zwischendurch mulmig und so ganz schnell geht das bei mir eigentlich nicht.

„Das Beste sind die Augen“ ist mutig, ungewöhnlich und wagt eine Perspektive, die man so selten liest. Ji-wons Abstieg ist verstörend, aber zugleich auch nachvollziehbar erzählt und weckt sogar stellenweise Mitgefühl. Und ganz ehrlich: Wenn wir seit Jahrzehnten empathisch erzählte Serienkiller-Stories über weiße Typen lesen, dann ist es absolut an der Zeit, dass auch andere Stimmen diesen Raum bekommen.

Ich danke dem Kiepenheuer & Witsch Verlag für das Rezensionsexemplar.

Toller, Ernst – Eine Jugend in Deutschland erschienen im Rowohlt Verlag

Ernst Toller war ein Mensch, der das Wort „Humanität“ nicht nur schrieb, sondern lebte. Geboren 1893 in Samotschin, aufgewachsen in einer bürgerlich-jüdischen Familie, erlebte er als junger Mann den Ersten Weltkrieg an der Front – ein Erlebnis, das ihn zutiefst prägte und zum Pazifisten machte. Aus dem patriotischen Studenten wurde ein Suchender, ein Zweifler, ein Kämpfer für eine gerechtere, menschlichere Welt.

Sein autobiographisches Werk „Eine Jugend in Deutschland“ ist nicht nur Erinnerungsbuch, sondern ein erschütterndes, poetisches Bekenntnis. Toller beschreibt darin den Weg eines sensiblen, idealistischen Menschen, der den Krieg als Wahn erkennt und im Chaos der Nachkriegszeit versucht, durch Mitgefühl und Phantasie politische Verantwortung zu übernehmen.

In München wird er einer der führenden Köpfe der Räterepublik – nicht aus Machtstreben, sondern aus der Hoffnung heraus, eine neue, menschlichere Gesellschaft zu schaffen. Sein Leitsatz bleibt unverrückbar:

Wir kämpfen für eine gerechtere Welt, wir fordern Menschlichkeit, wir müssen menschlich sein.

Doch die Geschichte war grausam zu denen, die zu früh zu viel wollten. Nach dem Scheitern der Räterepublik wird Toller wegen Hochverrats zu fünf Jahren Haft verurteilt. Die Bedingungen sind entsetzlich – Hunger, Kälte, Isolation –, und doch entstehen in dieser Dunkelheit einige seiner hellsten Texte. In der Zelle schreibt er Antikriegsstücke wie „Masse Mensch“ und das zarte, tröstende „Schwalbenbuch“.

Zwei Schwalben fliegen vor mein Gitter,
sie bauen ihr Nest an der grauen Wand.
Ich sehe sie, wie sie fliegen und singen,
und mein Herz fliegt mit ihnen hinaus.

Diese Zeilen fassen alles, was Toller ausmacht: die Sehnsucht nach Freiheit, das Vertrauen in das Leben, selbst dort, wo es keine Hoffnung zu geben scheint.

Als er 1924 entlassen wird, ist er erst knapp dreißig Jahre alt – durch die Haft aber gealtert, innerlich wie äußerlich. Bis zu seiner Ausbürgerung 1933 schreibt er mehrere Dramen, in denen er die Fragen nach Verantwortung, Gewalt und Mitgefühl unermüdlich weiterstellt.

Im Exil – zunächst in England, dann in den USA – verliert er alles: seine Heimat, seine Sprache, seine Freunde, und zuletzt den Glauben, noch etwas bewirken zu können. 1939, in einem New Yorker Hotelzimmer, beendet er sein Leben – verlassen, bettelarm, und, wie er glaubte, überflüssig geworden.

Es ist eine bittere Wahrheit, dass Ernst Toller nach dem Krieg in der Bundesrepublik kaum Anerkennung fand. Die Bühnen, die ihn hätten ehren sollen, schwiegen. Dabei ist er ein Autor, dessen Werk – getragen von moralischem Mut und poetischer Zärtlichkeit – heute aktueller ist denn je.

„Eine Jugend in Deutschland“ ist ein Vermächtnis. Es ruft uns in Erinnerung, dass Menschlichkeit auch in Zeiten der Verzweiflung möglich bleibt, dass Widerstand ohne Hass denkbar ist. Toller war ein Dichter, ein Politiker, ein Idealist – und vor allem: ein Mensch, von deren Format wir heute mehr denn je brauchen.

Was waren eure Highlights im November und konnte ich euch auf das eine oder andere Buch Lust machen? Freue mich auf eure Rückmeldungen.

Oktober Lektüre

Wieder ein wirklich guter Lesemonat! Kein Flop in Sicht – alle Bücher zwischen 3,5 und 5 Sternen, und jedes hat mich auf seine Art begeistert. Müsste ich mich für ein „Buch des Monats“ entscheiden, wäre das richtig schwer, aber mit minimalem Vorsprung ginge der Titel an „The Safekeep“ von Yael van der Wouten – ich kann einfach nicht aufhören, darüber nachzudenken. Ins Bild eingeschlichten hat sich Herr Toller, der gehört in den November, dafür fehlt Ex Libris von Anne Fadiman und Martyr! habe ich als Hörbuch gehört.

Die Vorstellung der einzelnen Titel folgt keiner besonderen Reihenfolge:

Martyr! – Kaveh Akbar auf deutsch unter dem Titel Märtyrer! im Rowohlt Verlag erschienen, übersetzt von Stefanie Jacobs

Martyr! ist ein Romandebüt: intensiv, sprachlich präzise und voller Fragen, die einen lange beschäftigen.
Der Roman erzählt von Cyrus, einem jungen Dichter, der mit seiner Sucht, seiner Depression und seinem Platz in der Welt ringt. Er sucht nach Bedeutung – in seiner Kunst, in der Erinnerung an seine Eltern, im Leben selbst – und manchmal auch im Tod.

Akbar schreibt mit schneidender Klarheit, in der jeder Satz sorgfältig gebaut wirkt, rhythmisch und voller Poesie. Man merkt, dass er aus der Poesie kommt: geboren im Iran, aufgewachsen in den USA, bekannt für seine Lyrikbände „Calling a Wolf a Wolf“ und „Pilgrim Bell“, in denen er ähnliche Themen verhandelt – Sucht, Sprache, Herkunft, Glauben. In seinem Prosadebüt verdichtet sich all das zu einer eindringlichen, klugen und sehr persönlichen Erzählung über Identität.

Eight of the ten commandments are about what thou shalt not. But you can live a whole life not doing any of that stuff and still avoid doing any good. That’s the whole crisis. The rot at the root of everything. The belief that goodness is built on a constructed absence, not-doing. That belief corrupts everything, has everyone with any power sitting on their hands.


Cyrus lebt in Indiana, zwischen Kulturen, Sprachen und Lebensentwürfen. Seine Mutter starb, als ein iranisches Passagierflugzeug von der US-Regierung abgeschossen wurde; sein Vater zerbrach an einem Leben in der amerikanischen Arbeitswelt; sein Onkel war wortwörtlich der Tod – in den Diensten des iranischen Militärs. Zwischen diesen Biografien und Brüchen stellt sich Cyrus die großen Fragen: Wie iranisch ist man, wenn man in den USA aufgewachsen ist? Wie amerikanisch, wenn man anders aussieht, heißt, glaubt? Und wie frei ist man, wenn man als queerer Mann ständig zwischen Sichtbarkeit und Anpassung balanciert?

Was mich besonders berührt hat, war, wie Akbar Trauer und Erinnerung ineinanderfließen lässt. Es gibt eine Szene, in der Cyrus durch die Stadt läuft und um seine Mutter trauert – leise, unspektakulär, aber voller Schmerz und Zärtlichkeit. Die hat mich total gepackt.

Nicht alles funktioniert gleich gut: Das Ende wirkt etwas zu konstruiert, manche Wendungen zeichnen sich früh ab, und die vielen Traumsequenzen waren mir persönlich zu viel. Aber das alles fällt kaum ins Gewicht, weil der Roman sprachlich so eindringlich, so lebendig und so unverstellt ist.

Martyr! ist kein perfektes Buch – aber eines, das wirklich etwas wagt. Es sucht nach Bedeutung inmitten von Chaos, und genau darin liegt seine Schönheit.

The Safekeep – Yael van der Wouten auf deutsch unter dem Titel „In ihrem Haus“ im Gutkind Verlag erschienen, übersetzt von Stefanie Ochel

Es gibt Bücher, die irgendwie leise daher kommen, sich ganz langsam entfalten – und einen dann völlig überraschen. The Safekeep von Yael van der Wouden war für mich genau so ein Buch: leise, konzentriert, präzise, und plötzlich von einer Wucht, die man nicht kommen sieht. Schon nach wenigen Seiten war klar, dass hier keine gewöhnliche Familiengeschichte erzählt wird, sondern ein vielschichtiges Spiel aus Erinnerung, Schuld und Begehren. In mehrfacher Hinsicht ist dieses Buch etwas Besonderes: Es ist das Debüt der niederländischen Autorin Yael van der Wouden, es wurde ursprünglich auf Englisch verfasst, und sie ist damit die erste niederländische Autorin, die es auf die Shortlist des Booker Prize geschafft hat. Yael van der Wouden wurde 1987 geboren und wuchs in den Niederlanden auf. Sie hat einen israelisch-niederländischen Hintergrund, studierte Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Utrecht und an der Binghamton University in den USA.

Die Handlung führt in die niederländische Provinz Overijssel, in den Sommer 1961. Isabel lebt dort allein in dem Haus ihrer verstorbenen Mutter, umgeben von Dingen, die in penibler Ordnung verharren. Alles ist still, geregelt, kontrolliert – ein Leben, das sich in Ritualen und Routinen festhält. Als ihr Bruder Louis mit seiner neuen Freundin Eva auftaucht und für den Sommer bleibt, gerät dieses fragile Gleichgewicht ins Wanken. Eva ist das genaue Gegenteil von Isabel: lebendig, neugierig, körperlich. Sie bewegt sich durch das Haus, öffnet Türen, betritt Räume, die Isabel lieber verschlossen gehalten hätte. Zwischen den beiden Frauen entsteht eine Spannung, die sich kaum benennen lässt – eine Mischung aus Abwehr, Begehren und schleichender Bedrohung. Was anfangs wie eine stille Familiengeschichte beginnt, entwickelt sich zu einem psychologisch dichten Drama, in dem Schuld, Erinnerung und Verdrängung untrennbar miteinander verwoben sind. Und dann kommt eine Wendung, so unerwartet und doch so konsequent, dass man das Buch für einen Moment zuschlagen möchte, um durchzuatmen.

She thought: I can hold you and find that I still miss your body. She thought: I can listen to you speak and still miss the sound of your voice.

Was mich an The Safekeep besonders beeindruckt hat, ist die Art, wie Yael van der Wouden Atmosphäre erzeugt. Sie braucht keine spektakulären Szenen oder großen Gesten. Das Unheimliche wächst in der Stille, im Zögern, in einem Blick, der zu lange dauert. Das Haus wird zur Bühne der inneren Zersetzung, ein Ort, an dem Vergangenheit und Gegenwart unmerklich ineinanderfließen. Man spürt in jedem Satz die Spannung zwischen Kontrolle und Kontrollverlust. Van der Wouden schreibt in einer klaren, präzisen Sprache, die an niederländische Stillleben erinnert – jede Bewegung, jedes Detail scheint festgehalten, bis man merkt, dass etwas im Bild verrutscht.

Auch thematisch bewegt sich der Roman auf mehreren Ebenen zugleich. Die familiäre Enge und das unausgesprochene Trauma verweisen auf eine größere historische Dimension: die Nachkriegszeit, die Schatten der Kollaboration, das Schweigen über Schuld. Diese Themen sind nie plakativer Hintergrund, sondern fließen in die private Geschichte ein – in die Art, wie Isabel Dinge ordnet, wie sie mit Erinnerungen ringt, wie sie versucht, das Unheimliche zu bannen. In dieser Verbindung von psychologischer Genauigkeit und geschichtlicher Tiefe liegt für mich die große Stärke des Romans.

Besonders die überraschende Wendung am Ende verleiht der Geschichte eine neue Perspektive, ohne den Zauber oder die Ambivalenz der Figuren aufzulösen. Sie zwingt einen, das Gelesene noch einmal neu zu betrachten, mit anderen Augen.

The Safekeep ist ein außergewöhnliches Debüt – eines, das sowohl literarisch anspruchsvoll als auch emotional tief berührend ist. Es ist ein Roman über Ordnung und das Chaos darunter, über Begehren, das sich nicht benennen lässt, über das, was ein Haus bewahrt, und das, was darin verloren geht. Wer sich auf diese stille, intensive Geschichte einlässt, wird reich belohnt. Für mich zählt sie jetzt schon zu meinen Lieblingsbüchern dieses Jahres.

The Knife – Salman Rushdie unter dem Titel „Knife – Gedanken nach einem Mordversuch“ im Penguin Verlag erschienen, übersetzt von Bernhard Robben

Knife ist weit mehr als eine autobiografische Nacherzählung des furchtbaren Messerattentats auf Salman Rushdie, das ihn im August 2022 während einer Lesung in Chautauqua beinahe das Leben kostete und tragischerweise ein Auge kostete. Knife ist eine Meditation über Verletzlichkeit, Sprache und Überleben – ein Buch über das Weiterleben und das Weiterschreiben nach der Gewalt. Es ist sicherlich Rushdies persönlichstes Buch.

Seine Waffe ist nicht das Messer, sondern das Wort. „Language, too, was a knife“, schreibt er, „it could cut open the world and reveal its meaning.“ Und genau das tut er: Er seziert das Erlebte, die Angst, die Hilflosigkeit, aber auch die Wut, den Trotz und die ungebrochene Liebe zum Leben.

Das Buch ist schonungslos ehrlich, manchmal erschütternd körperlich. Rushdie erzählt, wie der eigene Körper nach einem solchen Angriff entprivatisiert wird, wie er in den Händen von Ärzten, Pflegern, Therapeuten liegt und plötzlich nur noch Objekt ist – und wie mühsam der Weg zurück zur Autonomie, zur Sprache und zur eigenen Identität ist.

Hier schreibt kein Oper, sondern ein Überlebender, der die Deutungshoheit über sein Leben und seine Geschichte zurückfordert. Rushdie verweigert dem Täter jede namentliche Nennung, er nennt ihn nur „the A“ – eine bewusste Geste der Entmachtung. In fiktiven Dialogen konfrontiert er seinen Angreifer mit dessen eigenen Ängsten und seiner stupiden Naivität. Rushdie lässt sich das Geschehen nicht von außen diktieren sondern verwandelt es in Literatur er eignet es sich an, um weiter existieren zu können.

Knife ist ein Buch über Mut – und über die Unmöglichkeit, zu schweigen. Das Buch schwankt zwischen Schmerz und Ironie, Pathos und Lakonie, aber immer bleibt es zutiefst menschlich. Und wer Rushdie einmal live erlebt hat, der spürt diesen Ton sofort. Ich erinnere mich noch gut an seine Lesung im Münchner Cuvilliés-Theater im Jahr 2015, nur wenige Tage nach den fürchterlichen Anschlägen des IS.

Art is not a luxury. It stands at the essence of our humanity, and it asks for no special protection except the right to exist.

Rushdie sprach damals darüber, dass er aus einer nichtreligiösen Familie komme und sich in den Sechzigerjahren niemals hätte vorstellen können, eines Tages Romane über Religion zu schreiben. Aber die Welt, sagte er, habe sich verändert, das Thema sei zu groß geworden, um es zu ignorieren. „Nicht nachgeben, keinen Zentimeter“, war seine Botschaft. „Wir müssen unser Leben weiterleben wie vorher und unsere Freiheit genießen und ausleben.“

Diese Haltung zieht sich auch durch Knife: das entschlossene „Weiterleben“, selbst wenn der Körper versehrt ist, selbst wenn die Angst real bleibt. Rushdie hält es – wie er damals sagte – „ganz mit Charlie Hebdo: Ihr habt die Waffen, aber wir haben den Champagner.“

Es ist dieser unerschütterliche Glaube an die Kraft der Kunst, der dieses Buch so stark macht.

Rushdie verwandelt das Messer, das ihn treffen sollte, in ein Symbol der Sprache. Er sticht nicht zurück, sondern öffnet das, was viele lieber verdrängen würden: die Angst, den Hass, die Gewalt, aber auch die unzerstörbare Möglichkeit des Menschen, sich durch Erzählung selbst zu heilen. Am Ende aber bleibt die Erkenntnis, dass Freiheit, Würde und Sprache nicht verhandelbar sind. Knife ist kein einfaches Buch, aber ein sehr wichtiges – und für mich ein bewegendes Zeugnis dafür, was es heißt, ein freier Mensch zu sein. Ich fand es wirklich gut.

Muttermale – Dagmar Leupold erschienen im Jung und Jung Verlag

Dagmar Leupold schenkt uns und sich zu ihrem 70. Geburtstag kürzlich – einen Roman von großer sprachlicher Schönheit und stiller Wucht. Muttermale, für den sie auch für den Bayerischen Buchpreis nominiert ist, ist kein klassisch erzähltes Buch, sondern ein fein komponiertes Erinnerungsgewebe. In fragmentarischen Miniaturen nähert sich Leupold dem Leben ihrer Mutter, einer Frau, deren Biografie von der Flucht aus Ostpreußen, vom Ankommen im Westen und vom leisen Beharren auf Würde geprägt ist.

Die Autorin rekonstruiert dieses Leben nicht linear, sondern tastend, suchend, in leisen Andeutungen. Zwischen Andenken, Briefen, Fotos und Erinnerungssplittern entfaltet sich das Porträt einer Generation, die gelernt hat, zu überleben – und zu schweigen. Eine Mutter die es der Tochter nicht immer einfach machte sie zu lieben. Im Versuch, die Mutter zu verstehen, wird zugleich die Frage nach der eigenen Herkunft, nach der genealogischen und emotionalen Vererbung gestellt: Was bleibt von unseren Eltern in uns zurück, welche Spuren tragen wir weiter – und welche möchten wir am liebsten tilgen? Das titelgebende Muttermal wird so zu einem poetischen Symbol für all das Unauslöschliche, das uns prägt.

Leupolds Sprache ist von einer fast musikalischen Präzision: reduziert, poetisch, nie pathetisch, immer aufmerksam für die Zwischentöne. Jeder Satz scheint sorgsam geschliffen, jede Beobachtung von einer zärtlichen Genauigkeit getragen.

Ein bei Tageslicht nicht zu erreichender Aggregatzustand trat ein: Die Seelenruhe. Im Schlaf hast du deine Tochter womöglich sogar gerngehabt.

Ein ganz eigener Reiz war für mich: Die Familie lebte in Mainz – und viele der beschriebenen Orte, Straßen und Lokale kenne ich gut. Das Wiedererkennen, vertrauter Orte war ein besonderer Bonus und hat der Lektüre für mich eine zusätzliche Tiefe verliehen.

Muttermale ist ein leises, zugleich eindringliches Buch über Erinnerung, Verlust und die Unausweichlichkeit von Herkunft. Ein Roman, der sich nicht aufdrängt, der aber nachklingt und bleibt. Ich drücke Dagmar Leupold fest die Daumen für den Bayerischen Buchpreis – verdient hätte sie ihn allemal und jetzt schau ich mir mal ihre anderen Werke an.

Ich danke dem @jung.und.jung Verlag sehr für das Rezensionsexemplar und hätte gern ein Glas auf Frau Leupold zum Gewinn des Bayrischen Buchpreises erhoben, das sollte leider nicht sein, aber für mich ist sie definitiv die Gewinnerin 🙂

Pompeijs letzter Sommer – Gabriel Zuchtriegel erschienen im Propyläen Verlag

Schon mit „Der Zauber des Untergangs“ hat Gabriel Zuchtriegel es geschafft, die Lebendigkeit und die ewige Faszination dieser untergegangenen Stadt einzufangen – so sehr, dass man sich beim Lesen fühlt, als würde man selbst durch die Straßen laufen.

Ich bin seit meiner Kindheit von Pompeji fasziniert – seit ich mit meinem Opa als Sechsjährige ein Buch über die Stadt angeschaut habe. Nach der Lektüre Ich muss da hin. Letztes Jahr hat es endlich geklappt – und „Pompejis letzter Sommer“ hat mich beim Lesen sofort wieder dorthin zurückversetzt.

Zuchtriegel nimmt uns mit in das Jahr 79 n. Chr., in ein Pompeji kurz vor der Katastrophe – lebendig, laut, voller Gegensätze. Eine Stadt, in der unfassbar Reiche in prachtvollen Villen lebten, deren Luxus auf der Arbeit von Sklaven basierte, die unter härtesten Bedingungen schuften mussten. Diese Spannung zwischen Glanz und Elend, Freiheit und Abhängigkeit, fängt Zuchtriegel wirklich gut ein. Man spürt das Brodeln unter der Oberfläche, nicht nur geologisch, sondern auch gesellschaftlich.

Das Christentum führte weder zum Untergang des römischen Reiches noch zur Abschaffung der Sklaverei. Viel mehr leben beide in wechselnder Gestalt weiter: Wir leben in einem „Imperium“, nur, das heute anstelle des Kaisers die Logik von Weltbank und WTO regiert. Genozid, Folter und moderne Formen der Sklaverei, prägten das koloniale Zeitalter und existieren, weitgehend aus dem Blickfeld der Industriestaaten verdrängt, nach wie vor in mannigfaltiger Form in der sogenannten dritten Welt. Kleidungsstücke, die wir tragen, Lebensmittel, die wir essen, werden unter sklaven-ähnlichen Bedingungen hergestellt. Von einem christlichen Sklavenaufstand in der Geschichte des Westens zu sprechen, ist Augenwischerei (Kehinde Andrews)

Besonders spannend fand ich, wie er zeigt, dass Pompeji nicht nur physisch am Rand des Untergangs stand, sondern auch geistig in einer Umbruchzeit war. Immer mehr Menschen begannen, an den alten Götterglauben zu zweifeln, und wandten sich einer „seltsamen kleinen Sekte“ zu – den frühen Christen. Zuchtriegel beschreibt diesen Wandel sehr eindrücklich: Wie eine Gesellschaft, die jahrhundertelang auf die Macht der römischen Götter vertraute, langsam ihren Halt verliert und sich nach neuen Antworten sehnt. Das hat für mich etwas sehr Zeitloses – denn auch heute erleben wir ähnliche Brüche im Denken und Glauben, wenn alte Gewissheiten bröckeln und Menschen neue Formen von Sinn suchen.

Was mir an Zuchtriegels Stil gefällt ist seine ansteckende Leidenschaft, er schreibt mit einem Gespür für Atmosphäre und Menschlichkeit. Man hört förmlich das Leben in den Straßen, das Rufen der Händler, das Lachen in den Thermen – und gleichzeitig spürt man das nahende Ende. Dieses Gefühl eines „letzten Sommers“ zieht sich wie ein feiner Schatten durch das Buch.

Natürlich hätte ich mir an manchen Stellen noch ein bisschen mehr wissenschaftlichen Tiefgang gewünscht, aber Zuchtriegel gelingt etwas, das nur wenige schaffen: Er verbindet Fachwissen mit echter Erzählkunst. Pompejis letzter Sommer ist nicht einfach ein Archäologie-Buch, sondern eine Reflexion über das Menschsein – über Macht, Glaube, Vergänglichkeit und die Suche nach Sinn.

Für mich ist es ein Buch, das man nicht nur liest, sondern erlebt. Es hat mich wieder an meinen eigenen Besuch erinnert – an dieses besondere Gefühl, durch eine scheinbar tote Stadt zu gehen, in der doch noch so viel Leben steckt. Ich würde Pompejis letzter Sommer mit 4,5 von 5 Sternen bewerten, mit klarer Tendenz nach oben. Ein faszinierendes, kluges und bewegendes Buch über eine Stadt, die uns mehr über uns selbst erzählt, als man auf den ersten Blick denkt.

Ich danke dem Propyläen Verlag für das Rezensionsexemplar.

Salt Slow – Julia Armfield auf deutsch unter dem Titel „Salzsirenen“ im Kommode Verlag erschienen, übersetzt von Hannah Pöhlmann

Nach „Our Wives Under the Sea“, das schon vor zwei Jahren eines meiner absoluten Lieblingsbücher war, zeigt Julia Armfield mit Salt Slow, wo ihre literarischen Wurzeln liegen: in einer Welt, in der das Körperliche und das Unheimliche untrennbar ineinandergreifen.

Diese Geschichten sind seltsam, schön, beunruhigend – eine wunderbare Mischung aus queerem Body Horror, Mythen und Magic Realism. Armfield schreibt über Frauenkörper, über Verwandlung und Zerfall, über die feinen Risse zwischen Intimität und Bedrohung. Ihre Protagonistinnen häuten sich, wachsen zu etwas Neuem heran oder zerfallen langsam – und all das wirkt gleichzeitig grotesk und zutiefst menschlich.

