September Lektüre

Der September ist einer meiner Lieblingsmonate – und auch literarisch war er in diesem Jahr ein voller Erfolg. Besonders geprägt war er vom Erlanger Poetinnenfest, wo ich gleich mehreren der Autor*innen meiner diesmonatigen Lektüren begegnet bin: Ulrike Draesner, Fikri Anıl Altıntaş und Dimitrij Kapitelman. Insgesamt habe ich neun Bücher gelesen – ein wahrer literarischer Roadtrip.

Meine Lektürereise führte mich quer durch Zeiten und Kontinente: nach Mexiko, durch die USA an der Seite von John Steinbeck und seinem Königspudel Charley, bis hinaus aufs Meer, wo Penelope vor Ithaka in See sticht – und ich gleich dortgeblieben bin, denn auch Richard Powers’ „Das große Spiel“ spielt zu weiten Teilen im Ozean. Mit Dimitrij Kapitelman und Fikri Anıl Altıntaş habe ich zudem zwei besondere Familiengeschichten gelesen, die auf sehr unterschiedliche, aber gleichermaßen berührende Weise von Herkunft und Identität erzählen.

Ein wirklich guter Monat also – vielfältig, nachdenklich, manchmal melancholisch, oft überraschend. Hier kommt nun meine Septemberlektüre im Detail: Bücher, die ich euch wärmstens ans Herz legen möchte.

Ulrike Drasener – penelopes sch()iff erschienen im Penguin Verlag

Dieser Roman in Versform hat mich sehr begeistert und ich habe ihn hier vor Kurzem bereits besprochen.

Travels with Charley – John Steinbeck auf deutsch unter dem Titel „Die Reise mit Charley: Auf der Suche nach Amerika“ in dtv Verlag erschienen, übersetzt von Burkhart Kroeber

Dieses Buch wurde mir von einer lieben Freundin schon vor einer ganzen Weile empfohlen und endlich komme ich dazu, ihrem guten Tipp zu folgen: Selten hat mich ein Buch so sehr dazu gebracht, sofort den Koffer zu packen und einfach loszufahren. Dieses Buch hat in mir ein Fernweh geweckt, das zugleich Freiheit, Abenteuer und Lust auf stille Begegnungen macht. Ganz ohne großes Pathos, ganz ohne literarische Verrenkungen – einfach durch Steinbecks Blick, seine Sprache, seinen Ton.

Worum geht es? 1960, schon ein berühmter und reifer Autor, macht sich Steinbeck auf, sein eigenes Land noch einmal neu zu erkunden. Er will die Vereinigten Staaten nicht aus der Distanz der Zeitungen und Fernseher sehen, sondern mit eigenen Augen und Ohren erleben. Dazu lässt er sich ein Gefährt bauen, das er liebevoll Rocinante nennt, nach Don Quijotes klapprigem Pferd. Mit an Bord: Charley, ein französischer Pudel, der nicht nur Begleiter, sondern fast so etwas wie Gesprächspartner und Spiegel ist. Gemeinsam ziehen sie los, durch Neuengland, den Mittleren Westen, die Weiten Montanas, die Städte und Sümpfe des Südens.

I have always lived violently, drunk hugely, eaten too much or not at all, slept around the clock or missed two nights of sleeping, worked too hard and too long in glory, or slobbed for a time in utter laziness. I’ve lifted, pulled, chopped, climbed, made love with joy and taken my hangovers as a consequence, not as a punishment

Es ist eine Reise voller kleiner Begegnungen: Tankwarte, Farmer, Verkäuferinnen, Städter. Steinbeck hört zu, fragt nach, beobachtet – und hat ein unglaubliches Talent, die Geschichten dieser Menschen in ein paar Seiten lebendig werden zu lassen. Dabei klingt er nie gönnerhaft, nie belehrend. Er schaut hin, er beschreibt, und man spürt seine große Zuneigung zu den Menschen, so unterschiedlich sie auch sind.
Genauso eindringlich sind seine Naturbeschreibungen. Wenn Steinbeck durch die Wälder von Maine fährt oder die Ebenen der Dakotas durchquert, dann spürt man diese Landschaften beim Lesen. Er schreibt klar, ungekünstelt, aber immer poetisch – so, dass man glaubt, man säße selbst auf dem Beifahrersitz, mit Charley im Rückspiegel.

Natürlich hat die Reise auch dunkle Seiten. Besonders im Süden stößt Steinbeck auf offene Rassentrennung und Proteste gegen die Integration. Seine Notizen dazu sind von einer Schärfe, der man seine Wut dagegen anmerkt. Er will nicht einfach nur reisen, er will verstehen. Er konfrontiert sich mit dem, was weh tut, und genau darin liegt die Ehrlichkeit dieses Buches.

Travels with Charley ist nicht nur eine Reise durch Amerika, sondern auch eine Reise ins Innere – ein Buch über Begegnungen, Landschaften, Politik, Alltag, über die Sehnsucht nach Freiheit und das Bedürfnis nach Nähe. Vor allem aber ist es ein stilles, wunderschönes Plädoyer dafür, sich immer wieder neu aufzumachen, mit offenen Augen und offenen Ohren.
Ein Buch, dass es auf Rezept geben sollte, da es garantiert Blutdruck senkende und stressmindernde Qualitäten hat. Vertraut mir und lest dieses Buch 😊

The Illiac Crest – Cristina Rivera Garza erschienen im Verlag And Other stories, übersetzt von Sarah Booker (eine deutsche Übersetzung gibt es bislang nicht) und Die Schwerelosen – Valeria Luiselli erschienen im Kunstmann Verlag, übersetzt von Dagmar Ploetz

Diese beiden Bücher habe ich für meine Mexiko Stopp auf der literarischen Weltreise gelesen und meinen Eindruck dazu könnt ihr hier nachlesen.

Zwischen uns liegt August – Fikri Anıl Altıntaş erschienen im C. H. Beck Verlag


Noch ein Autor den ich auf dem Poetinnenfest endeckt habe und ein Roman bei dem ich schon nach wenigen Sätzen dachte: hier jemand schreibt, der genau hinhört – in die Zwischenräume von Sätzen, in die stillen Bewegungen zwischen Mutter und Sohn. Dank an C. H. Beck für das Rezensionsexemplar.

Altıntaş erzählt von den letzten Monaten einer an Krebs erkrankten Mutter und ihres Sohnes – und er tut das ohne Pathos, ohne jedes überflüssige Wort. Während die Krankheit das Ende unausweichlich erscheinen lässt, bleibt der Alltag seltsam standhaft: Krankenhausflure, Fahrten zum Supermarkt, das gemeinsame Kochen, kleine Gesten, die plötzlich mehr Gewicht tragen als große Erklärungen. Diese Alltäglichkeit verleiht dem Buch seine besondere Stärke – es ist kein Roman über das Sterben, sondern über das Weiterleben, bis zuletzt.

Parallel entfaltet sich die Vergangenheit der Mutter: ihre Kindheit in der Türkei, das Aufbrechen nach Deutschland, das Leben zwischen Sprachen, zwischen Erwartungen und Eigenwillen. Der Sohn versucht, zu verstehen, was sie geprägt hat, was sie weitergegeben hat – und was unausgesprochen blieb. Altıntaş beschreibt all das mit großer Empathie und einem genauen Blick für die leisen Brüche, die Generationen und Kulturen voneinander trennen und zugleich verbinden.

Es tut weh, darüber nachzudenken, dass sich Routinen verschieben

Mich hat dieses Buch sehr berührt, vielleicht gerade weil es sich nie übermässig in Emotionen verliert. Es bleibt leise, und gerade darin liegt seine Eindringlichkeit. Zwischen den Zeilen spürt man die Zärtlichkeit dieser Beziehung, aber auch die unausgesprochenen Spannungen, die Scham, die Müdigkeit, das zähe Ringen um Nähe. Besonders stark fand ich den Moment, in dem die Mutter – unerwartet und klar – für sich selbst einsteht, für ihre eigenen Wünsche und Bedürfnisse, die sie so lange zurückgestellt hatte. Dieser Augenblick wirkt wie ein kleines Aufleuchten inmitten des Abschieds.

Altıntaş schreibt ohne große Dramatik, aber mit einem tiefen Wissen um das, was zwischen Menschen unausgesprochen bleibt. Eine eindringliche, zärtliche und zugleich schmerzlich ehrliche Geschichte – und für mich eines der bewegendsten Bücher des Jahres.

Liebe in Zeiten des Hasses – Florian Illies erschienen im S. Fischer Verlag

Florian Illies’ Liebe in Zeiten des Hasses ist ein Buch, das man nicht einfach liest, sondern in das man hineingezogen wird wie in eine Chronik des taumelnden 20. Jahrhunderts. Diese kurzen, vignetteartigen Miniaturen über Künstler, Dichterinnen, Denker und Verirrte der Zwischenkriegszeit entfalten eine eigentümliche Mischung aus Eleganz, Schmerz und Ironie. Illies beherrscht die Kunst, das Schicksal einer ganzen Epoche in einem einzigen Augenblick, in einer Geste, in einem Blick zwischen zwei Liebenden oder einem Satz aus einem Brief zu verdichten. So entsteht ein Mosaik aus schillernden, verletzlichen Fragmenten, in dem sich die Jahre 1930 bis 1939 wie ein langsames, unausweichliches Abrutschen anfühlen – von der fiebrigen Kreativität der Avantgarde hinein in den Abgrund der Gewalt.

Beim Lesen überkommt einen immer wieder dieses „uncanny“ Gefühl, dass Geschichte keine lineare Bewegung ist, sondern ein Kreisen – dass sich die Gespenster jener Zeit längst wieder in unserer Gegenwart einnisten. Man liest von den Intellektuellen, die sich noch über politische Extreme mokieren, während sie sich schon in deren Bannkreis befinden, und man denkt unwillkürlich an die Rhetorik unserer Tage, an die neuen Fronten, die wieder gezogen werden. Illies’ Stil – halb distanziert, halb zärtlich – verstärkt diese Beklemmung. Er kommentiert kaum, er beobachtet, lässt uns die Ahnung des Kommenden mitempfinden, als säßen wir mit ihm am Rande eines brennenden Jahrzehnts und wüssten, dass der Rauch schon zu uns herüberzieht.

Manchmal ist mir da aber auch zu viel Hektik bei all der Spannung zwischen Schönheit und Entsetzen. Da ist eine fast voyeuristische Lust, in die Salons und Ateliers jener Zeit zu blicken, wo noch getanzt, geliebt, gestritten wird – wissend, dass all das bald zerstört sein wird. Illies zeichnet diese Welt mit feiner Ironie, aber ohne Spott; man spürt seine Melancholie über das, was unwiederbringlich verloren ging, und seine stille Wut darüber, wie blind viele damals in ihr eigenes Verderben liefen.

Man kann kein Licht entdecken, solange man nur die Dunkelheit analysiert.

So liest sich Liebe in Zeiten des Hasses letztlich wie ein Spiegel – ein historischer, aber auch ein existenzieller. Die Figuren dieser Jahre sind uns näher, als wir glauben: in ihrem Wunsch nach Bedeutung, nach Liebe, nach Schönheit trotz der Dunkelheit. Und während man Seite um Seite in diese Welt eintaucht, stellt sich unweigerlich die Frage, ob wir gerade wieder in einer solchen Zwischenzeit leben – in einem Moment, in dem alles noch möglich scheint, aber längst kippt.

Russische Spezialitäten – Dimitrij Kapitelman erschienen im Hanser Verlag

Ich habe Dimitrij Kapitelmans „Russische Spezialitäten“ zuerst gehört, dann erst gelesen – bei seiner Lesung in Erlangen. Kapitelman hat für mich in seiner Stimme schon den Rhythmus seines Schreibens mitschwingen zu lassen: eine Mischung aus Schärfe, Witz und stiller Melancholie. Ich hatte das Buch für einen Bekannten mitgebracht, der unbedingt eine Widmung seines Lieblingsautors wollte – und in der Aufregung zwischen Publikum, Signiertisch und Smalltalk habe ich dann völlig vergessen, ein schönes Cover-Bild für den Artikel hier zu machen.

Gelesen habe ich Russische Spezialitäten schließlich auf der Rückfahrt vom Poetinnenfest, in einer Reihe von Nahverkehrszügen mit reichlich Verspätung und somit genügend Zeit, mich ganz in diese Geschichte zu versenken. Es war die perfekte Lektüre für eine solche Reise: ein Buch über das Unterwegssein, über Herkunft und Zugehörigkeit, über das, was bleibt, wenn man ständig zwischen Welten pendelt.

Kapitelman erzählt von seiner ukrainisch-jüdischen Familie, von Eltern, die sich in der Fremde neu erfinden müssen, und von einem Sohn, der versucht, ihre Vergangenheit zu verstehen, ohne sich darin zu verlieren. Das klingt nach schwerem Stoff, ist es aber nicht. Sein Ton ist leicht, fast tänzerisch. Humor und Schmerz stehen nebeneinander, oft in einem Satz. Er schreibt mit Zärtlichkeit, aber ohne Sentimentalität, mit Ironie, aber ohne Distanz. Gerade diese Balance macht das Buch so besonders – es ist persönlich, politisch und poetisch zugleich. Da ich vor Kurzem erst seinen Roman „Eine Formalie in Kiew“ gelesen habe, kam mir das ganze Setting und seine Protagonist*innen wunderbar vertraut vor.

Seit der Invasion habe ich das Gefühl, kein richtiger Mensch mehr zu sein. Die unerträgliche und unerträglich sinnlose Tragödie, die Russland in mein Geburtsland gebracht hat. Ich blende sie aus, um in meinem friedlichen, vom dummen Glück okkupierten Leben zu funktionieren.

Ich war ehrlich überrascht, Russische Spezialitäten nicht auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises zu finden. (Genauso wenig wie meine absolute Favoritin Annett Gröschner mit „Schwere Lasten“ – grrrr) Für mich ist der Roman Literatur, die wirkt, weil sie vertraut klingt – wie ein Gespräch, das man auf einer langen Zugstrecke zufällig beginnt und ungern beendet. Vielleicht war das für die Juror*innen nicht experimentell genug.

Kapitelman schreibt mit einer Wärme, die ich sehr schätze: aufmerksam, witzig, verletzlich. „Russische Spezialitäten“ ist ein Buch, das sich leise entfaltet, das nachwirkt und Lust macht auch weitere Bücher des Autors zu lesen.

Sommer in Lesmona – Marga Berck erschienen im Rowohlt Verlag

Ich wollte mich mit „Sommer in Lesmona“ vom Sommer verabschieden und erwartete eine leichte, nostalgische Geschichte mit Lindenblütenduft und Sonnenschein. Doch schon nach den ersten Seiten merkte ich, dass unter dieser heiteren Oberfläche etwas anderes schwingt: eine Ahnung von Vergänglichkeit, die das ganze Buch durchzieht. Marga Berck – hinter diesem Pseudonym steht Magdalene Pauli, geborene Melchers, Bremer Kaufmannstochter und spätere Frau des Kunsthistorikers Gustav Pauli – hat in „Sommer in Lesmona“ weit mehr hinterlassen als eine charmante Folge von Backfischbriefen die sie mit ihrer besten Freundin austauscht. Sie hat Zeugnis abgelegt über Jugend und Freiheit im Schatten einer Zeit, die noch gar nicht weiß, dass sie vergeht.

Der Roman, der auf einem echten Briefwechsel aus den 1890er Jahren basiert, beginnt als scheinbar harmlose Sommergeschichte: Ein junges Mädchen schreibt ihrer Freundin von Reisen, Festen, Spaziergängen und einer verbotenen Liebe. Diese Briefe atmen eine Unschuld, die von einer leisen Melancholie überlagert sind und eine unerwartete dramatische Wendung nehmen. Denn alles, was Marga erlebt, scheint so hell, so lebendig, und doch weiß man als Leserin: Diese Welt wird verschwinden – nicht nur für sie, sondern für ganz Europa.

Die Eltern trafen viele Bekannte, darunter sehr viele elegante Leute aus Frankfurt und London. Angesichts dieser Welt entdeckte Mama, daß ich angezogen wäre wie ein Mistkäfer. Sie selbst sieht ja immer so vornehm aus. Aber nun sah sie ein, daß ich aussah, als käme ich aus Gröpelingen. Abends waren beide Eltern furchbar zärtlich zu mir und sagten, es wäre doch so nett, daß Du und ich so wenig Wert auf teure Kleider gelegt hätten. Du hättest ja nun als Braut schon sehr schöne Sachen aus Hannover bekommen, und ich sollte jetzt in Wiesbaden ganz neu ausgesteuert werden! Wir haben wirklich beide wenig an unsere Kleider gedacht, und für Bremen hat es ja noch immer genügt.

Hinter dem hellen Licht von Lesmona liegt der Schatten einer Biografie, die fast symbolisch für den Verlust einer ganzen Epoche steht. Magdalene Pauli, die Verfasserin dieser Briefe, führt später ein Leben, das kaum gegensätzlicher sein könnte: aus der Geborgenheit des großbürgerlichen Bremen hinaus in eine Welt der Brüche. Sie heiratet einen Kunsthändler, erlebt die kulturelle Blüte Europas – und wird zugleich Zeugin seines Untergangs. Zwei Weltkriege, wirtschaftliche Krisen, gesellschaftliche Umwälzungen. Sie überlebt all ihre Kinder – und wird zum Glück im hohem Alter überredet diese Jugendbriefe herauszugeben.

Ich habe dieses Buch mit einer zunehmenden Wehmut gelesen. Pauli hat mit Sommer in Lesmona ein Denkmal gesetzt für die Zerbrechlichkeit des Glücks. Ein leises, kluges, vollkommen zeitloses Buch – und, wenn man die Tragik der Autorin kennt, auch ein sehr bewegenden Zeitzeugnis Wer sich mit Sommer in Lesmona vom Sommer verabschiedet, verabschiedet sich zugleich von einer Welt, die es so nie wieder geben wird.

Das große Spiel – Richard Powers erschienen im Penguin Verlag, übersetzt von Eva Bonné

Kennt ihr das? Autorinnen, Bands, Künstlerinnen, die eigentlich komplett eurem Beuteschema entsprechen, alles klingt, als müsse es definitiv passen – aber es wird irgendwie nix. Musikalisch denke ich da gerade an Nine Inch Nails, literarisch ist das bei mir Richard Powers. Schon durch „The Overstory“ habe ich mich sehr gequält, obwohl ich mich auf das Buch gefreut hatte. Mit „Das große Spiel“ ging es mir definitiv besse, denn gequält habe ich mich absolut nicht, ich habe es durchaus flott gelesen, konnte aber trotzdem keine wirkliche Verbindung zu der Geschichte aufbauen.

Inhaltlich erzählt Powers die Geschichte von mehreren Menschen, deren Leben auf komplexe Weise miteinander verwoben sind. Evie, Meeresbiologin, erforscht die Tiefen des Ozeans; Todd, Programmierer, arbeitet an einem Spiel, das Realität und Simulation verschwimmen lässt; Rafi, Künstler, sucht nach neuen Ausdrucksformen in einer zunehmend digitalen Welt. Ihre Wege kreuzen sich auf überraschende und teilweise geheimnisvolle Weise, wobei die Insel Makatea als eine Art Brennpunkt für Neubeginn, Begegnung und persönliche Reflexion dient. Powers verwebt darin Themen wie Wissenschaft, Kunst, menschliche Beziehungen und die Suche nach Sinn in einer komplexen, globalisierten Welt.

Jeder Tanz ist ein Spiel, und jedes Spiel erklärt sich am besten selbst. Denn was tun alle Geschöpfe anderes, als auf dem Erdkreis zu spielen, im Angesicht eines spielenden Gottes?

Evie fand ich als Protagonistin durchaus faszinierend, aber ihre Geschichte verendet irgendwann im Belanglosen, und das Ende des Buches wirkte auf mich merkwürdig. Die erzählerische Struktur, das Verweben der unterschiedlichen Perspektiven und die fast kaleidoskopische Breite des Romans haben mich zeitweise an die letzte Folge von Lost erinnert 😉

Das Bild vom Leben als Spiel fasst die Grundidee des Romans treffend zusammen: eine poetische Reflexion über die Verflochtenheit von Menschen, Handlungen und der Welt, ohne dass Powers dabei versucht ist einfache Antworten zu geben.

Für mich bleibt „Das große Spiel“ ein solides Buch – gut zu lesen, klug und auch ambitioniert, aber insgesamt funkt es einfach nicht zwischen mir und Powers.

Jetzt bin ich gespannt – was waren eure Highlights im September und konnte ich euch vielleicht auf das eine oder andere Buch neugierig machen?

Juli Lektüre

Ein herausragender Lesemonat liegt hinter mir – einer, der mich auf meiner literarischen Weltreise in die Ukraine geführt hat. Für diesen Stopp habe ich die folgenden Bücher gelesen:

Vielleicht Esther – Katja Petrowskaja erschienen im Suhrkamp Verlag
Sie kam aus Mariupol – Natascha Wodin erschienen im Rowohlt Verlag
Eine Formalie in Kiew – Dmitrij Kapitelman erschienen im Hanser Verlag
Baba Dunas letzte Liebe – Alina Bronsky erschienen im Kiepenheuer & Witsch Verlag

die ausführliche Besprechung dazu könnt ihr hier finden. Die Bücher werde ich hier in der Monatsübersicht daher nicht noch einmal vorstellen.

Neu auf dem Blog ist außerdem meine Serie „Stimmen, die bleiben“, in der ich an Autor*innen erinnere, deren Worte nachhallen. Den Auftakt machte Anna Seghers – mit ihrem eigenen Erzählband und einer beeindruckenden biografischen Studie über ihre Zeit in Mexiko. Auch hierzu verlinke ich euch die Besprechung und widme mich jetzt den Büchern aus diesem Monat, die ich bislang noch nicht auf dem Blog besprochen habe:

Drei große Entdeckungen hatte ich in diesem Monat für mich: Silvia Bovenschen mit einer zutiefst persönlichen Hommage an ihre Partnerin, Penelope Lively mit einem perfekt komponierten Sommerroman, und die Debütantin Christina Fonthes, deren Coming-of-Age-Geschichte zwischen England und Kongo spielt.

Und schließlich: Einfach Literatur von Klaus Willbrandt – ein Buch, das ich sehr wehmütig gelesen habe. Ein literarischer Nachlass, der bleibt.

Alle Bücher lagen zwischen 4 und 5 Sternen – das kommt nicht oft vor. Aber Juli hat geliefert.

Wohin du auch gehst – Christina Fonthes erschienen im Diogenes Verlag, übersetzt von Michaela Grabinger

In ihrem vielschichtigen Debütroman erzählt Christina Fonthes die miteinander verflochtenen Geschichten zweier Frauen, Mira und Bijoux, die beide aus Kinshasa stammen und auf je eigene Weise mit Herkunft, Identität und gesellschaftlichen Erwartungen ringen. Mira verlässt in den 1980er Jahren den Kongo und zieht über Belgien und Paris nach London. Ihre Beziehung zu einem armen Musiker bringt sie in Konflikt mit der bürgerlich-aufstiegsorientierten Familie. Bijoux hingegen wird als Kind nach London geschickt, wo sie bei ihrer streng gläubigen Tante aufwächst – ihre queere Identität wird von dieser als „unchristlich“ und „unafrikanisch“ gebrandmarkt.

Fonthes erzählt über einen Zeitraum von rund dreißig Jahren hinweg, springt elegant zwischen Zeiten und Orten – Kinshasa, Brüssel, London, Paris – und verbindet große politische Fragen (Migration, Diaspora, Religion, Geschlechterrollen, Kolonialgeschichte) mit sehr persönlichen Erfahrungen von Liebe, Scham, Entwurzelung und Widerstand.

Besonders eindrücklich ist, wie stark kulturelle Prägung in Sprache, Ritualen und Erinnerung weiterwirkt: Wenn die Figuren Fufu kochen, Lingala sprechen oder gemeinsam Lieder singen, ist Kinshasa immer präsent – egal, ob sie gerade in Kilburn, London oder in einem Pariser Friseursalon stehen.

Als ich die Augen wieder öffnete, schwebten goldene und silberne Flöckchen durchs Zelt. Ich sah Chancey an. Ich hatte keinen einzigen Schluck getrunken, trotzdem war mir schwindelig. Ich strich mit beiden Händen über ihren Körper, hierhin und dahin. Dort in dem Zelt und bei Rory und Darren und anderen Leuten zu sein, die so waren wie wir, erschien mir ganz selbstverständlich. In diesem Moment, während wir tanzten und lachten und Spaß miteinander hatten, waren wir wie alle anderen – zwei schwer verliebte Mädchen, zwei schwer verliebte Menschen.