Was mich an Armfields Schreiben so fasziniert, ist ihr Blick für das Unheimliche im Alltäglichen. Eine Beziehung, ein Körper, ein gewöhnlicher Tag – und plötzlich kippt alles in etwas Dunkles, Schillernd und traumgleich, das man kaum greifen kann. Dabei bleibt ihre Sprache elegant, präzise, fast zärtlich in ihrer Beschreibung des Schreckens. Und immer wieder blitzt ein beißender, sehr britischer Humor auf, der das Morbide sehr reizvoll macht.

The sky is gory with stars, like the insides of a gutted night


Salt Slow erinnert an Autorinnen wie Shirley Jackson oder Mariana Enríquez, und doch ist Armfields Ton unverkennbar eigen: zugleich kühl und emotional, distanziert und tief berührend. Jede Geschichte öffnet eine kleine Welt für sich, seltsam und vollkommen – und ich wollte, sie würden nie enden.

Ein brillantes, düsteres Debüt, das zeigt, wie poetisch, queer und wunderschön Horror sein kann.

Die Wut ist ein heller Stern – Anja Kampmann erschienen im Hanser Verlag

Als ich Anja Kampmann beim Erlanger Poetinnenfest aus „Die Wut ist ein heller Stern“ lesen hörte, war ich sofort hin und weg, Buch gekauft und auch noch eine sehr schöne Signatur bekommen. Und dann lag es da, schön und verheißungsvoll, und ich merkte schnell: leicht wird das nicht. Ich brauchte mehrere Anläufe, habe es immer wieder zur Seite gelegt, bin zurückgekehrt, habe mit ihm gerungen. Ein Buch wie ein Boxkampf – aber einer, den ich unbedingt gewinnen wollte. Und ich bin froh, dass ich drangeblieben bin, denn am Ende hat sich jeder Schlagabtausch gelohnt.

Der Roman erzählt von Hedda, einer Artistin im Varieté „Alkazar“ auf der Reeperbahn Anfang der 1930er Jahre. Sie balanciert nicht nur auf dem Seil, sondern auch im Leben, während um sie herum die Welt kälter wird. Ihr Bruder Jaan zieht als Harpunenschmied in die Antarktis, ihr kleiner Bruder Pauli ist kränklich und verletzlich. Als die Nazis die Macht iübernehmen, verändert sich der Kiez gravierend. Heddas Freunde, die in kommunistischen Sportgruppen aktiv sind, werden verhaftet und ermordet.

Langsam zieht sich das Netz der politischen und gesellschaftlichen Veränderungen zu. Die Schutzräume werden weniger, die Lichter im Varieté flackern, während draußen Uniformen auftauchen. Man merkt Anja Kampmann sofort an, dass sie aus der Lyrik kommt. Ihre Sprache ist dicht, manchmal kühl mehr spürbar als erklärbar.

Es gibt Passagen, die unfassbar schön sind, und andere, in denen ich schlicht nicht wusste, was gemeint war. Dieses ständige „Rita?“ – ich habe mich oft gefragt, warum, bis ich irgendwann aufgehört habe, alles verstehen zu wollen. Als ich mich der Stimme einfach hingegeben habe, mich tragen ließ, statt zu analysieren, wurde es plötzlich leichter.

Die Rita macht weiter, streckt sich so schön. Es ist warm. Samstagnacht, das Alkazar gut besucht. Schsch. Da ist dieses Glimmen im Auge des Kaiman. Eddy und Fred, die sonst so betäubt auf der Bühne liegen, sind hellwach, in ihren Augen ein seltsamer Glanz. Der Keiler ist wach. Da schwingt sie, die Rita, und die sich regen könnte, die spricht, ist irgendwo verborgen.

Kampmann schreibt keinen klassischen Roman, sie malt mit Worten, baut Räume aus Schweigen, Zwischenräumen, Blicken. Ihre Figuren sprechen in Andeutungen, ihre Sätze sind wie Seile, an denen man sich festhalten – oder verheddern – kann. Die Poetik ist kühl, aber nicht distanziert; sie hat eine fast körperliche Präsenz, die unter die Haut geht.

Die Wut ist ein heller Stern ist kein Buch, das man einfach so liest. Man muss sich darauf einlassen, sich in den Ring stellen, bereit sein, auch mal K.O. zu gehen – aber dann steht man wieder auf und liest weiter. Ich kann sehr gut verstehen, dass der Roman auf Platz 1 der SWR-Bestenliste steht. Er ist kompromisslos, sprachlich brillant, tief durchdacht. Aber definitiv keine Massenware. Wer einfach eine Geschichte „weglesen“ will, wird scheitern. Wer sich aber gern auf eine sprachliche Erfahrung einlässt, die fordert und berührt, der wird belohnt.

Ex Libris. Confessions of a Common Reader – Anne Fadiman auf deutsch unter dem Titel „Bekenntnisse einer Bibliomanin“ im Diogenes Verlag erschienen, übersetzt von Melanie Walz

Dieses Buch habe ich von einer lieben Bookclub-Freundin geliehen bekommen – und schon nach ein paar Seiten wusste ich: Anne Fadiman ist eine von uns. In fünfzehn kleinen Essays schreibt sie über das Leben mit (und manchmal auch wegen) Büchern – über zerlesene Ausgaben, über das Glück, Randnotizen zu hinterlassen, und über die Eigenheiten all jener, die sich zwischen Regalen am wohlsten fühlen. Besonders der erste Essay, “Marrying Libraries”, hat mich herrlich amüsiert: wie unterschiedlich zwei bücherverrückte Menschen mit ihren Lesewelten umgehen und wie emotional so ein gemeinsames Bücherregal werden kann! (es kam mir alles sehr bekannt vor ;))

Ich habe mich in vielem wiedergefunden – und war gleichzeitig froh zu merken, dass es offenbar Menschen gibt, die noch ein bisschen buchverrückter sind als ich. Dann wirkt die eigene Manie gleich ganz normal dagegen.

Fadiman, 1953 geboren, Essayistin, Redakteurin und bekennende Bibliomanin, schreibt mit Witz, Wärme und einem feinen Sinn für die kleinen Absurditäten des Lesens. Ex Libris ist charmant, klug und einfach herzerwärmend – und ja, es hat meine Leseliste natürlich verlängert. Mit Blick auf das bald nahende Weihnachtsfest: ein wunderbares Geschenk für alle, die Bücher nicht nur lesen, sondern leben.

So meine Lieben – das war mein Oktober. Wie war eurer? Was habt ihr gelesen und besonders gemocht? Konnte ich euch mit einem meiner Titel Lust auf die Lektüre machen? Freue mich über euer Feedback.

September Lektüre

Der September ist einer meiner Lieblingsmonate – und auch literarisch war er in diesem Jahr ein voller Erfolg. Besonders geprägt war er vom Erlanger Poetinnenfest, wo ich gleich mehreren der Autor*innen meiner diesmonatigen Lektüren begegnet bin: Ulrike Draesner, Fikri Anıl Altıntaş und Dimitrij Kapitelman. Insgesamt habe ich neun Bücher gelesen – ein wahrer literarischer Roadtrip.

Meine Lektürereise führte mich quer durch Zeiten und Kontinente: nach Mexiko, durch die USA an der Seite von John Steinbeck und seinem Königspudel Charley, bis hinaus aufs Meer, wo Penelope vor Ithaka in See sticht – und ich gleich dortgeblieben bin, denn auch Richard Powers’ „Das große Spiel“ spielt zu weiten Teilen im Ozean. Mit Dimitrij Kapitelman und Fikri Anıl Altıntaş habe ich zudem zwei besondere Familiengeschichten gelesen, die auf sehr unterschiedliche, aber gleichermaßen berührende Weise von Herkunft und Identität erzählen.

Ein wirklich guter Monat also – vielfältig, nachdenklich, manchmal melancholisch, oft überraschend. Hier kommt nun meine Septemberlektüre im Detail: Bücher, die ich euch wärmstens ans Herz legen möchte.

Ulrike Drasener – penelopes sch()iff erschienen im Penguin Verlag

Dieser Roman in Versform hat mich sehr begeistert und ich habe ihn hier vor Kurzem bereits besprochen.

Travels with Charley – John Steinbeck auf deutsch unter dem Titel „Die Reise mit Charley: Auf der Suche nach Amerika“ in dtv Verlag erschienen, übersetzt von Burkhart Kroeber

Dieses Buch wurde mir von einer lieben Freundin schon vor einer ganzen Weile empfohlen und endlich komme ich dazu, ihrem guten Tipp zu folgen: Selten hat mich ein Buch so sehr dazu gebracht, sofort den Koffer zu packen und einfach loszufahren. Dieses Buch hat in mir ein Fernweh geweckt, das zugleich Freiheit, Abenteuer und Lust auf stille Begegnungen macht. Ganz ohne großes Pathos, ganz ohne literarische Verrenkungen – einfach durch Steinbecks Blick, seine Sprache, seinen Ton.

Worum geht es? 1960, schon ein berühmter und reifer Autor, macht sich Steinbeck auf, sein eigenes Land noch einmal neu zu erkunden. Er will die Vereinigten Staaten nicht aus der Distanz der Zeitungen und Fernseher sehen, sondern mit eigenen Augen und Ohren erleben. Dazu lässt er sich ein Gefährt bauen, das er liebevoll Rocinante nennt, nach Don Quijotes klapprigem Pferd. Mit an Bord: Charley, ein französischer Pudel, der nicht nur Begleiter, sondern fast so etwas wie Gesprächspartner und Spiegel ist. Gemeinsam ziehen sie los, durch Neuengland, den Mittleren Westen, die Weiten Montanas, die Städte und Sümpfe des Südens.

I have always lived violently, drunk hugely, eaten too much or not at all, slept around the clock or missed two nights of sleeping, worked too hard and too long in glory, or slobbed for a time in utter laziness. I’ve lifted, pulled, chopped, climbed, made love with joy and taken my hangovers as a consequence, not as a punishment

Es ist eine Reise voller kleiner Begegnungen: Tankwarte, Farmer, Verkäuferinnen, Städter. Steinbeck hört zu, fragt nach, beobachtet – und hat ein unglaubliches Talent, die Geschichten dieser Menschen in ein paar Seiten lebendig werden zu lassen. Dabei klingt er nie gönnerhaft, nie belehrend. Er schaut hin, er beschreibt, und man spürt seine große Zuneigung zu den Menschen, so unterschiedlich sie auch sind.
Genauso eindringlich sind seine Naturbeschreibungen. Wenn Steinbeck durch die Wälder von Maine fährt oder die Ebenen der Dakotas durchquert, dann spürt man diese Landschaften beim Lesen. Er schreibt klar, ungekünstelt, aber immer poetisch – so, dass man glaubt, man säße selbst auf dem Beifahrersitz, mit Charley im Rückspiegel.

Natürlich hat die Reise auch dunkle Seiten. Besonders im Süden stößt Steinbeck auf offene Rassentrennung und Proteste gegen die Integration. Seine Notizen dazu sind von einer Schärfe, der man seine Wut dagegen anmerkt. Er will nicht einfach nur reisen, er will verstehen. Er konfrontiert sich mit dem, was weh tut, und genau darin liegt die Ehrlichkeit dieses Buches.

Travels with Charley ist nicht nur eine Reise durch Amerika, sondern auch eine Reise ins Innere – ein Buch über Begegnungen, Landschaften, Politik, Alltag, über die Sehnsucht nach Freiheit und das Bedürfnis nach Nähe. Vor allem aber ist es ein stilles, wunderschönes Plädoyer dafür, sich immer wieder neu aufzumachen, mit offenen Augen und offenen Ohren.
Ein Buch, dass es auf Rezept geben sollte, da es garantiert Blutdruck senkende und stressmindernde Qualitäten hat. Vertraut mir und lest dieses Buch 😊

The Illiac Crest – Cristina Rivera Garza erschienen im Verlag And Other stories, übersetzt von Sarah Booker (eine deutsche Übersetzung gibt es bislang nicht) und Die Schwerelosen – Valeria Luiselli erschienen im Kunstmann Verlag, übersetzt von Dagmar Ploetz

Diese beiden Bücher habe ich für meine Mexiko Stopp auf der literarischen Weltreise gelesen und meinen Eindruck dazu könnt ihr hier nachlesen.

Zwischen uns liegt August – Fikri Anıl Altıntaş erschienen im C. H. Beck Verlag


Noch ein Autor den ich auf dem Poetinnenfest endeckt habe und ein Roman bei dem ich schon nach wenigen Sätzen dachte: hier jemand schreibt, der genau hinhört – in die Zwischenräume von Sätzen, in die stillen Bewegungen zwischen Mutter und Sohn. Dank an C. H. Beck für das Rezensionsexemplar.

Altıntaş erzählt von den letzten Monaten einer an Krebs erkrankten Mutter und ihres Sohnes – und er tut das ohne Pathos, ohne jedes überflüssige Wort. Während die Krankheit das Ende unausweichlich erscheinen lässt, bleibt der Alltag seltsam standhaft: Krankenhausflure, Fahrten zum Supermarkt, das gemeinsame Kochen, kleine Gesten, die plötzlich mehr Gewicht tragen als große Erklärungen. Diese Alltäglichkeit verleiht dem Buch seine besondere Stärke – es ist kein Roman über das Sterben, sondern über das Weiterleben, bis zuletzt.

Parallel entfaltet sich die Vergangenheit der Mutter: ihre Kindheit in der Türkei, das Aufbrechen nach Deutschland, das Leben zwischen Sprachen, zwischen Erwartungen und Eigenwillen. Der Sohn versucht, zu verstehen, was sie geprägt hat, was sie weitergegeben hat – und was unausgesprochen blieb. Altıntaş beschreibt all das mit großer Empathie und einem genauen Blick für die leisen Brüche, die Generationen und Kulturen voneinander trennen und zugleich verbinden.

Es tut weh, darüber nachzudenken, dass sich Routinen verschieben

Mich hat dieses Buch sehr berührt, vielleicht gerade weil es sich nie übermässig in Emotionen verliert. Es bleibt leise, und gerade darin liegt seine Eindringlichkeit. Zwischen den Zeilen spürt man die Zärtlichkeit dieser Beziehung, aber auch die unausgesprochenen Spannungen, die Scham, die Müdigkeit, das zähe Ringen um Nähe. Besonders stark fand ich den Moment, in dem die Mutter – unerwartet und klar – für sich selbst einsteht, für ihre eigenen Wünsche und Bedürfnisse, die sie so lange zurückgestellt hatte. Dieser Augenblick wirkt wie ein kleines Aufleuchten inmitten des Abschieds.

Altıntaş schreibt ohne große Dramatik, aber mit einem tiefen Wissen um das, was zwischen Menschen unausgesprochen bleibt. Eine eindringliche, zärtliche und zugleich schmerzlich ehrliche Geschichte – und für mich eines der bewegendsten Bücher des Jahres.

Liebe in Zeiten des Hasses – Florian Illies erschienen im S. Fischer Verlag

Florian Illies’ Liebe in Zeiten des Hasses ist ein Buch, das man nicht einfach liest, sondern in das man hineingezogen wird wie in eine Chronik des taumelnden 20. Jahrhunderts. Diese kurzen, vignetteartigen Miniaturen über Künstler, Dichterinnen, Denker und Verirrte der Zwischenkriegszeit entfalten eine eigentümliche Mischung aus Eleganz, Schmerz und Ironie. Illies beherrscht die Kunst, das Schicksal einer ganzen Epoche in einem einzigen Augenblick, in einer Geste, in einem Blick zwischen zwei Liebenden oder einem Satz aus einem Brief zu verdichten. So entsteht ein Mosaik aus schillernden, verletzlichen Fragmenten, in dem sich die Jahre 1930 bis 1939 wie ein langsames, unausweichliches Abrutschen anfühlen – von der fiebrigen Kreativität der Avantgarde hinein in den Abgrund der Gewalt.

Beim Lesen überkommt einen immer wieder dieses „uncanny“ Gefühl, dass Geschichte keine lineare Bewegung ist, sondern ein Kreisen – dass sich die Gespenster jener Zeit längst wieder in unserer Gegenwart einnisten. Man liest von den Intellektuellen, die sich noch über politische Extreme mokieren, während sie sich schon in deren Bannkreis befinden, und man denkt unwillkürlich an die Rhetorik unserer Tage, an die neuen Fronten, die wieder gezogen werden. Illies’ Stil – halb distanziert, halb zärtlich – verstärkt diese Beklemmung. Er kommentiert kaum, er beobachtet, lässt uns die Ahnung des Kommenden mitempfinden, als säßen wir mit ihm am Rande eines brennenden Jahrzehnts und wüssten, dass der Rauch schon zu uns herüberzieht.

Manchmal ist mir da aber auch zu viel Hektik bei all der Spannung zwischen Schönheit und Entsetzen. Da ist eine fast voyeuristische Lust, in die Salons und Ateliers jener Zeit zu blicken, wo noch getanzt, geliebt, gestritten wird – wissend, dass all das bald zerstört sein wird. Illies zeichnet diese Welt mit feiner Ironie, aber ohne Spott; man spürt seine Melancholie über das, was unwiederbringlich verloren ging, und seine stille Wut darüber, wie blind viele damals in ihr eigenes Verderben liefen.

Man kann kein Licht entdecken, solange man nur die Dunkelheit analysiert.

So liest sich Liebe in Zeiten des Hasses letztlich wie ein Spiegel – ein historischer, aber auch ein existenzieller. Die Figuren dieser Jahre sind uns näher, als wir glauben: in ihrem Wunsch nach Bedeutung, nach Liebe, nach Schönheit trotz der Dunkelheit. Und während man Seite um Seite in diese Welt eintaucht, stellt sich unweigerlich die Frage, ob wir gerade wieder in einer solchen Zwischenzeit leben – in einem Moment, in dem alles noch möglich scheint, aber längst kippt.

Russische Spezialitäten – Dimitrij Kapitelman erschienen im Hanser Verlag

Ich habe Dimitrij Kapitelmans „Russische Spezialitäten“ zuerst gehört, dann erst gelesen – bei seiner Lesung in Erlangen. Kapitelman hat für mich in seiner Stimme schon den Rhythmus seines Schreibens mitschwingen zu lassen: eine Mischung aus Schärfe, Witz und stiller Melancholie. Ich hatte das Buch für einen Bekannten mitgebracht, der unbedingt eine Widmung seines Lieblingsautors wollte – und in der Aufregung zwischen Publikum, Signiertisch und Smalltalk habe ich dann völlig vergessen, ein schönes Cover-Bild für den Artikel hier zu machen.

Gelesen habe ich Russische Spezialitäten schließlich auf der Rückfahrt vom Poetinnenfest, in einer Reihe von Nahverkehrszügen mit reichlich Verspätung und somit genügend Zeit, mich ganz in diese Geschichte zu versenken. Es war die perfekte Lektüre für eine solche Reise: ein Buch über das Unterwegssein, über Herkunft und Zugehörigkeit, über das, was bleibt, wenn man ständig zwischen Welten pendelt.

Kapitelman erzählt von seiner ukrainisch-jüdischen Familie, von Eltern, die sich in der Fremde neu erfinden müssen, und von einem Sohn, der versucht, ihre Vergangenheit zu verstehen, ohne sich darin zu verlieren. Das klingt nach schwerem Stoff, ist es aber nicht. Sein Ton ist leicht, fast tänzerisch. Humor und Schmerz stehen nebeneinander, oft in einem Satz. Er schreibt mit Zärtlichkeit, aber ohne Sentimentalität, mit Ironie, aber ohne Distanz. Gerade diese Balance macht das Buch so besonders – es ist persönlich, politisch und poetisch zugleich. Da ich vor Kurzem erst seinen Roman „Eine Formalie in Kiew“ gelesen habe, kam mir das ganze Setting und seine Protagonist*innen wunderbar vertraut vor.

Seit der Invasion habe ich das Gefühl, kein richtiger Mensch mehr zu sein. Die unerträgliche und unerträglich sinnlose Tragödie, die Russland in mein Geburtsland gebracht hat. Ich blende sie aus, um in meinem friedlichen, vom dummen Glück okkupierten Leben zu funktionieren.

Ich war ehrlich überrascht, Russische Spezialitäten nicht auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises zu finden. (Genauso wenig wie meine absolute Favoritin Annett Gröschner mit „Schwere Lasten“ – grrrr) Für mich ist der Roman Literatur, die wirkt, weil sie vertraut klingt – wie ein Gespräch, das man auf einer langen Zugstrecke zufällig beginnt und ungern beendet. Vielleicht war das für die Juror*innen nicht experimentell genug.

Kapitelman schreibt mit einer Wärme, die ich sehr schätze: aufmerksam, witzig, verletzlich. „Russische Spezialitäten“ ist ein Buch, das sich leise entfaltet, das nachwirkt und Lust macht auch weitere Bücher des Autors zu lesen.

Sommer in Lesmona – Marga Berck erschienen im Rowohlt Verlag

Ich wollte mich mit „Sommer in Lesmona“ vom Sommer verabschieden und erwartete eine leichte, nostalgische Geschichte mit Lindenblütenduft und Sonnenschein. Doch schon nach den ersten Seiten merkte ich, dass unter dieser heiteren Oberfläche etwas anderes schwingt: eine Ahnung von Vergänglichkeit, die das ganze Buch durchzieht. Marga Berck – hinter diesem Pseudonym steht Magdalene Pauli, geborene Melchers, Bremer Kaufmannstochter und spätere Frau des Kunsthistorikers Gustav Pauli – hat in „Sommer in Lesmona“ weit mehr hinterlassen als eine charmante Folge von Backfischbriefen die sie mit ihrer besten Freundin austauscht. Sie hat Zeugnis abgelegt über Jugend und Freiheit im Schatten einer Zeit, die noch gar nicht weiß, dass sie vergeht.

Der Roman, der auf einem echten Briefwechsel aus den 1890er Jahren basiert, beginnt als scheinbar harmlose Sommergeschichte: Ein junges Mädchen schreibt ihrer Freundin von Reisen, Festen, Spaziergängen und einer verbotenen Liebe. Diese Briefe atmen eine Unschuld, die von einer leisen Melancholie überlagert sind und eine unerwartete dramatische Wendung nehmen. Denn alles, was Marga erlebt, scheint so hell, so lebendig, und doch weiß man als Leserin: Diese Welt wird verschwinden – nicht nur für sie, sondern für ganz Europa.

Die Eltern trafen viele Bekannte, darunter sehr viele elegante Leute aus Frankfurt und London. Angesichts dieser Welt entdeckte Mama, daß ich angezogen wäre wie ein Mistkäfer. Sie selbst sieht ja immer so vornehm aus. Aber nun sah sie ein, daß ich aussah, als käme ich aus Gröpelingen. Abends waren beide Eltern furchbar zärtlich zu mir und sagten, es wäre doch so nett, daß Du und ich so wenig Wert auf teure Kleider gelegt hätten. Du hättest ja nun als Braut schon sehr schöne Sachen aus Hannover bekommen, und ich sollte jetzt in Wiesbaden ganz neu ausgesteuert werden! Wir haben wirklich beide wenig an unsere Kleider gedacht, und für Bremen hat es ja noch immer genügt.

Hinter dem hellen Licht von Lesmona liegt der Schatten einer Biografie, die fast symbolisch für den Verlust einer ganzen Epoche steht. Magdalene Pauli, die Verfasserin dieser Briefe, führt später ein Leben, das kaum gegensätzlicher sein könnte: aus der Geborgenheit des großbürgerlichen Bremen hinaus in eine Welt der Brüche. Sie heiratet einen Kunsthändler, erlebt die kulturelle Blüte Europas – und wird zugleich Zeugin seines Untergangs. Zwei Weltkriege, wirtschaftliche Krisen, gesellschaftliche Umwälzungen. Sie überlebt all ihre Kinder – und wird zum Glück im hohem Alter überredet diese Jugendbriefe herauszugeben.

Ich habe dieses Buch mit einer zunehmenden Wehmut gelesen. Pauli hat mit Sommer in Lesmona ein Denkmal gesetzt für die Zerbrechlichkeit des Glücks. Ein leises, kluges, vollkommen zeitloses Buch – und, wenn man die Tragik der Autorin kennt, auch ein sehr bewegenden Zeitzeugnis Wer sich mit Sommer in Lesmona vom Sommer verabschiedet, verabschiedet sich zugleich von einer Welt, die es so nie wieder geben wird.

Das große Spiel – Richard Powers erschienen im Penguin Verlag, übersetzt von Eva Bonné

Kennt ihr das? Autorinnen, Bands, Künstlerinnen, die eigentlich komplett eurem Beuteschema entsprechen, alles klingt, als müsse es definitiv passen – aber es wird irgendwie nix. Musikalisch denke ich da gerade an Nine Inch Nails, literarisch ist das bei mir Richard Powers. Schon durch „The Overstory“ habe ich mich sehr gequält, obwohl ich mich auf das Buch gefreut hatte. Mit „Das große Spiel“ ging es mir definitiv besse, denn gequält habe ich mich absolut nicht, ich habe es durchaus flott gelesen, konnte aber trotzdem keine wirkliche Verbindung zu der Geschichte aufbauen.