Fonthes’ Stil ist poetisch und atmosphärisch, zugleich klar und erzählerisch dicht. Sie schafft es, komplexe Themen wie Homophobie, intergenerationale Konflikte, Trauma und Migration behutsam und doch ungeschönt darzustellen. Dabei verzichtet sie auf Klischees, zeigt stattdessen die Vielstimmigkeit, Würde und Widersprüchlichkeit kongolesischer Lebensrealitäten – sowohl im Kongo selbst als auch im Exil.

Christina Fonthes ist eine britisch-kongolesische Autorin, Spoken-Word-Künstlerin und Aktivistin, die sich für queere, afrikanische und diasporische Perspektiven stark macht. „Wohin du auch gehst“ ist ein kraftvoller, bewegender Auftakt ihres literarischen Schaffens – voller Emotion, politischer Klarheit und erzählerischer Eleganz. Eine Autorin von der ich sehr gerne noch weitere Bücher lesen möchte.

Ich danke dem Diogenes Verlag für das Rezensionsexemplar.

Sarahs Gesetz – Silvia Bovenschen erschienen im S. Fischer Verlag

In Sarahs Gesetz schreibt Silvia Bovenschen über das gelebte Leben mit ihrer langjährigen Lebensgefährtin Sarah Schumann – Künstlerin, Malerin, Zeichnerin und eine der zentralen Figuren der feministischen Kunstszene der 1970er Jahre. Entstanden ist ein ungewöhnlich stilles, zugleich kraftvolles Buch über die Liebe zwischen zwei eigenwilligen, starken Frauen – über Zuneigung, Widerspruch, Fürsorge, Krankheit, das Älterwerden und die Grenzen des Sagbaren im engen Miteinander.

Bovenschen porträtiert Sarah Schumann als widersprüchliche und kompromisslose Persönlichkeit: stolz, scharfzüngig, klug und oft schwer zugänglich. Doch statt zu verklären oder zu erklären, nähert sie sich ihr essayistisch und literarisch tastend, in Miniaturen, Reflexionen und Erinnerungsbildern, die mal zärtlich, mal bitter, aber nie gefällig sind.

Sarahs Gesetz ist kein klassisches Liebes- oder Erinnerungsbuch. Es ist ein Dialog mit einer Präsenz, die sich nicht einfach festhalten lässt – eine Annäherung an das Andere im geliebten Menschen. Ein kluges, bewegendes Werk über das Zusammenleben, das Altwerden in Würde und die Formbarkeit von Nähe, ohne deren Ambivalenzen auszublenden.

Ich vertraue Sarah mehr als mir selbst.

Krankheit adelt nicht.
Eine schwere Kindheit auch nicht.

Silvia Bovenschen (1946–2017) war Literaturwissenschaftlerin, Essayistin und eine der prägenden feministischen Intellektuellen Deutschlands. Bereits 1979 erschien ihr einflussreiches Buch Die imaginierte Weiblichkeit. Sie lehrte viele Jahre an der Universität Frankfurt, bevor sie sich – selbst seit ihrer Jugend an MS erkrankt – zunehmend dem literarischen Schreiben zuwandte. Mit Älter werden. Notizen (2006) erreichte sie ein großes Publikum. Sarahs Gesetz, erschienen 2015, ist eines ihrer persönlichsten Bücher – klug, liebevoll und radikal wahrhaftig.

Habe große Lust noch weitere Bücher von Silvia Bovenschen zu entdecken – eine sehr interessante Autorin.

Heat Wave – Penelope Lively auf deutsch unter dem Titel „Hinter dem Weizenfeld“ bei dtv erschienen, übersetzt von Isabella Nadolny

Könnt ihr euch noch erinnern, wie wir vor ein paar Tagen vor lauter Hitze kaum noch einen klaren Gedanken fassen konnten? Ich jedenfalls schon – schmorend in unserer gefühlt 60 Grad heißen Dachgeschosswohnung, mit dem Ventilator als einzigem Verbündeten. Vielleicht ist genau jetzt, wo draußen der Sommer als Herbst cosplayed, die beste Zeit, sich noch einmal in die drückende Hitze zurückzuversetzen.

Gelesen habe ich in diesen Tagen Penelope Livelys Roman „Heat Wave“ – ein Glücksgriff. Ohne große Erwartungen aufgeschlagen, wurde ich komplett hineingezogen in diese stille und dennoch spannungsgeladene Geschichte. Eine Lektüre, die mich so gefesselt hat, dass ich danach sofort mehr von Lively lesen wollte.

Heat Wave“, erschienen 1996, spielt während eines glühend heißen Sommers auf dem englischen Land – genauer: in einem umgebauten Bauernhof in den Midlands, genannt World’s End. Einen Sommer den ich im Übrigen in London mit erlebt habe und mich sehr genau daran erinnern kann. Dort verbringt Pauline, Anfang fünfzig und freiberufliche Lektorin (sie korrigiert in einem ihrer Aufträge Kommas in einem Einhorn-Roman), den Sommer mit ihrer Tochter Teresa, deren Ehemann Maurice und dem kleinen Enkelsohn Luke.

Die Figuren leben Wand an Wand in nebeneinander liegenden Cottages – eine räumliche Nähe, die emotional immer bedrückender wird. Denn Pauline erkennt früh, dass Maurice nicht ganz treu ist. Ihre eigenen Erfahrungen mit einem untreuen Ehemann holen sie ein, und sie steht vor der Frage: Redet sie mit Teresa – und wenn ja, wie viel sagt sie? Oder schweigt sie und wartet, bis die Tochter selbst erkennt, was los ist?

Was auf den ersten Blick wie ein ruhiges Beziehungsdrama wirkt, ist in Wahrheit hoch aufgeladen. Lively lässt die Spannung langsam, aber unaufhaltsam wachsen – mit jeder Hitzewelle, mit jeder verdorrten Wiese, mit jedem überhitzt flirrenden Nachmittag. Natur und Emotionen spiegeln sich ständig: Die Landschaft wird zum Seismograf innerer Erschütterungen.

Die Atmosphäre ist fast kammerspielartig dicht. Es gibt keinen actiongeladenen Plot, aber umso mehr psychologische Raffinesse. Pauline ist eine wunderbar gezeichnete Figur – klug, witzig, verletzlich. Rückblenden in ihre frühere Ehe, kleine Begegnungen mit ihrem sympathisch-schrulligen Buchhändlerfreund Hugh oder dem Romanautor Chris geben ihr Tiefe und eine Welt jenseits der Ferienhausgrenze. Und dann ist da noch diese fast van Gogh’sche Landschaft: gelbgoldene Felder unter einem strahlend blauen Himmel, flirrend vor Hitze – ein grandioses Setting für ein emotionales Flächenbrand-Drama.

It occurs to her that she is probably the first person to live here for whom the weather is an aesthetic diversion.

Was mir besonders gefallen hat, war die Art und Weise, wie Lively mit Erwartungshaltungen spielt. Anfangs glaubt man, das sei eine jener subtilen Erzählungen, in denen „nichts passiert“. Aber wer aufmerksam liest, merkt bald: Das Ende ist längst angelegt, in Andeutungen, kleinen Gesten, Blicken. Es kommt nicht plötzlich, aber wow war ich überrascht.

Penelope Lively wurde 1933 in Kairo geboren und ist noch very much alive and kicking 🙂 Sie ist eine der renommiertesten britischen Schriftstellerinnen der Gegenwart und wurde unter anderem 1987 für Moon Tiger mit dem Booker Prize ausgezeichnet. 2017 erschien ihr letztes Buch eine Biografie mit dem Titel Life in the Garden – möchte ich – neben Moon Tiger – unbedingt lesen.

Kultur – eine neue Geschichte der Welt – Martin Puchner erschienen bei Klett-Cotta

Für dieses Buch durfte ich bei Bild der Wissenschaft eine Kurz-Rezension verfassen, diese könnt ihr hier lesen.

Einfach Literatur – Klaus Willbrand & Daria Razumovych erschienen im S. Fischer Verlag

Ich folgte dem Buchantiquariat Willbrand auf Instagram fast von Anfang an. Seine ruhige Art, mit der er über Literatur sprach, hat mich sofort berührt und dann diese Geschichte: ein kleines Antiquariat in Köln, das kurz vor dem Aus stand. Und eine junge Kundin, Daria, die ihn dazu brachte, sein Wissen nicht aufzugeben, sondern es mit der Welt zu teilen.

Aus dieser Freundschaft entstand nicht nur eine digitale Erfolgsgeschichte, sondern auch ein ganz besonderes Buch: „Einfach Literatur“

In diesem Werk verbindet sich autobiografisches Erzählen mit literarischer Leidenschaft. Willbrandt schreibt über seine Kindheit mit Asthma und wie ihn das zum Bücherwurm werden ließ, seine Jahrzehnte im Buchhandel, seine Begeisterung für Schriftsteller wie Kafka, Böll, Ingeborg Bachmann oder Rolf Brinkmann. Sein Ton bleibt klar und schnörkellos, manchmal melancholisch, aber nie sentimental. Man merkt jedem Kapitel an, dass hier jemand schreibt, der Literatur nicht nur gelesen, sondern gelebt hat. Besonders beeindruckt hat mich seine dreijährige Lese-Auszeit. Krass, habe wohl tatsächlich einen Menschen gefunden, dem Bücher NOCH wichtiger sind als mir.

Was jedoch alle großen literarischen Werke vereint, ist ihre Fähigkeit, die Zeit zu überdauern. Sie schafft es, ein Momentum einzufangen, das in ihrer Epoche tief verwurzelt ist, und doch ruft dieses Momentum auch Assoziationen und Empfindungen hervor. So entstehen Klassiker – Werke, die motivisch zeitlos, aber zugleich so unverwechselbar mit der Ära verbunden sind, in der sie entstanden. Große Literatur bewahrt etwas von ihrer Zeit, bleibt dabei aber unvergänglich.

Wie schön, dass Daria Razumovych seine Stimme so einfühlsam begleitet und mit in dieses Buch mit übersetzt hat. Was mir besonders gefällt sind natürlich die Listen, bei denen ich noch das eine oder andere Werk oder Autor*in entdecken konnte und die authentische Mischung aus Erinnerung, Fachwissen und einem direkten Zugang, der weder belehrt noch überfordert. Es ist ein Buch, das einen – wie ein gutes Gespräch im Buchladen – in die richtige Richtung stupst.

Ich war sehr traurig, als ich Anfang des Jahres vom Tod Klaus Willbrandts erfuhr. Wie gerne wäre ich bei meinem nächsten Köln-Besuch in seinem Antiquariat vorbeigegangen und hätte mich mit ein paar Büchern eingedeckt und auf den einen oder anderen fachmännischen Geheimtipp gehofft. Umso schöner, dass es dieses Buch gibt. Es ist ein Vermächtnis, eine literarische Schatztruhe und eine Hommage an einen Mann, der mit seinen Empfehlungen mehr als nur Bücher teilte: Er teilte Haltung, Haltung zur Welt, zur Sprache, zum Menschsein.

Wie war euer Lesemonat? Was waren eure Highlights? Konnte ich euch auf eines der vorgestellten Bücher neugierig machen? Freue mich über eure Rückmeldungen 🙂

April Lektüre

Ein richtig guter Lesemonat liegt hinter mir – mit einem Mix aus großartigen Highlights, solider Mittelklasse und ein paar kleinen Enttäuschungen. Besonders begeistert haben mich tiefgründige Klassiker, intensive literarische Stimmen und ein besonderer Ausflug nach Nigeria im Rahmen meiner Read around the World-Challenge. Thomas Mann war mit mehreren Facetten vertreten – von Briefen bis Urlaub, und auch sonst war literarisch einiges dabei.

Geht so – Beatriz Serrano erschienen im Eichborn Verlag, übersetzt von Christiane Quandt

Beatriz Serranos „Geht so“ ist ein Roman für alle, die sich schon mal gefragt haben, ob sie selbst das Problem sind – oder ob die Welt einfach kollektiv den Verstand verloren hat. Mit viel Witz, einem herrlich trockenen Ton und einer gut dosierten Portion Selbstironie begleitet man eine Protagonistin, die irgendwo zwischen Selbsthilfe-Ratgebern, emotionaler Erschöpfung und dieser merkwürdigen Mischung aus Überforderung und Unterforderung festhängt.

Ich habe das Buch sehr gerne gelesen – vor allem, weil es genau das Lebensgefühl trifft, das viele (nicht nur Millennials!) gerade umtreibt: Die diffuse Suche nach Sinn, das müde Lächeln beim Gedanken an „Berufung“, und der stille Wunsch, einfach mal für fünf Minuten in Ruhe gelassen zu werden. Serrano schafft es, diese Stimmung nicht nur sprachlich leicht und unterhaltsam einzufangen, sondern dabei auch durchaus kluge Fragen zu stellen: Was passiert, wenn Selbstoptimierung und Arbeit zur Ersatzreligion wird? Wo liegt die Grenze zwischen Selbstfürsorge und Eskapismus?

Was ich besonders mochte, war, wie sehr man der Autorin anmerkt, dass sie ihre Figur liebevoll, aber nie unkritisch begleitet. Die Ich-Erzählerin schwankt, taumelt, reflektiert – aber sie bleibt dabei immer menschlich, nahbar und manchmal schmerzhaft ehrlich.

Ein kleiner Wermutstropfen war für mich die fehlende Tiefe im Blick auf die Arbeitswelt, wie wir sie heute erleben: Da wäre durchaus noch mehr Potenzial gewesen, die ganz konkrete Absurdität moderner Erwerbsarbeit stärker herauszuarbeiten – etwa die Logik hinter unsinnigen KPIs, die allumfassende „Shitification“ durch immer rasanter um sich greifenden Effizienzwahnsinn oder auch die emotionale Erpressung durch Sätze wie „Wir sind hier alle ein Team“. All das klingt zwar unterschwellig an, bleibt aber eher atmosphärischer Hintergrund als tatsächlich greifbares Thema. Die Perspektive bleibt individuell, psychologisch, eher im Innen als im Außen – was vollkommen legitim ist, aber vielleicht nicht das letzte Wort zum großen Thema der „inneren Kündigung“ bleibt.

Mir ist durchaus bewusst, dass es sich auch hier um ein weiteres subtiles Werkzeug aus der Trickkiste des Patriarchats handelt: Divide et impera, sorge dafür, dass sich die Frauen untereinander über ihre jeweiligen Lebensentscheidungen und deren Konsequenzen in die Haare kriegen. Sorge dafür, dass alle denken, die frischgebackene Mutter hätte Schuld daran, dass du länger im Büro bleiben musst. Statt deine berechtigte Wut gegen das Unternehmen zu richten und gegeen seine unanständig schlechte Politik in Sachen Vereinbarkeit von Familie und Beruf…

Trotzdem: Geht so ist ein kluges, sehr unterhaltsames Buch über das Lebensgefühl einer Zeit, in der alles möglich scheint – und genau das oft lähmt. Es bietet keine Lösungen, aber viele Aha-Momente. Und manchmal reicht das auch.

Kerstin Holzer – Thomas Mann macht Ferien erschienen im Kiepenheuer & Witsch Verlag

Kerstin Holzer gelingt mit Thomas Mann macht Ferien ein leises, kluges und überraschend humorvolles Porträt des Literaturnobelpreisträgers – und zeigt ihn in einem Moment, der sein Denken und Schreiben für immer verändern sollte. Ein Buch, das Nähe schafft, wo sonst Ehrfurcht herrscht.
Es gibt Literaturerlebnisse, die weit über das bloße Lesen hinausgehen – Kerstin Holzers Roman Thomas Mann macht Ferien ist für mich genau so ein Fall. Nicht nur, weil mich das Buch als literarisches Porträt überzeugt hat, sondern auch, weil ich das große Glück hatte, die Autorin persönlich bei einer Lesung im Literaturhaus München zu erleben. Der Abend war unvergesslich: Inmitten alter Schulfreundinnen und Freunde von Kerstin Holzer, bei einem Glas Wein, entstand eine besondere Atmosphäre – offen, lebendig, herzlich. Es war, als wäre man Teil einer erweiterten Schreibwerkstatt, in der nicht nur über Literatur, sondern auch über die Menschen hinter den Texten gesprochen wird.

Thomas Mann macht Ferien erzählt von einem entscheidenden Sommer im Leben des Schriftstellers – dem Jahr 1918, als Thomas Mann mit seiner Familie die Sommerfrische am Tegernsee verbringt. Es ist eine Zeit politischer und persönlicher Krisen: Der Erste Weltkrieg steht kurz vor dem Ende, die Veröffentlichung seiner Betrachtungen eines Unpolitischen – ein Bekenntnis zur Monarchie und eine klare Absage an die Demokratie – lässt sich nicht mehr aufhalten. Mann weiß, dass er sich mit seiner Haltung auf die Seite der Verlierer gestellt hat. Nicht nur im öffentlichen Diskurs, auch innerhalb seiner eigenen Familie wird es zunehmend ungemütlich: Der Bruch mit seinem Bruder Heinrich ist tief, seine liberale Schwiegermutter kann mit dem „Schwieger-Tommy“ kaum mehr etwas anfangen. Und als wäre all das nicht genug, trübt auch noch ein abgebrochener und schmerzender Schneidezahn die Sommeridylle.

Dennoch markiert dieser Sommer am Tegernsee eine entscheidende Wende im Denken Thomas Manns – eine Zeit der inneren Bewegung, in der er, langsam aber unaufhaltsam, beginnt, seine politische Haltung zu hinterfragen und sich seiner Fehleinschätzungen bewusst zu werden.

Vier Jahre später wird er sich schließlich öffentlich zur liberalen Demokratie bekennen. Doch trotz aller inneren und äußeren Spannungen: Dieser Thomas Mann ist nicht der distanzierte, weltabgewandte Literaturfürst, wie er in vielen – meist männlich dominierten – Sekundärtexten beschrieben wird. Holzer zeigt ihn als nahbaren, oft sogar humorvollen Familienvater, der zum ersten Mal in seinem Leben einen Berg besteigt, der seine Kinder zum Lachen bringt und der inmitten aller politischen Verwerfungen an seiner Novelle Herr und Hund arbeitet – einer liebevollen, fast heiteren Hommage an seinen Hund Bauschan. Die Szene, in der Mann eifersüchtig auf seinen Hund reagiert, weil dieser einen anderen Mann anschaut, ist herrlich skurril – ich habe Tränen gelacht.

Besonders reizvoll war für mich die Lektüre des Romans in Kombination mit Thomas Manns Briefen. Diese setzen bereits 1894 ein – ganz im Gegensatz zu den Tagebüchern, die erst nach dem Sommer am Tegernsee einsetzen (frühere Aufzeichnungen wurden durch einen Brand vernichtet). Die Briefe erlauben einen tiefen Einblick in Manns Unsicherheiten und seine persönliche Entwicklung. Die Parallellektüre ermöglichte es mir, die Ferien am Tegernsee nicht nur durch Holzers Perspektive, sondern auch durch Manns eigene Worte zu erleben. Ein literarisches Doppelspiel, das ich jeder und jedem nur empfehlen kann.

Wer sich bisher noch nicht an Thomas Mann herangewagt hat – vielleicht aus Respekt, vielleicht aus Furcht vor Sprachgewalt und Seitenfülle – dem sei gesagt: Man muss nicht mit Der Zauberberg oder Joseph und seine Brüder beginnen. Herr und Hund oder auch der Felix Krull bieten großartige, zugängliche Einstiege in das Werk des Nobelpreisträgers – mit viel Witz, Beobachtungsgabe und feiner Ironie.

Und Kerstin Holzers Roman? Ist die perfekte Ergänzung. Eine Einladung, Thomas Mann neu kennenzulernen – nicht nur als Denker und Dichter, sondern als Ehemann, Vater, Sommerfrischler.

Passend zur Lektüre führte mich der Zufall – oder das Schicksal der Literaturverliebten – kurz nach der Lesung selbst an den Tegernsee. Die Wanderung hinauf zum Hirschberg, vorbei an den Orten, die Thomas Mann einst selbst durchstreifte, war der ideale Abschluss dieser literarischen Reise. Mein Tipp: Nehmt das Buch mit an den See, wandert hinauf zur Hütte, übernachtet dort – und erlebt den Sonnenaufgang am Gipfel. Wer weiß, vielleicht begegnet euch dort sogar der Schatten eines großen Schriftstellers. Oder ein besonders treuer Hund.

Ich freue mich nun sehr auf Kerstin Holzers weitere Werke über Monika und Elisabeth Mann und danke dem Kiepenheuer & Witsch Verlag für das Rezensionsexemplar.

Das Seil – Anna Herzig erschienen im Septime Verlag

Auf der diesjährigen Leipziger Buchmesse hatte ich das Vergnügen, Jürgen Schütz vom Septime Verlag mal wieder zu treffen – einem österreichischen Verlag, der einen ganz besonderen Platz in meinem Herzen hat. Im Gespräch machte er mich auf „Das Seil“ aufmerksam, diese dunkle kleine Novelle von Anna Herzig, und überreichte sie mir dankenswerterweise als Rezensionsexemplar. Ich ahnte da schon: Das wird keine leichte, aber vermutlich eine lohnende Lektüre.

Das Seil erzählt die Geschichte von Franziska Großhirsch, einer erfolglosen Schriftstellerin, die mit einem Text, den sie gar nicht selbst verfasst hat, einen renommierten Literaturpreis gewinnt. Doch das Preisgeld ruft diverse Neider auf den Plan – allen voran Tante Hilde, bei der sie gemeinsam mit ihrem Cousin Martin eine alles andere als geborgene Kindheit verbracht hat –, sondern auch ihren Ex-Freund und ihre Literaturagentin. Franziska bleibt nichts anderes übrig, als sich bis zur Preisverleihung in ihrer Wohnung zu verschanzen. Das Handy liegt ausgeschaltet im Tiefkühlfach, Fenster und Türen sind abgeklebt. Aber gegen die Geister ihrer Vergangenheit hilft keine Isolation – sie drängen sich in die Gegenwart und stellen die alles entscheidende Frage: Von wem stammt eigentlich „Das Seil“?

„Zum Glück kann Franziska bei Dingen, die notwendig sind, ein ungewöhnlich starkes Durchhaltevermögen an den Tag legen. Beispielsweise beim Überleben… Franziska findet kein Wattestäbchen, das lang genug ist, um ihr die Erinnerungen, die tief verdrängt in ihrem Kopf wuchern, herauszuziehen.“

Anna Herzig schafft eine surreale, beklemmende Atmosphäre, in der Erinnerungen sich wie Nebelschwaden durch die Zimmer winden. Ihre Sprache ist knapp, poetisch, präzise – ein Sog, dem man sich kaum entziehen kann.

Herzig, geboren 1987 in Wien als Tochter eines Ägypters und einer Kanadiererin, versteht es meisterhaft, ihre Figuren zwischen Realismus und Groteske oszillieren zu lassen. Franziska ist eine widerborstige, fragile Heldin, die sich gegen alles sträubt – vor allem gegen sich selbst.

Das Seil ist eine Novelle, die sich langsam entfaltet, dabei aber nie den festen Griff um die Leserin verliert. Surreal, traurig, sarkastisch, klug – und ja, auch wunderschön verstörend.

Literatur wie ich sie mag, ich hoffe noch auf viele weitere Werke von Anna Herzig und muss mich jetzt mal auf die Suche nach ihrem Debüt „Sommernachtsreigen“ machen.

Die Mansarde – Marlen Haushofer erschienen im S. Fischer Verlag

Dieses Buch hat mich nicht überrollt – es hat mich leise eingenommen, Schicht für Schicht, wie es auch die Erzählerin mit sich selbst tut. Haushofer schafft es, mit einer unscheinbaren, fast unmerklich eindringlichen Sprache, mich dorthin zu führen, wo Literatur für mich am lebendigsten ist: in die stillen Räume des Alltags, in die Zwischenräume von Erinnerung und Gegenwart, in jene Schattenbereiche, in denen sich Identität nicht festschreiben lässt, sondern nur tastend erschlossen werden kann.

Die Erzählerin, eine namenlose Frau mittleren Alters, zieht sich in die Mansarde ihres Hauses zurück, um Vögel zu zeichnen (wie ich!) und über alte Tagebücher nachzudenken, die ihr anonym zugeschickt wurden – vielleicht von sich selbst. Es ist ein Akt der Selbsterforschung, der mich zutiefst bewegt hat. Wie eine Archäologin ihrer eigenen Existenz gräbt sie sich durch die Sedimente ihrer Vergangenheit: die Ehe mit dem distanzierten Hubert, das Schweigen zwischen ihr und ihrer Tochter Ilse, die Abwesenheit des Sohnes Ferdinand, und nicht zuletzt die seltsame Zeit ihrer „Taubheit“, eines körperlichen wie seelischen Rückzugs.

„Ohne diese von ihm geschaffene Freundlichkeit erscheint ihm vielleicht das Leben unterträglich. Er schmiert den Alltag mit Öl, damit sein Kreischen und Kratzen ihn nicht verletzten kann.“

Was mich besonders fasziniert hat, ist die fast unheimliche Ruhe, mit der all das erzählt wird. Es gibt keinen dramatischen Ton, keine großen Ausbrüche. Und doch ist alles von innerer Dringlichkeit durchzogen.

Im Vergleich zu Die Wand ist dieses Buch vielleicht weniger bekannt, aber für mich nicht weniger bedeutend. Wo Die Wand eine radikale äußere Isolation beschreibt, ist Die Mansarde eine stille, innere Emigration. Beide Bücher kreisen um weibliche Selbstbehauptung im Spannungsfeld von Anpassung und Rückzug, aber auf ganz unterschiedliche Weise. Und beide zeugen von Haushofers unglaublichem Gespür für Zwischentöne, für das Unsagbare, das sich nur über Umwege mitteilen lässt.

Dass Haushofer in der deutschsprachigen Literatur immer noch ein Schattendasein fristet, erscheint mir zunehmend unverständlich. Sie ist keine „kleine“ Autorin, wie sie oft bezeichnet wird – sie ist eine präzise Beobachterin, eine stille Revolutionärin des Erzählens, die mit jedem Satz eine tiefe Wahrheit über das Menschsein berührt.

Die Mansarde ist ein Meisterwerk – leise, aber voller Echo.

Kairos – Jenny Erpenbeck erschienen im Penguin Verlag

Kairos ist für mich ohne Zweifel eines der literarischen Highlights dieses Jahres – vielleicht sogar darüber hinaus. Jenny Erpenbecks Sprache hat mich einmal mehr vollkommen in den Bann gezogen: klar, unbarmherzig, poetisch – und dabei immer präzise, immer auf den Punkt. Aber es war nicht nur die Sprache, die mich so tief bewegt hat. Es war auch – und vielleicht vor allem – meine eigene Biografie, die mir dieses Buch so nahegebracht hat.

Ich habe als Kind viele Ferien in der DDR verbracht. Meine Verwandten lebten dort, und obwohl ich nicht dort aufgewachsen bin, hatte ich früh einen sehr direkten Bezug zur Lebensrealität in diesem Land. Die DDR war absolut kein Paradies – das war mir selbst als Kind irgendwie bewusst –, aber es gab dort Dinge, die ich sehr geliebt habe: den Zusammenhalt unter den Menschen, das Gefühl von Gemeinschaft, die Bedeutung, die Literatur und Kunst dort hatten. Man saß einfach zusammen auf der Straße, hat geredet, sich gegenseitig zugehört. Man hat geteilt was man hatte und was man hat ergattern können. Vor allem: Kultur war nicht elitär – sie war da, für alle, mitten im Leben.

In Kairos habe ich mich wiedergefunden. Katharina, die Protagonistin, ist nur ein paar Jahre älter als ich, und ihr inneres Ringen, ihre Desorientierung im Übergang von der DDR in die westliche Welt, ihre Suche nach einem Halt – all das hat mich tief berührt. Ich habe selbst das Ende der DDR bewusst miterlebt, und ich erinnere mich gut an dieses Gefühl, dass da eine große, vielleicht einmalige Chance ungenutzt geblieben ist. Es hätte ein wirklich neues Deutschland entstehen können – eines, das das Beste aus beiden Systemen vereint. Aber es wurde stattdessen einfach übergestülpt, ausgelöscht, verdrängt. Die Straßen umbenannt, die Denkmäler eingerissen, ganze Identitäten entwertet. Wer erinnert sich noch an den Verfassungsentwurf für die DDR den Intellektuelle 1989/90 entwarfen? Da hätte man gemeinsam drauf aufbauen können.

Die Entwurzelung, die Erpenbeck so eindringlich beschreibt, kenne ich – wenn auch aus der Beobachterrolle – nur zu gut.

„Was vertraut war, ist im Verschwinden begriffen. Das gute, wie das üble Vertraute. Und auch das Mangelhafte, das Katharina lieb ist, vielleicht, weil es der Wahrheit am nächsten kommt. Stattdessen wird die Perfektion bald ihren Einzug halten – und auslöschen oder sich einverleiben, was ihr nicht standhalten kann: von den selbstgenähten Klamotten bis zu den maroden Häusern des Prenzlauer Bergs, vom lückenhaften Straßenpflaster bis zu den Worten für Dinge, die dann keiner mehr braucht. Die glatten, makellosen Oberflächen werden die Gedanken an alles, was vergänglich ist, ins Vergessen schieben. Das Brot wird anders schmecken, in den Straßen werden fremde Menschen an fremden Geschäften vorübergehen, in fremden Autos vorfahren, mit fremdem Geld in der Tasche. Die Stadtviertel, in denen Katharina bisher zu Haus war, werden nie wieder so ruhig und so leer sein, wie sie sie ihr ganzes Leben gekannt hat.“

Die Beziehung zwischen Hans und Katharina hat mich in ihrer Komplexität und Dunkelheit gleichermaßen fasziniert wie verstört. Was als große Liebe beginnt, entpuppt sich als Machtspiel, als Beziehung voller Kontrolle, Abhängigkeit, Schmerz. Dass das Private und das Politische bei Erpenbeck untrennbar verwoben sind, ist kein Zufall. Hans‘ Grausamkeit, seine Ideologie, seine Unnachgiebigkeit spiegeln das System wider, das im Zerfall begriffen ist. Und Katharinas Versuch, sich zu lösen, sich zu befreien, ist mehr als nur eine persönliche Emanzipation – es ist auch die einer ganzen Generation.

Ich habe Kairos nicht gelesen, ich habe es durchlebt. Es hat alte Fragen in mir aufgeworfen und neue Gedanken angestoßen. Es hat mich wütend gemacht und traurig. Aber vor allem hat es mir gezeigt, wie Literatur Brücken schlagen kann – zwischen Epochen, zwischen Systemen, zwischen Menschen. Und genau deshalb ist dieses Buch für mich so besonders.

In all deinen Farben – Bolu Babalola erschienen im Eisele Verlag übersetzt von Ursula C Sturm

Diese Liebesgeschichten und Nacherzählungen nigerianischer und europäischer Sagen habe ich im Rahmen meiner literarischen Weltreise zum Stopp in Nigeria gelesen. Erhalten habe ich das Buch auf der Leipziger Buchmesse von der Verlegerin des wunderbaren Eisele Verlages, der ganz in meiner Nachbarschaft sitzt.

Meinen Eindruck zum Buch sowie ganz viel über Nigeria selbst könnt ihr hier lesen.

Der Liebhaber meines Mannes / My Policeman – Bethan Roberts erschienen im Kunstmann Verlag übersetzt von Astrid Gravert

Ich habe Der Liebhaber meines Mannes mit drei Sternen bewertet – nicht, weil es ein schlechtes Buch wäre, im Gegenteil: Es liest sich angenehm, teilweise sogar sehr schön. Aber irgendetwas hat mich emotional nicht ganz erreicht, obwohl die Geschichte tragisch, berührend und gut konstruiert ist.

Bethan Roberts erzählt hier eine Dreiecksgeschichte, die sich lose an E. M. Forsters Leben und seiner Beziehung zu dem verheirateten Polizisten Bob Buckingham orientiert. Diese historische Vorlage fand ich besonders spannend – gerade weil sie zeigt, wie Liebe, Schuld und gesellschaftliche Zwänge sich über Jahrzehnte in ein Leben einschreiben können.

Im Zentrum stehen Marion, Tom und Patrick. Marion, ein einfaches Mädchen mit großen Gefühlen, verliebt sich in den gut aussehenden Tom – der wiederum von Patrick, einem kultivierten, schwulen Museumsleiter, begehrt wird. Was sich zunächst wie ein klassisches Liebesdrama entwickelt, wird nach und nach zu einem beklemmenden Kammerspiel über Sehnsucht, Selbstverleugnung und das tragische Scheitern an den eigenen Bedürfnissen.

Roberts schreibt sinnlich und atmosphärisch stark. Die 50er Jahre sind lebendig, es riecht nach Lavendel, Bohnerwachs, nach Pfefferminz und Schweiß. Man merkt, dass sie sich in die Zeit hineingefühlt hat. Und es gibt viele starke Momente – kleine Gesten, Blicke, Schweigen, das mehr sagt als jedes Gespräch. Besonders Marions Perspektive hat mich berührt – sie schildert ihr Leben, ihre Liebe, ihre Täuschung in einer Art Beichte, viele Jahre später. Dabei wirkt ihre Stimme glaubhaft, manchmal bitter, manchmal zerbrechlich. Dass Patrick ebenfalls zu Wort kommt – durch Tagebucheinträge – erweitert die Geschichte. Die beiden Perspektiven stehen fast nebeneinander, ohne sich ganz zu verbinden.

„For a policeman, you’re very romantic.’
‘For an artist, you’re very afraid,’ he said.”

Was mich zwischendurch etwas gestört hat: Tom bleibt erstaunlich blass. Als Leser*in versteht man kaum, was ihn wirklich bewegt. Er wird zum Projektionsobjekt für Marion und Patrick, bleibt aber selbst schwer fassbar. Vielleicht ist genau das gewollt – aber es hat mir den Zugang erschwert. In der Verfilmung war Tom etwas besser für mich zu greifen.

Was bleibt, ist das Bild einer verlorenen Generation, gefangen in gesellschaftlichen Konventionen, in der Liebe nicht frei gelebt werden durfte. Es ist bedrückend, wie viel zerstört wurde – und wie wenig Trost letztlich bleibt. Kein Happy End, kein kathartischer Moment. Eher ein leiser Rückblick auf verpasste Chancen.

Mädchen, Frau, Etc – Bernardine Evaristo erschienen im Klett-Cotta Verlag übersetzt von Tanja Handels

Ich habe Mädchen, Frau etc. als Hörspiel in der ARD Audiothek gehört – und kann das wirklich jederm nur wärmstens empfehlen. Schon nach wenigen Minuten war ich komplett eingetaucht in dieses außergewöhnliche Mosaik aus Stimmen, Geschichten und Leben. Die verschiedenen Sprecher*innen verleihen den Figuren so viel Tiefe und Lebendigkeit, dass ich beim Hören das Gefühl hatte, nicht nur dabei zu sein, sondern mittendrin. Es war, als hätte ich ein paar Tage mit diesen Frauen in London gelebt, gelacht, gestritten – und vor allem mitgelitten.

Evaristo erzählt die Geschichten von zwölf sehr unterschiedlichen Menschen, vor allem Schwarzen Frauen, aber auch queeren und nicht-binären Figuren, die auf den ersten Blick kaum etwas gemeinsam haben – und sich doch immer wieder kreuzen, berühren oder beeinflussen. Jede Figur bekommt ihren eigenen Raum, ihre eigene Stimme. Was sie verbindet, ist der Versuch, in einer oft rassistischen und patriarchalen Gesellschaft ihren Platz zu finden – mit all den Konflikten, Widersprüchen und Fragen, die das mit sich bringt.

„be a person with knowledge not just opinions“

Besonders beeindruckt hat mich, wie vielschichtig und menschlich diese Figuren gezeichnet sind. Sie sind weder Heldinnen noch Opfer, sondern alles dazwischen – widersprüchlich, manchmal unbequem, aber immer echt. Themen wie Identität, Feminismus, Herkunft, Zugehörigkeit oder politische Korrektheit werden hier nicht plakativ abgehandelt, sondern als Teil ganz alltäglicher Lebensrealitäten erzählt.

Auch formal ist das Buch ungewöhnlich: Evaristo verzichtet auf klassische Interpunktion und schafft so einen ganz eigenen Rhythmus – in der Hörspielfassung wird das durch die Sprechweise wunderbar transportiert. Es klingt fast poetisch, manchmal wie ein Gedicht, das sich entfaltet.

Am Ende bleibt kein abgeschlossenes Fazit, sondern ein Gefühl von Vielfalt, Verbundenheit und der Ahnung, dass es nicht die eine Geschichte Schwarzer Frauen gibt, sondern viele – und jede verdient es, erzählt zu werden. Mädchen, Frau etc. ist ein vielstimmiger, kluger, berührender Roman über das Leben, das Kämpfen und das Lieben. I love it!

Lebenslieder – Dana Schwarz-Hadereck erschienen im Adakia Verlag

Lebenslieder von Dana Schwarz-Hadereck, erschienen im Adakia Verlag, ist ein sehr persönlicher Gedichtband, in dem die Autorin eigene Texte mit feinsinnigen Illustrationen begleitet. Auch wenn mich die Gedichte inhaltlich und sprachlich nicht ganz erreicht haben, spürt man doch das Herzblut und die Authentizität, mit der dieses Buch entstanden ist. Eine liebevoll gestaltete Veröffentlichung, die sicherlich ihre Leser*innen finden wird.

Ich danke dem Adakia Verlag für das Rezensionsexemplar.

Respekt, wenn ihr bis hierhin durchgehalten habt. War schon eine Menge diesen Monat, das ist der eine positive Nebeneffekt vom „Nicht schlafen/durchschlafen“ – man bekommt eine Menge Literatur gelesen und gehört.

Was waren Eure Highlights im April?

März Lektüre

10 Geschichten, 10 Welten – und jede einzelne hat mich auf ihre Weise bewegt. Von deutschen Exilautor:innen über mysteriöse Pilzen in China bis hin zu den dunklen Kapiteln Südkoreas mit Han Kang. Ich habe Porzellanwege mit Edmund de Waal erkundet, mit Yaa Gyasi nach Wahrheit gesucht und mit Tolstoy über Besitz und Gier nachgedacht. Besonders beeindruckt hat mich Katharina Köllers „Wild wuchern“ – ein literarischer Wirbelsturm! Bin gespannt, welche ihr kennt, wie ihr sie fandet oder ob ich euch auf das eine oder andere Buch hier neugierig machen kann.

Habt ein besseres Gedächtnis – Wolfgang Eckert/Jürgen Seul erschienen in der Büchergilde Gutenberg und Deutsche Hörer! – Thomas Mann mit Vorwort von Mely Kiyak erschienen im S. Fischer Verlag

Manchmal fügt es sich, dass zwei Bücher zur selben Zeit in die Hände fallen und sich zu einem größeren Bild verknüpfen. So geschehen mit Thomas Manns „Deutsche Hörer!“ und „Habt ein besseres Gedächtnis“ von Wolfgang Eckert und Jürgen Seul. Zwei Werke, die sich auf unterschiedliche Weise mit innerer und äußerer Emigration auseinandersetzen, mit Widerstand gegen den Faschismus und der Erinnerung an jene, die sich gegen ihn stellten. Beide Bücher beeindrucken zutiefst und zeigen auf, wie wichtig es ist, die Stimmen der Vergangenheit nicht verstummen zu lassen.

Thomas Manns „Deutsche Hörer!“ – Ein literarischer Widerstandskampf

Die Neuauflage von „Deutsche Hörer!“ kommt zur richtigen Zeit. In einer Welt, in der faschistische Tendenzen erneut auf dem Vormarsch sind, erhalten die Rundfunkansprachen Thomas Manns an die Deutschen eine bedrückende Aktualität.

Zwischen 1940 und 1945 sendete die BBC Manns eindringliche Worte nach Deutschland, aufgenommen in seinem kalifornischen Exil. Seine Reden sind eine Mischung aus analytischer Schärfe und emotionaler Dringlichkeit. Der Literaturnobelpreisträger beschimpft Adolf Hitler als „die abstoßendste Figur, auf die je das Licht der Geschichte fiel“, als „schlecht ausgefallenes Individuum“ und „blödsinnigen Wüterich“. Gleichzeitig ist er sich der deutschen Mitläufer und ihrer fatalen Mischung aus Gehorsam und Leichtgläubigkeit bewusst.

(…) der deutsche Name zum Inbegriff gemacht allen Schreckens, aller geilen Raubsucht, schandbaren Grausamkeit, erbarmungslosen Gewalt, so dass das Gedächtnis der Völker an vieles Gute, Große und Liebenswerte, womit der deutsche Geist einst die Menschheit beschenkt hat, unterzugehen droht in einem Meer von Hass

Manns Hoffnung auf ein besseres Deutschland ist ungebrochen. Er appelliert an das „wahre“ Deutschland, an die Kultur von Dürer, Bach, Goethe und Beethoven, und setzt den Gräueltaten der Nationalsozialisten Ideale wie Recht, Freiheit und Gerechtigkeit entgegen. Dabei bleibt seine Kritik messerscharf: Er erkennt früh den Holocaust als das, was er ist – ein bestialischer Massenmord.

Mely Kiyaks Vor- und Nachwort rahmen die Neuauflage ein und zeigen, warum Thomas Manns Worte auch heute noch von Bedeutung sind. Dass diese Reden in Deutschland weitgehend unbekannt geblieben sind, ist erstaunlich – und erschreckend. Ein Werk, das gelesen werden muss.

„Habt ein besseres Gedächtnis“ – Drei Erichs und ihr Erbe

Ebenso aufrüttelnd ist „Habt ein besseres Gedächtnis“ von Wolfgang Eckert und Jürgen Seul. Das Buch widmet sich den Lebenswegen von Erich Knauf, Erich Ohser (alias e.o. plauen) und Erich Kästner – drei Männern, die in der Weimarer Republik zu Freunden wurden, künstlerisch eng verbunden waren und die in den 1930er- und 1940er-Jahren unterschiedliche Schicksale erlitten. Während Kästner – der bekannteste der drei – als „innerer Emigrant“ überlebte, wurden Knauf und Ohser von den Nationalsozialisten ermordet.

Erich Knauf (1895-1944): Schriftsteller und Widerstandskämpfer

Knauf war Journalist, Autor und Lektor bei der Büchergilde Gutenberg. Schon früh geriet er mit den Nazis in Konflikt. Sein offener Widerspruch gegen das Regime wurde ihm zum Verhängnis: 1944 verhaftete ihn die Gestapo wegen regimekritischer Äußerungen und ließ ihn unter Volksverhetzungsvorwürfen hinrichten.

Erich Ohser (1903-1944): Der Zeichner hinter „Vater und Sohn“

Ohser, bekannt durch die liebevollen „Vater und Sohn“-Bildergeschichten, konnte seine politische Haltung lange verbergen. Doch sein kritisches Denken war den Nazis ein Dorn im Auge. Als sein Freund Knauf verhaftet wurde, nahm man auch ihn fest. 1944, am Abend vor seiner Verhandlung vor dem Volksgerichtshof, beging er in seiner Zelle Selbstmord.

Erich Kästner (1899-1974): Kritischer Chronist seiner Zeit

Kästner, berühmt für „Emil und die Detektive“, durfte nach 1933 nicht mehr veröffentlichen, da seine Werke als „undeutsch“ galten. Trotz Schreibverbots blieb er in Deutschland und dokumentierte die NS-Zeit als kritischer Beobachter. Seine Wahl des inneren Exils wurde ihm nach dem Krieg oft vorgeworfen, doch sein Engagement für die Erinnerung an seine gefallenen Freunde zeigt seine tiefe moralische Haltung.

Eckert und Seul zeichnen in „Habt ein besseres Gedächtnis“ ein lebendiges Bild dieser drei Männer, ihrer Freundschaft, ihrer künstlerischen Arbeit und ihres Widerstands gegen die Diktatur. Besonders Knauf und Ohser drohen heute in Vergessenheit zu geraten, während Kästner wenigstens als Kinderbuchautor weiterhin präsent ist. Doch ihre Geschichte ist eng verwoben – und es ist höchste Zeit, dass sie wieder erzählt wird. Hervorheben möchte ich auch die unglaublich schöne Gestaltung des Buches, Büchergilde at its best!

Beide Bücher sind dringende Lektüre. Thomas Manns Radioansprachen und die Geschichte der drei Erichs zeigen, wie Widerstand aussehen kann – und wie leicht Stimmen des Widerstands in Vergessenheit geraten können. Dass Thomas Manns „Deutsche Hörer!“ in Deutschland kaum bekannt sind, ist ebenso erschreckend wie die Tatsache, dass Erich Knauf und Erich Ohser langsam aus dem kollektiven Gedächtnis verschwinden.

Umso wichtiger ist es, sich dieser Stimmen wieder zu erinnern. Denn die Mechanismen der Diktatur, die Thomas Mann mit so schneidender Schärfe analysierte, sind nicht vergangen. „Habt ein besseres Gedächtnis!“ fordert nicht nur der Buchtitel, sondern die gesamte Lektüre beider Werke. Wer sich mit der Vergangenheit auseinandersetzt, versteht die Gegenwart besser – und kann die Zukunft hoffentlich klüger gestalten.

Beide Bücher erhalten von mir eine uneingeschränkte Leseempfehlung. Sie sind Mahnung und Inspiration zugleich.

Dann bleiben wir doch noch ein bißchen bei der Büchergilde und ich stelle euch den Jubiläumsband vor, der aus Anlaß der 100 Jahre Büchergilde erschienen ist:

Vorwärts – mit heiteren Augen – Björn Biester erschienen in der Büchergilde Gutenberg

Die Festschrift „Vorwärts mit heiteren Augen“ zum 100-jährigen Bestehen der Büchergilde Gutenberg bietet eine faszinierende Zeitreise durch die Geschichte dieser einzigartigen Buchgemeinschaft. Björn Biester gelingt es, die bewegte Vergangenheit der Büchergilde lebendig werden zu lassen – von den wilden Gründerjahren in den 1920ern über das Exil in der Schweiz während des Zweiten Weltkriegs bis hin zu den Herausforderungen und Erfolgen der Gegenwart.

Die Büchergilde wurde 1924 von engagierten Buchdruckern in Leipzig gegründet, mit dem Ziel, hochwertige Literatur für ein breites Publikum erschwinglich zu machen. Ihr besonderes Markenzeichen: bibliophile Ausstattung mit Leinenbindung und Illustrationen. Von Beginn an prägte die Idee, Bildung und Kultur in Arbeiterkreise zu tragen, das Programm. Ein Konzept, das sich bewährte – die Büchergilde ist heute die letzte verbliebene Buchgemeinschaft dieser Art in Deutschland.

Persönlich verbinde ich mit der Büchergilde eine lange und buchreiche Geschichte. Seit 32 Jahren bin ich Mitglied und kann mir ein Leseleben ohne sie nicht mehr vorstellen. Dabei hat mich unsere Beziehung schon mehrfach finanziell an den Rand des Bankrotts gebracht – nicht wegen der Preise, sondern wegen meiner chronisch leeren Geldbörse. Doch es hat immer wieder funktioniert, und wie froh bin ich darüber! Denn wer einmal erlebt hat, wie es sich anfühlt, ein gut gemachtes, leinengebundenes Buch in den Händen zu halten, der weiß: Das ist unbezahlbar.

Meine erste Begegnung mit der Büchergilde hatte ich auf einem Zeltlager der Gewerkschaftsjugend. Drei Bücher für 5 DM – ein unschlagbares Angebot! Darunter war eine orangefarbene Erich-Kästner-Doppelausgabe, die ich geliebt habe. Leider ist sie irgendwann bei einem meiner vielen Umzüge verloren gegangen. Und was war das dritte Buch? Ich wünschte, ich könnte mich erinnern!

Besonders spannend in der Festschrift ist die Betrachtung der Rolle der Büchergilde in der Geschichte: Wie beeinflusste der politische Wandel die Programmausrichtung? Welche Bücher und Autor:innen prägten das Profil der Büchergilde? Diese Fragen werden kenntnisreich und unterhaltsam beantwortet.

Auch die Besonderheiten des Mitgliedschaftsmodells, das bis heute ohne klassische Mitgliedsbeiträge auskommt, werden anschaulich dargestellt. Stattdessen wählen die Mitglieder pro Quartal aus einer kuratierten Auswahl ein Buch. Früher wurden diese sogar per Fahrrad direkt an die Arbeitsplätze geliefert – ein charmantes Detail, das die besondere Verbindung zwischen der Büchergilde und ihren Leser:innen verdeutlicht.

„Vorwärts mit heiteren Augen“ ist eine Hommage an die Beständigkeit der Büchergilde, ihre leidenschaftliche Hingabe zur Literatur und ihren Beitrag zur Lesekultur in Deutschland. Ein Muss für alle bibliophilen Leser:innen und Geschichtsinteressierten! Und überlegt euch doch, ob ihr nicht auch Mitglied werden möchtet – ich kann es aus tiefstem Herzen empfehlen 🙂

Transcendent Kingdom – Yaa Gyasi auf deutsch unter dem Titel „Ein erhabenes Königreich“ im Dumont Verlag erschienen, übersetzt von Anette Grube

Yaa Gyasis zweiter Roman Transcendent Kingdom ist ein leiser, aber eindringlicher Roman über Wissenschaft, Glauben und den Versuch, inmitten von Schmerz und Verlust Sinn zu finden. Die Geschichte folgt Gifty, einer ghanaisch-amerikanischen Neurowissenschaftlerin, die an der Stanford University an den neurologischen Mechanismen von Sucht und Depression forscht. Doch ihre Arbeit ist nicht nur ein akademisches Unterfangen, sondern eng mit ihrem eigenen Leben verknüpft: Ihr Bruder Nana starb an einer Opioid-Überdosis, ihre Mutter leidet an schweren Depressionen, und Gifty selbst ringt mit den widersprüchlichen Lehren der Wissenschaft und des tief verwurzelten Glaubens ihrer Kindheit.