Inhaltlich erzählt Powers die Geschichte von mehreren Menschen, deren Leben auf komplexe Weise miteinander verwoben sind. Evie, Meeresbiologin, erforscht die Tiefen des Ozeans; Todd, Programmierer, arbeitet an einem Spiel, das Realität und Simulation verschwimmen lässt; Rafi, Künstler, sucht nach neuen Ausdrucksformen in einer zunehmend digitalen Welt. Ihre Wege kreuzen sich auf überraschende und teilweise geheimnisvolle Weise, wobei die Insel Makatea als eine Art Brennpunkt für Neubeginn, Begegnung und persönliche Reflexion dient. Powers verwebt darin Themen wie Wissenschaft, Kunst, menschliche Beziehungen und die Suche nach Sinn in einer komplexen, globalisierten Welt.

Jeder Tanz ist ein Spiel, und jedes Spiel erklärt sich am besten selbst. Denn was tun alle Geschöpfe anderes, als auf dem Erdkreis zu spielen, im Angesicht eines spielenden Gottes?

Evie fand ich als Protagonistin durchaus faszinierend, aber ihre Geschichte verendet irgendwann im Belanglosen, und das Ende des Buches wirkte auf mich merkwürdig. Die erzählerische Struktur, das Verweben der unterschiedlichen Perspektiven und die fast kaleidoskopische Breite des Romans haben mich zeitweise an die letzte Folge von Lost erinnert 😉

Das Bild vom Leben als Spiel fasst die Grundidee des Romans treffend zusammen: eine poetische Reflexion über die Verflochtenheit von Menschen, Handlungen und der Welt, ohne dass Powers dabei versucht ist einfache Antworten zu geben.

Für mich bleibt „Das große Spiel“ ein solides Buch – gut zu lesen, klug und auch ambitioniert, aber insgesamt funkt es einfach nicht zwischen mir und Powers.

Jetzt bin ich gespannt – was waren eure Highlights im September und konnte ich euch vielleicht auf das eine oder andere Buch neugierig machen?

August Lektüre

Mein August war wieder ein ziemlich bunter Lesemonat – mit teils großer Begeisterung, einer wunderbaren (Wieder-)Entdeckung, aber auch ein, zwei Bücher, die mich nicht wirklich gepackt haben. Lasst uns ohne lange Vorrede direkt starten – es gibt viel zu besprechen 🙂

James – Percival Everett erschienen im Hanser Verlag, übersetzt von Nikolaus Stingl

Percival Everett gelingt mit James ein außergewöhnlicher Roman, der gleichzeitig Klassiker und Neuschöpfung ist. Ausgangspunkt ist Mark Twains Huckleberry Finn, doch Everett gibt der Figur James – bei Twain meist nur „Jim“ genannt – die eigene Stimme zurück. Diese Stimme ist klar, reflektiert, voller Intelligenz und Würde. Damit dreht sich die Perspektive radikal: Wir sehen nicht mehr den Abenteuerroman aus der Sicht des Jungen, sondern erleben die Geschichte durch die Augen eines Mannes, der im System der Sklaverei ums Überleben kämpft und Sprache als Schutz, Waffe und Identität nutzt.

Der Roman ist sprachlich brillant, oft von dunklem Humor getragen, zugleich erschütternd in seiner Darstellung von Gewalt, Abhängigkeit und Überlebensstrategien. Everett zeigt, wie unterdrückte Menschen oft absichtlich gebrochen oder „falsch“ sprachen, um Erwartungen weißer Gesellschaft zu erfüllen und sich so einen Spielraum zu verschaffen. Diese doppelte Ebene der Sprache ist das Herzstück des Buches.

James überzeugt sowohl literarisch als auch emotional. Der Roman ist hochintelligent komponiert, ohne ins Theoretische zu verfallen. Er erzählt eine mitreißende Geschichte, die man nicht aus der Hand legen möchte, und schafft eine Figur, mit der man noch lange innerlich im Gespräch bleibt. Kein Wunder also, dass unser Bookclub nahezu einhellig Höchstnoten vergeben hat.

Halbe Leben – Susanne Gregor erschienen im Zsolnay Verlag

Schon die erste Szene, ein tötlicher Sturz, setzt den Grundton dieses Romans. Kein großer Knall, kein Drama, eher ein dumpfes Nachhallen, das einen durch das ganze Buch begleitet.

Paulina, die gelernte Krankenschwester lebt tatsächlich zwei halbe Leben: einmal in der Slowakei als alleinerziehende Mutter von zwei Söhnen, dann in Österreich als helfende Hand in einer fremden Familie. Sie bewegt sich wie ein Chamäleon zwischen diesen Welten, passt sich an, übernimmt, trägt, macht möglich – und verliert dabei immer mehr von sich selbst. Ich habe beim Lesen oft gedacht: Wie viel von uns allen steckt in dieser Haltung, „immer funktionieren zu müssen“, auch wenn es einen innerlich zerreißt?

Besonders bedrückend fand ich die Szenen in der Gastfamilie. Klara, die Architektin, so zielstrebig, so selbstsicher, hat Paulina an ihrer Seite fast wie ein zweites Fundament ihres Erfolges. Ihr Mann dagegen wirkt wie ein schwebender Luftballon, frei von den Lasten des Alltags. Und Paulina fängt das alles auf. Man spürt förmlich, wie sie immer tiefer in ein Leben hineingleitet, das nicht ihres ist, bis die Grenze zwischen Dienen und Ausgenutztwerden verschwimmt. Das Beklemmende daran: Es ist kein offener Missbrauch, kein Skandal – sondern eine Reihe kleiner, leiser Verschiebungen, die sich summieren.

Ihre Mutter war zu einem defekten Rädchen im Uhrwerk ihrer Tage geworden, das alle anderen durcheinanderbrachte, und Klara der Zeiger, der sich nonstop im Kreis drehte

Was mich an Gregors Schreibweise beeindruckt hat ist diese leise Eindringlichkeit. Die Sprache ist schlicht, fast zurückhaltend, und gerade dadurch entsteht eine enorme Spannung. Vieles bleibt ungesagt, aber man fühlt es umso stärker zwischen den Zeilen. Es gibt keine plakativen Appelle, keine moralischen Zeigefinger – und doch schleicht sich die Kritik an unserer perfekt organisierten, aber zutiefst ungleichen Welt unübersehbar ein.

Ein Roman in dem das sozialkritische nicht plakativ im Vordergrund steht, sondern als stilles Kammerspiel, beklemmend klar die Rolle einer Frau zeigt, die immer gebraucht wird – und nie ankommt.

Das Narrenschiff – Christoph Hein erschienen im Suhrkamp Verlag

Christoph Heins „Das Narrenschiff“ hat mich von Anfang an gepackt und gleichzeitig auf Abstand gehalten. Ein seltsamer Zwiespalt, denn auf der einen Seite war ich komplett absorbiert, habe Seite um Seite verschlungen, unfassbar viel über die DDR gelernt und mich an vieles wieder erinnert – an Gespräche, an Stimmungen, an diesen ganz eigenen gesellschaftlichen Tonfall. Und trotzdem: Die Figuren, so klar sie gezeichnet sind, blieben mir fern. Das liegt sicherlich auch an Heins Schreibstil – nüchtern, analytisch, oft beinahe kühl. Emotional andocken war schwer, was aber wohl auch Teil seines literarischen Konzepts ist. Hein will nicht rühren, er will verstehen machen – und das gelingt ihm auf fast schon unheimlich präzise Weise.

Der Roman öffnet mit der Rückkehr prominenter Antifaschisten im April/Mai 1945 aus Moskau – der berüchtigten „Gruppe Ulbricht“ – und begleitet sie, darunter Karsten Emser, Johannes Goretzka und Benaja Kuckuck, auf ihrem Aufstieg in den DDR-Apparat.

… was ist aus unseren Hoffnungen und Träumen geworden? Wir wollten ein anderes Land, einen anderen Staat aufbauen, friedlicher, solidarischer und vor allem gerechter.

Der Fokus liegt klar auf dem Machtpersonal, auf Politikern und Funktionären, die die Gründungsjahre des Staates markieren und später dessen Strukturen mittragen – stets mit einem Blick für ihre eigene Ideologie und ihr oft tragisches Scheitern.

Was ich dabei allerdings ein wenig vermisst habe – und das ist ein Punkt, der mir beim Lesen immer wieder durch den Kopf ging – war ein breiteres Panorama der DDR-Gesellschaft. Die Figuren, die Hein porträtiert, stammen allesamt aus einem eher elitären, privilegierten Milieu. Intellektuelle, Funktionäre, Parteikader. Mir fehlte das kulturelle Leben, das so viel zur Identität der DDR beigetragen hat – Literatur, Theater, Musik – und auch das Leben der „normalen“ Leute, der Arbeiter*innen, derjenigen, die mit dem System auf andere Weise rangen oder es schlichtweg ignorierten. Ich hätte gerne mehr über diese Facetten gelesen, über das, was jenseits des Apparats existierte. Heins Fokus liegt klar auf den Strukturen der Macht, auf den Mechanismen der inneren Systemlogik.

Der Roman war eine gute Ergänzung für mich zu Erpenbecks „Kairos“ das ich schlußendlich etwas gelungener fand.

Ich habe einen Anschlag auf sie vor. Der Briefwechsel – Christpoph Hein & Elmar Faber erschienen im Faber & Faber Verlag

Der Briefwechsel „Ich habe einen Anschlag auf Sie vor“ zwischen Christoph Hein und Elmar Faber ist weit mehr als ein literarisches Dokument – er ist eine Begegnung zweier starker Persönlichkeiten, die sich über mehr als dreißig Jahre hinweg mit Witz, Ernst und unverstellter Offenheit austauschen. Die Korrespondenz, die 1983 beginnt und bis kurz vor Fabers Tod 2017 reicht, schlägt dabei einen Ton an, der gleichermaßen respektvoll wie pointiert ist. Man spürt in jedem Schreiben die Freude am geistigen Schlagabtausch, das Bedürfnis, die eigenen Beobachtungen zu teilen, und den Mut, auch unbequeme Wahrheiten nicht zu verschweigen.

Thematisch öffnet sich ein Panorama, das weit über Privates hinausgeht: der literarische Alltag in der DDR, der ständige Balanceakt zwischen Kunst und Zensur, die Brüche und Herausforderungen nach der Wiedervereinigung, dazu persönliche Fragen nach dem Älterwerden, nach Krankheit, nach dem Platz der eigenen Arbeit im größeren Zusammenhang. Hein erscheint darin als genauer, oft spöttischer Beobachter, während Faber die Rolle des streitbaren, humorvollen Verlegers verkörpert. Beide aber eint der Wille, Kultur nicht nur zu gestalten, sondern sie als lebendiges, widerständiges Element einer Gesellschaft zu begreifen.

So liest sich dieser Briefwechsel nicht nur als Zeugnis einer Freundschaft, sondern auch als literarisches Zeitdokument, das Einblicke in Denk- und Arbeitsweisen zweier wichtiger Stimmen der deutschen Nachkriegsliteratur bietet. Dass ausgerechnet dieser Band 2019 der erste Titel des wiederbelebten Leipziger Verlages Faber & Faber wurde, hat Symbolkraft: Elmar Faber, der den Verlag 1990 gemeinsam mit seinem Sohn Michael gegründet hatte, wird hier nicht nur als Verleger, sondern auch als Mensch sichtbar. Das Buch ist damit Hommage, Geschichtsbuch und kurzweilige Lektüre in einem – eine Einladung, sich in den Dialog zweier kluger Köpfe hineinziehen zu lassen.

War eine gute Begleitlektüre für „Das Narrenschiff“ kann diesen Briefwechsel sehr empfehlen.

Alltagsmenschen – Carry Brachvogel erschienen im Allitera Verlag

Carry Brachvogels „Alltagsmenschen“ habe ich auf dem Blog bereits kürzlich in meiner Reihe „Stimmen, die bleiben“ vorgestellt. Hier geht es zum Beitrag.
Brachvogel (1864–1942) war eine deutsch-jüdische Schriftstellerin, die in ihren Werken besonders das Leben und die Herausforderungen von Frauen eindrucksvoll schilderte.

Freie Menschen kann man nicht zähmen – Yayou Ekhou erschienen im Alibri Verlag

Yayou Ekhou’s „Freie Menschen kann man nicht zähmen“ habe ich bereits im Rahmen meiner Reihe „Read around the world“ für Mauretanien vorgestellt. Hier geht’s zum Beitrag.
Ekhou ist ein mauretanische Autor und Aktivist, der in seinen Texten eindrücklich von Freiheit, Identität und gesellschaftlichem Wandel erzählt.

Ein Bericht für eine Akademie – Franz Kafka sowie Mikromegas – Voltaire beide erschienen in der Edition Hibana

Über die beiden von Florian L. Arnold illustrierten Bücher habe ich in meiner Reihe „Illustrierte Klassiker“ geschrieben, den link dazu findet ihr hier.

Stone Yard Devotional – Charlotte Wood auf deutsch unter dem Titel „Tage mit dir“ im Kein & Aber Verlag erschienen, übersetzt von Michaela Grabinger

Charlotte Woods Stone Yard Devotional ist ein leises, zugleich aber unglaublich eindringliches Buch. Im Mittelpunkt steht eine Frau, die sich nach einer Ehe in Sydney in ein Kloster zurückzieht – nicht, weil sie eine religiöse Berufung verspürt, sondern weil sie Ruhe, Rückzug und einen neuen Rhythmus sucht.

Mich hat der Anfang komplett hineingezogen. Diese leicht bedrohliche, schwer greifbare Atmosphäre war so packend, dass ich das Buch kaum aus der Hand legen konnte. Als die Protagonistin dann aber nicht mehr nur Besucherin, sondern Teil der religiösen Gemeinschaft wurde, war der Zugang für mich schwieriger.

Die Handlung verlagert sich zunehmend auf das Leben innerhalb der Gemeinschaft, die während der Covid-Beschränkungen auf die Rückkehr der Überreste einer ermordeten Mitschwester wartet. Parallel dazu bricht eine unfassbar drastische Mäuseplage über das Kloster herein – ein Ereignis, das tatsächlich in New South Wales stattgefunden hat. Wood beschreibt Szenen von Ausmaß und Grausamkeit (inklusive kannibalistischen Verhaltens der Tiere), die mühelos jedem Stephen-King-Roman das Wasser reichen. Das war wirklich krass und hat mich nachhaltig verstört.

Zwischen der Rückkehr einer Ordensschwester, die mit der Ermordeten im Ausland gearbeitet hat, den Knochen, die schließlich eintreffen, und dieser biblisch anmutenden Mäuseplage türmen sich Belastungen auf, die die Gemeinschaft fast zu zerreißen scheinen.

Stone Yard Devotional ist ein leises Buch – keines, das man einfach wegliest. Eher eines, das nachhallt, das mich zwingt, über Schuld, Verlust und Gemeinschaft nachzudenken. Und gleichzeitig ist es ein Buch, mit dem ich auf eine bestimmte Weise noch immer hadere. Vielleicht genau deshalb denke ich so oft daran zurück.

Stone Yard Devotional landete 2024 auf der Booker Shortlist – kein Buch für zwischendurch, aber durchaus lohnend, wenn man sich darauf einläßt.

Sister Europe – Nell Zink erschienen im Rowohlt Verlag, übersetzt von Tobias Schnettler

Ich habe Sister Europe als Hörbuch gehört – und leider bin ich damit nicht warm geworden. Immer wieder fanden sich kluge Sätze und tolle Bilder, aber die eigentliche Geschichte hat mich überwiegend eher genervt. Besonders schwierig fand ich die Struktur des Romans: Die Handlung spielt innerhalb weniger Stunden – einen einzelnen Abend und die darauffolgende Nacht – und führt eine Vielzahl von Figuren ein. Beim Hören habe ich die Protagonist*innen immer wieder durcheinandergebracht, was den Zugang zusätzlich erschwert hat.

Der Roman spielt in Berlin im Februar 2023 und beginnt mit einer Literaturpreisverleihung in einem Hotel, bei der ein arabischer Autor geehrt wird. Rund um diese Veranstaltung begegnen wir einer bunten, zum Teil exzentrischen Gruppe: Der Kunstkritiker Demian, seine transgender Tochter Nicole, ein amerikanischer Verleger namens Toto mit seiner schwer fassbaren Begleitung Avianca, eine privilegierte Livia, ein arabischer Prinz und ein verdeckter Polizist namens Klaus, der ihnen folgt. Gemeinsam streifen sie durch die Berliner Nacht – vom Interconti über eine U-Bahn-Party bis hin zu Burger King – und führen Dialoge, die gleichermaßen bissig, witzig und kritisch sind. Themen wie Identität, Privileg, Einsamkeit, politische Debatten und gesellschaftliche Leere spielen eine zentrale Rolle.

Nell Zink ist eine US-amerikanische Autorin die seit vielen Jahren in Deutschland lebt und schreibt. Ihre Romane sind bekannt für ihre witzige, scharfzüngige Prosa, ihren gesellschaftlichen Tiefgang und ihr Gespür für das Abgründige im Alltäglichen.

Leider kann ich für dieses Buch keine Empfehlung aussprechen – trotz der glitzernden, scharfsinnigen Dialoge, die Nell Zink wie gewohnt liefern kann. Der Stil ist zweifellos clever, ironisch und geistreich, aber für mich fehlte die erzählerische Struktur, die Figuren blieben zu flach, um nachhaltig zu fesseln.

Das war mein Lesemonat August – wie war eurer? Was waren eure Highlights? Habt ihr schon das eine oder andere hier vorgestellte Buch gelesen? Besonders würde mich eure Meinung zu Stone Yard Devotional und den Büchern von Nell Zink interessieren, falls ihr die gelesen habt.

Ich wünsche euch einen guten Lese-September 🙂

Juli Lektüre

Ein herausragender Lesemonat liegt hinter mir – einer, der mich auf meiner literarischen Weltreise in die Ukraine geführt hat. Für diesen Stopp habe ich die folgenden Bücher gelesen:

Vielleicht Esther – Katja Petrowskaja erschienen im Suhrkamp Verlag
Sie kam aus Mariupol – Natascha Wodin erschienen im Rowohlt Verlag
Eine Formalie in Kiew – Dmitrij Kapitelman erschienen im Hanser Verlag
Baba Dunas letzte Liebe – Alina Bronsky erschienen im Kiepenheuer & Witsch Verlag

die ausführliche Besprechung dazu könnt ihr hier finden. Die Bücher werde ich hier in der Monatsübersicht daher nicht noch einmal vorstellen.

Neu auf dem Blog ist außerdem meine Serie „Stimmen, die bleiben“, in der ich an Autor*innen erinnere, deren Worte nachhallen. Den Auftakt machte Anna Seghers – mit ihrem eigenen Erzählband und einer beeindruckenden biografischen Studie über ihre Zeit in Mexiko. Auch hierzu verlinke ich euch die Besprechung und widme mich jetzt den Büchern aus diesem Monat, die ich bislang noch nicht auf dem Blog besprochen habe:

Drei große Entdeckungen hatte ich in diesem Monat für mich: Silvia Bovenschen mit einer zutiefst persönlichen Hommage an ihre Partnerin, Penelope Lively mit einem perfekt komponierten Sommerroman, und die Debütantin Christina Fonthes, deren Coming-of-Age-Geschichte zwischen England und Kongo spielt.

Und schließlich: Einfach Literatur von Klaus Willbrandt – ein Buch, das ich sehr wehmütig gelesen habe. Ein literarischer Nachlass, der bleibt.

Alle Bücher lagen zwischen 4 und 5 Sternen – das kommt nicht oft vor. Aber Juli hat geliefert.

Wohin du auch gehst – Christina Fonthes erschienen im Diogenes Verlag, übersetzt von Michaela Grabinger

In ihrem vielschichtigen Debütroman erzählt Christina Fonthes die miteinander verflochtenen Geschichten zweier Frauen, Mira und Bijoux, die beide aus Kinshasa stammen und auf je eigene Weise mit Herkunft, Identität und gesellschaftlichen Erwartungen ringen. Mira verlässt in den 1980er Jahren den Kongo und zieht über Belgien und Paris nach London. Ihre Beziehung zu einem armen Musiker bringt sie in Konflikt mit der bürgerlich-aufstiegsorientierten Familie. Bijoux hingegen wird als Kind nach London geschickt, wo sie bei ihrer streng gläubigen Tante aufwächst – ihre queere Identität wird von dieser als „unchristlich“ und „unafrikanisch“ gebrandmarkt.

Fonthes erzählt über einen Zeitraum von rund dreißig Jahren hinweg, springt elegant zwischen Zeiten und Orten – Kinshasa, Brüssel, London, Paris – und verbindet große politische Fragen (Migration, Diaspora, Religion, Geschlechterrollen, Kolonialgeschichte) mit sehr persönlichen Erfahrungen von Liebe, Scham, Entwurzelung und Widerstand.

Besonders eindrücklich ist, wie stark kulturelle Prägung in Sprache, Ritualen und Erinnerung weiterwirkt: Wenn die Figuren Fufu kochen, Lingala sprechen oder gemeinsam Lieder singen, ist Kinshasa immer präsent – egal, ob sie gerade in Kilburn, London oder in einem Pariser Friseursalon stehen.

Als ich die Augen wieder öffnete, schwebten goldene und silberne Flöckchen durchs Zelt. Ich sah Chancey an. Ich hatte keinen einzigen Schluck getrunken, trotzdem war mir schwindelig. Ich strich mit beiden Händen über ihren Körper, hierhin und dahin. Dort in dem Zelt und bei Rory und Darren und anderen Leuten zu sein, die so waren wie wir, erschien mir ganz selbstverständlich. In diesem Moment, während wir tanzten und lachten und Spaß miteinander hatten, waren wir wie alle anderen – zwei schwer verliebte Mädchen, zwei schwer verliebte Menschen.

Fonthes’ Stil ist poetisch und atmosphärisch, zugleich klar und erzählerisch dicht. Sie schafft es, komplexe Themen wie Homophobie, intergenerationale Konflikte, Trauma und Migration behutsam und doch ungeschönt darzustellen. Dabei verzichtet sie auf Klischees, zeigt stattdessen die Vielstimmigkeit, Würde und Widersprüchlichkeit kongolesischer Lebensrealitäten – sowohl im Kongo selbst als auch im Exil.

Christina Fonthes ist eine britisch-kongolesische Autorin, Spoken-Word-Künstlerin und Aktivistin, die sich für queere, afrikanische und diasporische Perspektiven stark macht. „Wohin du auch gehst“ ist ein kraftvoller, bewegender Auftakt ihres literarischen Schaffens – voller Emotion, politischer Klarheit und erzählerischer Eleganz. Eine Autorin von der ich sehr gerne noch weitere Bücher lesen möchte.

Ich danke dem Diogenes Verlag für das Rezensionsexemplar.

Sarahs Gesetz – Silvia Bovenschen erschienen im S. Fischer Verlag

In Sarahs Gesetz schreibt Silvia Bovenschen über das gelebte Leben mit ihrer langjährigen Lebensgefährtin Sarah Schumann – Künstlerin, Malerin, Zeichnerin und eine der zentralen Figuren der feministischen Kunstszene der 1970er Jahre. Entstanden ist ein ungewöhnlich stilles, zugleich kraftvolles Buch über die Liebe zwischen zwei eigenwilligen, starken Frauen – über Zuneigung, Widerspruch, Fürsorge, Krankheit, das Älterwerden und die Grenzen des Sagbaren im engen Miteinander.

Bovenschen porträtiert Sarah Schumann als widersprüchliche und kompromisslose Persönlichkeit: stolz, scharfzüngig, klug und oft schwer zugänglich. Doch statt zu verklären oder zu erklären, nähert sie sich ihr essayistisch und literarisch tastend, in Miniaturen, Reflexionen und Erinnerungsbildern, die mal zärtlich, mal bitter, aber nie gefällig sind.

Sarahs Gesetz ist kein klassisches Liebes- oder Erinnerungsbuch. Es ist ein Dialog mit einer Präsenz, die sich nicht einfach festhalten lässt – eine Annäherung an das Andere im geliebten Menschen. Ein kluges, bewegendes Werk über das Zusammenleben, das Altwerden in Würde und die Formbarkeit von Nähe, ohne deren Ambivalenzen auszublenden.

Ich vertraue Sarah mehr als mir selbst.

Krankheit adelt nicht.
Eine schwere Kindheit auch nicht.

Silvia Bovenschen (1946–2017) war Literaturwissenschaftlerin, Essayistin und eine der prägenden feministischen Intellektuellen Deutschlands. Bereits 1979 erschien ihr einflussreiches Buch Die imaginierte Weiblichkeit. Sie lehrte viele Jahre an der Universität Frankfurt, bevor sie sich – selbst seit ihrer Jugend an MS erkrankt – zunehmend dem literarischen Schreiben zuwandte. Mit Älter werden. Notizen (2006) erreichte sie ein großes Publikum. Sarahs Gesetz, erschienen 2015, ist eines ihrer persönlichsten Bücher – klug, liebevoll und radikal wahrhaftig.