Gyasi erzählt die Geschichte in fragmentarischen Rückblenden, die nach und nach das Schicksal von Giftys Familie enthüllen. Diese narrative Struktur spiegelt Giftys eigene innere Zerrissenheit wider: Während sie nach empirischen Antworten sucht, holen sie ihre Erinnerungen und Gefühle immer wieder ein. Besonders stark ist Gyasis Darstellung der Mutter-Tochter-Beziehung, die zwischen distanzierter Strenge und tiefer, wortloser Liebe schwankt. Die Mutter bleibt lange eine undurchdringliche Figur, doch gerade in dieser Zurückhaltung liegt die emotionale Wucht des Romans.

But the memory lingered, the lesson I have never quite been able to shake: that I would always have something to prove and that nothing but blazing brilliance would be enough to prove it.

Transcendent Kingdom unterscheidet sich stilistisch und thematisch von Gyasis gefeiertem Debüt Homegoing. Während Homegoing eine epische, generationenübergreifende Geschichte erzählt, ist Transcendent Kingdom eine intime Innenansicht einer zerrissenen Familie. Der Fokus auf Wissenschaft und Religion gibt dem Roman eine intellektuelle Tiefe, die manchmal fast klinisch wirkt. Wer auf der Suche nach einer mitreißenden Handlung ist, wird hier vielleicht weniger fündig, aber Gyasis fein nuancierte Sprache und ihre Präzision in der Figurenzeichnung machen den Roman dennoch zu einer lohnenden Lektüre.

Obwohl mich die starke religiöse Thematik nicht immer vollkommen abgeholt hat, beeindruckt Gyasis Fähigkeit, die existenziellen Fragen ihrer Protagonistin mit großer Sensibilität zu behandeln. Transcendent Kingdom mag nicht die epische Wucht von Homegoing haben, aber es ist ein stilles, kluges Buch, das lange nachhallt.

Weiß und Unmöglicher Abschied – Han Kang erschienen im Aufbau Verlag, übersetzt von Ki-Hyang Lee

Han Kangs Romane „Unmöglicher Abschied“ und „Weiß“ greifen auf unterschiedliche Weise tief in die schmerzhaften, oft verdrängten Winkel südkoreanischer Geschichte und der persönlichen Erinnerung. Während „Unmöglicher Abschied“ ein emotional aufwühlendes Porträt des Jeju-Massakers ist, hebt sich „Weiß“ durch seine introspektive, fast meditative Auseinandersetzung mit Verlust und Erinnerung hervor.

In „Unmöglicher Abschied“ gelingt Han Kang eine eindrucksvolle Annäherung an das Jeju-Massaker von 1948, bei dem mehr als 30.000 Menschen ihr Leben verloren. Die Erzählerin, eine Schriftstellerin, träumt von einem merkwürdigen Bild aus Baumstämmen und Erdhügeln, das sie später als Metapher für die Opfer des Massakers verwendet. Han Kang führt den Leser durch einen verschlungenen Erzählstrom, in dem sich Traum und Wirklichkeit, historische Erinnerung und persönliches Erleben untrennbar verbinden. Besonders prägnant sind die Bildwelten des Schnees, der als Symbol für die Grausamkeit und das Vergessen dient. Es ist eine zutiefst eindringliche Geschichte, die, ähnlich wie „Die Vegetarierin“, eine fast kafkaeske Atmosphäre von Unmenschlichkeit und Entfremdung schafft. Ich habe das Buch als Hörbuch gehört – das war eine ganz besondere Erfahrung und ich habe es innerhalb kürzester Zeit durchgehört. Irgendwann möchte ich es aber auch noch einmal lesen.

A thought comes to me. Doesn’t water circulate endlessly and never disappear? If that’s true, then the snowflakes Inseon grew up seeing could be the same ones falling on my face at this moment. I am reminded of the Inseon’s mother described, the ones in the schoolyard,[…] Who’s to say the snow dusting my hands now isn’t the same snow that had gathered on their faces.

Im Gegensatz dazu ist „Weiß“ ein sehr persönlicher, introspektiver Text, der sich mit der eigenen Familiengeschichte der Autorin auseinandersetzt, insbesondere mit dem Tod ihrer Schwester kurz nach der Geburt. Die Farbe Weiß zieht sich als rotes Band durch das Buch – von der klinischen Reinheit des Neugeborenen, das in weiße Tücher gehüllt wird, bis zu den Erinnerungen der Erzählerin, die eine schmerzliche Verbindung zwischen Tod, Krankheit und Verlust spürt. Die reflektierenden, poetischen Passagen sind dabei oftmals sehr emotional, beinahe pathetisch. Han Kang ergründet, wie die Farbe Weiß in ihrer Kindheit allgegenwärtig war und dabei sowohl als Symbol der Unschuld als auch des Todes erscheint.

Obwohl „Weiß“ weniger greifbar ist als „Unmöglicher Abschied“, da es sich mehr in symbolischen und atmosphärischen Ebenen bewegt, ist es dennoch ein sehr kraftvolles Buch. Es öffnet eine Tür zur tiefen psychologischen Auseinandersetzung mit Verlust und Erinnerung. „Unmöglicher Abschied“ wirkt dagegen fast schon dokumentarisch in seiner Schilderung des Traumas einer ganzen Nation, jedoch ebenso poetisch und eindrucksvoll.

Sobald der Tag ihrer Abreise näher rückt,
wird sie der dunklen Stille dieses Hauses,
in dem sie nicht mehr länger ohnen darf,
etwas zu sagen haben.
Sobald die unendlich scheinende Nacht
zur Neige geht und sich in dunkelblaue Dämmerung
in dem vorhanglosen Nordostfenster zeigt,
sobald sich die glatten Äste der Pappeln
allmählich vor dem Ultramarinblau
des Himmels abzeichnen,
wird sie am frühen Sonntagmorgen,
solange sich in dem Mietshaus noch nichts rührt,
der Stille etwas zu sagen haben.

Insgesamt zeigen diese beiden Werke auf unterschiedliche Weise Han Kangs Fähigkeit, literarisch tiefgründige Themen wie Schmerz, Verlust und die Verarbeitung von Geschichte auf eine sehr intime und zugleich universelle Weise zu erfassen. Beide Bücher habe ich für meinen Südkorea Stop auf der literarischen Weltreise gelesen und den kompletten Artikel könnt ihr hier lesen.

Wild wuchern – Katharina Köller erschienen im Penguin Verlag

Katharina Köllers „Wild wuchern“ hat mich mitgerissen, von der ersten bis zur letzten Seite. Es ist ein Roman, der keine Pause zulässt, der rast und drängt, genau wie seine Protagonistin Marie. Auf der Flucht vor einem Leben, das sie nicht mehr ertragen kann, sucht sie Zuflucht bei ihrer Cousine Johanna, die sich auf einer abgeschiedenen Alm ein neues, kompromissloses Leben geschaffen hat. Zwei Frauen, die nicht unterschiedlicher sein könnten, aber doch eine gemeinsame Geschichte und eine unausgesprochene Verbindung teilen.

Marie ist eine scharfzüngige Wienerin, aufgewachsen in einer Welt des Scheins und der Oberflächlichkeit, verwöhnt und zugleich gefangen in den Erwartungen anderer. Johanna dagegen hat sich früh aus allem herausgezogen, lebt abseits der Gesellschaft und folgt nur noch ihren eigenen Regeln. Ihr erstes Wiedersehen nach Jahren ist mehr ein Kräftemessen als eine warme Umarmung. Doch mit jeder Seite entfaltet sich ein faszinierendes Spiel zwischen Annäherung und Abgrenzung, zwischen Verstehen und Missverstehen.

So bin ich. So bin ich, dass ich schon weiß, die Watschen kommt, und trotzdem renn ich mitten rein. Wie die Opfer in den Horrorfilmen zielsicher in ihren Tod rennen, so renn ich hinein in die Watschen.

Köller schreibt mit einer Wucht, die mich umgehauen hat. Ihre Sprache ist poetisch, direkt, oft ironisch und voller Bildgewalt. Es gibt keine Kapitel, keine Verschnaufpausen – der Text zieht einen hinein in Maries fiebrige Gedanken, ihre panische Flucht, ihre Selbstfindung. Dieser Erzählstil macht den Roman unglaublich intensiv. Ich konnte gar nicht anders, als weiterzulesen.

Besonders beeindruckt hat mich, wie der Roman zwischen Gesellschaftskritik, poetischer Erzählung und fast märchenhafter Stimmung balanciert. Die Natur der Tiroler Alpen ist nicht nur Kulisse, sondern ein eigener Charakter, unbändig, fordernd, schön und gnadenlos zugleich. Hier gibt es keine einfachen Lösungen, keine harmonische Versöhnung mit der Vergangenheit. Aber es gibt Entwicklung, Selbsterkenntnis, leise Veränderung.

Was bleibt, ist ein Roman, der wirklich nachhallt. „Wild wuchern“ ist kompromisslos, klug und voller Emotionen. Eine Geschichte über zwei Frauen, die lernen, sich selbst und einander neu zu sehen. Ich habe Marie und Johanna mit all ihren Stärken und Schwächen ins Herz geschlossen. Und ich kann nur sagen: Lesen! Unbedingt.

The God of the Woods – Liz Moore unter dem Titel „Der Gott des Waldes“ im C. H. Beck Verlag erschienen, übersetzt von Cornelius Hartz

Ich möchte euch gar nicht allzu viel über The God of the Woods erzählen – gefühlt hat sowieso schon jeder (und deren Tante) dieses Buch auf dem Schirm. 😉 Aber falls ihr bisher nichts davon gehört habt oder noch unsicher seid, ob ihr es lesen wollt: Tut es!

Lange habe ich nicht mehr dieses Gefühl gehabt, vollkommen in eine Geschichte einzutauchen – dieses Sommerferien-Gefühl, wenn man stundenlang liest und die Welt um sich herum vergisst.

Nur so viel: The God of the Woods ist ein unglaublich kluger und fesselnder Roman über ein Mädchen, das eines Nachts aus einem Ferienlager im Wald verschwindet – genau wie Jahre zuvor ihr kleiner Bruder. Liz Woods erzählt diese Geschichte meisterhaft, verwebt geschickt verschiedene Zeitebenen, ohne dass man je den Überblick verliert, und liefert ein Ende, mit dem ich wirklich zufrieden war.

Rich people, thought Judy—she thought this then, and she thinks it now—generally become most enraged when they sense they’re about to be held accountable for their wrongs.

Ihr Roman Long Bright River steht hier auch noch ungelesen im Regal – und jetzt freue ich mich darauf umso mehr. Wir waren gestern abend auf einer Lesung von ihr im Amerikahaus in München (moderiert von Günter Keil). Sehr schöne Lesung und eine überaus symphatische Autorin. Falls ihr mal die Gelegenheit habt eine Lesung von ihr zu besuchen – unbedingt hingehen!

Ghost Music – An Yu bislang nicht auf deutsch erschienen

Manche Bücher klingen nach, wie ein Echo, das nicht verhallt. Ghost Music von An Yu ist genau so ein Roman – leise, melancholisch und voller surrealer Schönheit.

Song Yan lebt in einer Ehe, die sich anfühlt wie ein gut eingespieltes Musikstück – vorhersehbar, fast mechanisch. Doch als ihre Schwiegermutter einzieht und geheimnisvolle Pakete mit seltenen Yunnan-Pilzen eintreffen, beginnt sich ihr Leben zu verändern. Ihr Mann Bowen entzieht sich ihr immer mehr, und Song Yan wird von Erinnerungen an ihre verlorene Karriere als Konzertpianistin heimgesucht. Dann taucht ein toter Pianist auf – oder doch nicht? – und ein sprechender, leuchtender Pilz, der ein bestimmtes Klavierstück hören will. Realität und Traum verschwimmen.

We pour a bit of ourselves into everything we do, every note we play and, unwittingly, one fragment at a time, we leave ourselves in the past.

Ghost Music ist eine leise, aber eindringliche Geschichte über verpasste Chancen, unerfüllte Sehnsüchte, die Frage wie gut man jemanden kennen kann und die Musik des Lebens – manchmal laut, manchmal nur ein kaum hörbares Flüstern. An Yu schreibt mit einer poetischen Präzision, die unter die Haut geht.

Ich habe das Buch für China auf meiner literarische Weltreise gelesen. Wer Lust hat kann hier den Rest des Artikels über China lesen.

Die weiße Straße – Edmund de Waal erschienen im Hanser Verlag / Büchergilde Gutenberg, übersetzt von Brigitte Hilzensauer

Edward de Waal ist ein faszinierender Erzähler mit einer tiefen Leidenschaft für Porzellan, und das zeigt sich auch in „Die weiße Straße“. Doch während mich „The Hare with Amber Eyes“ mit seiner persönlichen, fast intimen Familiengeschichte völlig in den Bann gezogen hat, konnte mich dieses Buch nicht in gleichem Maße fesseln.

De Waal nimmt uns mit auf eine Reise zu den Ursprüngen des Porzellans – nach Jingdezhen in China, nach Dresden und nach Cornwall. Es ist eine Mischung aus Reisebericht, Historie, Selbstreflexion und Materialkunde. Dabei folgt er der Idee eines „weißen Pfades“, der ihn von den Anfängen des Porzellans bis zu seiner eigenen Werkstatt führt.

Es gibt Passagen in diesem Buch, die von einer beinahe magischen Atmosphäre durchzogen sind – etwa wenn De Waal eine 12. Jahrhundert-Scherbe aus der roten Erde aufliest oder die verschlungenen Wege der europäischen Porzellanherstellung nachzeichnet. Besonders spannend fand ich den Teil über Dresden und Allach bei München, wo sich die Geschichte der deutschen Porzellanmanufaktur mit den düsteren Kapiteln der Nazi-Zeit verbindet. Hier berührt De Waal auch das Thema Besitz, Macht und Zwangsarbeit, was dem Buch Tiefe verleiht.

Dennoch hatte ich oft das Gefühl, dass sich der Text verliert. De Waal mäandert – er reiht Anekdoten, Namen und Beobachtungen aneinander, springt von einer Reflexion zur nächsten und wechselt mitunter zwischen Erzählperspektiven. Während dieser Stil in „The Hare with Amber Eyes“ für mich perfekt funktionierte, weil er dort eine vielschichtige Familiengeschichte entfaltet, fühlte es sich hier manchmal anstrengend an. Der Wechsel zwischen der minutiösen Beschreibung von Porzellanherstellung und persönlichen Gedanken war nicht immer harmonisch.

Hinzu kommt, dass man am Ende des Tages doch sehr viel über Porzellan erfährt – vielleicht mehr, als man eigentlich wissen wollte. Zwar macht De Waal das Thema mit seiner Begeisterung greifbar, doch nicht jeder Leser wird sich für die chemischen Prozesse und technischen Details gleichermaßen begeistern können.

Ich habe vor, drei Orte aufzusuchen, wo das Porzellan erfunden oder wiedererfunden wurde, drei weiße Berge in China und Deutschland und England. Jeder von ihnen ist mir wichtig. Seit Jahrzehnten kenne ich sie durch ihre Keramik, durch Bücher und Geschichten, aber ich war nie dort. Ich muss an diese Orte fahren, muss sehen, wie Porzellan unter anderen Himmeln aussieht, wie Weiß sich mit dem Wetter verändert. Weiß sind auch andere Dinge auf dieser Welt, aber für mich kommt Porzellan an erster Stelle.

Trotzdem ist „Die weiße Straße“ ein beeindruckendes Buch. De Waals Talent für obsessive Recherche und seine Fähigkeit, Geschichte mit Kunst zu verknüpfen, sind unbestreitbar. Wer sich für Porzellan, Handwerkskunst und die historischen Zusammenhänge interessiert, wird hier viele spannende Einblicke gewinnen. Wer aber eine ähnlich fesselnde, emotional tiefgehende Erzählung wie in „The Hare with Amber Eyes“ erwartet, könnte sich ein wenig erschlagen fühlen.

Vielleicht hätte eine straffere Struktur oder eine klarere Fokussierung das Buch noch stärker gemacht. Doch De Waal ist eben ein Sammler – von Geschichten, Details und Eindrücken. Und genau diese Sammelleidenschaft prägt auch dieses Werk.

How much land does a man need? – Leo Tolstoy auf deutsch unter dem Titel „Wieviel Erde braucht der Mensch“ im Penguin Verlag erschienen

Die Kurzgeschichten „How Much Land Does a Man Need?“ und „What Men Live By des russischen Schriftsteller Leo Tolstoi sind zwei kurze Erzählungen, die beide starke moralische und philosophische Botschaften vermitteln. Sie sind typisch für Tolstois späten Stil, in dem er häufig die Bedeutung von Menschlichkeit, Spiritualität und ethischem Verhalten thematisiert.

In „Wieviel Erde braucht der Mensch?“ geht es um den Bauern Pahom, der nach immer mehr Land strebt, um seinen Wohlstand zu sichern. Die Geschichte ist eine scharfsinnige Allegorie auf Gier und den unstillbaren Drang des Menschen nach Besitz. Nach dem ewigen schneller, weiter, höher und die darin inherente Verhängnis. Der tragische Ausgang dieser Erzählung zeigt, dass wahre Zufriedenheit nicht im materiellen Besitz zu finden ist. Wissen wir doch eigentlich, aber…

In „Was der Mensch lebt“ geht es um einen Mann namens Michael, der in einer schwierigen Lebenssituation Liebe, Barmherzigkeit und die wahre Bedeutung des Lebens erkennt. Tolstoi belschäftigt sich in dieser Geschichte mit den Themen Nächstenliebe und das menschliche Streben nach innerer Erfüllung. Die zweite Geschichte war mir eine Spur zu spirituell.

Diese Erzählungen sind als Teil der Little Black Classics-Reihe von Penguin erschienen. Diese besondere Buchreihe wurde anlässlich des 80. Geburtstags von Penguin ins Leben gerufen und umfasst mittlerweile mehr als 100 Bände, die die Vielfalt und literarische Reichweite der Penguin Classics feiern. Von Indien bis Griechenland, von Dänemark bis Iran – die Sammlung beamt Leserinnen und Leser durch Zeit und Raum. Ob Fiktion, Poesie, Essays oder Bonmots von Schriftstellern wie Tschechow, Balzac, Ovid, Austen, Sappho und Dante – hier findet sich für jede Stimmung das passende Buch. Ich sammle eifrig, habe aber noch lange nicht alle 😉

Geschafft! Ein großartiger Lesemonat geht zu Ende. Jetzt würde ich gern euer Feedback hören? Welche davon kennt ihr? Habt ihr auch gemocht oder auch nicht? Was waren eure Highlights im März?

Dezember Lektüre

Mit dem Lesemonat Dezember habe ich ein wunderbares Lesejahr beendet. Selten habe ich so viele großartige Bücher in einem Jahr verschlungen wie 2024 – ein wahres Fest für die literarische Seele. Auch wenn die äußeren Umstände unserer Zeit – die Krisen und Katastrophen um uns herum – wenig Raum für Optimismus lassen, blicke ich zumindest literarisch mit großer Vorfreude auf das Jahr 2025. Bücher sind und bleiben für mich ein Anker in unruhigen Zeiten, eine Möglichkeit, die Welt zu verstehen, zu träumen oder auch einfach mal zu entfliehen.

Der Dezember war dabei ein unglaublich abwechslungsreicher Monat. Zwei Sachbücher haben mich besonders beschäftigt: Eines tauchte tief in die sogenannten „Dark Ages“ ein – eine Epoche, die bei mir dank Michael Woods bedrückend prophetischem Sachbuch und den Parallelen zur heutigen Zeit Gänsehaut hinterließ. Ich hoffe wirklich, dass wir nicht sehenden Auges in eine ähnliche Ära der Dunkelheit schlittern. Auf der anderen Seite wagte ich mit Yuval Noah Harari den Blick in die Zukunft. Sein Buch war nicht nur ein intellektuelles Abenteuer, sondern auch eine Warnung, die mich dazu brachte, über die langfristigen Konsequenzen unseres Handelns – oder Nichthandelns – nachzudenken.

Neben diesen Denkanstößen hatte der Dezember auch literarische Abenteuer anderer Art zu bieten. Mit Marschlande war ein spannender Roman dabei, der eine Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart schlägt und dabei die norddeutschen Marschlande zu einer fast mystischen Kulisse macht.

Für Spannung sorgte ein Krimi-Hattrick, der perfekt in die winterliche Jahreszeit passte – was gibt es Besseres als gemütliche mörderische Rätseleien an dunklen, kalten Abenden? Außerdem habe ich mit Samantha Harveys Werk einen Ausflug ins All unternommen, eine Reise, die zugleich philosophisch und poetisch war. Den Abschluss machte ein Audiobuch von Tommy Orange, mit dem ich mich im Rahmen meiner literarischen Weltreise in die USA begeben habe.

Der Dezember hatte wirklich für jede Stimmung etwas zu bieten. Jetzt freue ich mich darauf, euch meine Lektüren etwas genauer vorzustellen. Ich starte mit dem Krimi-Hattrick – der jahreszeitlich wohl passendsten Wahl – und gehe danach alphabetisch weiter durch meine Dezemberbücher. Ich bin gespannt, ob etwas für euch dabei ist.


Nicola Upson – Mit dem Schnee kommt der Tod (The Dead of Winter) erschienen im Kein & Aber Verlag, übersetzt von Anna-Christin Kramer
Nicola Upson schreibt eine Krimireihe rund um die real existierende Golden-Age-Krimiautorin Josephine Tay. Zufällig bin ich mit Band 9 in die Reihe eingestiegen und war sofort begeistert – vielleicht auch, weil der Krimi auf der kleinen Insel St. Michael’s Mount in Cornwall spielt, wo wir diesen Sommer waren. Ich kenne den Schauplatz, die Burg, die Gärten, das Dorf – und das hat mein Lesevergnügen natürlich noch einmal gesteigert. Wenn dann noch Marlene Dietrich, ein Schneesturm, der die Insel vom Festland abschneidet, und ein umhergehender Mörder ins Spiel kommen, sind alle Zutaten für einen perfekten Krimi gegeben. Ich werde die Reihe definitiv weiterverfolgen – die Reihenfolge scheint mir nicht allzu wichtig zu sein.

John Bude – Mord in Cornwall (The Cornish Coast Murder) erschienen im Klett Cotta Verlag, übersetzt von Eike Schönfeld
Der nächste Cozy-Krimi führte mich erneut nach Cornwall. Mord in Cornwall, ursprünglich 1935 erschienen (im selben Jahr wie Gaudy Night von Dorothy L. Sayers), ist ein wunderbares Beispiel für die wiederentdeckten Crime Classics der British Library. ohn Bude war ein produktiver Autor mit 30 Krimis, die zu seiner Zeit sehr beliebt waren, dann aber in Vergessenheit gerieten. Zum Glück hat die British Library viele seiner Werke neu aufgelegt. Mord in Cornwall ist der perfekte Krimi für alle, die düstere und stürmische Nächte lieben – ein Roman voller Meeresluft und lokaler Atmosphäre. Der Dorfpfarrer und der Arzt des Ortes verbringen ihre Abende mit Krimilektüre und messen sich darin, die jeweiligen Fälle zu lösen. Doch plötzlich wird ein echter Mord begangen, und die detektivischen Fähigkeiten des Pfarrers werden auf die Probe gestellt. Ein kurzweiliger, unterhaltsamer Krimi – mit einer Warnung: Die Lektüre könnte zu akuter Cornwall-Reiselust führen!

Nicholas Blake – Das Geheimnis des Schneemanns (The Corpse in the Snow Man) erschienen im Klett Cotta Verlag, übersetzt von Michael von Killisch-Horn
Der dritte Krimi in meinem Cozy-Crime-Hattrick stammt ebenfalls aus der Reihe der wiederentdeckten British-Library-Klassiker, konnte mich aber leider nicht ganz überzeugen. Die Geschichte zog sich für meinen Geschmack zu sehr, es gab zu viele Charaktere, und der Fall selbst war für mich eher unspektakulär. Interessant fand ich jedoch den Autor: Nicholas Blake, der eigentlich Cecil Day-Lewis hieß, war nicht nur ein erfolgreicher Schriftsteller, sondern wurde von der Queen zum Poet Laureate ernannt. Und sein Sohn? Niemand Geringeres als Daniel Day-Lewis, bekannt aus Filmen wie Mein linker Fuß. Auch wenn mich dieser Krimi nicht umgehauen hat, mag er für andere Leser durchaus reizvoll sein.

    Yuval Noah Harari – Nexus erschienen im Penguin Verlag, übersetzt von Jürgen Neubauer und Andreas Wirthensohn

    Yuval Noah Hararis neues Buch Nexus hat mich gleichermaßen fasziniert wie nachdenklich gestimmt. Harari gelingt es wie gewohnt, komplexe Themen auf eine Weise zu beleuchten, die zugleich intellektuell anregend und zugänglich ist. Die Kernthemen – von den Gefahren digitaler Überwachung und KI bis hin zur geopolitischen Fragmentierung – sind hochaktuell und drängen förmlich danach, diskutiert zu werden. Dennoch ließ mich das Buch mit einer Mischung aus Staunen und Skepsis zurück.

    Besonders beeindruckend fand ich Hararis Fähigkeit, historische Anekdoten mit modernen Herausforderungen zu verknüpfen. Die Schilderung, wie in faschistischen Regimen Papiere manipuliert wurden, um Minderheiten zu unterdrücken, war nicht nur erhellend, sondern auch bedrückend relevant. Ähnlich eindrucksvoll war die Diskussion über die Rolle von Facebooks Newsfeed bei politischen Eskalationen. Hier zeigt Harari seine Stärke: die Fähigkeit, historische Parallelen zu ziehen und gleichzeitig die Dringlichkeit unserer Gegenwart zu betonen.

    Weniger überzeugend fand ich jedoch seine Tendenz zu weitreichenden Verallgemeinerungen. Aussagen wie „Die antiken Römer hatten ein klares Verständnis davon, was Demokratie bedeutet“ wirken auf mich eher wie vereinfachte Schlagworte als tiefgreifende Analysen. Ebenso erscheint mir seine Darstellung von KI und deren potenziellen Fähigkeiten oft überzogen. Der Gedanke, dass eine KI in absehbarer Zeit klingen nach SciFi und es fehlt mir hier oft an einer soliden, nachvollziehbaren Argumentation.

    Hararis Lösungen – stärkere Regulierung von Algorithmen und die Förderung selbstkorrigierender Institutionen – sind letztlich nicht so bahnbrechend, wie es der apokalyptische Ton des Buches vermuten lässt. „Liberalismus, aber besser“ wäre eine treffende Zusammenfassung seiner Empfehlungen. Er möchte es sich halt auch nicht wirklich mit seinen Silicon Valley Buddys verderben, hier hätte ich mir deutlich mehr Mut seinerseits gewünscht.

    Trotzdem ist Nexus ein Buch, das ich durchaus empfehlen kann. Harari regt dazu an, über die großen Fragen unserer Zeit nachzudenken, und auch wenn ich nicht jede seiner Thesen teile, hat mir das Buch viele neue Perspektiven eröffnet. Vor allem in seinen narrativen Passagen glänzt Harari: Hier wird er zum Geschichtenerzähler, der uns die Tragödien und Triumphe der Menschheit vor Augen führt. Ein Buch, das polarisiert, inspiriert und zum Diskurs einlädt – genau was ich mir von einem Buch wünsche.

    Ich habe auf jeden Fall so unendlich viel unterstrichen in diesem Buch ich kann mich gar nicht entscheiden, welches Zitat ich besonders herausheben möchte.

    The tendency to create powerful things with unintended consequences started not with the invention of the steam engine or AI but with the invention of religion. Prophets and theologians have summoned powerful spirits that were supposed to bring love and joy but occasionally ended up flooding the world with blood.

    Samantha Harvey – Orbital auf deutsch unter dem Titel „Umlaufbahnen“ im dtv Verlag erschienen, übersetzt von Julia Wolf

    Über den diesjährigen Booker Prize Winner wurde wahrscheinlich schon alles gesagt, aber hier kurz meine begeisterten 2 Cents: Die Geschichte spielt auf einer Raumstation 250 Meilen über der Erde und dreht sich um eine Crew von Astronaut*innen, die dort ihren Alltag zwischen Experimenten, Technik und der unendlichen Weite des Weltalls meistern. Aber „Orbital“ ist so viel mehr als ein Science-Fiction-Roman – es ist eine poetische Meditation über die Menschheit, unsere zerbrechliche Welt und unseren Platz im Universum.

    Was mich besonders fasziniert hat, ist, wie Harvey Kunst und Weltraum miteinander verbindet. Zwei berühmte Kunstwerke tauchen im Buch auf: Velázquez‘ „Las Meninas“ und das ikonische Foto von Michael Collins, das die Erde, den Mond und alles Leben darauf einfängt – außer Collins selbst. Diese Kontraste spiegeln sich auch im Roman wider: die Fülle und Perspektive der einen und die abstrakte Distanz der anderen. Es ist, als ob die Astronaut*innen aus dieser Entfernung unsere Erde mit ganz neuen Augen sehen – frei von Grenzen, Konflikten und allem Alltäglichen.

    In unserer Diskussion im Bookclub kam genau das zur Sprache: Müssen wir uns erst so weit entfernen, um die Schönheit und Zerbrechlichkeit der Erde wirklich zu begreifen?

    The earth, from here, is like heaven. It flows with colour. A burst of hopeful colour. When we’re on that planet we look up and think heaven is elsewhere, but here is what the astronauts and cosmonauts sometimes think: maybe all of us born to it have already died and are in an afterlife. If we must go to an improbable, hard-to-believe-in place when we die, that glassy, distant orb with its beautiful lonely light shows could well be it.

    Harveys Schreibstil ist lyrisch, fast hypnotisch. Plot-Twist-Fans kommen hier eher nicht auf ihre Kosten, denn die Handlung ist minimalistisch. Stattdessen steht das Nachdenken über große Themen wie Zeit, Raum, Klimawandel und die Bedeutung von Fortschritt im Fokus.

    Für mich ist „Orbital“ wie ein Fenster ins All – und gleichzeitig ein Spiegel, der uns zeigt, wer wir sind. Absolute Leseempfehlung, wenn ihr Lust auf etwas Nachdenkliches und Inspirierendes habt!

    Jarka Kubsova „Marschlande“ erschienen im S. Fischer Verlag

    Schon mit dem ersten Satz zieht Marschlande mich in die dramatische Geschichte von Abelke Bleken hinein. Diese Frau lebte vor 450 Jahren im Hamburger Dorf Ochsenwerder, wo sie alleinstehend einen Hof bewirtschaftete – eine Lebensweise, die in einer patriarchalen Welt schnell verdächtig machte. Ihre Geschichte beginnt mit einem scheinbar harmlosen Vorwurf: Sie habe es versäumt, den Deichabschnitt ihres Landes zu reparieren. Doch hinter dieser Anschuldigung steckt mehr – der Versuch, eine Frau um ihr Eigentum zu bringen. Was als Streit um Deichrecht beginnt, mündet in einen Hexenprozess, der Abelke auf den Scheiterhaufen bringt.

    Kubsova erzählt diese Geschichte mit eindringlicher Präzision. Besonders erschüttert hat mich, wie Kapitalismus und Religion hier Hand in Hand gehen, um Frauen wie Abelke nicht nur wirtschaftlich zu enteignen, sondern sie letztlich auszulöschen. Der Vorwurf der Hexerei dient dabei als makabre Legitimation: Denn es fühlt sich offenbar besser an, eine vermeintliche Hexe zu töten, als eine aufrechte Bäuerin schlichtweg zu enteignen. Dieses Zusammenspiel von Gier und Aberglauben erinnert mich daran, wie kapitalistische Strukturen über Jahrhunderte hinweg Frauen immer wieder nicht nur marginalisiert, sondern existenziell bedroht haben. Die Logik bleibt dieselbe: Macht und Besitz werden durch Gewalt und Ideologie gesichert – oft auf Kosten der Schwächsten in der Gesellschaft.

    Neben Abelke steht Britta, eine Frau unserer Zeit, deren Geschichte im Hamburger Hinterland spielt. Während Abelke für ihren Hof kämpft, verliert Britta zunehmend ihre Familie an die moderne Form des Kapitalismus: den Leistungsdruck. Ihr Mann, getrieben von übermäßigen Karriereambitionen, entfremdet sich von ihr und den Kindern, um ein großes Haus auf dem Land und das passende Statussymbol-Leben zu realisieren. Brittas persönliche Krise spiegelt die Zerstörung wider, die kapitalistische Systeme in zwischenmenschlichen Beziehungen anrichten können – damals wie heute.

    Ein Bild von Abelke tauchte plötzlich in ihr auf, sie sah eine Frau zwischen leeren Feldern, die Hand zur Faust geballt, die Faust erhoben, drohend. Der gefährlichste Moment für eine Frau ist, wenn sie sich wehrt. Was folgte daraus? Dass man sich nicht wehren durfte?

    Besonders gelungen ist Kubsovas Brückenschlag zwischen den Jahrhunderten. Jedes Kapitel beginnt mit einem Satz, der sowohl für Abelkes als auch für Brittas Leben gilt, und verdeutlicht so die Kontinuitäten von Unterdrückung und Ungerechtigkeit. Die Autorin wagt die steile, aber bedenkenswerte These, dass die strukturellen Hindernisse, denen Frauen heute begegnen, tief in den historischen Wurzeln des Kapitalismus und der patriarchalen Gesellschaft verankert sind.

    Marschlande ist für mich mehr als ein historischer Roman. Es ist eine eindringliche Anklage gegen die zerstörerische Allianz von Kapitalismus und patriarchaler Macht – damals wie heute. Ein Buch, das aufrüttelt, empört und lange nachhallt. Unbedingt lesen!

    Tommy Orange – There There auf deutsch unter dem Titel „Dort Dort“ im Hanser Verlag erschienen, übersetzt von Hannes Meyer

    „There There“ hat mich hat mich wirklich sehr berührt – ein Buch, das mir nicht nur neue Perspektiven eröffnet, sondern auch einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen hat. Schon beim Hören des Hörbuchs war ich überwältigt von der Kraft und Schönheit seiner Sprache. Ständig hatte ich den Wunsch, Sätze zu markieren, sie zu unterstreichen und immer wieder zu lesen. Dieses Buch, das zu Recht so viel Aufmerksamkeit und Hype erhalten hat, ist eines, das ich unbedingt noch einmal in Buchform lesen möchte.

    Der Titel des Romans bezieht sich auf Gertrude Steins berühmte Bemerkung über Oakland, Kalifornien: „There is no there there“. Oakland, Oranges Heimatstadt, bildet den Schauplatz des Romans und wird zu einem Symbol für das Erbe und die Erfahrung indigener Gemeinschaften in den USA. Orange, selbst ein Mitglied der Cheyenne und Arapaho, erzählt die Geschichten einer Gruppe indigener Menschen, deren Leben auf komplexe Weise miteinander verflochten sind. Schon das Eröffnungsprolog, das nüchtern und zugleich tief erschütternd die koloniale Unterdrückung und Gewalt gegenüber indigenen Völkern schildert, setzt den Ton für das, was folgt.

    We are the memories we don’t remember, which live in us, which we feel, which make us sing and dance and pray the way we do, feelings from memories that flare and bloom unexpectedly in our lives like blood through a blanket from a wound made by a bullet fired by a man shooting us in the back for our hair, for our heads, for a bounty, or just to get rid of us.

    Was dieses Buch für mich so besonders macht, ist die Balance zwischen Schmerz, Verzweiflung aber auch Hoffnung. Orange verzichtet bewusst auf romantisierte Darstellungen indigener Kultur oder nostalgische Bilder von offenen Prärien. Stattdessen zeigt er das Leben indigener Menschen in städtischen Räumen – in all seiner Widersprüchlichkeit, Zerbrechlichkeit und Schönheit. Figuren wie der durch fetales Alkoholsyndrom gezeichnete Tony Loneman, der Dokumentarfilmer Dene Oxendene oder der junge Orvil Red Feather, der sich mit gestohlener Regalia auf ein Powwow vorbereitet, sind so lebendig und greifbar, dass sie mir während des Lesens regelrecht ans Herz gewachsen sind.

    Besonders beeindruckt hat mich, wie Orange es schafft, die Geschichte und Gegenwart der indigenen Bevölkerung der USA miteinander zu verbinden. Das Powwow in Oakland, das den zentralen Schauplatz der Handlung bildet, steht nicht nur für den Versuch, kulturelle Traditionen zu bewahren, sondern auch für die Herausforderungen und Spannungen, die damit einhergehen.

    Michael Wood – In search of the Dark Ages erschienen in der Folio Society

    Michael Woods In Search of the Dark Ages war für mich eine echte Entdeckung – ein Buch, das Geschichte auf die beste Art und Weise vermittelt: anschaulich, spannend und voller Denkanstöße. Ich habe es mit großer Begeisterung gelesen, und es hat mich dazu inspiriert, tiefer in die faszinierende Epoche der sogenannten „Dark Ages“ einzutauchen. So sollte Geschichte immer präsentiert werden: als lebendige Erzählung, die nicht nur informiert, sondern auch zum Weiterforschen einlädt.

    Wood gelingt es meisterhaft, eine Epoche, die oft als düster und mysteriös dargestellt wird, mit Leben zu füllen. Seine Erzählungen über historische Figuren wie Boudica, Alfred den Großen oder William den Eroberer machen deutlich, wie vielschichtig und bedeutend diese Zeit für die Entwicklung Englands war. Besonders gefallen hat mir, wie er historische Fakten mit Geschichten aus Archäologie und Mythologie verwebt. Die Kapitel über Sutton Hoo oder die Artus-Legenden sind ein Beispiel dafür, wie Geschichte und Legende miteinander verschmelzen und ein tieferes Verständnis für diese Ära schaffen.

    The key point about Patrick’s narrative is that when he returned to Britain in around 415, when Roman rule had ended in Britain, there is no suggestion of disorder. Indeed, when he wrote his account in the middle years of the century, the imperial Roman system of local government was intact – the local town councils, for example, were still responsible for raising taxes for the government. It was still a world where professional rhetoricians could earn a living as they could in Rome; where a letter writer could address the British dynasty of Strathclyde as „fellow citiziens“. We can therefore imagine the continuation of a feeling of identity with Rome in the Romano-British ruling class, the senatorical aristocracy and the local landowners.

    Was mich besonders beeindruckt hat, ist die Fähigkeit des Buches, die Herausforderungen des Alltagslebens in jener Zeit greifbar zu machen. Wood schildert nicht nur die großen politischen und militärischen Ereignisse, sondern auch, wie es war, in einer Welt zu leben, die von Hunger, Seuchen und ständiger Unsicherheit geprägt war. Dabei bleibt er stets kritisch, etwa wenn er die Schwächen von Herrschern wie Ethelred ungeschönt analysiert, ohne den Respekt für seine Leistungen im Kontext dieser Zeit zu verlieren.

    Ein Highlight für mich war die Ausgabe der Folio Society, die ich gelesen habe. Die hochwertige Gestaltung, die großartigen Fotografien und die Liebe zum Detail machen diese Ausgabe zu einem echten Schatz. Die Bilder tragen wesentlich dazu bei, sich die beschriebene Zeit noch besser vorzustellen – sei es ein Fund aus einem königlichen Grab oder kunstvolle Nachbildungen historischer Artefaktr. Das Buch ist nicht nur eine intellektuelle, sondern auch eine ästhetische Freude.

    „In Search of the Dark Ages“ ist ein Buch, das weit über eine historische Nacherzählung hinausgeht – es bietet einen Zugang zu einer Zeit, die mehr als nur ein Übergang zwischen Antike und Mittelalter war – eine Epoche, die ihre eigene Dynamik und Bedeutung hatte. Spannend fand ich auch, wie unterschiedlich das Ende des römischen Reiches sich gestaltete. In manchen Ecken blieben die römische Organisation und Zivilisation fast bis in 12. Jahrhundert erhalten, in anderen Ecken der Welt war schon um 500 – 600 nach unserer Zeitrechnung nicht mehr viel übrig als Ruinen und Dunkelheit. Michael Wood schafft es, diesen Zeitraum mit einer Mischung aus Wissenschaftlichkeit und Erzählkunst zu beleuchten, die mich vollkommen überzeugt hat. Für jeden, der sich für die Ursprünge der britischen Geschichte interessiert, ist dieses Buch ein Muss.

    So das war der Dezember – war für euch was dabei? Welche Bücher kennt ihr, auf welche konnte ich euch vielleicht neugierig machen? Freue mich auf eure Rückmeldungen.

    Oktober Lektüre

    Der Oktober brachte eine interessante Mischung an Leseerlebnissen mit sich. Von einem echten 5-Sterne-Highlight über solide 4-Sterne-Bücher bis hin zu einem 3-Sterne-Werk war alles dabei. Ich freue mich, euch einige dieser besonderen Titel vorzustellen und bin gespannt, wie euer Lesemonat verlaufen ist! Gab es für euch absolute Highlights oder vielleicht auch Enttäuschungen? Und welche meiner Empfehlungen kennt ihr schon oder machen euch neugierig? Eure Rückmeldungen sind wie immer herzlich willkommen!

    Rebecca F. Kuang – Yellowface im Eichborn Verlag erschienen, übersetzt von Jasmin Humburg
    ★★★★☆

    „Yellowface“ von R. F. Kuang hat mich tatsächlich ganz schön gefesselt – für mich ein echter Pageturner. Der Roman dreht sich um June Hayward, eine erfolglose Autorin, die das Manuskript ihrer verstorbenen Kollegin Athena Liu stiehlt und es unter ihrem eigenen Namen veröffentlicht. June war stets mega neidisch auf den Erfolg ihrer College Freundin Athena in deren Schatten sie stand. Schon am Anfang war klar, dass Junes Karriere nach diesem Coup zunächst steil bergauf gehen würde – und ihr Fall umso tiefer. Das war richtig nervenaufreibend obwohl ich die Protagonistin nicht wirklich sympathisch fand. Aber gerade die moralischen Grauzonen machten das Buch so spannend.

    Besonders faszinierend fand ich, wie tief man hinter die Kulissen der Verlagsbranche blicken konnte. Kuang zeigt schonungslos, wie gnadenlos und oft auch scheinheilig dieser Markt ist, wo Marketing, Macht und Identität eng verknüpft sind. Von toxischen Gatekeepern über die Frage nach kultureller Aneignung bis hin zur Rolle von Social Media – das Buch liefert eine spannende Analyse, die unter die Haut geht und einem eine Menge zum Nachdenken mitgibt. Ich habe dabei richtig viel über die oft verborgenen Strukturen und Dynamiken gelernt, die über Erfolg oder Scheitern eines Buches entscheiden.

    Der Literaturbetrieb sucht sich einen Gewinner oder eine Gewinnerin aus – attraktiv genug, cool und jung und, mal ehrlich, wir denken es doch alle, also sprechen wir es doch auch aus, „divers“ genug – und überschüttet diese Person mit Geld und Unterstützung.

    Rebecca F. Kuang ist wirklich eine beeindruckende junge Autorin. Schon ihr Roman Babel war großartig. Man hat das Gefühl was Kuang anpackt wird zu Gold. Sie hat einen beeindruckenden akademischen Hintergrund und ich hab keine Ahnung wie sie es schafft mit 28 Jahren in Cambridge und Yale zu studiert zu haben, jetzt ihren PhD zu machen und nebenher noch 5 Bücher zu schreiben. Wow 😮

    Wenn ich überlege was ich mit 28 so gemacht habe – ähm ja 😉 Ich hatte das Glück, beim Eichborn Verlag eine signierte Ausgabe zu gewinnen, freu mich noch immer sehr darüber. Ich liebe signierte Bücher 😊

    RF Kuang ist eine Autorin die ich definitiv im Auge behalten werde und ich bin echt gespannt was noch alles kommt!

    Tonio Schachinger – Echtzeitalter erschienen im Rowohlt Verlag
    ★★★☆☆

    Tonio Schachingers „Echtzeitalter“, der Roman, der 2023 den Deutschen Buchpreis erhielt, hat mich zwiespältig zurückgelassen. Grundsätzlich fand ich die Coming-of-Age-Geschichte spannend, und auch den humorvollen, teils bissigen Stil, mit dem Schachinger das Leben seines jugendlichen Protagonisten an einer Wiener Eliteschule beschreibt, durchaus unterhaltsam. Die Wahl des Theresianums als fiktive Kulisse ist eine gute Grundlage, um das Spannungsfeld zwischen den Erwartungen der Gesellschaft und den inneren Welten Jugendlicher darzustellen. Der 1992 in Wien geborene Autor greift dabei gekonnt auf die Tradition des Schulromans zurück – eine Linie, die an Klassiker wie Musils „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“ oder Hesses „Unterm Rad“ anknüpft. Und ja, es gibt viel zu erkennen in Schachingers Schilderungen: Gesellschaftskritik, eine ironische Distanz zur Wiener Tradition und einiges an literarischem Witz.

    Denn der Dolinar hält, ebenso wie Palffys Eltern und die meisten sich als konservativ beschreibenden Menschen, das Bekanntwerden einer Verfehlung immer für schlimmer als die Verfehlung selbst.

    Würden Till und seine Klassenkollegen Antonio Gramsci lesen statt Adalbert Stifter, dann wüssten sie, dass Hegemonie immer auf Konsens basiert, dass all die Sachen, die uns wie Erleichterungen unseres Elends vorkommen – die Spiele, die Freizeit -, in Wahrheit dieses Elend erst ermöglichen. Weil es uns erpressbar macht, an etwas zu hängen; weil die Erleichterungen vom Elend uns das Elend erst ertragen lassen.

    Und doch hatte ich Schwierigkeiten, eine echte Bindung zu den Figuren aufzubauen. Der Protagonist bleibt für mich seltsam fremd, und auch die Nebenfiguren blieben oft skizzenhaft und nicht wirklich nahbar. Das liegt vielleicht daran, dass das Thema Computerspiele eine so zentrale Rolle spielt – ein Bereich, mit dem ich persönlich wenig verbinde. Schachingers Protagonist entzieht sich dem klassischen Schulalltag, indem er sich in die Welt der Games flüchtet, und das ist für ihn nicht nur Hobby, sondern eine fast identitätsstiftende Leidenschaft, die auch hilft, den Tod des Vaters zu verarbeiten. Dieser Aspekt der Geschichte hat sicher eine eigene Faszination und bringt eine neue, unkonventionelle Perspektive in die literarische Darstellung jugendlicher Selbstfindung. Dennoch habe ich mich oft eher als distanzierter Beobachter gefühlt denn als wirklich involvierter Leser.

    Obwohl ich „Echtzeitalter“ durchaus als lesenswert empfinde und es auch seine unterhaltsamen wie tiefsinnigeren Momente hat, halte ich es persönlich nicht unbedingt für preiswürdig. Rückblickend auf das Literaturjahr und die anderen Werke der Shortlist hätte ich wohl eine andere Wahl getroffen.

    Die Juryentscheidung wirkt, wie bereits manche Kritiker angemerkt haben, fast ein wenig willkürlich – und das nicht nur wegen der Vorhersehbarkeit des Themas „Computerspiele und Jugendkultur“.

    Ich danke @kitty_cat_84 für das wunderbare Foto – es war einfach unerlässlich bei dem Roman ein paar Reclamhefte im Hintergrund zu haben.

    Anne Michaels – Wintergewölbe erschienen im Berlin Verlag, übersetzt von Nora Matocza
    ★★★☆☆

    Als ich nach vielen Jahren Anne Michaels‘ Wintergewölbe in die Hände bekam, war ich sehr darauf gespannt. Ihr Roman „Fugitive Pieces – Fluchtstücke“ ist eines meiner Lieblingsbücher, das ich mehrmals gelesen habe. Besonders fasziniert haben mich im Wintergewölbe die Passagen über den Bau des Assuan-Staudamms in Ägypten – eine beeindruckende und melancholische Reflexion über den Verlust von Heimat und Geschichte. Michaels verbindet das Schicksal der durch den Staudamm vertriebenen Nubier auf poetische Weise mit dem Bau des Sankt-Lorenz-Seewegs in Kanada. Ihre Beschreibungen sind so detailreich und lebendig, dass man spürt, wie tiefgreifend diese Eingriffe in das Leben der Menschen sind.