Habe große Lust noch weitere Bücher von Silvia Bovenschen zu entdecken – eine sehr interessante Autorin.

Heat Wave – Penelope Lively auf deutsch unter dem Titel „Hinter dem Weizenfeld“ bei dtv erschienen, übersetzt von Isabella Nadolny

Könnt ihr euch noch erinnern, wie wir vor ein paar Tagen vor lauter Hitze kaum noch einen klaren Gedanken fassen konnten? Ich jedenfalls schon – schmorend in unserer gefühlt 60 Grad heißen Dachgeschosswohnung, mit dem Ventilator als einzigem Verbündeten. Vielleicht ist genau jetzt, wo draußen der Sommer als Herbst cosplayed, die beste Zeit, sich noch einmal in die drückende Hitze zurückzuversetzen.

Gelesen habe ich in diesen Tagen Penelope Livelys Roman „Heat Wave“ – ein Glücksgriff. Ohne große Erwartungen aufgeschlagen, wurde ich komplett hineingezogen in diese stille und dennoch spannungsgeladene Geschichte. Eine Lektüre, die mich so gefesselt hat, dass ich danach sofort mehr von Lively lesen wollte.

Heat Wave“, erschienen 1996, spielt während eines glühend heißen Sommers auf dem englischen Land – genauer: in einem umgebauten Bauernhof in den Midlands, genannt World’s End. Einen Sommer den ich im Übrigen in London mit erlebt habe und mich sehr genau daran erinnern kann. Dort verbringt Pauline, Anfang fünfzig und freiberufliche Lektorin (sie korrigiert in einem ihrer Aufträge Kommas in einem Einhorn-Roman), den Sommer mit ihrer Tochter Teresa, deren Ehemann Maurice und dem kleinen Enkelsohn Luke.

Die Figuren leben Wand an Wand in nebeneinander liegenden Cottages – eine räumliche Nähe, die emotional immer bedrückender wird. Denn Pauline erkennt früh, dass Maurice nicht ganz treu ist. Ihre eigenen Erfahrungen mit einem untreuen Ehemann holen sie ein, und sie steht vor der Frage: Redet sie mit Teresa – und wenn ja, wie viel sagt sie? Oder schweigt sie und wartet, bis die Tochter selbst erkennt, was los ist?

Was auf den ersten Blick wie ein ruhiges Beziehungsdrama wirkt, ist in Wahrheit hoch aufgeladen. Lively lässt die Spannung langsam, aber unaufhaltsam wachsen – mit jeder Hitzewelle, mit jeder verdorrten Wiese, mit jedem überhitzt flirrenden Nachmittag. Natur und Emotionen spiegeln sich ständig: Die Landschaft wird zum Seismograf innerer Erschütterungen.

Die Atmosphäre ist fast kammerspielartig dicht. Es gibt keinen actiongeladenen Plot, aber umso mehr psychologische Raffinesse. Pauline ist eine wunderbar gezeichnete Figur – klug, witzig, verletzlich. Rückblenden in ihre frühere Ehe, kleine Begegnungen mit ihrem sympathisch-schrulligen Buchhändlerfreund Hugh oder dem Romanautor Chris geben ihr Tiefe und eine Welt jenseits der Ferienhausgrenze. Und dann ist da noch diese fast van Gogh’sche Landschaft: gelbgoldene Felder unter einem strahlend blauen Himmel, flirrend vor Hitze – ein grandioses Setting für ein emotionales Flächenbrand-Drama.

It occurs to her that she is probably the first person to live here for whom the weather is an aesthetic diversion.

Was mir besonders gefallen hat, war die Art und Weise, wie Lively mit Erwartungshaltungen spielt. Anfangs glaubt man, das sei eine jener subtilen Erzählungen, in denen „nichts passiert“. Aber wer aufmerksam liest, merkt bald: Das Ende ist längst angelegt, in Andeutungen, kleinen Gesten, Blicken. Es kommt nicht plötzlich, aber wow war ich überrascht.

Penelope Lively wurde 1933 in Kairo geboren und ist noch very much alive and kicking 🙂 Sie ist eine der renommiertesten britischen Schriftstellerinnen der Gegenwart und wurde unter anderem 1987 für Moon Tiger mit dem Booker Prize ausgezeichnet. 2017 erschien ihr letztes Buch eine Biografie mit dem Titel Life in the Garden – möchte ich – neben Moon Tiger – unbedingt lesen.

Kultur – eine neue Geschichte der Welt – Martin Puchner erschienen bei Klett-Cotta

Für dieses Buch durfte ich bei Bild der Wissenschaft eine Kurz-Rezension verfassen, diese könnt ihr hier lesen.

Einfach Literatur – Klaus Willbrand & Daria Razumovych erschienen im S. Fischer Verlag

Ich folgte dem Buchantiquariat Willbrand auf Instagram fast von Anfang an. Seine ruhige Art, mit der er über Literatur sprach, hat mich sofort berührt und dann diese Geschichte: ein kleines Antiquariat in Köln, das kurz vor dem Aus stand. Und eine junge Kundin, Daria, die ihn dazu brachte, sein Wissen nicht aufzugeben, sondern es mit der Welt zu teilen.

Aus dieser Freundschaft entstand nicht nur eine digitale Erfolgsgeschichte, sondern auch ein ganz besonderes Buch: „Einfach Literatur“

In diesem Werk verbindet sich autobiografisches Erzählen mit literarischer Leidenschaft. Willbrandt schreibt über seine Kindheit mit Asthma und wie ihn das zum Bücherwurm werden ließ, seine Jahrzehnte im Buchhandel, seine Begeisterung für Schriftsteller wie Kafka, Böll, Ingeborg Bachmann oder Rolf Brinkmann. Sein Ton bleibt klar und schnörkellos, manchmal melancholisch, aber nie sentimental. Man merkt jedem Kapitel an, dass hier jemand schreibt, der Literatur nicht nur gelesen, sondern gelebt hat. Besonders beeindruckt hat mich seine dreijährige Lese-Auszeit. Krass, habe wohl tatsächlich einen Menschen gefunden, dem Bücher NOCH wichtiger sind als mir.

Was jedoch alle großen literarischen Werke vereint, ist ihre Fähigkeit, die Zeit zu überdauern. Sie schafft es, ein Momentum einzufangen, das in ihrer Epoche tief verwurzelt ist, und doch ruft dieses Momentum auch Assoziationen und Empfindungen hervor. So entstehen Klassiker – Werke, die motivisch zeitlos, aber zugleich so unverwechselbar mit der Ära verbunden sind, in der sie entstanden. Große Literatur bewahrt etwas von ihrer Zeit, bleibt dabei aber unvergänglich.

Wie schön, dass Daria Razumovych seine Stimme so einfühlsam begleitet und mit in dieses Buch mit übersetzt hat. Was mir besonders gefällt sind natürlich die Listen, bei denen ich noch das eine oder andere Werk oder Autor*in entdecken konnte und die authentische Mischung aus Erinnerung, Fachwissen und einem direkten Zugang, der weder belehrt noch überfordert. Es ist ein Buch, das einen – wie ein gutes Gespräch im Buchladen – in die richtige Richtung stupst.

Ich war sehr traurig, als ich Anfang des Jahres vom Tod Klaus Willbrandts erfuhr. Wie gerne wäre ich bei meinem nächsten Köln-Besuch in seinem Antiquariat vorbeigegangen und hätte mich mit ein paar Büchern eingedeckt und auf den einen oder anderen fachmännischen Geheimtipp gehofft. Umso schöner, dass es dieses Buch gibt. Es ist ein Vermächtnis, eine literarische Schatztruhe und eine Hommage an einen Mann, der mit seinen Empfehlungen mehr als nur Bücher teilte: Er teilte Haltung, Haltung zur Welt, zur Sprache, zum Menschsein.

Wie war euer Lesemonat? Was waren eure Highlights? Konnte ich euch auf eines der vorgestellten Bücher neugierig machen? Freue mich über eure Rückmeldungen 🙂

Read around the World: Ukraine

Wie fasst man ein Land wie die Ukraine in Worte, ohne ihm unrecht zu tun? Ein Land, das seit Jahrhunderten zwischen Imperien zerrieben wird, das unermesslich viel Leid erfahren musste – und sich dennoch seine Kultur, Sprache, Selbstachtung und seinen Freiheitswillen bewahrt hat. Ein Land, das heute weltweit im Fokus steht – als Opfer eines brutalen Angriffskrieges, aber auch als Hoffnungsträger für Demokratie, Widerstandskraft und kulturelle Selbstbestimmung.

Immer wieder wird der Vorwurf laut, dass der Krieg in der Ukraine die Menschen in Europa weit mehr bewegt als andere Konflikte – etwa in Syrien, im Sudan oder anderswo. Und für mich persönlich kann ich das leider bestätigen, auch wenn ich weiß, dass das nicht gerecht ist. Dennoch habe ich gemerkt, wie stark mich dieser Krieg emotional berührt hat – vor allem durch den direkten, täglichen Austausch mit unseren zahlreichen Kolleg*innen in der Ukraine.

Plötzlich kannte man Menschen persönlich, deren Urlaubs- und Familienbilder man auf Instagram gesehen hatte. Menschen, mit denen man zusammengearbeitet, gesprochen und gelacht hat – und deren Alltag nun von Sirenen, Bombenalarm und Angst geprägt ist. Das hat den Krieg auf eine völlig neue, unmittelbare Weise spürbar gemacht.

Ich erinnere mich an Videokonferenzen, bei denen unsere Kolleg*innen aus Kiew, Charkiw oder Lwiw aus Bunkern oder Kellern zugeschaltet waren, während draußen Bomben einschlugen. Das war erschütternd. Niemand wurde zur Arbeit gedrängt – im Gegenteil, viele sagten, dass ihnen die Arbeit ein Gefühl von Struktur, Halt und ein Stück Normalität inmitten des Chaos gab.

Ich hatte telefonischen Kontakt zu Kolleg*innen, die mit ihren Kindern auf der Flucht waren – auf der Suche nach sicheren Übernachtungsmöglichkeiten auf dem Weg nach Deutschland, Polen oder in die Niederlande. Diese ganz persönlichen Erfahrungen haben den Krieg in einer Weise präsent gemacht, wie es bei anderen Konflikten für mich nie der Fall war.

Trotzdem gilt: Krieg, Leid und Zerstörung dürfen nicht gegeneinander aufgerechnet werden. Jedes menschliche Schicksal zählt. So sehr ich mir weltweiten Frieden wünsche, bin ich überzeugt: Demokratie und Freiheit müssen geschützt und – wenn nötig – auch verteidigt werden.

Ich starte heute mal mit dem Vergleich zwischen Deutschland und der Ukraine:

  • Fläche: Die Ukraine (603.700 km²) ist fast doppelt so groß wie Deutschland (357.000 km²) und das flächenmäßig größte Land Europas – wenn man Russland außen vor lässt.
  • Bevölkerung: Mit etwa 36 Millionen Einwohner:innen (2024, stark gesunken durch Flucht und Krieg) liegt die Ukraine deutlich unter Deutschland (ca. 84 Millionen), war aber vor dem Krieg bei knapp über 40 Millionen.
  • Bevölkerungsdichte: Rund 60 Personen/km² – deutlich dünner besiedelt als Deutschland (ca. 240 Personen/km²).
  • Wirtschaft: Vor dem Krieg war die Ukraine stark von Landwirtschaft, Industrie (v.a. Stahl, Maschinenbau) und IT-Dienstleistungen geprägt. Sie gilt als Kornkammer Europas – das Land ist einer der größten Exporteure von Weizen und Sonnenblumenöl weltweit. Der Krieg hat die Wirtschaft massiv geschwächt, doch gerade der Tech-Sektor zeigt sich erstaunlich resilient.

Die Geschichte der Ukraine ist eine Geschichte der Fremdbestimmung. Jahrhunderte lang war das heutige Staatsgebiet Spielball konkurrierender Großmächte: Polen-Litauen, Habsburgerreich, Osmanisches Reich, Russland, Sowjetunion. Für die Bevölkerung bedeutete das wechselnde Herrschaftsverhältnisse, Unterdrückung der Sprache, Enteignung, Deportation – und immer wieder blutige Gewalt.

Besonders grausam waren die 1930er Jahre unter Stalin: Der Holodomor, eine durch den sowjetischen Staat verursachte Hungersnot, forderte Millionen Menschenleben. Im Zweiten Weltkrieg wurde die Ukraine zum Schauplatz schwerster Kämpfe, zur Hölle für ihre jüdische Bevölkerung, die in Pogromen und durch die Shoah fast vollständig ausgelöscht wurde. Orte wie Babyn Jar stehen heute stellvertretend für diesen Zivilisationsbruch.


Und dennoch – oder gerade deshalb – entwickelte sich in der Ukraine über die Jahrhunderte eine beeindruckende kulturelle Identität. Literatur, Musik, bildende Kunst und Film florierten, oft im Schatten, oft im Widerstand gegen Zensur und Gewalt

1991 wurde die Ukraine unabhängig – nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, den viele Ukrainer:innen nicht nur als geopolitisches, sondern auch als persönliches Befreiungserlebnis empfanden. Doch die ersten Jahrzehnte waren geprägt von wirtschaftlicher Instabilität, Korruption und einem zähen Ringen zwischen Westorientierung und russischem Einfluss.

2004 die Orangene Revolution. 2014 die Maidan-Proteste – ein demokratischer Aufstand gegen ein korruptes, russlandfreundliches Regime. Der Preis war hoch: Dutzende Tote, die Annexion der Krim durch Russland, der bis heute andauernde Konflikt im Donbass. Und dann, am 24. Februar 2022, der Albtraum: ein großangelegter russischer Angriffskrieg, der ganze Städte in Trümmer legte und Millionen zur Flucht zwang.

Und doch – oder gerade deshalb – wächst auch der Zusammenhalt. Die Ukraine hat sich als widerstandsfähige Demokratie erwiesen, mit einer engagierten Zivilgesellschaft, einer lebendigen Medienlandschaft und einem klaren Blick auf Europa. Präsident Selenskyj, selbst jüdischer Herkunft und einst Schauspieler, wurde zum Symbol für diesen neuen, selbstbewussten ukrainischen Patriotismus.

Und auch gesellschaftlich bewegt sich einiges. Die Situation für LGBTQ+-Personen ist in der Ukraine zwar nach wie vor herausfordernd – Homosexualität ist legal, doch Diskriminierung, Gewalt und gesellschaftliche Ablehnung sind weit verbreitet. Der Krieg hat die Community zusätzlich unter Druck gesetzt, aber auch sichtbar gemacht: queere Soldat:innen kämpfen offen für ihr Land, Aktivist:innen setzen sich weiterhin für Gleichstellung ein, auch in Zeiten größter Not.

Der erste Pride in Kiew fand 2013 unter massivem Polizeischutz statt, mittlerweile gibt es – trotz Krieg – immer wieder kleinere Aktionen und große internationale Solidarität. Es ist noch ein weiter Weg, aber die Ukraine ist auf diesem Weg – und das ist mehr, als man von vielen anderen postsowjetischen Staaten sagen kann.

Was mich bei meiner Lektüre dieses Mal beeindruckt hat: die Vielstimmigkeit der ukrainischen Literatur. In ihr begegnen wir nicht nur der russisch-ukrainischen Spannung, sondern auch der jüdischen, tatarischen, polnischen, sowjetischen und europäischen Geschichte dieses Landes. Stimmen, die überleben wollten – und überlebt haben. Stimmen, die sich Gehör verschaffen – manchmal laut, manchmal leise, aber immer eindringlich.

Für diesen literarischen Stopp habe ich vier Bücher gelesen:

Vielleicht Esther – Katja Petrowskaja erschienen im Suhrkamp Verlag

Schon lange wollte ich dieses Buch lesen, und schlug es daher für unseren Bookclub vor. Petrowskaja hat mit „Vielleicht Esther“ ein ganz besonderes iterarisches Werk geschaffen – zart, klug, poetisch und fragmentarisch. Der Titel selbst ist bereits ein Programm: Was tun, wenn man nicht einmal weiß, wie genau die eigene Urgroßmutter hieß, die in Babyn Jar von den Nazis ermordet wurde? „Vielleicht Esther“ – diese zwei Worte tragen die ganze Unsicherheit, das Ringen mit dem Vergessen, das fragmentarische Erinnern, das Suchen zwischen Überlieferung, Vermutung und Verstummen.

Petrowskaja schreibt keine geradlinige Familienchronik, sondern einen assoziativen Text voller Leerstellen, Anspielungen und Sprachwitz. Es ist ein Buch über jüdische Geschichte, über Stalins Terror, über deutsche Schuld – und immer auch über Sprache als Speicher, als Stolperfalle, als Rettungsanker. Selten halt ein Buch in unserer Runde so einstimmig großartiges Feedback bekommen wie dieses. Unbedingte Leseempfehlung, kann sehr gut verstehen, dass der Text (ich meine Kapitel 5) den Bachmannpreis 2013 bekommen hat.

Katja Petrowskaja, 1970 in Kiew geboren, lebt seit 1999 in Berlin. Sie studierte in Tartu Literaturwissenschaft und Slawistik und promovierte in Moskau. Von 2000 bis 2010 schrieb sie für verschiedene russisch- und deutschsprachige Medien (Neue Zürcher Zeitung, taz, Deutsche Welle, Radio Liberty). Seit 2011 ist sie Kolumnistin der Frankfurter Allgemeinen Sonntagzeitung. Ihr literarisches Debüt Vielleicht Esther (2014) wurde in mehr als 30 Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet. 2022 erschien der Essayband Das Foto schaute mich an, 2025 der Essayband Als wäre es vorbei. Texte aus dem Krieg. Sie lebt in Berlin. Bin sehr beeindruckt wie poetisch sie in einer Sprache schreibt, die nicht einmal ihre Muttersprache ist. Habe zig Stellen angekreuzt, gar nicht einfach sich für ein Zitat hier zu entscheiden:

„Hitler hat die Leser getötet und Stalin die Schriftsteller, so fasste mein Vater das Verschwinden der Sprache zusammen. Diejenigen, die den Krieg überlebt hatten, waren wieder in Gefahr. Juden, Halbjuden, Vierteljuden – man lernte wieder, die Prozente zu schmecken, so dass die Zunge am kalten Eisen anfror. Sie wurden als heimatlose Kosmopoliten stigmatisiert, vielleicht weil man sie ungeachtet aller Grenzen tötete, sie, die verbotene Beziehungen mit dem Ausland unterhielten und deswegen nict zur großen Familie der sowjetischen Brudervölker gehören durften.“

Das Buch wurde 2013 mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet – völlig zurecht. Für mich persönlich eines der besten Bücher dieser Reise, fünf Sterne ohne Zögern.

Sie kam aus Mariupol – Natascha Wodin erschienen im Rowohlt Verlag

Dieses Buch liest sich wie ein Echo auf *Vielleicht Esther*, obwohl es einen ganz eigenen Weg geht. Wodin begibt sich auf die Spur ihrer Mutter, die in den 1940er Jahren als Zwangsarbeiterin aus der Ukraine nach Deutschland verschleppt wurde. Lange wusste die Autorin fast nichts über sie – nur, dass sie sich das Leben nahm, als Wodin noch ein Kind war. Die Spurensuche beginnt mit einer einfachen Google-Anfrage, entwickelt sich dann aber zu einer minutiösen Recherche, die von einem alten Friedhof bis ins digitale Unterholz führt.

Wodin teilt ihr Buch in zwei Hälften: Der erste Teil dokumentiert ihre Recherche, kühl, nüchtern, fast reportagehaft – der zweite Teil ist eine fiktionalisierte Nacherzählung des Lebenswegs der Mutter. Diese Zweiteilung funktionierte für mich erstaunlich gut und erlaubt einen doppelten Blick auf Erinnerung: erst als historische Spurensuche, dann als imaginierte Rekonstruktion.

„Über Mariupol wusste ich zu dieser Zeit so gut wie nichts. Auf der Suche nach meiner Mutter war es mir nie in den Sinn gekommen, mich über die Stadt kundig zu machen, aus der sie stammte. Mariupol, das vierzig Jahre lang Shdanow hieß und erst nach dem Zerfall der Sowjetunion wieder seinen alten Namen erhielt, blieb ein innerer Ort für mich, den ich niemals dem Licht der Wirklichkeit aussetzte. Seit jeher war ich im Ungefähren zu Hause, in meinen eigenen Bildern und Vorstellungen von der Welt. Die äußere Wirklichkeit bedrohte dieses innere Zuhause, und deshalb wich ich ihr nach Möglichkeit aus.“

Besonders spannend fand ich den Vergleich zu Petrowskaja: Wo diese die Lücken umarmt, will Wodin sie schließen. Wo Petrowskaja poetisch fragmentiert, strukturiert Wodin chronologisch. Beide Bücher ergänzen sich für mich wunderbar – und erzählen auf ihre je eigene Weise von Verlust, Herkunft, Zugehörigkeit und Trauma.

Natascha Wodin, 1945 als Kind sowjetischer Zwangsarbeiter in Fürth/Bayern geboren, wuchs erst in deutschen DP-Lagern, dann, nach dem frühen Tod der Mutter, in einem katholischen Mädchenheim auf. Für Sie kam aus Mariupol“ wurden ihr der Alfred-Döblin-Preis, der Preis der Leipziger Buchmesse und der Hilde-Domin-Preis für Literatur im Exil 2019 verliehen.

Baba Dunjas letzte Liebe – Alina Bronsky erschienen im Kiepenheuer & Witsch Verlag

Ein Buch, das ich – eine eher leichte Sommergeschichte trotz Tschernobyl Thematik erwartend sozusagen mit einem Lächeln begonnen und mit einem dicken Kloß im Hals beendet habe. Bronsky erzählt die Geschichte von Baba Dunja, einer alten Frau, die nach dem Reaktorunglück von Tschernobyl in ihr verlassenes Dorf zurückkehrt – und dort eine Art anarchisch-melancholische Gemeinschaft mit anderen alten Zurückgekehrten bildet. Es ist eine Geschichte über Altern, Selbstbestimmung, Widerstand und das kleine Glück inmitten des großen Abbruchs.

Was mich besonders berührt hat: die ruhige Würde dieser Frauen, ihre Härte, ihr Humor – und wie Bronsky es schafft, ihre Figuren nicht zu verklären und doch ganz ernst zu nehmen. Der Ton ist leichter als bei Petrowskaja oder Wodin, aber das macht den Roman nicht weniger eindrucksvoll.

„Nichts auf der Welt ist so furchtbar, wie jung zu sein. Als Kind geht es noch. Da gibt es, wenn du Glück hast, Menschen, die sich um dich kümmern. Aber ab sechzehn wird es herb. Du bist eigentlich immer noch ein Kind, doch alle sehen nur einen Erwachsenen in dir, den man leichter treten kann als einen, der älter und erfahrener ist. Niemand will dich mehr beschützen. Du bekommst ständig neue Aufgaben aufgehalst. Niemand fragt dich, ob du irgendwas verstanden hast von dem, was du neuerdings zu tun hast.“

Für mich war das auch eine Reise in meine eigene Kindheit: Ich bin selbst zwischen alten Frauen aufgewachsen, in einer Hausgemeinschaft, wo viel miteinander gestrickt, Obst und Gemüse geteilt und verarbeitet, manchmal im Treppenhaus gestritten und bei Gewitter auch mal gemeinsam auf Betten gesessen wurde. Vielleicht hat das meine Lesart dieses Romans besonders gefärbt. Aber ich glaube, viele werden sich ein kleines bißchen in Baba Dunja verlieben, spätestens auf Seite 12.

Eine Formalie in Kiew – Dmitrij Kapitelman erschienen im Hanser Verlag

Zum Schluss ein Buch, bei dem man sich vielleicht ein bisschen lernen muss sich auf den Tonfall einzulassen. Kapitelman nimmt uns mit auf eine kafkaesk-komische Reise nach Kiew, wo er ein bestimmtes Dokument braucht, um in Deutschland eingebürgert zu werden. Klingt banal – ist es nicht. Denn daraus entspinnt sich eine aberwitzige, traurige und politisch hochinteressante Geschichte über Identität, Staatsbürgerschaft, Erinnerung und Familie.

Der Begriff des „Ent-Dankens“ hat sich mir eingebrannt – Kapitelmans Beschreibung wie man richtig besticht.

„Wie zwei slawische Bauernpatrioten angezogen, landen Vater und ich also in Leipzig. Und stehen für unsere Rückkehr ins richtige Staatsleben an. Hier spotten die Landsleute auch über ihren Staat, würden ihm aber sofort ihr Leben anvertrauen, wenn es mal nichts mehr zu Lachen gäbe. Die Kanalisationsdeckel sind fest, die Feuerwehr kommt präventiv, Postboten besuchen Chirurgie-Grundkurse, Straßenhunde gibt es nicht und frei darf man sein. Sogar mit einem Galgen für den Hals der Kanzlerin demonstrieren. Dass die Faschisten trotzdem von der Macht in Deutschland tagträumen können, dass meine Landsleute wieder bereit sein könnten, ihnen alles zu opfern, ich werde es nie verstehen. Und immer weiter bekämpfen.“

Zwischen trockener Bürokratie, Alltagsrassismus, post-sowjetischem Humor und echtem Familienkrach zeigt das Buch ein modernes, zerrissenes, korruptes und zugleich menschlich berührendes Bild der Ukraine. Ein Roman, der nicht erklärt, sondern zeigt – und einen ganz eigenen Sound hat. Ich mochte ihn sehr.

Dmitrij Kapitelman, 1986 in Kyjiw geboren, kam im Alter von acht Jahren als »Kontingentflüchtling« mit seiner Familie nach Deutschland. Er studierte Politikwissenschaft und Soziologie an der Universität Leipzig und absolvierte die Deutsche Journalistenschule in München. Heute arbeitet er als freier Journalist.

Natürlich darf der kulturelle Rundumblick nicht fehlen: Was das ukrainische Kino angeht, bin ich leider noch ganz am Anfang – bisher habe ich leider noch keinen Film aus der Ukraine gesehen. Ganz oben auf meiner Wunschliste steht aktuell „My Thoughts Are Silent“ (2019) von Antonio Lukich. Der Film soll mit viel lakonischem Humor von einem jungen Toningenieur erzählen, der mit seiner Mutter durch die Westukraine reist, um Tiergeräusche aufzunehmen – eine scheinbar absurde, dabei aber tiefsinnige Geschichte über Familie, Identität und Freiheit.

Leider konnte ich den Film bislang in keinem meiner verfügbaren Programme oder Dienste finden – aber die Suche geht weiter. Habt ihr sonst noch Tipps für Filme aus der Ukraine?

Musikalisch war ich mit der Ukraine schon länger in losem Kontakt – insbesondere über die Post-Rock-Szene, die erstaunlich lebendig ist. Besonders die Band „Sleeping Bear“ hat es mir angetan: große, melancholische Klanglandschaften, ideal für regnerische Tage oder lange Bahnfahrten. Wer Post-Rock mag, wird sie lieben.


Auch bei der ESC-Gewinnerin „Jamala“ lohnt sich ein genauerer Blick (und vor allem ein genaueres Hinhören): Ihr Song „1944“ war nicht nur musikalisch stark, sondern auch eine politische Botschaft – über die Vertreibung der Krimtataren unter Stalin. Auch ihre späteren Alben zeigen, wie man Tradition, Pop und Haltung vereinen kann.

Für die Bookclub Diskussion zu Petrowskajas „Vielleicht Esther“ hatte ich auch fleißig ukrainisch gekocht – und dann komplett vergessen Fotos zu machen *grrr*. Geschmeckt hat es auf jeden Fall – es gab einen Spinat-Reis-Hackfleisch-gekochtes Ei-Eintopf mit Schmand (Rezept aus der Kindheit noch von einer ukrainischen Nachbarin – einen bestimmten Namen hatte es nicht das Gericht, außerdem gab es einen Rote-Beete-Salat sowie einen rote Zwiebel Dipp und zu allem natürlich jede Menge Dill.

Hier noch ein paar Empfehlungen für weitere Bücher aus der Ukraine:

Svetlana Alexievich – Tschernobyl eine Chronik der Zukunft
Andrey Kurkow – Graue Bienen
Sofi Oksanen – Putins Krieg gegen die Frauen

Wer noch mal zu den vorherigen Stationen (Sri Lanka, Italien, Trinidad & Tobago, Nigeria, Südkorea, China, Israel, Belarus, Japan, DR & Republik Kongo, USA, Polen, Chile, Afghanistan, Vietnam) zurückreisen möchte wird in meiner Kategorie „Read around the World“ fündig.

Und wie immer: Wenn ihr eigene Lese-, Film- oder Musiktipps zur Ukraine habt – her damit! Ich hoffe, auch dieser Stopp auf meiner literarischen Weltreise hat euch gefallen. Im nächsten Beitrag geht es weiter nach Mexiko.

November Lektüre

Im November war mein Lesemonat besonders produktiv und abwechslungsreichAus irgendeinem Grund habe ich vergessen sowohl Sloan Wilsons „The Man in the Gray Flannel Suit“ als auch Jhumpa Lahiris „Roman Stories“ mit aufs Foto zu nehmen. Sowas.
Es war ein Monat mit zwei großen Highlights, ohne echte Enttäuschungen und vielen schönen Momenten, die ich hier mit euch teilen möchte.

Wie gewohnt in alphabetischer Reihenfolge:

Isabel Allende – Das Geisterhaus erschienen im Suhrkamp Verlag, übersetzt von Annelise Botond

Hierzu werde ich hier gar nicht viel schreiben, denn Chile war ja einer der Stops im November und ihr könnt hier alles über das Buch und über das Land nachlesen.

Diane Cook – The Wilderness auf deutsch unter dem Titel „Die neue Wildnis“ im Heyne Verlag erschienen, übersetzt von Astrid Finke

Diane Cook entführt uns in ihrem Roman der 2020 den Booker Prize gewonnen hat in eine erschreckende Dystopie. Die Welt, wie wir sie kennen, liegt in Trümmern, und der „Wilderness State“ ist die letzte Zuflucht für Mensch und Natur. Im Zentrum steht Bea, die sich dem Experiment anschließt, um ihrer Tochter Agnes ein Überleben fern der verpesteten Stadt zu ermöglichen.

Ich war fasziniert von der intensiven Darstellung dieser rauen Welt, die Cook mit präzisen, fast poetischen Beschreibungen zum Leben erweckt. Die Beziehung zwischen Bea und Agnes, geprägt von Konflikten und dem Versuch, Nähe in einer gnadenlosen Umgebung zu finden, bildet das emotionale Herz des Romans. Besonders beeindruckend fand ich, wie die unterschiedlichen Perspektiven der beiden Generationen herausgearbeitet werden – Bea, die noch Erinnerungen an die Stadt hat, und Agnes, die nur die Wildnis kennt.

She hated her mother’s fierce love. Because fierce love never lasted. Fierce love now meant that later, there would be no love, or at least that’s what it would feel like. Agnes wanted a mild mother, one who seemed to love her exactly the same every day. She thought, Mild mothers don’t run away.

Doch obwohl mich die Geschichte in vielerlei Hinsicht gefesselt hat, hätte ich mir an einigen Stellen mehr Hoffnung gewünscht. Die düstere Konsequenz, mit der die Figuren oft in ihrer Isolation verharren und die Menschheit insgesamt mit einem schonungslosen Blick betrachtet wird, verdüsterte mir ganz schön das Gemüt. Hoffnungsschimmer, die zeigen, wie Kooperation und Mitgefühl in einer so feindlichen Welt gedeihen könnten, hätten das Bild abgerundet.

Trotzdem ist The New Wilderness ein starker, nachdenklich stimmender Roman, der mich noch immer beschäftig. Cook stellt unbequeme Fragen: Was bleibt von unserer Menschlichkeit, wenn die Welt um uns herum zerbricht? Und wie können wir uns – oder überhaupt eine Zukunft – neu erfinden? Dieses Buch ist keine leichte Kost, aber eine Reise, die sich lohnt.
Traut ihr euch?

Louise Glück – Wilde Iris erschienen im Luchterhand Verlag, übersetzt von Ulrike Draesner

Momentan brauchen wir glaube ich unbedingt zwei Dinge: Glück und Poetry. Daher habe ich heute eine Portion von beidem für euch – verbunden mit einer großen Empfehlung für Louise Glücks zweisprachigen Gedichtband „Die Wilde Iris“, großartig übersetzt von Ulrike Draesner. In dieser einzigartigen Sammlung lässt Glück die Natur selbst sprechen: Pflanzen und Blumen werden zu Stimmen, die von Vergänglichkeit, Trauer und Hoffnung erzählen. Ihre Sprache ist klar und meditativ, voller leiser Kraft und Nachdenklichkeit, die tief in das Wesen der Existenz blicken lässt. Die Wilde Iris ist nicht nur ein poetisches Werk, es ist fast schon ein Gespräch mit der Natur, das uns die oft übersehene Weisheit des Einfachen und die Schönheit des Neuanfangs zeigt. Hier findet man Momente der Stille, der Reflexion und garantiert ein kleines Glück.

I don’t need your praise
to survive. I was here first,
before you were here, before
you ever planted a garden.
And I’ll be here when only the sun and moon
are left, and the sea, and the wide field.

I will constitute the field.

Mairi Hedderwick – An Eye on the Hebrides: An Illustrated Journey erschienen im Birlinn Verlag, bislang nicht auf deutsch erschienen

Ich habe diesen bezaubernden Bildband regelrecht verschlungen. Mairi Hedderwick nimmt uns mit auf eine Reise durch die Hebriden, die gleichzeitig eine Hommage an diese rauen, atemberaubenden Inseln ist. Besonders berührt haben mich ihre lebendigen Aquarelle und die witzigen Beobachtungen des Alltags – ein ästhetisches und literarisches Erlebnis gleichermaßen.

Da ich selbst einige der beschriebenen Inseln besucht habe, fühlte ich mich sofort zurückversetzt: Der salzige Wind, die Farben der Landschaft, die Einsamkeit der Strände – alles wurde durch Hedderwicks Skizzen und Beschreibungen lebendig. Ihr Buch macht Lust, die Taschen zu packen und direkt aufzubrechen. Vielleicht sogar auszuwandern? Wäre da nicht die allgegenwärtige Plage der Midges – könnten wir die nicht nach Texas exportieren?

„An Eye on the Hebrides“ ist mehr als ein Reisetagebuch; es ist ein Liebesbrief an die Hebriden und ein Weckruf, den Zauber des Einfachen zu entdecken.

Jhumpa Lahiri – Roman Stories auf deutsch unter dem Titel „Das Wiedersehen: Römische Geschichten“ im Rowohlt Verlag erschienen, übersetzt von Julika Brandestini

Diese Kurgeschichtensammlung haben wir bereits im Oktober im Bookclub gelesen, aber ich hatte sie tatsächlich bislang vergessen zu besprechen, hol ich also einfach im November nach.

Jhumpa Lahiris Kurzgeschichtensammlung Roman Stories hat mich mit ihrer atmosphärischen Dichte und sprachlichen Eleganz durchaus beeindruckt. Die neun Geschichten sind ein kaleidoskopischer Blick auf Rom und seine Bewohner – Einheimische wie Zugezogene –, die alle auf die eine oder andere Weise mit Entfremdung kämpfen. Lahiri fängt die Spannung zwischen Schönheit und Zerfall der Stadt mit meisterhaften Details ein, und ihre Figuren bleiben lange im Gedächtnis.

Einige Geschichtenhaben mich besonders berührt. Sie erforschen Themen wie Verlust, Schuld und die Suche nach einem Ort, den man Heimat nennen kann. Lahiris Fähigkeit, das Unsagbare in präzise und bewegende Worte zu fassen, ist hier klar zu spüren. Die Übersetzung aus dem Italienischen, teils von Lahiri selbst, ist dabei durchweg geschmeidig und elegant.

Certain stories are hard to bear, as are certain things we’ve lived or observed or fumbled or explored with great care. They transmit an energy that extends beyond the disposable day-to-day. Our deepest memories are like infinite roots reflected in the brook, a simulacrum without end. And yet every story, like every life, lasts only so long.

Trotzdem konnte die Sammlung für mich nicht an die emotionale Wucht von Lahiris Roman „The Lowlands“ heranreichen, den wir im Sommer im Bookclub gelesen haben. Roman Stories ist zurückhaltender, fragmentierter – mehr Skizze als Gemälde. Die Geschichten sind oft so knapp, dass ich mich nach mehr Tiefe und Kontext sehnte. Auch die durchgehende Melancholie, obwohl eindringlich, wirkte mitunter etwas überwältigend.

John Steinbeck – Von Mäusen und Menschen im dtv Verlag erschienen, übersetzt von Elisabeth Rotten

Ich war von John Steinbecks „Von Mäusen und Menschen“ sehr beeindruckt. In nur wenigen Seiten entfaltet sich eine intensive, oft schmerzvolle Geschichte über Freundschaft, Träume und die Härten des Lebens. Die Novelle spielt zur Zeit der Great Depression in Kalifornien und folgt den beiden Wanderarbeitern George und Lennie, die sich – trotz aller Widrigkeiten – gegenseitig unterstützen. George, der clevere und umsorgende Beschützer, und Lennie, dessen kindliche Naivität und enorme Kraft ihn in Schwierigkeiten bringt, träumen gemeinsam von einem kleinen Stück Land, das ihnen Sicherheit und Freiheit bieten soll. Doch die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bedingungen, gepaart mit Lennies impulsivem Verhalten, führen unaufhaltsam zu einem tragischen Ende.

Steinbeck, selbst in Kalifornien geboren, erlebte die sozialen und wirtschaftlichen Kämpfe der einfachen Arbeiter hautnah, was seine Werke, wie auch „Of Mice and Men“, so glaubwürdig und mitfühlend macht. Er gehört zu den großen amerikanischen Schriftstellern des 20. Jahrhunderts und widmete sich immer wieder dem Schicksal der Arbeiterklasse.

Maybe ever’body in the whole damn world is scared of each other.

Obwohl ich die Geschichte mochte und sie mich emotional tief berührt hat, ist mir Steinbecks „Cannery Row“ dennoch etwas lieber. „Von Mäusen und Menschen“ endet mit einer solchen Tragik, die mich noch lange beschäftigte. „Cannery Row“ dagegen, ebenfalls tiefgründig, bietet doch einen wärmeren, versöhnlicheren Ausklang. Für mich zeigt Steinbeck hier nicht nur sein Talent, das harte Leben zu schildern, sondern auch, wie er Momente von Menschlichkeit und Gemeinschaft aufleben lassen kann.

Dennoch: Es ist ein Meisterwerk der amerikanischen Literatur, das ich unbedingt empfehlen würde. Steinbeck schafft es, in kurzer Form eine bleibende, intensive Geschichte zu erzählen, die definitiv lange nachwirkt.

Olga Tokarczuk – Empusion erschienen im Kampa Verlag, übersetzt von Lisa Palmes und Lothar Quinkenstein

Das war der zweite Stopp diesen Monat bei der literarischen Weltreise und ich verweise für die Besprechung auf den Beitrag hier.

Sloan Wilson – The Man in the Gray Flannel Suit auf deutsch unter dem Titel „Der Mann im Grauen Flanell“ im Dumont Verlag erschienen, übersetzt von Eike Schönfeld

Sloan Wilsons „The Man in the Gray Flannel Suit“ (1955) ist ein zeitloses Porträt der amerikanischen Nachkriegs-gesellschaft und ein Klassiker, der heute genauso relevant ist wie vor fast 70 Jahren. Mit scharfsinniger Beobachtung und tiefem Mitgefühl schildert Wilson das Leben von Tom Rath, einem Kriegsveteranen und Familienvater, der sich in den Untiefen des amerikanischen Vorstadtlebens und der Businesswelt der 1950er Jahre zurechtfinden muss.

Tom Rath steht für eine Generation, die nach dem Zweiten Weltkrieg zwischen ihren Idealen und den Zwängen des modernen Lebens zerrieben wurde. Gefangen in einer Welt, die auf Erfolg, Status und Materialismus ausgerichtet ist, ringt er mit den großen Fragen: Was bedeutet es, ein gutes Leben zu führen? Wie kann man Integrität und Authentizität bewahren? Tom und seine Frau Betsy versuchen, ihre Ehe und ihre Werte zu wahren, während sie sich den Herausforderungen stellen, die der Aufstieg in der gesellschaftlichen Hierarchie mit sich bringt.

Eine der stärksten Nebenfiguren ist der Judge Bernstein. Er verkörpert eine Tugendhaftigkeit und moralische Klarheit, die in scharfem Kontrast zu der zynischen Geschäftswelt steht, in der sich Tom bewegt. Seine Weisheit machen ihn zu einer Art moralischem Kompass des Romans und ist damit ähnlich wie Betsy oder Tom sind Menschen voller Aufrichtigkeit und Mitgefühl, die sich die „MAGA“-Idioten zum Vorbild nehmen sollten, wenn sie davon quaken Amerika wieder great machen zu wollen. Dann verhaltet euch halt so. Das sind die Qualitäten, die heute überall dringend gebraucht werden.

Wilson zeigt, dass wahre Größe nicht im Streben nach Reichtum oder Status liegt, sondern im Streben nach einem Leben, das von Liebe, Pflichtbewusstsein und persönlichen Prinzipien geprägt ist. Es ist ein Plädoyer für die Rückbesinnung auf Werte, die jenseits von Egoismus und Gier liegen – eine Botschaft, die sich wunderbar als Antwort auf die Oberflächlichkeit und den Zynismus unserer Zeit eignet.

1956 wurde das Buch mit Gregory Peck und Jennifer Jones in den Hauptrollen verfilmt. Der Film fängt die Essenz des Romans gut ein. Das Buch erinnert stark an Mad Men und ich frage mich, ob die Serie sich an den Roman angelehnt hat. Auf jeden Fall wird ständig und dauernd getrunken. Martinis werden geshaked, Cocktails zu allen Tages- und Nachtzeiten getrunken. Das waren echt andere Zeiten.

How smoothly one becomes, not a cheat, exactly, not really a liar, just a man who’ll say anything for pay.

Sloan Wilson (1920–2003) war ein amerikanischer Schriftsteller, dessen Werke oft den Konflikt zwischen persönlicher Integrität und gesellschaftlichen Erwartungen thematisierten. Neben „The Man in the Gray Flannel Suit“ schrieb er zahlreiche weitere Bücher, darunter A Summer Place, ein ebenfalls berühmter Roman über gesellschaftlichen Wandel.

Ich würde mich sehr freuen, wenn der Roman wieder entdeckt würde. Seine große Positivität – geprägt von Hoffnung, Verantwortung und wichtigen Werten – macht ihn zu einer inspirierenden und zeitlosen Lektüre. Im Bookclub waren wir durch die Bank begeistert. Große Empfehlung!

Geschafft – bin ganz schön rumgekommen im November. Ich war in Chile, den USA, auf den Hebriden-Inseln, in Rom und in Polen. Nicht schlecht, oder?
Welche der vorgestellten Bücher kennt ihr und wie fandet ihr sie und was waren eure Highlights im November? Freue mich über eure Kommentare.

Oktober Lektüre

Der Oktober brachte eine interessante Mischung an Leseerlebnissen mit sich. Von einem echten 5-Sterne-Highlight über solide 4-Sterne-Bücher bis hin zu einem 3-Sterne-Werk war alles dabei. Ich freue mich, euch einige dieser besonderen Titel vorzustellen und bin gespannt, wie euer Lesemonat verlaufen ist! Gab es für euch absolute Highlights oder vielleicht auch Enttäuschungen? Und welche meiner Empfehlungen kennt ihr schon oder machen euch neugierig? Eure Rückmeldungen sind wie immer herzlich willkommen!

Rebecca F. Kuang – Yellowface im Eichborn Verlag erschienen, übersetzt von Jasmin Humburg
★★★★☆

„Yellowface“ von R. F. Kuang hat mich tatsächlich ganz schön gefesselt – für mich ein echter Pageturner. Der Roman dreht sich um June Hayward, eine erfolglose Autorin, die das Manuskript ihrer verstorbenen Kollegin Athena Liu stiehlt und es unter ihrem eigenen Namen veröffentlicht. June war stets mega neidisch auf den Erfolg ihrer College Freundin Athena in deren Schatten sie stand. Schon am Anfang war klar, dass Junes Karriere nach diesem Coup zunächst steil bergauf gehen würde – und ihr Fall umso tiefer. Das war richtig nervenaufreibend obwohl ich die Protagonistin nicht wirklich sympathisch fand. Aber gerade die moralischen Grauzonen machten das Buch so spannend.

Besonders faszinierend fand ich, wie tief man hinter die Kulissen der Verlagsbranche blicken konnte. Kuang zeigt schonungslos, wie gnadenlos und oft auch scheinheilig dieser Markt ist, wo Marketing, Macht und Identität eng verknüpft sind. Von toxischen Gatekeepern über die Frage nach kultureller Aneignung bis hin zur Rolle von Social Media – das Buch liefert eine spannende Analyse, die unter die Haut geht und einem eine Menge zum Nachdenken mitgibt. Ich habe dabei richtig viel über die oft verborgenen Strukturen und Dynamiken gelernt, die über Erfolg oder Scheitern eines Buches entscheiden.

Der Literaturbetrieb sucht sich einen Gewinner oder eine Gewinnerin aus – attraktiv genug, cool und jung und, mal ehrlich, wir denken es doch alle, also sprechen wir es doch auch aus, „divers“ genug – und überschüttet diese Person mit Geld und Unterstützung.

Rebecca F. Kuang ist wirklich eine beeindruckende junge Autorin. Schon ihr Roman Babel war großartig. Man hat das Gefühl was Kuang anpackt wird zu Gold. Sie hat einen beeindruckenden akademischen Hintergrund und ich hab keine Ahnung wie sie es schafft mit 28 Jahren in Cambridge und Yale zu studiert zu haben, jetzt ihren PhD zu machen und nebenher noch 5 Bücher zu schreiben. Wow 😮

Wenn ich überlege was ich mit 28 so gemacht habe – ähm ja 😉 Ich hatte das Glück, beim Eichborn Verlag eine signierte Ausgabe zu gewinnen, freu mich noch immer sehr darüber. Ich liebe signierte Bücher 😊

RF Kuang ist eine Autorin die ich definitiv im Auge behalten werde und ich bin echt gespannt was noch alles kommt!

Tonio Schachinger – Echtzeitalter erschienen im Rowohlt Verlag
★★★☆☆

Tonio Schachingers „Echtzeitalter“, der Roman, der 2023 den Deutschen Buchpreis erhielt, hat mich zwiespältig zurückgelassen. Grundsätzlich fand ich die Coming-of-Age-Geschichte spannend, und auch den humorvollen, teils bissigen Stil, mit dem Schachinger das Leben seines jugendlichen Protagonisten an einer Wiener Eliteschule beschreibt, durchaus unterhaltsam. Die Wahl des Theresianums als fiktive Kulisse ist eine gute Grundlage, um das Spannungsfeld zwischen den Erwartungen der Gesellschaft und den inneren Welten Jugendlicher darzustellen. Der 1992 in Wien geborene Autor greift dabei gekonnt auf die Tradition des Schulromans zurück – eine Linie, die an Klassiker wie Musils „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“ oder Hesses „Unterm Rad“ anknüpft. Und ja, es gibt viel zu erkennen in Schachingers Schilderungen: Gesellschaftskritik, eine ironische Distanz zur Wiener Tradition und einiges an literarischem Witz.

Denn der Dolinar hält, ebenso wie Palffys Eltern und die meisten sich als konservativ beschreibenden Menschen, das Bekanntwerden einer Verfehlung immer für schlimmer als die Verfehlung selbst.

Würden Till und seine Klassenkollegen Antonio Gramsci lesen statt Adalbert Stifter, dann wüssten sie, dass Hegemonie immer auf Konsens basiert, dass all die Sachen, die uns wie Erleichterungen unseres Elends vorkommen – die Spiele, die Freizeit -, in Wahrheit dieses Elend erst ermöglichen. Weil es uns erpressbar macht, an etwas zu hängen; weil die Erleichterungen vom Elend uns das Elend erst ertragen lassen.

Und doch hatte ich Schwierigkeiten, eine echte Bindung zu den Figuren aufzubauen. Der Protagonist bleibt für mich seltsam fremd, und auch die Nebenfiguren blieben oft skizzenhaft und nicht wirklich nahbar. Das liegt vielleicht daran, dass das Thema Computerspiele eine so zentrale Rolle spielt – ein Bereich, mit dem ich persönlich wenig verbinde. Schachingers Protagonist entzieht sich dem klassischen Schulalltag, indem er sich in die Welt der Games flüchtet, und das ist für ihn nicht nur Hobby, sondern eine fast identitätsstiftende Leidenschaft, die auch hilft, den Tod des Vaters zu verarbeiten. Dieser Aspekt der Geschichte hat sicher eine eigene Faszination und bringt eine neue, unkonventionelle Perspektive in die literarische Darstellung jugendlicher Selbstfindung. Dennoch habe ich mich oft eher als distanzierter Beobachter gefühlt denn als wirklich involvierter Leser.

Obwohl ich „Echtzeitalter“ durchaus als lesenswert empfinde und es auch seine unterhaltsamen wie tiefsinnigeren Momente hat, halte ich es persönlich nicht unbedingt für preiswürdig. Rückblickend auf das Literaturjahr und die anderen Werke der Shortlist hätte ich wohl eine andere Wahl getroffen.

Die Juryentscheidung wirkt, wie bereits manche Kritiker angemerkt haben, fast ein wenig willkürlich – und das nicht nur wegen der Vorhersehbarkeit des Themas „Computerspiele und Jugendkultur“.