    Ich glaube wir Menschen haben nur alle in unserem Leben nur ein, zwei philosophische oder politische Grundgedanken, haben nur ein, zwei Ordnungsprinzipien in unserem gesamten Leben, und alles Übrige kommt von dort …

    Die Atmosphäre des Romans ist typisch Michaels: melancholisch und poetisch, was mir sehr gefallen hat. Ihre Sprache ist von großer Schönheit. Doch trotz dieser Momente der sprachlichen Brillanz und der bewegenden Thematik erreicht Wintergewölbe für mich bei Weitem nicht das emotionale Niveau von Fugitive Pieces. In Wintergewölbe geht es mehr um das Argument als um die Geschichte – wie eine Kritikerin so treffend sagte: „Michaels konstruiert eine Brücke zwischen zwei sehr unterschiedlichen Männern.“ Doch genau diese Konstruktion bleibt mir zu distanziert, zu abstrakt. Die Figuren sind in weiten Teilen mit sich selbst beschäftigt, und obwohl Jean, die zentrale Figur, durch ihre stillen Beobachtungen und ihren Schmerz tief berührt, bleibt die emotionale Verbindung für mich im Vergleich zu Michaels‘ früherem Buch doch blasser.

    Der Roman fühlt sich an manchen Stellen wie ein lehrreiches Stück Geschichte an, und während die Passagen rund um die technischen und architektonischen Meisterleistungen spannend sind, vermisst man oft die intime Nähe zu den Figuren. Das Buch, so lyrisch es auch ist, lässt die Leser*in letztlich eher kalt, besonders im Vergleich zu Fugitive Pieces. Dennoch ist Michaels’ Blick auf Verlust und Erinnerung klar und packend, auch wenn dieser Roman nicht die gleiche emotionale Wucht erreicht.

    Ich bin auf jeden Fall sehr auf ihren neuesten Roman „Held“ gespannt, der aktuell auf der Booker Shortlist steht.

    Welches ist euer Lieblingsroman von Ms Michaels?

    Daniel Kehlmann – Tyll erschienen im Rowohlt Verlag
    ★★★☆☆

    „Tyll“ von Daniel Kehlmann hatte mich eigentlich durchaus angesprochen – die Idee, einen Gaukler als Wegbegleiter durch den Dreißigjährigen Krieg zu erleben, schien faszinierend. Tyll ist angelehnt an die historische Figur Till Eulenspiegel, und Kehlmann lässt ihn in seinem Buch als schillernde, rätselhafte Figur durchs zerrissene Land ziehen, voller List, scharfsinniger Streiche und Grausamkeit. Die Episoden, die Kehlmann miteinander verknüpft – Tyll als Narr eines exilierten Königspaares, die Begegnungen mit erfundenen und historischen Persönlichkeiten – zeichnen ein fast kaleidoskopartiges Bild dieser düsteren Zeit.

    Dabei fand ich beeindruckend, wie gekonnt Kehlmann Fiktion und Realität miteinander vermischt. Die Erzählweise bleibt immer unterhaltsam, oft poetisch und verzichtet darauf, Leid und Elend zu explizit zu schildern, was dem/der Leser*in einen gewissen Abstand erlaubt. Trotz dieser Leichtigkeit, die Kehlmann den Schrecken gegenüberstellt, fiel es mir schwer, einen richtigen Zugang zu Tyll zu finden.

    Verachtet, gefürchtet, ausgegrenzt. Offen ansprechen, gar berühren durfte man sie nicht. Sie selbst lebten vom Tod, von der Folter und in der ständigen Angst von einem Delinquenten verflucht zu werden. Ihren Kindern und Kindeskindern stand kein anderer Beruf mehr offen, einmal Henker, immer Henker …“

    Vielleicht liegt es an der Schelmenfigur selbst, die mir zu distanziert und unnahbar blieb. Auch wenn Kehlmanns Buch komplex und kunstvoll komponiert ist, habe ich mich als Leserin oft nur als Beobachterin gefühlt und weniger als emotional Beteiligte. Vielleicht liegt es daran, dass der Schelmenroman per se nicht mein bevorzugtes Genre ist. Trotzdem bereue ich das Lesen keineswegs – es war faszinierend, wie Kehlmann den Dreißigjährigen Krieg auf diese Art belebt und erzählt. Nur wirkliche Begeisterung wollte sich für mich einfach nicht einstellen.

    Habt ihr es gelesen? Wie fandet ihr Tyll?

    Jörg Bong – Die Flamme der Freiheit erschienen im Kiepenheuer & Witsch Verlag
    ★★★★★

    Jörg Bongs „Die Flamme der Freiheit“ ist ein Buch, das sich wie ein Denkmal für die lange Zeit vergessenen deutschen Freiheitskämpferinnen und Freiheitskämpfer der Revolution von 1848/49 liest – eine Geschichte, die im heutigen Bewusstsein oft im Schatten steht, obwohl sie einen zentralen Ursprung unserer demokratischen Tradition darstellt. Bongs Darstellung packt die Leser, sie bringt die Szenen der Revolution und die Menschen, die dafür gekämpft haben, lebendig nahe. Dabei hat das Buch für mich persönlich eine fast magische Anziehungskraft entfaltet: Ich habe beinahe jeden zweiten Satz markiert und mich in ein Recherche-Fieber versetzt gefunden, das mich Seite um Seite tiefer in die Geschichte hineinriss.

    Goethes und Schillers dringlicher Rat an die Deutschen zu ihrer Zukunft widerstrebt Gagern im Innersten: Am besten sollten sie, empfehlen die beiden, die Entwicklungsstufe der Nation überspringen und gleich kosmopolitisch werden, Weltbürger, Goethes letzte große Idee

    Die Freiheitskämpfer*innen die in Bongs Erzählung so lebendig werden, kämpfen für eine Demokratie, die damals noch in weiter Ferne lag – und es ist erschreckend zu lesen, wie ähnlich die Bedrohung der Demokratie heute in vielerlei Hinsicht ist. Die Bilder, die Bong beschreibt, erinnern an eine Zeit, in der die Menschen gegen den autoritären Preußenstaat aufstanden, sich gegen Repression, Ungerechtigkeit und für Freiheitsrechte stellten. Bongs Protagonisten scheitern bekanntlich letztlich mit ihrem Anliegen, doch die Entschlossenheit und das Durchhaltevermögen dieser Frauen und Männer können nicht genug gewürdigt werden. So eindringlich wie in „Die Flamme der Freiheit“ wurde dieses Kapitel der deutschen Geschichte selten erzählt – und wenn je eine Mahnung zur Verteidigung demokratischer Werte nötig war, dann ist sie in Bongs Werk eindrucksvoll eingeflochten.

    Die Hauptakteure in Bongs Buch wie zB der Rheinländer Carl Schurz sind teilweise in den USA viel bekannter als bei uns. Die „48er“ hatten dort einen unglaublich guten Ruf. Schurz zB der gescheiterten Revolution flieht er vor der preußischen Obrigkeit in die USA, kämpfte im amerikanischen Bürgerkrieg auf der Seite der Nordstaaten gegen die Sklaverei und bringt es bis zum US-Innenminister. Es ist bedauerlich, dass die 48er in Deutschland so wenig bekannt ist, obwohl sie doch so bedeutend für unsere Demokratie sind und wir ihnen soviel zu verdanken haben.

    Das Ehepaar Georg und Emma Herwegh war ein außergewöhnliches Duo innerhalb der revolutionären Bewegungen der Jahre 1848/49. Georg Herwegh, bekannt als „Der eiserne Dichter der Revolution“, begeisterte viele Menschen mit seinen scharfsinnigen, freiheitsliebenden Gedichten. Emma Herwegh, seine Frau, ging jedoch über das bloße Unterstützen hinaus und entwickelte sich selbst zu einer mutigen, aktiv handelnden Figur der Revolution. Sie war nicht nur Begleiterin ihres Mannes, sondern übernahm eigenständig Verantwortung und engagierte sich leidenschaftlich für die Freiheitsideale ihrer Zeit. Mit außergewöhnlicher Entschlossenheit half sie bei der Organisation der sogenannten „Deutschen Demokratischen Legion“, die unter der Führung ihres Mannes im badisch-pfälzischen Aufstand gegen die reaktionären Mächte kämpfte. Emma wurde zur Symbolfigur für viele revolutionär gesinnte Frauen, weil sie sich den ihr zugeschriebenen, traditionellen Rollen widersetzte und eine aktive politische Rolle einnahm. Ihre Tapferkeit und Standfestigkeit verliehen der Bewegung eine zusätzliche moralische Kraft, und ihre Beteiligung stellte ein frühes Beispiel für den Kampf um Gleichberechtigung und weibliche Selbstbestimmung dar.

    Doch Emma sieht messerscharf, was sich anbahnt: der historische Kampf zwischen Demokratie und Nationalismus. Sie formuliert ihren Satz von den „beiden Elementen“ die nun zu einem epochalen Showdown antreten: die neue demokratische Freiheit gegen den neuen „scheußlichsten Absolutismus“ des Nationalen.

    Die Revolution von 1848/49 war eine Möglichkeit, die leider verpasst wurde, wie der Historiker Thomas Nipperdey es einmal beschrieb – eine Möglichkeit, der deutschen Geschichte eine friedlichere Wendung zu geben, die vielleicht spätere Katastrophen hätte verhindern können. „Die Flamme der Freiheit“ von Jörg Bong ist in diesem Sinne weit mehr als eine historische Schilderung: Es ist ein Mahnmal und eine Aufforderung, für die Demokratie zu kämpfen, auch wenn der Erfolg nicht gewiss ist. Ein Meisterwerk, das hoffentlich seinen Weg zu vielen Leser finden wird und die Erinnerung an eine bedeutsame Zeit aufrecht erhält.

    Mit seiner greifbaren Darstellung und der Detailtreue, die sich selbst kleinsten Aspekten widmet, versetzt Bong die Leser*innen direkt in die Mitte der revolutionären Geschehnisse – sei es bei der Beisetzung der Märzgefallenen oder bei den Barrikadenkämpfen, wo der preußische König Friedrich Wilhelm IV. unter Demütigungen letztlich nachgeben muss, nur um sich insgeheim grausame Rache zu schwören. Die Auseinander-setzungen um die Demokratie waren kein bloßes Streben nach Reformen; es waren die harten Kämpfe der deutschen Revolution, die in einer Zeit stattfanden, in der von Demokratie kaum ernsthaft zu träumen war.

    Bong verzichtet auf Belehrungen und verurteilt die historischen Figuren nicht aus der Sicht der Gegenwart, sondern versucht, deren Handeln in der jeweiligen Zeit verständlich zu machen. Dabei bleibt er den historischen Figuren nahe, fängt die Atmosphäre ihrer Zeit ein und entfaltet die Tragik ihrer Geschichte: eine Tragödie des Scheiterns und des ungenutzten Potentials für eine demokratischere deutsche Geschichte, eine, die uns bis heute in Trauer zurücklässt.

    Ich war zutiefst schockiert was für ein grausames Arschloch der spätere Kaiser Wilhelm I war. Sorry das kann mich nicht feiner ausdrücken. Wie er in die protestierenden Menschenmassen reingeschossen hat, Unruhe absichtlich gestiftet hat, um den Rebellen Dreck in die Schuhe schieben zu können um dann pro Forma einen Grund für sein rücksichtsloses Abschlachten hat – ohne Worte.
    Wir sollten die Demokratie auf keinen Fall für etwas Selbstverständliches halten und sie schützen und aktiv sein, um sie widerstandsfähig zu machen und gegen ihre Gegner zu schützen.

    Nguyễn Phan Quế Mai – Der Gesang der Berge, Insel Verlag, übersetzt von Claudia Feldmann
    ★★★★☆

    Meine literarische Weltreise hat mich noch einmal nach Vietnam zurückgeführt, diesmal mit Nguyen Phan Que Mais Roman „Der Gesang der Berge.“ Noch beeindruckt von Cecile Pins Wandering Souls, wollte ich tiefer in die vietnamesische Geschichte eintauchen. Das Buch hat mich von der ersten Seite an mitgerissen, nicht zuletzt durch die zentrale Rolle der Großmutter Dieu Lan, die mich an meine eigene Großmutter erinnerte, bei der ich aufgewachsen bin. Geschichten, in denen Großmütter eine tragende Rolle spielen, ziehen mich immer ganz besonders an, und Dieu Lan ist eine dieser unvergesslichen Figuren. Ihre Stärke, ihr Durchhaltevermögen und ihre bedingungslose Liebe zu ihrer Enkelin Huong haben mich tief berührt.

    Die Handlung entfaltet sich über mehrere Jahrzehnte vietnamesischer Geschichte – ein Bild voll Schmerz, Verlust und Hoffnung. Durch die abwechselnden Erzählperspektiven von Dieu Lan und Huong hat man das Gefühl, man sei direkt dabei, als die Familie die Schrecken der Landreform, die Zerstörungen des Krieges und die bedrückenden Jahre der Teilung Vietnams durchlebt. Die Erzählungen von Bombenangriffen, Flucht und den traumatischen Folgen von Agent Orange lassen das unermessliche Leid der vietnamesischen Bevölkerung greifbar werden. Dennoch ist es der Mut, den Dieu Lan ihrer Enkelin weitergibt, der mich am meisten bewegt hat – ein starker, unzerstörbarer Familienkern, der trotzig die Zerstörung des Krieges überlebt.

    Je mehr ich las, desto größer wurde meine Angst vor Kriegen. Kriege haben die Macht, liebenswerte und kultivierte Menschen in Ungeheuer zu verwandeln

    Die Großmutter erinnert Huong daran, wie die Machthaber die Macht beanspruchen, Geschichte umzuschreiben – ein düsteres Bild, das die Zeit der Landreform und der kommunistischen Herrschaft in Nordvietnam prägte. In einer Welt voller Schmerz und Verlust verkörpert Dieu Lan für mich das Bild einer Überlebenden, die an Hoffnung festhält auch wenn die Gegenwart mehr als düster ist und der es gelingt, Huong eine Zukunft zu schenken.

    Nguyen Phan Que Mai erinnert daran, dass selbst in den dunkelsten Zeiten Menschen wie Dieu Lan Hoffnung und Menschlichkeit bewahren.

    Margot Douaihy – Verbrannte Gnade, erschienen im Blumenbar Verlag, übersetzt von Eva Kemper
    ★★★☆☆

    Margot Douaihys Verbrannte Gnade hat mich auf unerwartete Weise begeistert. Der Krimi führt uns in das schwüle, drückende New Orleans, das durch Douaihys poetischen Stil fast wie eine weitere Figur erscheint. Sister Holiday, die lesbische, kettenrauchende, tätowierte Nonne mit einer Punk-Vergangenheit, ist alles andere als gewöhnlich – sie ist gebrochen, komplex und auf eine ganz eigene Art gläubig. Ihre innere Zerrissenheit und ihr Kampf, trotz ihrer rauen Fassade, ihren Glauben zu bewahren, machen sie zu einer faszinierenden Protagonistin.

    Der Kriminalfall selbst, bei dem es um eine Reihe von mysteriösen Bränden an einer katholischen Schule geht, war für mich ehrlich gesagt etwas weniger fesselnd. Die eigentliche Stärke des Romans liegt in der düsteren Atmosphäre und den Charakteren. Die Hitze von New Orleans ist fast greifbar, und Douaihy beschreibt sie so intensiv, dass man das Gefühl hat, selbst in dieser dampfenden Stadt zu stehen, wo alles ein bisschen verfallen wirkt. Diese Kulisse verstärkt das Gefühl, dass jeder Charakter in irgendeiner Form vor der eigenen Vergangenheit oder den eigenen Dämonen flieht.

    God never judged me as harshly as I judged myself.

    Douaihy, ursprünglich aus Scranton, Pennsylvania, bringt eine raue, fast schon „Rust Belt“-Ästhetik in ihre Darstellung von New Orleans ein, was der Stadt einen spannenden, einzigartigen Anstrich gibt. Ihre Erfahrung als Lyrikerin zeigt sich in den detailreichen, stimmungsvollen Beschreibungen und der eher langsamen Entfaltung der Geschichte. Das Tempo ist manchmal fast hypnotisch, doch gerade das unterstreicht die erdrückende Hitze und die psychischen Kämpfe der Figuren.

    Sister Holiday ist weit mehr als nur eine Nonne, die Detektivin spielt. Sie ist auf einer eigenen Reise der Selbstfindung und Sühne, die für mich spannender war als der Kriminalfall selbst. Definitiv eine Figur die mir noch lange im Gedächtnis bleibt und ich hätte auf jeden Fall Lust sie auch bei ihrem nächsten Fall zu begleiten.

    Khaled Hosseini – And the Mountains echoed auf deutsch unter dem Titel „Traumsammler“ im S. Fischer Verlag erschien, übersetzt von Henning Ahrens.
    ★★★☆☆

    Afghanistan war die zweite Station auf meiner literarischen Reise um die Welt und die ausführliche Besprechung zum Buch und Informationen über Afghanistan könnt ihr hier nachlesen.

    So – geschafft! Freu mich von euch zu hören. Welche habt ihr auch gelesen und was waren eure Lese Highlights im Oktober?

    Read around the World: Afghanistan

    Von Vietnam geht es direkt weiter nach Afghanistan bei unserer literarischen Weltumrundung. Da wahrscheinlich die meisten von uns noch nicht in Afghanistan waren und so schnell wohl leider auch nicht hinreisen werden, beginne ich mal mit einem Überblick über die Geschichte, Geographie, die Kultur und gehe auch auf insbesondere auf die für Frauen schreckliche Situation im Land ein:

    Afghanistan liegt im Herzen Asiens, umgeben von Pakistan, Iran, Turkmenistan, Usbekistan, Tadschikistan und China. Das Land ist bekannt für seine gebirgige Landschaft, insbesondere das Hindukusch-Gebirge, das es in Ost und West teilt. Die Hauptstadt Kabul liegt in einem Tal im Osten des Landes. Afghanistan hat eine strategisch bedeutende Lage entlang wichtiger Handelsrouten, was es historisch zu einem Schauplatz vieler Konflikte gemacht hat.

    Afghanistan hat eine lange und bewegte Geschichte. Schon in der Antike war es Teil des Achämenidenreichs und wurde von Alexander des Großen erorbert. In den darauffolgenden Jahrhunderten war es ein Zentrum der Seidenstraße und erlebte das Kommen und Gehen verschiedener Reiche, darunter das buddhistische Kushan-Reich und islamische Kalifate. Das Land ist etwa 1,8 Mal größer als Deutschland. Trotz dieser größeren Fläche hat Afghanistan jedoch eine deutlich geringere Bevölkerungsdichte als Deutschland (42 Mio Einwohner*innen), da ein großer Teil des Landes gebirgig und weniger dicht besiedelt ist.

    Im 19. Jahrhundert wurde Afghanistan zum Spielball der Großmächte im sogenannten „Great Game“ zwischen dem Britischen Empire und dem Russischen Reich. Nach mehreren Kriegen mit den Briten wurde Afghanistan 1919 ein unabhängiges Königreich. 1979 wurde das Land durch die Sowjetunion besetzt, was zu einem Jahrzehnt blutigen Guerillakriegs führte. Nach dem Abzug der Sowjets und einem brutalen Bürgerkrieg übernahmen die Taliban 1996 die Macht.

    Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 griffen die USA Afghanistan an, da die Taliban dem Terrornetzwerk Al-Qaida Unterschlupf gewährten. Dies führte zum Sturz der Taliban, doch die darauffolgende Phase des Wiederaufbaus war von Instabilität und Korruption geprägt. Die Taliban gewannen nach und nach wieder an Einfluss, und im August 2021, nach dem Abzug der internationalen Truppen, übernahmen sie erneut die Kontrolle über das Land.

    Fotos: Amber Clay, Pixabay

    Afghanistan ist ein multikulturelles Land mit einer reichen Tradition. Die Bevölkerung besteht aus verschiedenen ethnischen Gruppen, darunter Paschtunen, Tadschiken, Hazara und Usbeken. Die offizielle Sprache ist Dari (eine Variante des Persischen) und Paschtu. Die afghanische Kultur ist geprägt von einer langen Geschichte, in der Poesie, Musik, Teppichweberei und Kalligraphie bedeutende Rollen spielen. Einer der berühmtesten Dichter des Landes ist Rumi, dessen Werke weltweit Anerkennung finden. Die afghanische Küche ist deftig und basiert auf Reis, Linsen, Brot und Fleisch.

    Wir haben uns bei unserem afghanischen Dinner im Rahmen der literarischen Weltreise für ein Auberginen-Gericht entschieden „Borani Banyan“ und die Bingereader Gattin hat sich echt übertroffen – war wahnsinnig lecker. Ich habe das Rezept verlinkt, falls ihr Lust habt es nachzukochen.


    Seit der erneuten Machtübernahme der Taliban 2021 steht Afghanistan vor großen Herausforderungen. Die Taliban-Regierung hat wieder strenge islamische Gesetze eingeführt. Unter der aktuellen Taliban-Herrschaft haben sich die Lebensbedingungen für Frauen und Mädchen drastisch verschlechtert. Die Taliban haben eine Reihe von Gesetzen und Vorschriften eingeführt, die Frauen aus dem öffentlichen Leben weitgehend ausschließen und ihre grundlegenden Menschenrechte massiv einschränken. Zu den gravierendsten Maßnahmen zählen:

    • Verbot der weiterführenden Bildung für Mädchen: Mädchen dürfen seit Ende 2021 nicht mehr die weiterführende Schule besuchen, was ihnen die Möglichkeit auf Bildung und berufliche Chancen nimmt.
    • Beschränkungen für Frauen im Arbeitsmarkt: Frauen dürfen in vielen Bereichen nicht mehr arbeiten, insbesondere in Berufen, die mit Männern zu tun haben. Viele Frauen, die zuvor in Nichtregierungsorganisationen oder im öffentlichen Dienst tätig waren, haben ihre Jobs verloren.
    • Einschränkung der Bewegungsfreiheit: Frauen dürfen oft nur in Begleitung eines männlichen Familienmitglieds das Haus verlassen und müssen sich in der Öffentlichkeit vollständig verschleiern.
    • Schließung öffentlicher Räume für Frauen: Öffentliche Parks, Fitnessstudios und andere Freizeiteinrichtungen sind für Frauen in vielen Städten verboten worden.

    Diese Maßnahmen und der generelle Ausschluss von Frauen aus dem öffentlichen Leben machen Afghanistan zu einem der repressivsten Länder weltweit in Bezug auf Frauenrechte. Internationale Menschenrechtsorganisationen und die Vereinten Nationen haben die Taliban für diese Politik stark kritisiert und warnen vor den langfristigen Folgen für das Land und seine Entwicklung.

    Afghanistan gilt daher heute als eines der Länder, in denen Frauen und Mädchen am stärksten diskriminiert werden. Menschenrechtsorganisationen kritisieren die Einschränkungen der Freiheiten und die Behandlung von Minderheiten sowie Frauen scharf.

    Die internationale Gemeinschaft hat sich weitgehend von Afghanistan zurückgezogen, und das Land leidet unter wirtschaftlicher Isolation, Arbeitslosigkeit und humanitären Krisen. Hunger und Armut sind weit verbreitet. Das Land gehört neben Burundi, dem Südsudan und der zentralafrikanischen Republik zu den ärmsten Ländern der Welt.

    Das Buch das ich gelesen habe ist Khaled Hosseinis „And the Mountain echoed“ das 2013 unter dem Titel „Traumsammler“ im S. Fischer Verlag erschien, übersetzt von Henning Ahrens.

    Foto: Mika

    And the Mountains Echoed ist der dritte Roman des afghanisch-amerikanischen Autors Khaled Hosseini, der auch durch seine Werke Drachenläufer und Tausend strahlende Sonnen bekannt ist. Wie in seinen früheren Büchern gelingt es Hosseini auch hier, emotionale Familiengeschichten mit den tiefen politischen und sozialen Umbrüchen Afghanistans zu verweben.

    Der Roman beginnt mit einer herzzerreißenden Szene, in der der Vater eines kleinen Mädchens namens Pari sie verkaufen muss, um das Überleben seiner Familie zu sichern. Diese Tat hat weitreichende Konsequenzen, die das Leben vieler Charaktere im Laufe des Buches beeinflussen. Die Erzählung springt in verschiedenen Zeitebenen und Perspektiven hin und her, von Afghanistan bis in die USA und Frankreich, und verbindet das Schicksal zahlreicher Figuren.

    Hosseinis Themen sind Familie, Liebe, Verlust und Opfer. Mich beeindruckt seine Fähigkeit, die Zerrissenheit der afghanischen Diaspora und die Belastungen durch die immerwährenden Kriege und Konflikte im Land darzustellen. Gleichzeitig schafft er es, uns auch die Schönheit Afghanistans und ihre reiche kulturelle Vielfalt zu übermitteln.

    Was diesen Roman von Hosseinis anderen unterscheidet, ist seine Struktur: And the Mountains Echoed besteht nicht aus einer linearen Handlung, sondern eher aus einer Sammlung miteinander verbundener Geschichten. Dies verleiht dem Buch eine epische Dimension und spiegelt vielleicht die Komplexität des modernen Afghanistan wider.