Ich danke @kitty_cat_84 für das wunderbare Foto – es war einfach unerlässlich bei dem Roman ein paar Reclamhefte im Hintergrund zu haben.

Anne Michaels – Wintergewölbe erschienen im Berlin Verlag, übersetzt von Nora Matocza
★★★☆☆

Als ich nach vielen Jahren Anne Michaels‘ Wintergewölbe in die Hände bekam, war ich sehr darauf gespannt. Ihr Roman „Fugitive Pieces – Fluchtstücke“ ist eines meiner Lieblingsbücher, das ich mehrmals gelesen habe. Besonders fasziniert haben mich im Wintergewölbe die Passagen über den Bau des Assuan-Staudamms in Ägypten – eine beeindruckende und melancholische Reflexion über den Verlust von Heimat und Geschichte. Michaels verbindet das Schicksal der durch den Staudamm vertriebenen Nubier auf poetische Weise mit dem Bau des Sankt-Lorenz-Seewegs in Kanada. Ihre Beschreibungen sind so detailreich und lebendig, dass man spürt, wie tiefgreifend diese Eingriffe in das Leben der Menschen sind.

Ich glaube wir Menschen haben nur alle in unserem Leben nur ein, zwei philosophische oder politische Grundgedanken, haben nur ein, zwei Ordnungsprinzipien in unserem gesamten Leben, und alles Übrige kommt von dort …

Die Atmosphäre des Romans ist typisch Michaels: melancholisch und poetisch, was mir sehr gefallen hat. Ihre Sprache ist von großer Schönheit. Doch trotz dieser Momente der sprachlichen Brillanz und der bewegenden Thematik erreicht Wintergewölbe für mich bei Weitem nicht das emotionale Niveau von Fugitive Pieces. In Wintergewölbe geht es mehr um das Argument als um die Geschichte – wie eine Kritikerin so treffend sagte: „Michaels konstruiert eine Brücke zwischen zwei sehr unterschiedlichen Männern.“ Doch genau diese Konstruktion bleibt mir zu distanziert, zu abstrakt. Die Figuren sind in weiten Teilen mit sich selbst beschäftigt, und obwohl Jean, die zentrale Figur, durch ihre stillen Beobachtungen und ihren Schmerz tief berührt, bleibt die emotionale Verbindung für mich im Vergleich zu Michaels‘ früherem Buch doch blasser.

Der Roman fühlt sich an manchen Stellen wie ein lehrreiches Stück Geschichte an, und während die Passagen rund um die technischen und architektonischen Meisterleistungen spannend sind, vermisst man oft die intime Nähe zu den Figuren. Das Buch, so lyrisch es auch ist, lässt die Leser*in letztlich eher kalt, besonders im Vergleich zu Fugitive Pieces. Dennoch ist Michaels’ Blick auf Verlust und Erinnerung klar und packend, auch wenn dieser Roman nicht die gleiche emotionale Wucht erreicht.

Ich bin auf jeden Fall sehr auf ihren neuesten Roman „Held“ gespannt, der aktuell auf der Booker Shortlist steht.

Welches ist euer Lieblingsroman von Ms Michaels?

Daniel Kehlmann – Tyll erschienen im Rowohlt Verlag
★★★☆☆

„Tyll“ von Daniel Kehlmann hatte mich eigentlich durchaus angesprochen – die Idee, einen Gaukler als Wegbegleiter durch den Dreißigjährigen Krieg zu erleben, schien faszinierend. Tyll ist angelehnt an die historische Figur Till Eulenspiegel, und Kehlmann lässt ihn in seinem Buch als schillernde, rätselhafte Figur durchs zerrissene Land ziehen, voller List, scharfsinniger Streiche und Grausamkeit. Die Episoden, die Kehlmann miteinander verknüpft – Tyll als Narr eines exilierten Königspaares, die Begegnungen mit erfundenen und historischen Persönlichkeiten – zeichnen ein fast kaleidoskopartiges Bild dieser düsteren Zeit.

Dabei fand ich beeindruckend, wie gekonnt Kehlmann Fiktion und Realität miteinander vermischt. Die Erzählweise bleibt immer unterhaltsam, oft poetisch und verzichtet darauf, Leid und Elend zu explizit zu schildern, was dem/der Leser*in einen gewissen Abstand erlaubt. Trotz dieser Leichtigkeit, die Kehlmann den Schrecken gegenüberstellt, fiel es mir schwer, einen richtigen Zugang zu Tyll zu finden.

Verachtet, gefürchtet, ausgegrenzt. Offen ansprechen, gar berühren durfte man sie nicht. Sie selbst lebten vom Tod, von der Folter und in der ständigen Angst von einem Delinquenten verflucht zu werden. Ihren Kindern und Kindeskindern stand kein anderer Beruf mehr offen, einmal Henker, immer Henker …“

Vielleicht liegt es an der Schelmenfigur selbst, die mir zu distanziert und unnahbar blieb. Auch wenn Kehlmanns Buch komplex und kunstvoll komponiert ist, habe ich mich als Leserin oft nur als Beobachterin gefühlt und weniger als emotional Beteiligte. Vielleicht liegt es daran, dass der Schelmenroman per se nicht mein bevorzugtes Genre ist. Trotzdem bereue ich das Lesen keineswegs – es war faszinierend, wie Kehlmann den Dreißigjährigen Krieg auf diese Art belebt und erzählt. Nur wirkliche Begeisterung wollte sich für mich einfach nicht einstellen.

Habt ihr es gelesen? Wie fandet ihr Tyll?

Jörg Bong – Die Flamme der Freiheit erschienen im Kiepenheuer & Witsch Verlag
★★★★★

Jörg Bongs „Die Flamme der Freiheit“ ist ein Buch, das sich wie ein Denkmal für die lange Zeit vergessenen deutschen Freiheitskämpferinnen und Freiheitskämpfer der Revolution von 1848/49 liest – eine Geschichte, die im heutigen Bewusstsein oft im Schatten steht, obwohl sie einen zentralen Ursprung unserer demokratischen Tradition darstellt. Bongs Darstellung packt die Leser, sie bringt die Szenen der Revolution und die Menschen, die dafür gekämpft haben, lebendig nahe. Dabei hat das Buch für mich persönlich eine fast magische Anziehungskraft entfaltet: Ich habe beinahe jeden zweiten Satz markiert und mich in ein Recherche-Fieber versetzt gefunden, das mich Seite um Seite tiefer in die Geschichte hineinriss.

Goethes und Schillers dringlicher Rat an die Deutschen zu ihrer Zukunft widerstrebt Gagern im Innersten: Am besten sollten sie, empfehlen die beiden, die Entwicklungsstufe der Nation überspringen und gleich kosmopolitisch werden, Weltbürger, Goethes letzte große Idee

Die Freiheitskämpfer*innen die in Bongs Erzählung so lebendig werden, kämpfen für eine Demokratie, die damals noch in weiter Ferne lag – und es ist erschreckend zu lesen, wie ähnlich die Bedrohung der Demokratie heute in vielerlei Hinsicht ist. Die Bilder, die Bong beschreibt, erinnern an eine Zeit, in der die Menschen gegen den autoritären Preußenstaat aufstanden, sich gegen Repression, Ungerechtigkeit und für Freiheitsrechte stellten. Bongs Protagonisten scheitern bekanntlich letztlich mit ihrem Anliegen, doch die Entschlossenheit und das Durchhaltevermögen dieser Frauen und Männer können nicht genug gewürdigt werden. So eindringlich wie in „Die Flamme der Freiheit“ wurde dieses Kapitel der deutschen Geschichte selten erzählt – und wenn je eine Mahnung zur Verteidigung demokratischer Werte nötig war, dann ist sie in Bongs Werk eindrucksvoll eingeflochten.

Die Hauptakteure in Bongs Buch wie zB der Rheinländer Carl Schurz sind teilweise in den USA viel bekannter als bei uns. Die „48er“ hatten dort einen unglaublich guten Ruf. Schurz zB der gescheiterten Revolution flieht er vor der preußischen Obrigkeit in die USA, kämpfte im amerikanischen Bürgerkrieg auf der Seite der Nordstaaten gegen die Sklaverei und bringt es bis zum US-Innenminister. Es ist bedauerlich, dass die 48er in Deutschland so wenig bekannt ist, obwohl sie doch so bedeutend für unsere Demokratie sind und wir ihnen soviel zu verdanken haben.

Das Ehepaar Georg und Emma Herwegh war ein außergewöhnliches Duo innerhalb der revolutionären Bewegungen der Jahre 1848/49. Georg Herwegh, bekannt als „Der eiserne Dichter der Revolution“, begeisterte viele Menschen mit seinen scharfsinnigen, freiheitsliebenden Gedichten. Emma Herwegh, seine Frau, ging jedoch über das bloße Unterstützen hinaus und entwickelte sich selbst zu einer mutigen, aktiv handelnden Figur der Revolution. Sie war nicht nur Begleiterin ihres Mannes, sondern übernahm eigenständig Verantwortung und engagierte sich leidenschaftlich für die Freiheitsideale ihrer Zeit. Mit außergewöhnlicher Entschlossenheit half sie bei der Organisation der sogenannten „Deutschen Demokratischen Legion“, die unter der Führung ihres Mannes im badisch-pfälzischen Aufstand gegen die reaktionären Mächte kämpfte. Emma wurde zur Symbolfigur für viele revolutionär gesinnte Frauen, weil sie sich den ihr zugeschriebenen, traditionellen Rollen widersetzte und eine aktive politische Rolle einnahm. Ihre Tapferkeit und Standfestigkeit verliehen der Bewegung eine zusätzliche moralische Kraft, und ihre Beteiligung stellte ein frühes Beispiel für den Kampf um Gleichberechtigung und weibliche Selbstbestimmung dar.

Doch Emma sieht messerscharf, was sich anbahnt: der historische Kampf zwischen Demokratie und Nationalismus. Sie formuliert ihren Satz von den „beiden Elementen“ die nun zu einem epochalen Showdown antreten: die neue demokratische Freiheit gegen den neuen „scheußlichsten Absolutismus“ des Nationalen.

Die Revolution von 1848/49 war eine Möglichkeit, die leider verpasst wurde, wie der Historiker Thomas Nipperdey es einmal beschrieb – eine Möglichkeit, der deutschen Geschichte eine friedlichere Wendung zu geben, die vielleicht spätere Katastrophen hätte verhindern können. „Die Flamme der Freiheit“ von Jörg Bong ist in diesem Sinne weit mehr als eine historische Schilderung: Es ist ein Mahnmal und eine Aufforderung, für die Demokratie zu kämpfen, auch wenn der Erfolg nicht gewiss ist. Ein Meisterwerk, das hoffentlich seinen Weg zu vielen Leser finden wird und die Erinnerung an eine bedeutsame Zeit aufrecht erhält.

Mit seiner greifbaren Darstellung und der Detailtreue, die sich selbst kleinsten Aspekten widmet, versetzt Bong die Leser*innen direkt in die Mitte der revolutionären Geschehnisse – sei es bei der Beisetzung der Märzgefallenen oder bei den Barrikadenkämpfen, wo der preußische König Friedrich Wilhelm IV. unter Demütigungen letztlich nachgeben muss, nur um sich insgeheim grausame Rache zu schwören. Die Auseinander-setzungen um die Demokratie waren kein bloßes Streben nach Reformen; es waren die harten Kämpfe der deutschen Revolution, die in einer Zeit stattfanden, in der von Demokratie kaum ernsthaft zu träumen war.

Bong verzichtet auf Belehrungen und verurteilt die historischen Figuren nicht aus der Sicht der Gegenwart, sondern versucht, deren Handeln in der jeweiligen Zeit verständlich zu machen. Dabei bleibt er den historischen Figuren nahe, fängt die Atmosphäre ihrer Zeit ein und entfaltet die Tragik ihrer Geschichte: eine Tragödie des Scheiterns und des ungenutzten Potentials für eine demokratischere deutsche Geschichte, eine, die uns bis heute in Trauer zurücklässt.

Ich war zutiefst schockiert was für ein grausames Arschloch der spätere Kaiser Wilhelm I war. Sorry das kann mich nicht feiner ausdrücken. Wie er in die protestierenden Menschenmassen reingeschossen hat, Unruhe absichtlich gestiftet hat, um den Rebellen Dreck in die Schuhe schieben zu können um dann pro Forma einen Grund für sein rücksichtsloses Abschlachten hat – ohne Worte.
Wir sollten die Demokratie auf keinen Fall für etwas Selbstverständliches halten und sie schützen und aktiv sein, um sie widerstandsfähig zu machen und gegen ihre Gegner zu schützen.

Nguyễn Phan Quế Mai – Der Gesang der Berge, Insel Verlag, übersetzt von Claudia Feldmann
★★★★☆

Meine literarische Weltreise hat mich noch einmal nach Vietnam zurückgeführt, diesmal mit Nguyen Phan Que Mais Roman „Der Gesang der Berge.“ Noch beeindruckt von Cecile Pins Wandering Souls, wollte ich tiefer in die vietnamesische Geschichte eintauchen. Das Buch hat mich von der ersten Seite an mitgerissen, nicht zuletzt durch die zentrale Rolle der Großmutter Dieu Lan, die mich an meine eigene Großmutter erinnerte, bei der ich aufgewachsen bin. Geschichten, in denen Großmütter eine tragende Rolle spielen, ziehen mich immer ganz besonders an, und Dieu Lan ist eine dieser unvergesslichen Figuren. Ihre Stärke, ihr Durchhaltevermögen und ihre bedingungslose Liebe zu ihrer Enkelin Huong haben mich tief berührt.

Die Handlung entfaltet sich über mehrere Jahrzehnte vietnamesischer Geschichte – ein Bild voll Schmerz, Verlust und Hoffnung. Durch die abwechselnden Erzählperspektiven von Dieu Lan und Huong hat man das Gefühl, man sei direkt dabei, als die Familie die Schrecken der Landreform, die Zerstörungen des Krieges und die bedrückenden Jahre der Teilung Vietnams durchlebt. Die Erzählungen von Bombenangriffen, Flucht und den traumatischen Folgen von Agent Orange lassen das unermessliche Leid der vietnamesischen Bevölkerung greifbar werden. Dennoch ist es der Mut, den Dieu Lan ihrer Enkelin weitergibt, der mich am meisten bewegt hat – ein starker, unzerstörbarer Familienkern, der trotzig die Zerstörung des Krieges überlebt.

Je mehr ich las, desto größer wurde meine Angst vor Kriegen. Kriege haben die Macht, liebenswerte und kultivierte Menschen in Ungeheuer zu verwandeln

Die Großmutter erinnert Huong daran, wie die Machthaber die Macht beanspruchen, Geschichte umzuschreiben – ein düsteres Bild, das die Zeit der Landreform und der kommunistischen Herrschaft in Nordvietnam prägte. In einer Welt voller Schmerz und Verlust verkörpert Dieu Lan für mich das Bild einer Überlebenden, die an Hoffnung festhält auch wenn die Gegenwart mehr als düster ist und der es gelingt, Huong eine Zukunft zu schenken.

Nguyen Phan Que Mai erinnert daran, dass selbst in den dunkelsten Zeiten Menschen wie Dieu Lan Hoffnung und Menschlichkeit bewahren.

Margot Douaihy – Verbrannte Gnade, erschienen im Blumenbar Verlag, übersetzt von Eva Kemper
★★★☆☆

Margot Douaihys Verbrannte Gnade hat mich auf unerwartete Weise begeistert. Der Krimi führt uns in das schwüle, drückende New Orleans, das durch Douaihys poetischen Stil fast wie eine weitere Figur erscheint. Sister Holiday, die lesbische, kettenrauchende, tätowierte Nonne mit einer Punk-Vergangenheit, ist alles andere als gewöhnlich – sie ist gebrochen, komplex und auf eine ganz eigene Art gläubig. Ihre innere Zerrissenheit und ihr Kampf, trotz ihrer rauen Fassade, ihren Glauben zu bewahren, machen sie zu einer faszinierenden Protagonistin.

Der Kriminalfall selbst, bei dem es um eine Reihe von mysteriösen Bränden an einer katholischen Schule geht, war für mich ehrlich gesagt etwas weniger fesselnd. Die eigentliche Stärke des Romans liegt in der düsteren Atmosphäre und den Charakteren. Die Hitze von New Orleans ist fast greifbar, und Douaihy beschreibt sie so intensiv, dass man das Gefühl hat, selbst in dieser dampfenden Stadt zu stehen, wo alles ein bisschen verfallen wirkt. Diese Kulisse verstärkt das Gefühl, dass jeder Charakter in irgendeiner Form vor der eigenen Vergangenheit oder den eigenen Dämonen flieht.

God never judged me as harshly as I judged myself.

Douaihy, ursprünglich aus Scranton, Pennsylvania, bringt eine raue, fast schon „Rust Belt“-Ästhetik in ihre Darstellung von New Orleans ein, was der Stadt einen spannenden, einzigartigen Anstrich gibt. Ihre Erfahrung als Lyrikerin zeigt sich in den detailreichen, stimmungsvollen Beschreibungen und der eher langsamen Entfaltung der Geschichte. Das Tempo ist manchmal fast hypnotisch, doch gerade das unterstreicht die erdrückende Hitze und die psychischen Kämpfe der Figuren.

Sister Holiday ist weit mehr als nur eine Nonne, die Detektivin spielt. Sie ist auf einer eigenen Reise der Selbstfindung und Sühne, die für mich spannender war als der Kriminalfall selbst. Definitiv eine Figur die mir noch lange im Gedächtnis bleibt und ich hätte auf jeden Fall Lust sie auch bei ihrem nächsten Fall zu begleiten.

Khaled Hosseini – And the Mountains echoed auf deutsch unter dem Titel „Traumsammler“ im S. Fischer Verlag erschien, übersetzt von Henning Ahrens.
★★★☆☆

Afghanistan war die zweite Station auf meiner literarischen Reise um die Welt und die ausführliche Besprechung zum Buch und Informationen über Afghanistan könnt ihr hier nachlesen.

So – geschafft! Freu mich von euch zu hören. Welche habt ihr auch gelesen und was waren eure Lese Highlights im Oktober?

September Lektüre

Der September hat sich als Lesemonat auch wirklich nicht lumpen lassen. 9 Bücher und ein Hörbuch – das kann sich sehen lassen und wieder kein wirklicher Ausfall dabei. Wie schön. Lasst uns loslegen, ich möchte euch auf ein paar wirklich schöne Bücher neugierig machen und bin auch sehr gespannt wie euer Lesemonat war. Was hat euch begeistert? Oder enttäuscht? Und ich bin gespannt, welche meiner Vorstellungen ihr bereits kennt oder auf welche ich euch Lust machen kann. Freue mich auf eure Rückmeldungen.

Artful – Ali Smith auf deutsch unter dem Titel „Wem erzähle ich das“ im Luchterhand Verlag erschienen, übersetzt von Silvia Morawetz

Ali Smiths Artful hat mich auf eine Weise bewegt, die ich nur schwer in Worte fassen kann. Es ist eines dieser Bücher, die einen sofort in ihren Bann ziehen, obwohl – oder vielleicht gerade weil – es sich jeder klaren Kategorisierung entzieht. Es ist weder ein Roman noch eine einfache Sammlung von Essays, sondern eine seltsame, faszinierende Mischung aus beidem. Die vier Kapitel basieren auf Vorlesungen, die Smith ursprünglich an der Universität Oxford gehalten hat, und doch fühlt sich das Buch eher wie ein poetischer, manchmal sogar traumähnlicher Dialog an – zwischen Leben und Tod, zwischen Kunst und Denken.

Die Erzählung, die sich durch das Buch zieht, handelt von einer Frau, die nach dem Tod ihrer Geliebten trauert und plötzlich von deren Geist heimgesucht wird. Diese Tote ist nicht nur ein vages Gespenst; sie ist chaotisch, unordentlich, sie spricht in Rätseln, stiehlt Gegenstände und verbreitet einen Geruch, der die Nachbarn beunruhigt. Was mich daran so fasziniert hat, war, wie natürlich und zugleich verstörend Smith diesen Übergang zwischen Leben und Tod beschreibt. Es ist nicht das Drama eines tragischen Verlustes, sondern eher eine leise, seltsam humorvolle Akzeptanz des Unerwarteten.

“We do treat books surprisingly lightly in contemporary culture. We’d never expect to understand a piece of music on one listen, but we tend to believe we’ve read a book after reading it just once.”

Gleichzeitig spielt Smith meisterhaft mit den Themen Zeit, Form und Kunst. Manchmal fühlte es sich an, als wäre ich in einem wilden Gedankenspiel gefangen, das von einem intellektuellen Abendessen zu stammen schien, bei dem Figuren wie Virginia Woolf, Freud und Shakespeare zusammenkommen. Die ständige Bewegung zwischen intellektuellem Diskurs und ganz persönlichen, emotionalen Momenten hat mich tief beeindruckt. Es ist, als würde Smith mit Leichtigkeit zwischen den Ebenen von Gedanken und Gefühlen hin- und herspringen und dabei eine emotionale Tiefe erreichen, die mich oft unvorbereitet getroffen hat.

Recitatif – Toni Morrison erschienen unter dem Titel „Rezitativ“ im Rowohlt Verlag übersetzt von Tanja Handels

Toni Morrisons „Rezitativ“ ist eine unglaubliche Geschichte, die mich einfach nicht loslässt. Sie erzählt von zwei Mädchen, Twyla und Roberta, die in einem Heim aufwachsen. Eine ist weiß, die andere schwarz – doch Morrison gibt uns nie klar zu erkennen, wer welche Hautfarbe hat. Und genau das macht den Reiz der Geschichte aus: Man glaubt ständig, die Lösung zu wissen, doch dann zweifelt man wieder. Die Vorurteile, die man selbst mitbringt, werden dabei auf subtile Weise herausgefordert.

Was mich am meisten beeindruckt hat, ist, wie Morrison es schafft, unsicher zu bleiben. Jede Szene scheint Hinweise zu liefern, und doch bleibt man bis zum Ende ratlos. Es geht dabei nicht nur um die Hautfarbe der Protagonistinnen, sondern um viel mehr: um Vorurteile, um Machtstrukturen und um die Art und Weise, wie wir Menschen in Schubladen stecken. Diese Unsicherheit zieht sich durch die gesamte Geschichte und sorgt dafür, dass man sie auch lange nach dem Lesen nicht aus dem Kopf bekommt.

“Difficult to “move on” from any site of suffering if that suffering goes unacknowledged and undescribed.”

Interessant fand ich auch das Nachwort von Zadie Smith, das mir nochmal eine neue Perspektive eröffnet hat: Weiße Leserinnen und Leser neigen dazu, die Protagonistin als weiß zu lesen, während schwarze Leserinnen und Leser sie oft als schwarz interpretieren. Es zeigt, wie stark unsere Wahrnehmung von den eigenen Erfahrungen geprägt ist.

„Rezitativ“ ist viel mehr als nur eine Geschichte über zwei Mädchen – es ist ein intensives Spiel mit Wahrnehmung und Identität. Es zwingt einen dazu, sich selbst und die eigenen Vorurteile zu hinterfragen. Für mich war es eine Lektüre, die nachhallt und die ich sicher noch mehrmals lesen werde. Ganz große Klasse von Toni Morrison!

So long, see you tomorrow – William Maxwell auf deutsch unter dem Titel „Also dann bis morgen“ im Hanser Verlag erschienen, übersetzt von Benjamin Schwarz

Maxwells Roman, der nur 134 Seiten umfasst, beginnt mit einer außerehelichen Affäre und einem Mord in einer kleinen Stadt in Illinois zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Der Ich-Erzähler schildert die Ereignisse um den Mord, versucht aber gleichzeitig, sich emotional davon zu distanzieren. Während er sich erinnert, reflektiert er über den Wandel der Welt seit seiner Kindheit.

Was mir besonders gut gefallen hat, ist Maxwells Fähigkeit, die Charaktere so lebendig und vielschichtig darzustellen. Obwohl die Handlung eher ruhig verläuft, sind es diese fein ausgearbeiteten Figuren, die das Buch tragen. Vor allem die Beziehung des Erzählers zu seinem Freund Cletus, dessen Vater den Mord beging, bleibt im Gedächtnis. Der Erzähler quält sich bis ins hohe Alter mit Schuldgefühlen, weil er Cletus nach dem Mord ignorierte, als sie sich in der Schule begegneten.

Maxwell erzählt eine leise Geschichte, die tief bewegt, die zeigt, wie stark Kindheitserinnerungen und Schuld das Leben eines Menschen prägen können. Für alle, die langsame, tiefgründige Romane mögen, ist So Long, See You Tomorrow absolut empfehlenswert.

„I had to find an explanation other than the real one, which was that we were no more immune to misfortune than anybody else, and the idea that kept recurring to me…was that I had inadvertently walked through a door that I shouldn’t have gone through and couldn’t get back to the place I hadn’t meant to leave.“

William Maxwell (1908–2000) war ein amerikanischer Schriftsteller und über 40 Jahre Lektor beim New Yorker. Neben seinen Romanen schrieb er auch Kurzgeschichten und Kinderbücher, und seine Werke sind bekannt für ihre sensible Darstellung zwischenmenschlicher Beziehungen.

The Last Supper – Rachel Cusk erschienen im Picador Verlag – bislang nicht auf deutsch übersetzt

Rachel Cusks „The Last Supper“ ist ein ungewöhnliches, persönliches Reisebuch, das mich auf eine eigenwillige und charmante Reise durch Italien mitgenommen hat. Es ist kein klassischer Reisebericht, in dem schöne Landschaften und sonnige Tage im Vordergrund stehen. Stattdessen widmet sich Cusk der Kunst, dem Alltag und ihren inneren Beobachtungen, und sie tut dies mit einer Sprache, die oft poetisch und metaphorisch ist. Ihre Beschreibungen der Renaissance-Kunstwerke, die sie mit ihrer Familie betrachtet, wirken oft fast spirituell, als ob die Figuren auf den Gemälden ihr eigene Geschichten zuflüstern.

Es geht in diesem Buch jedoch nicht nur um Kunst und Architektur. Was mich besonders faszinierte, ist, wie Cusk ihre Umgebung und ihre Erlebnisse durch ihre eigene, kritische Linse betrachtet. Sie hinterfragt die touristischen Klischees von Italien, die Vorstellung von der „italienischen Lebensart“ und auch die Simplizität des Essens, die oft romantisiert wird. Wiederholt essen sie und ihre Kinder dasselbe einfache Essen – Tomaten, Schafskäse, grobes Brot – und beginnen, die Vielfalt des Essens in ihrer Heimat als etwas fast Groteskes zu empfinden.

„I wish I could learn how to read the structure of life as a weathermen read the structure of clouds, where the future must be written, if only you knew what to look for“

Interessanterweise wird in The Last Supper Cusks Ehemann nicht ein einziges Mal erwähnt, obwohl ihre beiden Töchter eine wichtige Rolle in der Erzählung spielen. Sie sind präsent, sie reisen mit, sie reagieren auf die fremde Umgebung – aber der Mann, mit dem sie in Italien unterwegs ist, bleibt unsichtbar. Es wirkt fast so, als wäre er in ihrer Wahrnehmung bereits verblasst, obwohl das Buch während der Ehe geschrieben wurde. Nur wenige Jahre nach der Veröffentlichung ließen sich die beiden tatsächlich scheiden. Die Tatsache, dass er nicht auftaucht, verleiht der Geschichte eine subtile Spannung und lässt Raum für Spekulationen.

Rachel Cusk wurde 1967 in Kanada geboren, zog aber im Alter von acht Jahren mit ihrer Familie nach Großbritannien. Sie studierte Englische Literatur in Oxford und veröffentlichte 1993 ihren ersten Roman Saving Agnes, für den sie den Whitbread First Novel Award gewann.

Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull – Thomas Mann erschienen im S. Fischer Verlag

Thomas Manns „Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“ hat mich total überrascht. Eigentlich hatte ich erwartet, dass mich der Stil überfordern könnte, oder ich wie beim Zauberberg kurz vor Schluß einfach nicht mehr mag, aber genau das Gegenteil war der Fall: Die Sprache ist ein reiner Genuss! Mann schreibt mit einer Eleganz und Leichtigkeit, die mich sofort in die Geschichte hineingezogen hat.

Manns Sprache ist ein Hochgenuss – elegant, ironisch und dabei erstaunlich leicht zugänglich. Schon nach wenigen Seiten war ich ganz im Bann von Felix Krull, einem Hochstapler mit so viel Charme und Witz, dass man ihm einfach alles verzeihen will. Er stiehlt sich durch die Gesellschaft mit einer Leichtigkeit, die mich fasziniert hat, und gleichzeitig ist er so sympathisch, dass ich mich fast ertappt fühle, wie ich ihm innerlich zujubelte.

Felix Krull selbst ist eine faszinierende Figur. Er ist ein Hochstapler, ja, aber einer mit so viel Charme und einem goldenen Herz, dass man ihm seine Täuschungen fast schon verzeiht. Die Art, wie er sich durch die Gesellschaft bewegt, immer mit einem Augenzwinkern, ist so unterhaltsam, dass ich mir fast wünsche, ihm mal im echten Leben zu begegnen – idealerweise bei einem Glas Champagner. Trotz seiner Betrügereien bleibt er durchweg sympathisch, was vor allem an der Art liegt, wie Mann ihn darstellt: als jemanden, der die Regeln der Gesellschaft geschickt ausnutzt, ohne dabei wirklich boshaft zu sein.

„Es war der Gedanke der Vertauschbarkeit. Den Anzug, die Aufmachung gewechselt, hätten sehr vielfach die Bedienenden ebensogut Herrschaft sein und hätte so mancher von denen, welche, die Zigarre im Mundwinkel, in den tiefen Korbstühlen sich rekelten – den Kellner abgeben können. Es war der reine Zufall, daß es sich umgekehrt verhielt – der Zufall des Reichtums; denn eine Aristokratie des Geldes ist eine vertauschbare Zufallsaristokratie.“

Interessant ist auch, dass Felix Krull schon früh in Manns Leben eine Rolle spielte. Bereits 1911 tauchte die Figur erstmals in einer Erzählung auf, und Mann kehrte später zu ihr zurück, als er sich mehr dem Humor und der Leichtigkeit zuwandte. Im Gegensatz zu vielen anderen seiner Werke, die oft von existenziellen Themen durchzogen sind, ist „Felix Krull“ ein eher heiteres und spielerisches Werk – fast so, als hätte Mann hier eine Pause vom Ernst des Lebens machen wollen. Ich kann im Übrigen auch die Verfilmung aus dem Jahr 1957 von Kurt Hoffmann mit Horst Buchholz in der Hauptrolle empfehlen – hat mir sehr gefallen.

Unbedingte Empfehlung – jetzt hab ich richtig Lust auf die Buddenbrocks bekommen.

Wie sieht es bei euch aus? Thomas Mann – yeahhh oder mehhh?

Brian – Jeremy Cooper erschienen bei Fitzcarraldo Editions, bislang nicht auf deutsch übersetzt

Ich hatte eigentlich nur vor, mal kurz in Jeremy Coopers Roman Brian reinzulesen, bin aber direkt hängengeblieben. Das Buch hat mich einfach reingezogen. Der Fitzcarraldo Verlag ist ein faszinierender Verlag aus London mit interessanten Romanen oft in Übersetzung bei dem ich oft fündig werde.

Cooper erzählt die Geschichte von Brian, einem einsamen Mann, der sein Leben um seine täglichen Routinen herum gebaut hat – ein Job im Camden Council, Mittagessen im Café Il Castelletto und zurück in seine kleine Wohnung. Alles läuft in geordneten Bahnen, bis Brian eines Tages das BFI (British Film Institute) entdeckt und das Kino zu einem festen Teil seines Lebens wird. Ab da sieht er sich fast jeden Abend Filme an, von Ozu über Fellini bis zu Varda, und findet so endlich eine Gemeinschaft, eine Gruppe von gleichgesinnten Filmfans. Es ist eine so schöne Idee, wie das Kino für ihn zu einem Zufluchtsort wird, wo er Freundschaft und Zugehörigkeit erlebt – etwas, das ihm sein bisheriges Leben nicht bieten konnte.

Die Art, wie Cooper die innere Welt von Brian beschreibt, ist so nah und gleichzeitig distanziert, dass man den Charakter förmlich vor sich sieht. Und ja, ich ertappe mich jetzt schon dabei, dass ich mich im Kino umsehe, ob Brian vielleicht irgendwo sitzt. Es ist ein Charakter, der einem einfach nicht aus dem Kopf geht.

„All his life, everywhere he went, Brian had shunned attention, the scars unhealed from being singled out at school in Kent as different and blamed for being so, by teachers, by other boys and by his mother. To ease his hurt he had made himself an expert at forgetting, a skill now matured, able most of the time to erase unwelcome thoughts and happenings. It did mean that he needed to hold himself on constant altert, ready to combat the threat of being taken by surprise, a state-of-being he had managed to achieve without the tension driving him crazy. There had been costs, by now discounted and removed from memory.“

Ich finde, das Buch macht auf eine sanfte, unaufgeregte Weise klar, wie stark Kunst – und in diesem Fall eben Filme – unser Leben bereichern und uns zu uns selbst führen kann. Brian erlebt das durch seine Filmleidenschaft, und ich denke, das ist etwas, womit sich viele identifizieren können, die im Kino einen besonderen Ort gefunden haben.

Wer Filme liebt und sich für das Zwischenmenschliche interessiert, sollte Brian unbedingt lesen. Es ist ein leises, aber nachhallendes Buch, das riesige Lust aufs Kino macht und meine Filmliste ist um etliches länger geworden. Große Empfehlung!

Wandering Souls – Cecile Pin erschienen im Atlantik Verlag, übersetzt von Maria Hummitzsch

Cecile Pins Debütroman Wandering Souls ist ein bewegender Roman, der die vietnamesische Flüchtlingserfahrung und die psychischen Belastungen der Assimilation einfängt. Es war mir in der Buchhandlung ins Auge gefallen, habe kurz reingelesen und konnte es gar nicht mehr aus der Hand legen. Pin nimmt uns mit auf die Reise der 16-jährigen Anh und ihrer jüngeren Brüder Minh und Thanh, die sich nach dem Vietnamkrieg auf die gefährliche Flucht nach Hongkong begeben. Die Familie ist gezwungen, auf zwei verschiedenen Booten zu reisen, und nur die drei älteren Geschwister erreichen ihr Ziel. Ihre Eltern und vier weitere Geschwister kommen auf tragische Weise ums Leben.

„Die Vietnamesen haben diese Tradition“, sagte er. „Sie glauben, dass man die Toten angemessen in ihrem Heimatort beerdigen muss. Tut man das nicht, sind Ihre Seelen dazu verdammt, als Geister auf der Erde herumzuirren.“

Die Geschichte setzt drei Jahre nach dem Abzug der US-Truppen ein, als Vietnam in politischem und wirtschaftlichem Chaos versinkt. Anh, Minh und Thanh landen nach vielen Stationen – darunter Flüchtlingslager und Ablehnung durch die US-Einwanderungsbehörde – in London. Dort kämpfen sie in den 1980er Jahren mit den Herausforderungen des Lebens in einer neuen, oft feindseligen Umgebung. Besonders Anh trägt als älteste Schwester die Last der Verantwortung, während Minh in Schwierigkeiten gerät und Thanh versucht, sich in der neuen Kultur zurechtzufinden.

Der Roman schafft es, sowohl die emotionalen Wunden der Flucht als auch die Herausforderungen der Assimilation in einer neuen Gesellschaft eindrucksvoll darzustellen. Dabei setzt Pin nicht nur auf emotionale Tiefe, sondern auch auf historische Genauigkeit. Man merkt wie sehr sie für diesen Roman recherchiert hat. Es gibt Momente großen Schmerzes, schrecklicher Grausamkeiten und der Verzweiflung, aber auch Zusammenhalt, Liebe und Hoffnung.

Und was hat das mit mir zu tun? – Sacha Batthyany erschienen im Kiepenheuer & Witsch Verlag

Der Autor begibt sich auf eine tiefgründige und bewegende Spurensuche, die mir noch lange nach dem Lesen im Gedächtnis bleiben wird. Das Buch erzählt die erschütternde Geschichte eines der schlimmsten Kriegsverbrechen in Österreich – das Massaker von Rechnitz – und verbindet diese düstere Vergangenheit mit Batthyanys eigener Familiengeschichte.

Was mich an diesem Buch besonders berührt hat, ist die Ehrlichkeit, mit der Batthyany die Geschehnisse aufarbeitet. Er scheut sich nicht, sich selbst und seine Familie kritisch zu hinterfragen. Auf eindringliche Weise erzählt er, wie er erst als Erwachsener von dem Massaker erfuhr und wie er sich daraufhin entschloss, der Wahrheit über seine eigene Familie auf den Grund zu gehen. Diese Recherche zieht sich über sieben Jahre und führt ihn an verschiedene Orte, von Ungarn über Sibirien bis nach Buenos Aires. Dabei werden Fragen aufgeworfen, die oft unbeantwortet bleiben – das macht die Geschichte umso eindringlicher und verstörender.

Besonders die Darstellung der Gräfin Margit Thyssen-Batthyány, Batthyanys Großtante, hat mich zum Nachdenken angeregt. Ihre Rolle in der Nacht des Massakers bleibt unklar, doch der Autor macht deutlich, dass sie eine Mitwisserin war, die mit den Tätern feierte. Diese Ambivalenz zwischen Festlichkeit und Grauen ist ein starkes Motiv des Buches. Es ist erschreckend zu sehen, wie das Schweigen über die Vergangenheit selbst in der eigenen Familie weitergegeben wurde, und Batthyanys Entschlossenheit, das zu durchbrechen, ist inspirierend.

„Die Schweiz war für sie immer nur ein Spieleland, das Leben kein echtes, jedenfalls keines mit Höhen und Tiefen, mit Glück und Leid. Denn wer nicht mindestens ein paar Verwandte im Krieg verloren, wer nie miterlebt hatte, wie eine fremde Besatzungsmacht, seien es Deutsche oder Russen, alles umstürzte, der durfte nicht von sich behaupten, wirklich etwas vom Leben zu verstehen.“

Sacha Batthyany wurde 1972 in Zürich geboren und ist Journalist und Autor. Heute arbeitet er als Korrespondent in Washington. Seine journalistische Laufbahn umfasst eine Vielzahl von Themen, wobei er oft gesellschaftliche und historische Fragestellungen aufgreift. „Und was hat das mit mir zu tun?“ ist sein Debüt in der literarischen Sachbuchszene, und es zeigt eindrucksvoll, wie persönliche Geschichte und historische Ereignisse miteinander verwoben sind.

„Und was hat das mit mir zu tun?“ ist nicht nur ein Geschichtsbuch, sondern auch eine tiefgreifende persönliche Auseinandersetzung mit Schuld, Verantwortung und dem Umgang mit der Vergangenheit. Batthyanys ehrlicher und verletzlicher Schreibstil zieht einen in seinen Bann. Es ist ein Buch, das man gelesen haben sollte, um die schmerzhaften Wahrheiten über die eigene Geschichte und die Geschichte der anderen nicht zu vergessen.

Lessons – Ian McEwan erschienen unter dem Titel „Lektionen“ im Diogenes Verlag, übersetzt von Bernhard Robben

Die Geschichte um Roland Baines, dessen Leben sich durch Zufälle und historische Ereignisse immer wieder in unerwartete Bahnen lenkt hat mich sehr begeistert. Die Art, wie McEwan über das Leben, die Liebe und die Last der Vergangenheit schreibt, ist mir stellenweise richtig nah gegangen – ich hätte so viele Sätze am liebsten direkt unterstrichen! Die philosophischen Gedanken und feinen Beobachtungen über menschliche Beziehungen und politische Umbrüche wirken nie aufgesetzt, sondern weben sich organisch in Rolands Lebensweg ein. Ich hatte das Gefühl, mit ihm gemeinsam durch die Jahrzehnte zu reisen und die Welt aus seiner Perspektive zu erleben.

Besonders gut gefallen hat mir McEwans Fähigkeit, alltägliche Momente so zu beschreiben, dass sie plötzlich eine ganz neue Bedeutung erhalten. Es sind oft die kleinen, beiläufigen Szenen, die einem noch lange im Kopf bleiben. Gleichzeitig stellt das Buch aber auch große Fragen: Wie beeinflussen uns die großen politischen und gesellschaftlichen Umbrüche unserer Zeit? Wie sehr bestimmt die Vergangenheit unser Handeln in der Gegenwart? Ich habe das Gefühl, dass ich das Buch irgendwann unbedingt noch einmal lesen muss, weil man sicher viele Details erst beim zweiten Mal so richtig erfasst.

“His accidental fortune was beyond calculation, to have been born in 1948 in placid Hampshire, not Ukraine or Poland in 1928, not to have been dragged from the synagogue steps in 1941 and brought here. His white-tiled cell – a piano lesson, a premature love affair, a missed education, a missing wife – was by comparison a luxury suite. If his life so far was a failure, as he often thought, it was in the face of history’s largesse.”

Die Stimme des Sprechers hat perfekt zur Stimmung gepasst und die melancholischen, aber auch hoffnungsvollen Töne des Romans wunderbar transportiert. Insgesamt ist „Lektionen“ für mich ein nachdenkliches und intensives Werk, das lange nachhallt.

Ian McEwan mausert sich immer mehr zu einem meiner Lieblings-Autoren zu dessen Werken man fast blind greifen kann und man einfach sicher sein kann, nicht nur gut unterhalten zu werden, eine Menge zu lernen sondern die einem auch noch lange im Gedächtnis bleiben und mit deren Fragestellungen man sich noch eine ganze Weile beschäftigen wird.

Sonnige Juni Lektüre

Der Juni war literarisch gesehen ein ausgezeichneter Monat. Viele spannende, interessante und bereichernde Bücher haben mich begleitet. Anfang Juni waren wir noch in England unterwegs, und die Reiseberichte aus Cornwall, Devon sowie Bath und Oxford werden bald folgen.

Hier wieder im Schnelldurchlauf die gelesenen Bücher aus dem Juni in alphabetischer Reihenfolge. Bin wie immer gespannt. Welche kennt ihr? Wie fandet ihr sie? Auf welche konnte ich euch neugierig machen?

Über die Berechnung des Rauminhalts I/Om udregning af rumfang #1 – Solvej Balle aus dem dänischen übersetzt von Peter Urban-Halle, erschienen im Matthes & Seitz Verlag

In „Über die Berechnung des Rauminhalts I“ von Solvej Balle, meisterhaft aus dem Dänischen von Peter Urban-Halle übersetzt, wird die Geschichte von Tara Selter erzählt, einer Buchhändlerin, die nach dem Besuch einer Antiquariatsmesse in Bordeaux in eine mysteriöse Zeitschleife gerät. Während der Rest der Welt, einschließlich ihres Mannes Thomas, den 18. November immer wieder neu erlebt, ist Tara gefangen in einer ständigen Wiederholung dieses Tages. Diese einzigartige Prämisse bietet Balle die Möglichkeit, tief in die Mechaniken und die Monotonie einer solchen Zeitschleife einzutauchen und gleichzeitig eine ungewöhnliche Liebesgeschichte zu erzählen.

Obwohl Geschichten, die auf dem „Groundhog Day“-Prinzip beruhen, mich durch ihre Wiederholungen oft in den Wahsinn treiben, hat mich Balles Werk erstaunlicherweise komplett gefesselt. Die Ruhe und Poesie ihrer Sprache verleihen der Erzählung eine meditative Qualität, die mich sofort gepackt hat und auch tief bewegend ist. Der Text strahlte eine leise, Melancholie aus, die sich sehr mit meiner aktuellen inneren Wetterlage deckt.

„Das plötzliche Gefühl etwas Unerklärliches zu teilen, die Verwunderung, dass es den anderen gibt – den Menschen, der alles so einfach macht -, das Gefühl, Ruhe gefunden zu haben und gleichzeitig in Turbulenz versetzt worden zu sein.“

Balle beschreibt nicht nur die äußere Wiederholung, sondern auch die innere Entwicklung von Tara. Während die ersten sechzig Tage des „Schwindels“ für Tara noch eine Art Freiheit darstellen, beginnt sie allmählich die Konsequenzen ihrer Situation zu erkennen. Die Zeit bleibt für Thomas stehen, während Tara altert und sich verändert. Diese Diskrepanz führt zu einer schmerzhaften Distanz zwischen den beiden, die zuvor so innig miteinander verbunden waren. Die Beziehung des Paares wird auf eine harte Probe gestellt, als Tara zunehmend versessen darauf wird, aus der Zeitschleife auszubrechen.

Ein weiteres bemerkenswertes Element ist die Art und Weise, wie Balle die Protagonistin und den Leser dazu zwingt, eine besondere Sensibilität für Details zu entwickeln. Die repetitive Natur der Erzählung lenkt den Fokus auf die Feinheiten des Alltags und den Umgang mit der Umwelt.

Es entsteht eine „existenzielle Parabel“, die nicht nur die stille Panik der Heldin einfängt, sondern auch eine tiefere Reflexion über das menschliche Dasein anstößt.

Die Übersetzung von Peter Urban-Halle fängt den rhythmischen und tastenden Balle-Sound nahezu verlustfrei ein, was wesentlich zur Wirkkraft des Romans beiträgt. Minimalistisch und doch mit einem großen literarischen Rhythmusgefühl schafft es Balle, die stille Panik und die innere Zerrissenheit ihrer Protagonistin darzustellen.

Besonders spannend finde ich, dass „Über die Berechnung des Rauminhalts I“ nur der erste Band eines groß angelegten siebenbändigen Romanprojekts ist. Ich freue mich schon sehr auf die weiteren Bände. Balle hat mit diesem Werk nicht nur die Fiktion von der Wirklichkeit befreit, sondern auch eine faszinierende Geschichte über Zeit, Veränderung und Liebe geschaffen.

Insgesamt hat mich „Über die Berechnung des Rauminhalts I“ tief beeindruckt und berührt. Es ist ein Buch, das trotz seiner repetitiven Struktur eine meditative Ruhe ausstrahlt und den Leser in eine poetische Welt voller leiser Melancholie entführt. Solvej Balle hat ein Meisterwerk geschaffen, das die Mechaniken der Zeit auf faszinierende Weise erkundet und dabei eine ungewöhnliche und berührende Liebesgeschichte erzählt.

Schlafen – Theresia Enzensberger erschienen im Hanser Verlag

Theresia Enzensbergers Buch ist ein philosophischer Streifzug durch die Nacht – und eine persönliche Erkundung der Schlaflosigkeit. Als langjährige, eigentlich lebenslange Schlaflosigkeitsveteranin weiß ich, wovon ich spreche, und man kann meiner Empfehlung hier vertrauen: Dieses Buch ist großartig und eine ganz große Empfehlung.

Enzensberger beginnt in der zähneknirschenden Leichtschlafphase mit einem Essay über die Moralisierung von Schlaf, Traum als politische Metapher und die Folgen allgemeinen Schlafmangels. Schlaf wird hier als gesellschaftlich und politisch aufgeladener Zustand dargestellt, der oft als persönliches Versagen gewertet wird, obwohl er viele komplexe Ursachen haben kann.

Fast unmerklich wird der Text in der Tiefschlafphase privater und innerlicher. Enzensberger eröffnet eine intensivere, persönlichere Sicht auf die Welt, die Kunst und die Literatur, indem sie ihre eigenen Erfahrungen mit Schlaflosigkeit reflektiert und mit den Gedanken anderer Künstler und Denker verknüpft. Diese Phase wirkt wie ein stilles Gespräch mit dem Leser, in dem Enzensberger ihre tiefsten Gedanken und Gefühle teilt.

Der Traum und die REM-Phase sind die Momente, in denen Enzensberger den Raum des Realen verlässt und etwas Neues wagt. Hier wird das Buch besonders spannend, da sie beginnt, die Essenz eines menschlichen Grundbedürfnisses zu begreifen, das sich unserer Macht entzieht. Sie nimmt den Leser mit auf eine Reise in die Welt der Träume und zeigt, wie diese unsere Wachwelt beeinflussen und widerspiegeln.

Enzensbergers Buch ist nicht nur eine persönliche Erzählung, sondern auch eine gesellschaftskritische Analyse. Sie zeigt, wie Schlaflosigkeit in unserer modernen Gesellschaft oft pathologisiert wird und welche wirtschaftlichen und politischen Interessen dahinterstehen. Der Leser erfährt, wie Schlafmangel genutzt wird, um gesellschaftliche Strukturen zu stützen, und wie dies unsere Wahrnehmung und Behandlung von Schlaflosigkeit beeinflusst. Enzensberger bietet aufschlussreiche Perspektiven zur Pathologisierung der Insomnie.

„Ich habe Phasen. Manchmal gleiche ich wochenlang einer Person, die von all diesen Problemen noch nie gehört hat – ich lege mich hin, mache die Augen zu und bin weg. Dann aber kommt verlässlich eine insomnische Phase. Es ist unmöglich, vorher zu wissen, wie lange sie dauern wird, aber immer ist sie gekennzeichnet durch nächtelanges Wachliegen und ein paar Stunden gnädigen Schlafs am Morgen. An Tag drei oder vier setzt die Verzweiflung ein, es wird immer schwieriger zu funktionieren. Meine Gedankenwelt wird obsessiv und panisch, und mich verfolgt die irrationale Frage: Was, wenn ich nie wieder schlafen kann?“

Schlaf wird nur dann gewürdigt wird, in unserer kapitalistischen Gesellschaft, wenn er die Arbeitskraft wiederherstellt; ansonsten wird er herabgewürdigt, auch sprachlich. Diese Gedanken sind nicht ganz neu, aber sie sind dennoch relevant und gut in den Kontext der modernen Gesellschaft eingebettet.