    Einige dieser Geschichten haben mich tief berührt, während ich in andere weniger gut hineingefunden habe. Besonders gefallen hat mir die Geschichte, die aus der Sicht von Nabi erzählt wird, und seine Beziehung zu seinem Arbeitgeber, Mr. Wahdati. Hosseini fängt die Komplexität dieser Charaktere auf eindrucksvolle Weise ein, lässt ihre inneren Konflikte lebendig werden und ist dabei so berührend.

    Allerdings fand ich insgesamt die Vielzahl der Personen manchmal überwältigend. Irgendwann habe ich ein bisschen den Überblick verloren, was der emotionalen Tiefe des Romans etwas im Weg stand. Trotz meines Gefühls der Überfrachtung war es dennoch eine Lektüre, die ich gerne gelesen habe. Vor allem, weil das Buch mir Einblicke in das Leben und die Kultur Afghanistans gab, die ich sonst vielleicht nicht in dieser Intensität erfahren hätte.

    Im Vergleich zu Hosseinis früherem Roman Drachenläufer, den ich vor einigen Jahren gelesen habe, muss ich sagen, dass mir dieser rückblickend vielleicht einen Tick besser gefallen hat. „And the Mountains Echoed“ ist komplexer und experimenteller, aber Drachenläufer war für mich emotional zugänglicher und stringenter. Dennoch ein lesenswertes Buch, das einen tiefen Einblick in die Schicksale der afghanischen Bevölkerung gibt.

    Mein musikalischer Tipp aus Afghanistan ist die Dokumentation „Keeping the Music alive – Musikerinnen gegen die Taliban“ von Sarah El Younsi und Mandakini Gahlot über Zhora das erste weibliche Orchester Afghanistans:

    Foto: WikiCommons

    Mein Filmtipp ist „Der Film „Osama“ (2003), der unter der Regie von Siddiq Barmak entstand, der Film erzählt die Geschichte eines jungen Mädchens in Afghanistan während der Taliban-Herrschaft. Da Frauen nicht arbeiten dürfen und Männer in ihrer Familie fehlen, verkleidet ihre Mutter sie als Jungen, damit sie arbeiten kann und die Familie überleben kann. Sie nimmt den Namen „Osama“ an, doch das Versteckspiel wird zunehmend gefährlicher, als sie in die strengen Alltagsstrukturen der Taliban eintritt. Der Film zeigt die bedrückende Lage der Frauen unter den Taliban und die extreme Unterdrückung in dieser Zeit. Ein auch visuell wirklich beeindruckender Film:

    Auf meinem Blog ist bisher wenig Lektüre aus Afghanistan zu finden, ich kann euch daher keine älteren Beiträge verlinken, allerdings habe ich ein weiteres Buch auf meiner „To-Read-Liste“ das ich euch auch gern ans Herz legen möchte: „My Pen is the Wing of a Bird: New Fiction by Afghan Women“ eine Anthologie die sehr vielversprechend klingt.

    Wie hat euch mein Ausflug nach Afghanistan gefallen? Habt ihr Literatur-, Musik- oder Filmtipps aus der Region? Hier noch der link zum vorherigen Stopp Vietnam.

    Seid ihr schon gespannt auf den nächsten Stopp? Ich verrate nur so viel: wir müssen ca 15.000 KM reisen. Freu mich auf Euer Feedback.

    Sommerliche Juli Lektüre

    Mein Lesemonat Juli – der war richtig gut. Gute Mischung, ein paar Kracher waren dabei, Neuentdeckungen für mich und keine wirklichen Ausfälle.
    Wie war Euer Juli und welche Bücher hier habt ihr schon gelesen bzw möchtet ihr lesen?

    Nochmal von vorne – Dana von Suffrin erschienen im Kiepenheuer & Witsch Verlag

    Ich mochte den Roman „Noch mal von vorn“ von Dana von Suffrin sehr. Er schafft es, ein ernstes Thema leicht und humorvoll zu präsentieren. Besonders interessant war die Veranstaltung im Literaturhaus, moderiert von Sascha Chaimowicz, bei der Dana von Suffrin erklärte: „Ja, Humor ist natürlich ein Bewältigungsmechanismus, aber auch die einzige Waffe, die ich habe.“

    Dana von Suffrin, die bereits für ihren Debütroman „Otto“ (2019) ausgezeichnet wurde, erzählt in ihrem neuen Werk die Geschichte von Rosa Jeruscher. Rosa versucht, die eigene komplizierte Familiengeschichte zu rekonstruieren und die vielen Kratzer im Familien Furnier zu glätten. Die Handlung beginnt, als Rosa am Arbeitsplatz vom Tod ihres Vaters erfährt. Obwohl sie mit seinem Tod gerechnet hatte, stellt die Endgültigkeit des Abschieds vom Vaters eine bedeutende Zäsur dar – vor allem in ihrem Kopf. Jetzt muss sie sich allein mit der komplizierten Familiengeschichte auseinandersetzen.

    Erinnerungen an die heftigen Diskussionen ihrer Eltern, die sie passiv, aber aufmerksam verfolgt hat, tauchen auf: „So tat ich, was ich meistens tat: überhaupt nichts, ich bewegte mich nicht und merkte mir alles.“ Die schwierige und belastete deutsch-israelische Beziehung der Eltern lastet wie ein Felsbrocken auf der Familie.

    Dana von Suffrin verzichtet auf eine lineare Handlung und flicht fragmentarische Ereignisse aus der Weltgeschichte ein. Sie springt in die Vergangenheit, baut überlieferte Erinnerungen des Vaters und imaginierte Träume in die Handlung ein, und wechselt zurück zu Monologen nach dem Tod des Vaters. So entsteht ein vielschichtiges Bild einer Familie, deren Geschichte von persönlichen Enttäuschungen und Vorwürfen geprägt ist.

    „Später beklagte die beauftragte Kommission, dass Hitler es versäumt hatte, seinen Bleistift anzuspitzen. Er war stumpf, und eine viel zu dicke Linie wurde nun zur Grenze, im Maßstab der Karte war sie sechs Kilometer breit geraten“, heißt es in einer historischen Anekdote.

    Dana von Suffrin erzählt dieses ihre jüdische Familiengeschichte überraschend leicht, ohne Pathos, aber mit einer Affinität zum schwarzen Humor.

    Im Nachhinein, sagte meine Mutter, würde man sich an Tage, an denen etwas besonders Schlimmes oder auch etwas besonders Schönes geschah, immer so erinnern, als hätte etwas in der Luft gelegen, aber das stimmte nicht, in der Luft lag nie etwas.

    Rosa sucht nach Normalität, Unbeschwertheit und vielleicht sogar Lebensfreude. Die Autorin zeigt, wie Geschichte in uns weiterlebt und transportiert wird.
    Große Empfehlung – unbedingt lesen!

    No one is talking about this – Patricia Lockwood auf deutsch unter dem Titel „Und keiner spricht darüber“ im btb Verlag, übersetzt von Anne-Kristin Mittag

    Unser Juli Bookclub-Treffen geriet dieses Mal eher zu „No one is reading about this“ Selten habe ich erlebt, dass ein Buch so wenig Anklang fand, besonders der erste Teil, den die meisten wirr und undurchdringlich fanden. Es finden sich sonst fast immer ein paar Fans, ein paar die ein Buch gar nicht mochten und ein paar zwischendrin. Aber dieses Mal war das ungewöhnlich krass. Ich war noch eine von denen die (wie man im Foto sehen kann) durchaus ein paar interessante Absätze und Beobachtungen fand, aber auch ich als damit schon „Fan“ im Bookclub, konnte mich gerade mal zu 3 Sternen durchringen.
    Trotzdem hatten wir einen gelungenen Abend im Bookclub, und es entwickelte sich eine lebhafte Diskussion. Viele fühlten sich allerdings „zu alt“ für das Buch weil sie Twitter noch nie genutzt hatten daher insgesamt wenig Berührungspunkte mit dem Buch und seiner Protagonistin hatten.

    Patricia Lockwood beschreibt in ihrem Roman „No one is talking about this“ zwei sehr unterschiedliche Lebenswelten. Im ersten Teil geht es um eine Protagonistin, die quasi auf Twitter lebt. Sie denkt ständig darüber nach, welche witzige Bemerkung sie als nächstes twittern kann und wie jede noch so kleine Begegnung in ihrem Alltag zum nächsten viralen Tweet wird. Der zweite Teil hingegen ist sprachlich und emotional auf einer ganz anderen Ebene und hat allen, die es bis dahin geschafft haben (oder die dann nur den 2. Teil gelesen haben), tatsächlich gut gefallen.

    Bekannt wurde Patricia Lockwood durch ihr Gedicht „The Rape Joke“, das 2013 viral ging, und ihre Memoiren „Priestdaddy“, in dem sie von ihrer Jugend in einer streng katholischen Familie erzählt, in der ihr Vater durch Sondergenehmigung als Priester ordiniert wird, trotz Ehefrau und seiner drei Kinder.

    White people, who had the political educations of potatoes – lumpy, unseasoned, and biased towards the Irish – were suddenly feeling compelled to speak out about injustice. This happened once every forty years on average, usually after a period when folk music became popular again. When folk music became popular again, it reminded people that they had ancestors, and then, after a considerable delay, that their ancestors had done bad things.

    Im ersten Teil des Romans führt Lockwood uns in die Gedankenwelt einer namenlosen Protagonistin ein, die durch ihre witzigen Tweets berühmt geworden ist. Sie wird eingeladen, in Städten weltweit über „die neue Kommunikation, den neuen Informationsstrom“ zu sprechen. Der Humor und die Ironie des „Portals“ – so nennt sie das Internet – dominieren ihr Leben. Der zweite Teil des Buches verändert den Ton komplett als die Protagonistin mit einer familiären Tragödie konfrontiert wird. Plötzlich ist der vorher dominierende Humor nicht mehr ausreichend, um mit der Realität umzugehen.

    Lockwood’s Fähigkeit, die absurde und oft triviale Natur des Internets zu beobachten und zu beschreiben, ist beeindruckend. Ihre Protagonistin kämpft mit „Ironie-Vergiftung“, und ihre Gedankenwelt ist ein chaotisches Durcheinander von absurden Internet-Memen und ernsthaften Gefühlen. Der Roman ist in zwei Hälften geteilt: Die erste ist eine Studie über ein statisches Leben, das ständig in den Abgrund des „Portals“ starrt. Im zweiten Teil jedoch nimmt das Buch an Tiefe und Komplexität zu, als eine persönliche Tragödie die Protagonistin und ihre Familie trifft.

    Ein Buch das polarisiert, aber eigentlich durchweg sehr gute Kritiken bekommt. Nicht jedes Buch passt zu jede*r Leser*in.
    Da es so viele Bücher gibt, die noch warten von mir gelesen zu werden, wird es vermutlich keine weiteren Romane von Ms Lockwood für mich geben, aber auf der anderen Seite: sag niemals nie 😉

    Einige Herren sagten etwas dazu – Nicole Seifert erschienen im Kiepenheuer & Witsch Verlag

    Ich habe dieses Buch so so gerne gelesen! Eines, das endlich den Scheinwerfer auf die zu Unrecht zum großen Teil vergessenen und wieder zu entdeckenden Autorinnen richtet. Meine Leseliste ist auf jeden Fall um Welten länger geworden: Nicole Seiferts „Einige Herren sagten etwas dazu“ ist ein beeindruckendes Werk, das eine wichtige Lücke in der literarischen Aufarbeitung der Nachkriegszeit schließt. Die Autorin beleuchtet die Rolle der Schriftstellerinnen der Gruppe 47, die stets im Schatten ihrer männlichen Kollegen standen und deren Beiträge zur Literaturgeschichte ungerechtfertigt in Vergessenheit gerieten.

    Das Buch beginnt mit einem Einblick in die Strukturen und Mechanismen der Gruppe 47, die von Männern dominiert und geprägt wurde. Seifert zeigt, wie Frauen, trotz ihrer Talente und literarischen Leistungen, oft auf ihre äußere Erscheinung oder ihre Rolle als Ehefrauen oder „Tänzerinnen“ reduziert wurden. Seifert konfrontiert die sexistischen Kommentare mit den eigenen Aussagen der betroffenen Frauen, wodurch die Diskrepanz zwischen der öffentlichen Wahrnehmung und der tatsächlichen literarischen Arbeit deutlich wird.

    Bevor ich sie kennenlernte, sagte mir jemand, sei sei ein „Pummelchen““, beginnt Richter seine Beschreibung Ilse Aichingers. Tatsächlich habe er dann „eine schöne Frau“ vor sich gehabt, „die einige meiner Tagungsmitglieder so stark anzog, dass sie ganz außer sich gerieten und für meine Begriffe ein wenig an Contenance verloren.

    Nicole Seifert startet jedes Kapitel mit Zitaten von Männern und Frauen der Gruppe 47. Diese Gegenüberstellungen verdeutlichen nicht nur die unterschiedlichen Perspektiven, sondern auch die vorherrschenden Vorurteile und die systematische Ausgrenzung der Frauen. Besonders ergreifend ist die Darstellung von Ilse Schneider-Lengyel, einer vielseitigen Künstlerin, die trotz ihrer umfangreichen Bildung und ihrer einzigartigen literarischen Stimme von ihren männlichen Kollegen kaum anerkannt wurde.

    Ein weiteres starkes Kapitel widmet sich Gisela Elsner, einer Gesellschaftskritikerin, deren scharfsinnige Satiren über patriarchale Strukturen und Gewaltverhältnisse auch heute noch relevant sind. Elsner spielte bewusst mit ihrem Äußeren, um die Erwartungen der Männer zu unterlaufen und ihre eigene literarische Identität zu betonen.

    Seiferts Buch ist nicht nur eine Sammlung von Biografien und literarischen Analysen, sondern auch eine fundierte Kritik am literarischen Kanon und der Rolle, die Frauen darin spielen oder vielmehr nicht spielen dürfen. Das Vergessen von Schriftstellerinnen ist kein Zufall, sondern das Ergebnis systematischer Benachteiligung. Es ist an der Zeit, diese ungerecht behandelten Stimmen wiederzuentdecken und zu würdigen.

    Drei ostdeutsche Frauen betrinken sich und gründen den idealen Staat – Annett Gröschner / Peggy Mädler / Wenke Seemann erschienen im Hanser Verlag

    Der Titel verspricht schon einiges – und das Buch hält es auch. Was passiert, wenn eine Dramaturgin, eine Journalistin und eine Soziologin zusammenkommen, um über den idealen Staat zu philosophieren? Genau: Ein witziger, tiefgründiger und höchst unterhaltsamer Trialog!

    Die drei Frauen nehmen uns mit auf eine Reise durch ihre Gedankenwelt, gespickt mit persönlichen Anekdoten und scharfsinnigen Beobachtungen. Sie werfen einen kritischen Blick auf die Wendezeit, den heutigen Stand der deutschen Einheit und die bestehenden gesellschaftlichen Strukturen. Dabei schrecken sie nicht davor zurück, auch mal ordentlich auszuteilen – sei es gegen alte DDR-Nostalgiker oder die kapitalistische Realität im vereinten Deutschland.

    Ein zentraler Punkt des Buches ist die Frage nach der Solidarität, die in der DDR ein hohes Gut war und heute oft vermisst wird. Die Autorinnen diskutieren, wie diese verloren gegangen ist und warum sie heute wichtiger denn je ist. Besonders spannend wird es, wenn die drei sich mit einem Gläschen Wodka (oder auch mal einem Bier) in der Hand über die Möglichkeit einer besseren Gesellschaft austauschen. Man spürt regelrecht die Energie und Leidenschaft, mit der sie ihre Visionen und Ideen teilen.

    Annett Gröschner erinnert uns an den Satz von Gerhard Gundermann: „Der Trabi und der Mercedes fahren auf den Abgrund zu. Der Trabi fällt halt nur schneller runter als der Mercedes – der fliegt noch eine Weile.“ Dieses Bild benutzen sie, um den unaufhaltsamen Wandel von Systemen zu beschreiben und um die Frage zu stellen, was danach kommen könnte. Besonders beeindruckend ist ihre Überzeugung, dass Veränderungen möglich sind – nicht durch Abwickeln, sondern durch aktives Gestalten.

    Gegenüber, in der Mietwohnanlage der Deutschen Wohnen, die inzwischen Vonovia gehört, schreit einer laut und betrunken nach seiner Freundin, solche Eskapaden kann man sich hier noch leisten, anders als auf der anderen Seite der Ringbahn, wo der Kredit für die Eigentumswohnung zu mehr Disziplin und Selbstbeherrschung zwingt. Dort ist es nicht die Leber, die belastet wird, sondern das Herz, das viel Jogging (oder andere Formen der Selbstoptimierung), Arbeit, Vernetzung und späte Elternschaft managen muss.

    Peggy Mädler betont, dass Privatisierung von Wohnraum ein Verrat am Sozialstaat ist und fragt, ob die Dogmen des Kapitalismus nicht genauso fatal sind wie die des Sozialismus. Sie fordert ein weniger moralisierendes, mehr dialektisches Denken: „Das, was uns an der Dialektik so gefällt, ist diese Form von ’nach-Erkenntnis-streben‘, Widersprüche auszuhalten und zu akzeptieren, dass Dinge gleichzeitig sein können, obwohl sie sich widersprechen.“

    Die drei Autorinnen sind sich einig, dass es im Leben keine einfachen Antworten gibt und dass man stets in Bewegung bleiben muss – geistig und gesellschaftlich. Sie sehen das Leben als einen nimmer endenden Widerspruch, den man aushalten und durch den man wachsen kann.

    „Drei ostdeutsche Frauen betrinken sich und gründen den idealen Staat“ ist ein Buch, das zum Nachdenken anregt, zum Lachen bringt und den Leser immer wieder überrascht. Ich habe richtig viel gelernt. Ich kannte die DDR aus diversen Besuchen, habe aber nie dort gelebt. Habe viel nachgelesen und insbesondere den Verfassungsentwurf für die DDR 89/90 fand ich sehr spannend.

    Hier ist eine Einladung, sich auf die Widersprüche des Lebens einzulassen und aus ihnen zu lernen. Ein Buch, für alle, die sich für gesellschaftliche Fragen interessieren und die Freude an klugen, humorvollen Dialogen haben.

    Reise im Mondlicht – Antal Szerb übersetzt aus dem ungarischen von Christa Viragh, erschienen im dtv Verlag

    Antal Szerb ist eine schillernde Figur der ungarischen Literaturgeschichte. Geboren 1901 in Budapest, war er nicht nur Schriftsteller, sondern auch Literaturwissenschaftler und ein brillanter Kopf. Bevor er mit „Reise im Mondlicht“ 1937 ein Meisterwerk der Weltliteratur schuf, hatte Szerb bereits als Autor und Literaturkritiker für Aufsehen gesorgt. Seine Schriften und seine Leidenschaft für die Literatur prägten nicht nur seine Zeit, sondern beeinflussten auch Generationen nach ihm. Leider wurde sein Leben durch die Schrecken des Zweiten Weltkriegs abrupt beendet; 1945 wurde er von den Nationalsozialisten ermordet. Doch seine Werke, insbesondere „Reise im Mondlicht“, leben weiter und verzaubern Leser*innen weltweit.

    Ich habe mich von Anfang an in die Atmosphäre des Romans verliebt. Die Geschichte beginnt mit einem unglücklichen ungarischen Geschäftsmann, Mihály, der sich mit seiner Frau in Venedig auf Hochzeitsreise befindet. Diese Szenerie mag auf den ersten Blick als ein einfaches Klischee erscheinen, doch Szerb gelingt es meisterhaft, eine tiefere, vielschichtige Erzählung zu entwickeln. Mihály, der sich von seiner Vergangenheit befreien möchte, wird bald von Erinnerungen eingeholt, die ihm zeigen, dass er seine eigene Geschichte und die seiner Mitmenschen nie ganz durchdringt und es stets ein tiefer liegendes Geheimnis gibt.

    Was mich besonders an diesem Roman gefesselt hat, ist Szerbs brillante Art, Charaktere zu zeichnen und insgesamt mochte ich den Ton des Buches sehr. Mihály, der sich als Außenseiter fühlt, wird in Wirklichkeit von seiner Frau und den Menschen um ihn herum oft falsch eingeschätzt. Die scharfsinnigen Beobachtungen und die subtile Ironie machen das Buch zu einem Werk in dem ich aus dem Markieren spannender Sätze gar nicht mehr rauskam. Es ist eine Geschichte über die Suche nach Identität, über das Spannungsfeld zwischen Konvention und Rebellion, zwischen Mystik und Rationalität. Szerb verbindet Humor mit Tragik, und das auf eine Art und Weise, die mich immer wieder zum Staunen brachte.

    Der Roman enthält eine Reihe von seltsamen Zufällen und Wendungen, die fast an einen moderne Schelmenroman oder Road Movie erinnern. Warum es umso erstaunlicher ist, wie gut mir dieser Roman gefallen hat, denn beides sind eigentlich nicht unbedingt meine Lieblings Themen in Romanen.

    „Reise im Mondlicht“ ist ein Buch, das mich nachhaltig beeindruckt hat, und ich kann gar nicht anders, als es allen, die ich kenne, zu empfehlen. Lest dieses Buch! Ich würde mich freuen, wenn Antal Szerb noch viel mehr Menschen ein Begriff wäre. Besonders freue ich mich schon auf Szerbs Fantasy-Roman „Die Pendragon Legende“, der mir wärmstens ans Herz gelegt wurde.

    Die seligen Jahre der Züchtigung – Fleur Jaeggy aus dem Italienischen übersetzt von Barbara Schaden, erschienen im Suhrkamp Verlag

    Diese kleine Novelle hat es in sich“ „Die seligen Jahre der Züchtigung“ von Fleur Jaeggy wurde von Barbara Schaden übersetzt aus dem Italienischen übersetzt und spielt in einem Mädcheninternat im Appenzell der sechziger Jahre. Jaeggy schafft es, in einer relativ schmalen, aber unglaublich dichten Erzählung eine Atmosphäre zu erzeugen, die mich ziemlich in seinen Bann gezogen hat.

    Die Geschichte wird von einer vierzehnjährigen Ich-Erzählerin erzählt, deren Alltag von Gehorsam und Disziplin geprägt ist. Die heitere Landschaft vor den Fenstern des Internats steht im krassen Gegensatz zu der strengen Ordnung des Hauses. Die Erzählerin verbringt stundenlange, einsame Spaziergänge in dieser idyllischen Umgebung. Doch dann betritt Frédérique die Szene – schön, streng und voller Überdruss. Frédérique hat eine gewisse Aura um sich, etwas Leises und Schreckliches, das die Erzählerin sofort fasziniert.

    Wie man sieht, hatte ich damals noch nicht die Kunst des Vermittelns gelernt, ich glaubte noch, um etwas zu bekommen, müsse man geradewegs das Ziel ansteuern; in Wahrheit aber sind es nur die Ablenkungen, die Unbestimmtheit, der Abstand, die uns dem Vorhaben näherbringen – das Ziel trifft uns, nicht umgekehrt.

    Die Beziehung zwischen den beiden Mädchen ist komplex und tiefgründig. Die Erzählerin fühlt sich immer stärker zu Frédérique hingezogen, nicht nur wegen ihrer Schönheit, sondern auch wegen ihrer Disziplin und Perfektion. Es ist fast wie eine morbide Anziehungskraft, die sie nicht loslässt. Erst viele Jahre später kann die Erzählerin ihre abgründige Liebe zu Frédérique in Worte fassen.

    Jaeggy beschreibt diese düstere, fast surreale Welt mit einer solchen Präzision und Klarheit, dass man als Leser*in förmlich die beklemmende Atmosphäre des Internats spüren kann. Die Landschaft ist dunkel, die Stimmung melancholisch, und die Beziehungen zwischen den Mädchen sind von einer „keuschen Promiskuität“ geprägt, wie Jaeggy es nennt.

    In den Internaten, zumindest in denen, die ich kennengelernt habe, wurde eine senile Kindheit in die Länge gezogen, bis an die Grenze des Schwachsinns.

    Was mich besonders an diesem Buch fasziniert hat, ist Jaeggys Fähigkeit, komplexe Gefühle und Stimmungen in kurzen, prägnanten Sätzen einzufangen. Ihre Prosa ist kühl und präzise, fast chirurgisch, und sie schafft es dennoch, eine tiefe emotionale Wirkung zu erzielen. Man merkt, dass Jaeggy selbst eine Art Einsiedlerin ist, die sich in ihre eigene Welt zurückzieht und die vielen Spaziergänge in der Novelle und der Anfang der Geschichte lassen auch auf eine Hommage an Robert Walser schließen.