Zusammenfassend ist Theresia Enzensbergers Buch eine tiefgründige, fürsorgliche und bewegende Auseinandersetzung mit einem Thema, das viele Menschen betrifft, aber selten so ehrlich und umfassend behandelt wird. Ihre klugen Beobachtungen und persönlichen Einblicke machen das Buch zu einer wertvollen Lektüre für alle, die sich mit Schlaflosigkeit auseinandersetzen – sei es aus persönlicher Erfahrung oder aus Interesse an den gesellschaftlichen und philosophischen Implikationen.

Leben auf dem Land/A Country Year – Sue Hubbell übersetzt von Barbara Heller erschienen im Diogenes Verlag

„Leben auf dem Land“ von Sue Hubbell, aus dem Amerikanischen von Barbara Heller übersetzt und ergänzt durch ein Vorwort der Autorin sowie ein Nachwort von Literatur-Nobelpreisträger J.M.G. Le Clézio, ist ein charmantes und informatives Buch über das Landleben und die faszinierende Welt der Natur. Sue Hubbell, die einst als Bibliothekarin arbeitete und später zur Bienenzüchterin wurde, nimmt uns mit auf ihre Reise in die Ozark Mountains im südlichen Missouri, wo sie nach dem Ende ihrer dreißigjährigen Ehe ein neues Leben beginnt.

Das Buch ist mehr als eine einfache Erzählung über das Landleben; es ist eine Liebeserklärung an die Natur mit einem feinen Sinn für Humor und einer beeindruckenden naturwissenschaftlichen Kenntnis. Sie beschreibt das Zusammenspiel von Bienen, Insekten, Pflanzen und anderen Tieren. Ihre Begeisterung für diese kleinen Wunder der Natur ist wirklich ansteckend. Wer hätte gedacht, dass sechzigtausend Bienen, die gleichzeitig ihre Flügel schlagen, einen sanften Wind erzeugen, oder dass Fledermäuse mit Nachtfaltern kommunizieren – ihren potenziellen Mahlzeiten?

„Alles in allem aber hat die Welt meinen Versuchen, sie zu retten, listig und vergnügt widerstanden.“

Hubbell’s Mischung aus persönlichen Erlebnissen und wissenschaftlichen Beobachtungen macht das Buch besonders lesenswert. Sie erzählt ehrlich und mit einem trockenen Humor von den Herausforderungen und Freuden des Lebens auf einer einsamen Farm. Ihre Beschreibungen sind authentisch und erfrischend ungekünstelt, was das Buch umso sympathischer macht. Anstatt das Landleben idyllisch zu verklären, zeigt sie es in seiner ganzen Realität – mit all seinen schönen, aber auch anstrengenden Seiten.

Die vielen Spinnen, die im Buch vorkommen, könnten manchen Lesern etwas zu viel sein, aber die Bienen machen echt Lust sich selbst mal mit der Imkerei zu beschäftigen (das ging mir bei „The Offing“ auch gerade so) – ein Zeichen?

The Lowland – Jhumpa Lahiri auf deutsch unter dem Titel „Das Tiefland“ im Rowohlt Verlag erschienen

Jhumpa Lahiris Roman „The Lowland“ hat mich tief beeindruckt und stellt ein weiteres Highlight in meinem herausragenden Lesejahr 2024 dar.

Many thanks to @leila.ganesan for being an absolute gorgeous book model 🙂

Der Roman entfaltet eine vielschichtige Geschichte, die sowohl persönliche als auch politische Dimensionen berührt. Lahiri erzählt von den Brüdern Udayan und Subhash, die in den 1960er Jahren in Kalkutta aufwachsen. Während der jüngere Udayan sich der radikalen Naxaliten-Bewegung anschließt, bleibt der ältere Subhash zurückhaltend und pragmatisch. Udayans Tod durch die Polizei markiert einen Wendepunkt, der das Leben beider Brüder und ihrer Familien nachhaltig prägt.

Die Beziehung zwischen Bela und ihrer Mutter Gauri ist besonders eindrucksvoll und komplex geschildert. Gauri, die schwangere Witwe Udayans, wird von Subhash geheiratet, um sie vor dem Druck der konservativen Familie zu schützen. Doch trotz dieser Rettung bleibt Gauri emotional distanziert und konzentriert sich auf ihre akademische Karriere. Bela wächst mit dem Gefühl des Verlusts und der Entfremdung auf, geprägt von der Abwesenheit und emotionalen Kälte ihrer Mutter. Lahiri gelingt es, diese Mutter-Tochter-Beziehung mit großer Sensibilität und Tiefe darzustellen, was mich nachhaltig beschäftigt hat.

Udayans Engagement in der Naxaliten-Bewegung und sein tragisches Ende verdeutlichen, wie politische Ideologien und Kämpfe das individuelle Schicksal und die Familienbande beeinflussen können. Subhashs Flucht in die USA und sein Versuch, ein ruhigeres, geordnetes Leben zu führen, kontrastieren stark mit Udayans leidenschaftlichem, aber zerstörerischem Engagement.

„Were her mother ever to stand before her, even if Bela could choose any language on earth in which to speak, she would have nothing to say. But no, that’s not true. She remains in constant communication with her. Everything in Bela’s life has been in reaction. I am who I am, she would say, I live as I do because of you.“

Lahiris Prosa ist dabei von einer melancholischen Schönheit geprägt, die die Schauplätze lebendig werden lässt. Die Beschreibungen der Küstenlandschaften Neuenglands und die Erinnerungen an die Lowlands Kalkuttas sind besonders eindrucksvoll und man hat sofort einprägsame Bilder im Kopf. Die narrative Struktur des Romans, die zwischen verschiedenen Zeiten und Perspektiven wechselt, verleiht der Geschichte eine besondere Tiefe und Vielschichtigkeit.

„The Lowland“ ist kein epischer Roman im herkömmlichen Sinne, sondern eher eine intime Erzählung über die Zerbrechlichkeit menschlicher Beziehungen und die tiefen Wunden, die politische Konflikte hinterlassen können. Die Charaktere wirken in ihrer Misere oft isoliert und gefangen in ihrer persönlichen Trauer. Besonders Gauri bleibt in ihrer undurchsichtigen Art faszinierend und rätselhaft.

Lahiri hat mit „The Lowland“ einen Roman geschaffen, der durch seine emotionale Intensität und die feinfühlige Darstellung komplexer familiärer Beziehungen besticht. Es ist ein Buch, das nachhallt und zum Nachdenken anregt, nicht nur über die Charaktere und ihre Schicksale, sondern auch über die größeren politischen und sozialen Zusammenhänge, in denen sie sich bewegen. Ein wahrhaft bemerkenswertes Werk, das meinen Lesehorizont in diesem Jahr bereichert hat und ganz sicherlich nicht der letzte Roman den ich von Jhumpa Lahiri lesen werde.

Up at the Villa – W. Somerset Maugham auf deutsch unter dem Titel „Oben in der Villa“ im Diogenes Verlag erschienen

„Up in the Villa“ von W. Somerset Maugham ist ein packender Kurzroman, der einen von Anfang bis Ende nicht loslässt. Die Geschichte spielt in den malerischen Hügeln über Florenz und dreht sich um Mary Leonard, eine junge englische Witwe, die vor einer wichtigen Entscheidung steht. Maugham zeigt hier wieder einmal seine meisterhafte Erzählkunst und sein Gespür für menschliche Abgründe und Schicksalswendungen.

Mary wird von einem reichen, älteren Freund um ihre Hand gebeten, zögert aber mit ihrer Antwort. Bei einer abendlichen Fahrt in die Hügel trifft sie auf einen gut aussehenden, aber verzweifelten deutschen Flüchtling. Diese Begegnung löst eine Kette von Ereignissen aus, die Marys Leben komplett auf den Kopf stellen. Innerhalb weniger Stunden muss sie sich mit Leidenschaft, Gewalt und moralischen Dilemmas auseinandersetzen.

Maughams klarer und flüssiger Schreibstil macht das Buch zu einem echten Pageturner. „Up in the Villa“ ist nicht nur eine Geschichte über Liebe und Verlangen, sondern auch über das flüchtige Glück und die schwierigen Entscheidungen im Leben.

W. Somerset Maugham, geboren 1874 in Paris, war ein vielseitiger Autor, der oft die dunkleren Seiten des menschlichen Lebens in seinen Werken thematisierte. Seine zahlreichen Reisen und vielfältigen Erfahrungen fließen in seine Geschichten ein und geben ihnen Authentizität und Tiefe.

Die Verfilmung des Romans aus dem Jahr 2000, unter der Regie von Philip Haas, fängt die Atmosphäre und die emotionalen Nuancen des Buches hervorragend ein. Kristin Scott Thomas glänzt in der Rolle der Mary und bringt die inneren Konflikte der Figur überzeugend zur Geltung. Der Film bleibt der Vorlage treu und ergänzt sie durch beeindruckende Bilder der toskanischen Landschaft.

„The Princess gave him another of those quiet smiling looks of hers in which there was the indulgence of an old rip who has neither forgotten nor repented of her naughty past and at the same time the shrewdness of a woman who knows the world like the palm of her hand and come to the conclusion that no one is any better than he should be.“

„Up in the Villa“ hat mich wirklich überrascht und begeistert. Es war mein erstes Buch von Maugham, aber sicher nicht mein letztes. Die spannende Geschichte und die tiefgründigen Charaktere machen Lust auf mehr von diesem großartigen Autor.

The Offing – Benjamin Myers auf deutsch unter dem Titel „Offene See“ im Dumont Verlag erschienen, übersetzt von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann

Bin mir nie sicher, ob ich Dulcie sein möchte oder gerne eine Dulcie in meinem Leben hätte. Auch beim zweiten Lesen wieder so so schön. Auf dem Balkon sitzen, in Gedichtbänden blättern, Weißwein trinken und fluchen dass die Farbe von der Wand fällt – perfekt!

„There is poetry in silence but most of us don’t stop to hear it. They must talk, talk, talk, but say nothing because they are afraid of hearing their own heartbeat.

Let poetry and music and wine and romance guide the way. Let liberty prevail.“

Der junge Robert weiß schon früh, dass er wie alle Männer seiner Familie Bergarbeiter sein wird. Dabei ist ihm Enge ein Graus. Er liebt Natur und Bewegung, sehnt sich nach der Weite des Meeres. Daher beschließt er kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, sich zum Ort seiner Sehnsucht, der offenen See, aufzumachen. Fast am Ziel angekommen, lernt er eine ältere Frau kennen, die ihn auf eine Tasse Tee in ihr leicht heruntergekommenes Cottage einlädt. Eine Frau wie Dulcie hat er noch nie getroffen: unverheiratet, allein lebend, unkonventionell, mit sehr klaren und für ihn unerhörten Ansichten zu Ehe, Familie und Religion. Aus dem Nachmittag wird ein längerer Aufenthalt, und Robert lernt eine ihm vollkommen unbekannte Welt kennen.

Das wurde ganz überraschend für mich ein richtiges Herzensbuch. Jede:r von uns braucht eine Dulcie im Leben. Ein Buch das ich ganz besonders in diesen dunklen Zeiten empfehlen kann. Es macht die Welt ein kleines bisschen besser.

Mit brennender Geduld/El cartero de Neruda – Antonio Skármeta übersetzt von Willi Zurbrüggen erschienen im Piper Verlag

Antonio Skármetas Roman „Mit brennender Geduld“ ist eine liebevolle Hommage an den großen chilenischen Dichter Pablo Neruda und erzählt die Geschichte einer ungewöhnlichen Freundschaft. Der junge Mario Jiménez, ein träumerischer Briefträger in dem kleinen Dorf Isla Negra, hat nur einen einzigen Kunden: den weltberühmten Dichter Neruda. Zwischen dem naiven Mario und dem erfahrenen Literaten entwickelt sich eine tiefe Freundschaft. Mit Hilfe von Nerudas Gedichten gewinnt Mario das Herz seiner geliebten Beatriz. Die beiden heiraten, und Neruda wird Pate ihres ersten Sohnes.

Die politische Lage in Chile spiegelt sich in der Geschichte wider. Nach Salvador Allendes Wahlsieg 1970 wird Neruda Botschafter in Paris und gewinnt 1971 den Nobelpreis für Literatur. Nach dem Militärputsch unter Pinochet kehrt Neruda zurück nach Chile, das in Terror und Gewalt versinkt. Auch Marios Welt zerbricht, und Neruda stirbt wenige Tage nach dem Putsch unter mysteriösen Umständen.

Der Roman ist poetisch und melancholisch, eine Feier der Poesie und des Lebens. Skármeta erzählt die Geschichte mit einer Intensität, die tief unter die Haut geht.

Der Roman wurde zweimal verfilmt, wobei die zweite Verfilmung „Il Postino“ von Michael Radford besonders bekannt und einer meiner absoluten Lieblingsfilme ist. Der Film verlegt die Handlung von Chile in die 1950er Jahre an die Amalfi Küste.

Der Film, der auf den Inseln Procida und Salina im Golf von Neapel gedreht wurde, begeistert mich durch seine malerische Kulisse und die bewegende Geschichte.

Als ich kürzlich während meines Pompeij Aufenthaltes in Sorrento war, bin ich überraschend auf das Wohnhaus von Beatrice gestossen 😉

Das Buch und der Film ergänzen sich wunderbar. Während das Buch tief in die chilenische Geschichte eintaucht, bietet der Film eine romantische Interpretation in einem wunderschönen italienischen Setting. Beide Versionen machen Lust darauf, Nerudas Gedichte wieder hervorzukramen und sich von ihrer Magie verzaubern zu lassen.

Hier mein Lieblingsgedicht von Neruda:

Tonight I can write the saddest lines.

Write, for example, ‚The night is starry and the stars are blue and shiver in the distance.‘

The night wind revolves in the sky and sings.

Tonight I can write the saddest lines.
I loved her, and sometimes she loved me too.

Through nights like this one I held her in my arms.
I kissed her again and again under the endless sky.

She loved me, sometimes I loved her too.
How could one not have loved her great still eyes.

Tonight I can write the saddest lines.
To think that I do not have her. To feel that I have lost her.

To hear the immense night, still more immense without her.
And the verse falls to the soul like dew to the pasture.

What does it matter that my love could not keep her.
The night is starry and she is not with me.

This is all. In the distance someone is singing. In the distance.
My soul is not satisfied that it has lost her.

My sight tries to find her as though to bring her closer.
My heart looks for her, and she is not with me.

The same night whitening the same trees.
We, of that time, are no longer the same.

I no longer love her, that’s certain, but how I loved her.
My voice tried to find the wind to touch her hearing.

Another’s. She will be another’s. As she was before my kisses.
Her voice, her bright body. Her infinite eyes.

I no longer love her, that’s certain, but maybe I love her.
Love is so short, forgetting is so long.

Because through nights like this one I held her in my arms
my soul is not satisfied that it has lost her.

Though this be the last pain that she makes me suffer
and these the last verses that I write for her.

Translation by W. S. Merwin

Nah genug weit weg – Antje Rávic Strubel erschienen im Wallstein Verlag

In „Nah genug weit weg“ nimmt uns Antje Rávik Strubel auf eine spannende Reise durch die Bedeutung von Orten in der Literatur mit. Strubel ist eine Autorin, die für ihre tiefgründigen und oft politisch angehauchten Romane bekannt ist. Ihre Geschichten entstehen meistens in fremden Gegenden, wo sie sich selbst nicht wiedererkennt – genau dort, wo die Orientierung fehlt und neue Sichtweisen entstehen können.

Bei ihren Lichtenberg-Poetikvorlesungen in Göttingen im Februar 2023 sprach Strubel über ihren kreativen Prozess. Sie erklärte, wie aus persönlichen Erfahrungen literarisches Material wird und wie sich diese Erfahrungen poetisch umsetzen lassen. Besonders spannend ist ihre Frage, wie politisch Literatur heutzutage sein kann oder sogar sein sollte.

Strubel ist überzeugt, dass Orte und Landschaften einen großen Einfluss auf Menschen und ihre Denkweise haben. Sie fragt sich, ob die konkrete Erfahrung eines Ortes auch die Art und Weise beeinflusst, wie ihre Figuren sprechen und handeln. Und was passiert eigentlich an den Übergängen zwischen verschiedenen Orten? Ihre Werke zeigen, dass manche Orte vielleicht nur deshalb existieren, weil jemand über sie geschrieben hat – eine ziemlich interessante Idee.

„Und mit Virginia Woolf ließe sich hinzufügen: „Als Frau habe ich kein Land. Als Frau ist mein Land die ganze Welt“ Besitz, Herkunft, familäre Zugehörigkeit taugten nicht als Kriterien, um die Beziehung von Frauen zu Orten zu beschreiben. Frauen besaßen nichts, und wenn sie heirateten, tauschten sie den Wohnsitz der Herkunftsfamilie gegen den des Mannes. Sie wurden verschickt.
Wer aber kein Land hat, hinterlässt auch keine Spuren. Da ist keine feste Burg, in der man sich verschanzen, keine Mauern, denen etwas einprägt, keine Erde, der etwas eingepflanzt werden könnte, auf der man etwas hinterlässt.“

„Ein Holzhaus aus der Jahrhundertwende. Eine Schäreninsel. Ein Schiff. Ein Plattenbau. Felsen und Moore.“ Diese Orte haben für Strubel eine besondere Bedeutung und prägen ihre Geschichten. Sie lässt uns darüber nachdenken, wo wir uns selbst beim Schreiben oder Lesen befinden.

„Nah genug weit weg“ ist ein faszinierender Einblick in Strubels kreative Welt und zeigt, wie Orte nicht nur Kulisse, sondern auch Motor für Geschichten sein können.

Lichte Tage/Tin Man – Sarah Winman übersetzt von Elina Baumbach erschienen im Klett-Cotta Verlag

„Lichte Tage“ von Sarah Winman, im Klett-Cotta Verlag erschienen und von Elina Baumbach ins Deutsche übersetzt, ist ein wunderbares Buch, das mich sehr berührt hat. Es erzählt eine Geschichte über Freundschaft, Liebe und das Erwachsenwerden, die gleichzeitig melancholisch und voller Licht ist. Ich habe das Buch gelesen, weil ich dringend mehr lichte Tage brauchte, und es hat seinen Auftrag definitiv erfüllt.

Alles beginnt mit einem Gemälde: „Fünfzehn Sonnenblumen“ von Van Gogh. Dora Judd, eine Nebenfigur im Roman, hängt es an die Wand ihres Wohnzimmers und damit nimmt die Geschichte ihren Lauf. Dieses Bild wird zum Symbol für die Sehnsucht nach Kunst und Schönheit, die Ellis und Michael durch ihr ganzes Leben begleitet.

Ellis und Michael lernen sich in Oxford kennen, einem eher grauen und tristen Ort, aus dem sie beide entfliehen wollen. Ihre Freundschaft ist sofort tief und besonders, und gemeinsam machen sie sich auf den Weg in den sonnigen Süden Frankreichs. Dort, unter der warmen Sonne und umgeben von Poesie, entdecken sie, wer sie wirklich sind und was sie vom Leben wollen. Diese Reise ist nicht nur eine Flucht vor ihrem Alltag, sondern auch eine Suche nach sich selbst und nach Freiheit.

„Die erste Liebe hat so etwas an sich, nicht wahr?“ sagte sie. „Sie ist unantastbar für die, die nicht dabei waren. Aber sie ist der Maßstab für alles, was kommt.“

Im ersten Teil des Buches erfahren wir viel über Ellis. Er ist mittlerweile 46 Jahre alt und arbeitet in einer Autowerkstatt in Oxford. Seine Träume, Künstler zu werden, wurden nach dem Tod seiner Mutter von seinem strengen Vater zerschlagen. Jetzt ist er ein einsamer Mann, der immer noch um seine verstorbene Frau trauert. Seine Erinnerungen an die Vergangenheit sind sowohl schmerzhaft als auch schön.

Im zweiten Teil wechselt die Perspektive zu Michael. Er erzählt von seinem Leben in London und seiner besonderen Beziehung zu Ellis. Ihre kurze, aber intensive Liebesaffäre in Südfrankreich ist eine Mischung aus jugendlicher Sehnsucht und der bittersüßen Erkenntnis, dass manche Träume nie wahr werden. Michael erinnert sich an diese Zeit mit großer Wärme und Bedauern.

Sarah Winman schreibt mit einer Sensibilität und Einfühlsamkeit, die einen wirklich berührt. Ihre Beschreibungen von Beziehungen und Landschaften sind voller Energie und doch zurückhaltend. Besonders mochte ich, wie sie die Themen sexuelle Identität und die AIDS-Epidemie der 1980er Jahre behandelt – mit viel Verständnis und Mitgefühl.

„Lichte Tage“ ist ein Roman über die Möglichkeiten und verpassten Chancen des Lebens. Es geht um die Suche nach Identität, die Kraft der Freundschaft und die vielen Facetten der Liebe. Winman hat es geschafft, mit ihrer klaren Sprache und ihrem tiefen emotionalen Verständnis ein Buch zu schreiben, das lange nachhallt. „Lichte Tage“ hat mich daran erinnert, dass trotz aller Verluste und Schmerzen immer noch Hoffnung und Schönheit in der Welt existieren. Wenn du gerade lichte Tage brauchst, dann ist dieses Buch genau das Richtige für dich.

Der Salzpfad/The Salt Path – Raynor Winn übersetzt von Heide Horn und Christa Prummer-Lehmair erschienen im Goldmann Verlag

„Der Salzpfad“ von Raynor Winn ist eine inspirierende Geschichte, die zeigt, wie man auch in den dunkelsten Zeiten neuen Mut finden kann (!?). Raynor und ihr Mann Moth verlieren nach über 30 Jahren Ehe plötzlich alles: Ihr Haus wird gepfändet und Moth wird mit einer unheilbaren Nervenkrankheit diagnostiziert. In dieser ausweglosen Lage packen sie ihre Sachen und beschließen, den South West Coast Path zu wandern – einen mehr als tausend Kilometer langen Küstenpfad in Südengland.

Dieser Weg ist kein Spaziergang im Park. Er ist Englands längster Fernwanderweg, mit Höhenmetern, die dem vierfachen Aufstieg des Mount Everest entsprechen. Die beiden leben dreieinhalb Monate lang von Moths kleiner Rente, zelten wild und ernähren sich oft nur von Brombeeren und Löwenzahn. Doch „Der Salzpfad“ ist kein Überlebensratgeber. Es geht vielmehr darum, wie die beiden auf ihrer Reise wieder Hoffnung und neuen Lebenssinn finden.

Raynor beschreibt ihre Erlebnisse und Begegnungen mit den Menschen entlang des Weges mit viel Humor und einem scharfen Blick für Details. Ob Landwirte, Surfer, Soldaten oder Outdoor-Enthusiasten – die Vielfalt der Charaktere, denen sie begegnen, macht das Buch sehr interessant. Die Reise führt sie an den Rand der Gesellschaft und lässt sie das Leben aus einer ganz neuen Perspektive sehen.

Während unseres Urlaubs in England kürzlich sind wir an der Englischen Riviera ein Stück des Weges gewandert – großes Highlight!

Die Dialoge sind oft kurz und treffend, und Raynor erzählt ihre Geschichte mit einer angenehmen Portion Selbstironie. Gleich zu Beginn des Buches gibt es einen interessanten historischen Exkurs über die Verfolgung von Bettlern und Landstreichern in Großbritannien, was ihre eigene Situation als unfreiwillige Vagabunden in einen größeren Zusammenhang stellt.

Das Buch beginnt mit einem Zitat aus der Odyssee: „Muse, erzähl mir vom Manne, dem wandlungsreichen, den es oft abtrieb vom Wege.“ Dieser Satz passt perfekt zu der Geschichte von Raynor und Moth, die ohne klares Ziel losziehen und dabei nicht nur ihre Würde, sondern auch neue Lebensfreude finden. Raynor scheut sich nicht vor emotionalen Momenten, aber sie wird nie kitschig oder rührselig.

„Der Salzpfad“ ist ein warmherziger und menschlicher Reisebericht, der zeigt, dass Hoffnung und ein neuer Anfang möglich sind, selbst wenn alles verloren scheint. Raynor Winn nimmt uns mit auf eine Reise, die uns lehrt, uns der Schönheit der Natur und der Stärke des menschlichen Geistes bewußt zu werden. Kein Wunder, dass dieses Buch in Großbritannien so erfolgreich ist – es trifft mitten ins Herz und macht unfassbar Lust darauf selbst die Wanderschuhe zu schnüren – auf den Teil mit der Obdachlosigkeit und dem kompletten Bankrott würde ich nach Möglichkeit gerne verzichten.

Gerne gelesen, aber ich war nicht „blown-away“, muss die weiteren Bände nicht zwangsläufig lesen, würde es aber, wenn sie mir irgendwie, irgendwo in die Finger fallen.

So, falls ihr es tatsächlich bis hier unten ausgehalten habt – Respekt! Sorry ist doch a bisserl lang geworden fürchte ich. Hoffe ich konnte euch auf das eine oder andere Buch Lust machen und in ein paar Tagen gibt es dann den ersten Reisebericht. Kommt ihr mit?