    Eine Geschichte über Einsamkeit, Disziplin und die unergründliche Anziehungskraft zwischen zwei jungen Mädchen. Wer sich auf dieses Buch einlässt, wird mit einer tiefgründigen und bewegenden Lektüre belohnt, die man so schnell nicht vergisst.

    Faserland – Christian Kracht erschienen im S. Fischer Verlag

    Mich hat das Buch etwas ratlos zurückgelassen. Normalerweise gehe ich dann davon aus, dass ich irgendetwas nicht verstanden habe, besonders wenn es von Menschen, deren Geschmack und Empfehlungen ich schätze, hoch gelobt wird. Insgesamt bin ich auch kein großer Fan von Roadmovies (wie nennt man das bei Büchern? Roadbook?) und das ständige Erbrechen des Protagonisten war schwer zu ertragen. Aber jetzt möchte ich eine Barbour-Jacke (ich hatte mal eine Wachsjacke von Marks & Spencer, die leider bei einem Umzug verloren ging).

    Das Buch schildert die abgründigen Seiten des Party-Deutschlands – von Fisch-Gosch, Champagner und Scampis auf Sylt, über bunte Pillen, schwule Burschenschaftler, Models und Yuppies in Hamburg, Frankfurt und Heidelberg, vom P1 in München und Parties in der Schweiz. Diese unterhaltsam klingenden Geschichten werden oft als Popliteratur bezeichnet, aber ist „Faserland“ eigentlich Popliteratur? Die oberflächliche Zärtlichkeit, mit der Kracht die Dinge beschreibt, scheinen das Leiden an der Welt des Protagonisten auszudrücken. Die Welt ekelt ihn an und er erbricht sich pausenlos.

    Das Buch ist eine Topographie des Hedonismus im Verfallsstadium, wobei Kracht prätentiös, aber durchaus stilsicher vorgeht. „Faserland“ ist ein sehr deutsches Buch, denn es dreht sich um die alles durchdringende Angst. Diese Dynamik treibt die Erzählung voran, gekoppelt mit einem Hass auf dieses Land, der auf eine bislang kaum gesehene Weise in eine kosmopolitische und episch ergiebigere Form gegossen wird: Es ist ein Buch des Ekels.

    Wie auch schon in Krachts Untergangsphantasie „1979“ ist „Faserland“ die Geschichte einer Reise, die im Verschwinden oder in der Selbstauslöschung endet. Der Ekel vor der Welt ist auch ein Ekel vor sich selbst, was dem markenbewussten Nihilismus des Buchs einen poetischen, fast schon ethischen Kern verleiht. Krachts Weg, sich der Welt zu nähern, ist die Flucht.
    Seine permanenten Vorurteile und Ablehnungen scheinen seine Art zu sein sich die Welt zu erschließen. Tief in seinem Herzen ist der Protagonist wohl ein Romantiker.

    Also zahle ich dem Taxifahrer seinen Fahrpreis und gebe ihm noch ein dickes Trinkgeld, damit er in Zukunft weiß, wer der Feind ist.

    Krachts Sehnsucht nach der Schauspielerin Isabella Rosselini beschreibt die feine Distanz, mit der er sich die Welt vom Leib hält, obwohl er sich so danach sehnt: „Ich meine, ich berühre sie nicht, ich denke auch nicht direkt an sie, sondern lasse sie am Rand meiner Gedanken auftauchen, ohne ihr näherzutreten oder mit ihr zu sprechen, ohne sie anzusehen.“

    Es ist eine Reise ohne offensichtlichen Grund, ein Vaterland, das er wie von außen betrachtet und das ihm dabei immer mehr anekelt. Freunde mit mottenzerfressenen Pullis oder grünen Barbourjacken tauchen auf und verschwinden wieder. Erinnerungen verblassen im Taumel aus Alkohol und Drogen. Das Bild, das er von Deutschland zeichnet, ist präzise und einseitig zugleich, und spiegelt eine Wahrheit wider: das vom Ende einer Welt, noch bevor die Mehrheut überhaupt erkannte, dass diese Welt überhaupt existierte – geschweige denn, dass sie bereits wieder vorbei war. Kracht hat eine Erzählung geschaffen, die einem mit das Gefühl von totaler existenzieller Verlassenheit vermittelt.

    The Driver Seat – Muriel Spark auf deutsch unter dem Titel „Töte Mich“ im Diogenes Verlag erschienen, übersetzt von Matthias Fienbork

    Ich habe gerade Muriel Spark’s „The Driver’s Seat“ gelesen und bin immer noch völlig fasziniert von dieser kurzen Geschichte. Es ist ein atemloses, spannendes, hypnotisches und verrücktes Werk, das mich von Anfang bis Ende gefesselt hat.

    Die Geschichte beginnt mit Lise, einer eher unscheinbaren Frau, die eines Tages aus ihrem Büro spaziert, sich ein auffälliges neues Outfit zulegt und einen mädchenhafteren Tonfall annimmt. Sie macht sich auf den Weg zum Flughafen, um in den Süden zu fliegen. Im Flugzeug nimmt sie Platz zwischen zwei Männern: Der eine ist erfreut über ihre Gesellschaft, der andere zutiefst beunruhigt. So beginnt eine unheimliche Reise in die dunkleren Bereiche der menschlichen Natur.

    Muriel Spark, die Autorin dieses faszinierenden Romans, wurde 1918 in Schottland geboren. Sie war 2x shortlisted für den Booker Prize, hat ihn aber leider nie gewonnen.Ihr Erzählstil ist knapp und drängend, ma ist sofort in einer extravaganten Szene, die die fragile, extravagante Natur von Lise, einer 36-jährigen Frau, zeigt. Die Geschichte nimmt immer düsterere Wendungen, und früh wird uns klar, dass Lise ein schreckliches Schicksal ereilen wird. Diese düstere Geschichte entfaltet sich zu einer unerbittlichen Marschroute in den Tod.

    Her lips are slightly parted: she, whose lips are usually pressed together with the daily disapprovals of the accountants‘ office where she has worked continually, except for the months of illness, since she was 18, that is to say, for 16 years and some months. Her lips, when she does not speak or eat, are normally pressed together like the ruled line of a balance sheet, marked straight with her old-fashioned lipstick, a final and judjing mouth, a precision instrument.

    „The Driver’s Seat“ ist ein Buch voller Grausamkeit und enthält nur wenige flüchtige Momente des Mitgefühls. Es ist kaum mehr als 100 Seiten lang, doch jede Seite ist randvoll mit intensiven, verstörenden Szenen, die mich total fasziniert haben. Absolut verrückte Geschichte.
    Wer nach einer packenden und ungewöhnlichen Lektüre sucht, liegt hier genau richtig. Muriel Spark hat ein Meisterwerk geschaffen, das trotz seiner Dunkelheit und Absurdität tief beeindruckt.
    Es gibt auch eine faszinierende Verfilmung mit Elizabeth Taylor in der Hauptrolle namens „Identikit“ aus dem Jahr 1974.

    Ich mach mich jetzt auf die Suche nach weiteren Büchern von Ms Spark. Kannte bislang nur „The Prime of Miss Jean Brodie“ – welche ihrer Bücher könnt ihr mir empfehlen?

    April by the Book

    Willkommen zu meinem Lesemonat April! Der war wirklich spannend, vor allem wegen meiner Reise nach Neapel und Pompeji. Aber auch im Kopf ging’s rund: Nele Pollatschek hat mich nach Oxbridge entführt, ich hab Zeit in Timor Kaleyas Sanatorium verbracht und eine Menge Einblicke in das Kastensystem der USA gelernt. Ich ließ mich von der poetischen Sprache Marie-Luise Kaschnitz‘ verzaubern habe über die die Sternstunden der Menschheit nachgedacht. Hier wieder ein kurzer Abriss meines Lesemonats in alphabetischer Reihenfolge:

    Pompeii – Mary Beard auf deutsch unter dem gleichen Titel im Fischer Verlag erschienen, übersetzt von Ursula Blank-Sangmeister

    Mary Beards Buch „Pompeii: The Life of a roman town“ ist ein faszinierender und humorvoller Streifzug durch die Stadt und die Geschichte. Sie liebt es gängige Annahmen über Pompeij zu widerlegen und kann dabei im Text ordentlich austeilen anderen Kolleg*innen gegenüber.

    Beard betont immer wieder die Grenzen unseres Wissens und die Unbeständigkeit unserer Konstrukte. Sie widerlegt die Vorstellung, dass Pompeji eine „eingefrorene Stadt in der Zeit“ sei, wie es oft behauptet wird. Vielmehr zeigt sie auf, dass Pompeji von verschiedenen historischen Ereignissen geprägt wurde, angefangen von einem verheerenden Erdbeben bis hin zu Plünderungen und Bombardierungen im Zweiten Weltkrieg.

    Das Buch bietet einen überraschenden Blick hinter die Kulissen von Pompeji und beleuchtet das tägliche Leben der Menschen, ihre Häuser, ihre Bäder und sogar ihre Bordelle. Beard führt uns durch die Straßen, in die Häuser und öffentlichen Gebäude und lässt uns die Stadt mit all ihren Gerüchen und Geräuschen erleben.

    In fact, a marriage was normally contracted, as the Romans put it, ‘by practice’: that is, in our terms, ‘by cohabitation’. If you lived together for a year, you were married.

    Besonders bemerkenswert ist Beards Fähigkeit, komplexe Themen auf eine zugängliche und unterhaltsame Weise zu präsentieren. Man kann förmlich spüren, wie sie durch die Ruinen von Pompeji spaziert und uns dabei mit ihrem Wissen und ihrer Begeisterung mitreißt.

    Lästige Liebe – Elena Ferrante erschienen im Suhrkamp Verlag, übersetzt von Karin Krieger

    „Elena Ferrante“ ist das Pseudonym einer italienischen Schriftstellerin, deren wahre Identität bis heute ein gut gehütetes Geheimnis ist. Ihre Romane setzen sich häufig mit Themen wie weiblicher Freundschaft, Familienbeziehungen und dem Leben im südlichen Italien auseinander.

    Ihr Debütroman „Lästige Liebe“ (Originaltitel: „L’amore molesto“), veröffentlicht im Jahr 1992, ist eine eindringliche, ziemlich beklemmende Geschichte über eine Frau namens Delia, die nach dem mysteriösen Tod ihrer Mutter Amalia deren Tagebuch entdeckt. Während Delia versucht, die Wahrheit über den Tod ihrer Mutter aufzudecken, taucht sie immer tiefer in deren geheimnisvolle Vergangenheit ein.

    Betritt man die Wohnung eines vor kurzem verstorbenen Menschen, fällt es schwer, sie für unbewohnt zu halten.

    „Lästige Liebe“ ist ein Roman, der mich mit seiner düsteren Atmosphäre und den komplexen Charakteren stellenweise durchaus in seinen Bann ziehen konnte, bin aber nicht wirklich warm geworden mit den Figuren und ich war bei der Lektüre eigentlich abwechseln verwirrt oder ein bißchen verstört. Durchaus ein gelungener Debütroman, Frau Ferrante kann wirklich schreiben – aber ich kann nicht sagen, dass ich unbändige Lust bekommen habe noch weitere Romane von ihr zu lesen.

    Pompeij – Robert Harris im Heyne Verlag erschienen, übersetzt von Christel Wiemken

    Robert Harris‘ Pompeij ist ein faszinierender historischer Roman, der des verheerenden Ausbruchs des Vesuvs und der Zerstörung der Stadt erzählt. Mit einer Mischung aus akribischer historischer Recherche und fesselnder Erzählung entführt Harris die Leser in die Welt des antiken Roms und verwebt geschickt Fakten mit Fiktion.

    Die Geschichte folgt dem jungen Ingenieur Marcus Attilius Primus, der nach Pompeji kommt, um die Wasserleitungen der Stadt zu reparieren. Doch bald entdeckt er Anzeichen für ungewöhnliche Aktivitäten des Vesuvs und wird in ein Netz aus Intrigen, Machtspielen und persönlichen Dramen verstrickt. Während Attilius verzweifelt versucht, die Bewohner vor der bevorstehenden Katastrophe zu warnen, bahnt sich das Unheil unaufhaltsam an.

    What is leadership, after all, but the blind choice of one route over another and the confident pretense that the decision was based on reason

    Harris gelingt es richtig gut, die Atmosphäre und das Leben im antiken Pompeji zum Leben zu erwecken. Durch seine detaillierte Darstellung der Stadt, ihrer Bewohner und ihrer Bräuche entsteht ein lebendiges Bild dieser Tage und es hat was sehr beklemmendes wenn man schon von der ersten Seite an weiß, dass sehr bald unweigerlich eine Katastrophe passieren wird.

    Man spürt die intensive Recherche, die in den Roman eingeflossen ist, und die Liebe zum Detail, mit der Harris die Welt von Pompeji zum Leben erweckt.

    „Pompeji“ ist ein packender historischer Roman, der nicht nur unterhält, sondern auch zum Nachdenken anregt. Er wirft Fragen nach der Natur der Macht, dem Verhalten in Krisensituationen und der Fragilität menschlicher Existenz auf.

    Heilung – Timon Karl Kaleyta erschienen im Piper Verlag

    Ein Sanatoriumsroman kann wie eine Reise in eine unbekannte Welt sein, eine Welt, in der die Grenzen zwischen Realität und Fiktion verschwimmen und der Leser selbst zum Mitreisenden wird. Timon Karl Kaleytas Roman „Heilung“ ist eine solche Reise, die den Leser in die verschneiten Berge des San Vita entführt, einem Ort, der mehr Geheimnisse birgt, als man auf den ersten Blick vermuten würde.

    Die Geschichte dreht sich um einen namenlosen Protagonisten, der plötzlich von Schlaflosigkeit geplagt wird und sich auf eine Reise der Selbstfindung begibt. Seine Frau schickt ihn in das exklusive San Vita, nicht um eine Krankheit zu heilen, sondern um ein diffuses Unbehagen zu vertreiben. Unter der Leitung von Professor Trinkl durchläuft er unkonventionelle Behandlungsmethoden, die eher an ein Abenteuer als an eine medizinische Therapie erinnern. Doch bald schon bricht er aus dem engen Korsett des Sanatoriums aus und findet sich auf dem Bauernhof seines Jugendfreundes Jesper wieder, wo er eine ganz andere Art der Heilung erfährt.

    Was diesen Roman so faszinierend macht, ist die Atmosphäre der Ambiguität, die er schafft. Kaleytas Erzählstil lässt bewusst viele Fragen offen, und genau das macht den Reiz des Romans aus. Man wird als Leser dazu eingeladen, selbst zu interpretieren und zu reflektieren, anstatt alle Antworten serviert zu bekommen.

    Besonders beeindruckend ist die Art und Weise, wie Kaleytas die Themen Männlichkeit und Selbstfindung behandelt. Anders als viele zeitgenössische Autoren, die sich in autofiktionalen Werken in endlosen Selbstreflexionen verlieren, schlägt Kaleytas einen erfrischend anderen Weg ein. Sein Protagonist ist kein klassischer Held, sondern ein Durchschnittsmensch, der sich in einer Welt voller Widersprüche und Ambivalenzen verliert. Es ist diese Alltäglichkeit, die den Roman so zugänglich und gleichzeitig so tiefgründig macht.

    Auch die Settings, sei es das exklusive Sanatorium oder der idyllische Bauernhof, sind meisterhaft inszeniert und tragen zur Atmosphäre des Romans bei. Man fühlt sich geradezu, als würde man selbst durch die verschneiten Berge streifen oder den Morgentau auf den Feldern spüren.

    Ins San Vita kommen Menschen, die wissen, dass sie gesund sind. Sie haben bereits die besten Ärzte der Welt aufgesucht. Und nun wollen sie von uns bestätigt bekommen, dass auch darüber hinaus alles in Ordnung ist. Sie wollen, wie soll ich sagen, von einem unguten Gefühl befreit werden, von einem Unbehagen, dass sie belastet.

    Natürlich hat der Roman auch seine Schwächen. Einige Passagen wirken etwas überkonstruiert, und der manierierte Erzählstil mag nicht jedermanns Geschmack treffen. Doch gerade diese Unvollkommenheiten verleihen dem Roman eine gewisse Authentizität und machen ihn zu einem echten Erlebnis.

    Insgesamt hat mir „Heilung“ von Timon Karl Kaleytas außerordentlich gut gefallen. Die unkonventionelle Erzählweise, die fesselnde Atmosphäre und die tiefgründigen Themen haben mich von der ersten bis zur letzten Seite in ihren Bann gezogen. Wer gerne auf literarische Entdeckungsreise geht und sich von einem Roman überraschen lassen möchte, dem kann ich „Heilung“ nur wärmstens empfehlen.

    Orte / Gedichte – Marie-Luise Kaschnitz erschienen im Insel bzw Suhrkamp Verlag

    Ich bin so so glücklich diese wundervolle Autorin für mich entdeckt zu haben. Ein absoluter Zufallsfund aus dem Bücherschrank, den ich nach einem Gedicht gesehen bei @buddenbohm aufschlug und nicht mehr weglegen konnte.

    In Marie-Luise Kaschnitz‘ Werk „Orte“ begeben sich Leser auf eine faszinierende Reise durch die Landschaften der menschlichen Seele. Kaschnitz, eine der bedeutendsten deutschen Schriftstellerinnen des 20. Jahrhunderts, verwebt in diesem Werk auf meisterhafte Weise poetische Sprache mit tiefgründigen Einblicken in die menschliche Existenz.

    Marie-Luise Kaschnitz wurde am 31. Januar 1901 in Karlsruhe, Deutschland, geboren. Sie entstammte einer wohlhabenden Familie und erhielt eine umfassende Bildung, die ihre Liebe zur Literatur und zum Schreiben förderte. Ihr Schaffen umfasst eine Vielzahl von Gedichten, Erzählungen, Essays und Romanen. Kaschnitz‘ Werke zeichnen sich durch eine klare, prägnante Sprache aus, die oft existenzielle Themen wie Vergänglichkeit, Einsamkeit und die Suche nach Identität behandelt.

    Ihr literarisches Schaffen erstreckte sich über mehrere Jahrzehnte, in denen sie eine Vielzahl von Preisen und Auszeichnungen erhielt, darunter den Georg-Büchner-Preis im Jahr 1955. Marie-Luise Kaschnitz verstarb am 10. Oktober 1974 in Rom, hinterließ jedoch ein bedeutendes Erbe in der deutschen Literaturgeschichte.

    Paris 1939, und wie töricht und glücklich wir dort sind. Wie wir die in den Buchhandlungen ausliegenden pazifistischen Bücher, die Späße der Goliarden auf den Straßen für ein Zeichen der Überlegenheit nehmen, wie wir selbst, aus der Kaserne Deutschland für kurze Zeit entlassen, gelöst umhergehen, fast tanzend in unserem lateinischen Viertel, im Jardin du Luxembourg und die Seine entlang.

    „Orte“ ist eine Sammlung von Texten, die die Vielschichtigkeit menschlicher Erfahrungen und Emotionen erkunden. Kaschnitz führt die Leser durch metaphorische Landschaften, in denen sie die Untiefen des menschlichen Geistes erkunden. Jeder Ort, den sie beschreibt, ist nicht nur ein geografischer Ort, sondern auch ein Zustand des Bewusstseins.

    Die Erzählungen in „Orte“ sind oft fragmentarisch und lassen Raum für Interpretation. Kaschnitz spielt mit Symbolen und Bildern, um tiefe emotionale Resonanzen zu erzeugen. Sie beschreibt verlassene Orte, einsame Landschaften und verträumte Szenerien, die eine Reflexion des inneren Zustands der Protagonist*innen sind.
    Kaschnitz‘ Sprache ist von einer tiefen Melancholie und einer unbestreitbaren Schönheit geprägt. Jedes Wort ist sorgfältig gewählt, jede Beschreibung ist kunstvoll ausgearbeitet.

    Die Gedichte von Marie-Luise Kaschnitz sind oft von einer tiefen, introspektiven und existenziellen Stimmung geprägt. Ihre Poesie zeichnet sich durch eine präzise und zugleich poetische Sprache aus, die komplexe emotionale Zustände und philosophische Themen erforscht. Kaschnitz‘ Werke reflektieren häufig Themen wie Vergänglichkeit, Einsamkeit, Verlust und die Suche nach Sinn.

    Dear Oxbridge – Nele Pollatschek erschienen im Galiani Verlag

    Nele Pollatscheks „Dear Oxbridge“ bietet einen faszinierenden Einblick in die Welt der britischen Elite-Universitäten Oxford und Cambridge. Als langjährige Studentin dieser renommierten Institutionen beleuchtet Pollatschek nicht nur das akademische Leben, sondern wirft auch einen Blick hinter die Kulissen der britischen politischen Elite, die maßgeblich den Brexit beeinflusst hat.

    Das Buch beginnt mit einer tragikomischen Pointe, als Pollatschek am Morgen des Brexit-Votums ihre Studienschulden begleichen kann, jedoch nicht aus Freude über den Ausgang der Abstimmung, sondern aus wirtschaftlicher Notwendigkeit. Von diesem Ausgangspunkt aus reflektiert sie über die Entstehung des Brexit und die Rolle der politischen Klasse, die von den Eliteuniversitäten geformt wird.

    Pollatschek beschreibt Oxbridge als Symbol für Reichtum, Elite und Macht. Sie zeigt auf, wie diese Institutionen ein Milieu schaffen, das von seinen eigenen Privilegien überzeugt ist und diese über Generationen hinweg weitergibt. Dabei deckt sie auch die dunklen Seiten dieser Welt auf, wie die elitären Clubs und die Kultur der Abgeschlossenheit und menschenverachtenden Praktiken.

    Trotz dieser kritischen Betrachtung ist Pollatschek jedoch nicht verbittert. Sie zeigt eine tiefe Zuneigung zu Großbritannien und seinen Universitäten, insbesondere zu der Leidenschaft für Wissen und Lehre, die dort herrscht. „Dear Oxbridge“ kann daher auch als eine Art universitärer Coming-of-Age-Text betrachtet werden, der neben dem Brexit vor allem Pollatscheks eigene intellektuelle Reifung thematisiert.

    Der Politikertyp, der aus Oxbridge kommt, der vorher natürlich schon in Eton war, also Menschen wie David Cameron und Boris Johnson, das ist jemand, der immer schon alle Privilegien hatte, der immer schon etwas Besseres war, und der gleichzeitig gar nicht weiß, dass er sich das nicht erarbeitet hat, sondern dass das einfach ein Privileg ist, dass das einfach von Geburt an da ist. Und weil die vermehrt denken: Boah, das habe ich mir alles erarbeitet, das verdiene ich, kommt daraus eine Gnadenlosigkeit, also der Gedanke, dass diejenigen, die das nicht haben, was man selber hat, es auch nicht verdienen.

    Das Buch besteht aus einer Reihe locker verbundener Essays, die humorvoll und pointiert geschrieben sind. Es offenbart Risse und Widersprüche in der britischen Gesellschaft und bietet gleichzeitig ein warmes Plädoyer dafür, immer wieder zuzuhören und die Menschlichkeit in den Diskussionen zu bewahren.

    Ein großartiges Buch das ich sehr gerne gelesen habe und das nicht nur Einblicke in die Welt der Eliteuniversitäten bietet, sondern auch wichtige Fragen zur gesellschaftlichen und politischen Entwicklung Großbritanniens aufwirft. Wer verstehen möchte, was hinter den Türen von Oxbridge passiert und warum Großbritannien weiterhin von Bedeutung ist, sollte dieses Buch lesen.

    Caste – The Origins of our Discontents – Isabel Wilkerson auf deutsch unter dem Titel „Kaste – Die Ursprünge unseres Unbehagens“ im Kjona Verlag erschienen, übersetzt von Jan Wilm

    Isabel Wilkinsons „Kaste – Die Ursprünge unseres Unbehagens“ war mein Hörbuch im April, es wird von der New York Times als das bisher wichtigste Sachbuch des 21. Jahrhunderts gelobt. In ihrer Analyse betrachtet Wilkerson das System der Kaste als eine universelle Grammatik der Unterdrückung, die düstere Kontinuitäten wie Polizeigewalt, Wahlunterdrückung und Bildungsungleichheiten aufdeckt. Sie sieht wenig Platz für hoffnungsvolle Zukunftsszenarien, insbesondere in einer Welt nach Trump, in der die Frage „Weißsein oder Demokratie?“ im Mittelpunkt steht.

    Radical empathy, on the other hand, means putting in the work to educate oneself and to listen with a humble heart to understand another’s experience from their perspective, not as we imagine we would feel. Radical empathy is not about you and what you think you would do in a situation you have never been in and perhaps never will. It is the kindred connection from a place of deep knowing that opens your spirit to the pain of another as they perceive it.

    Empathy is no substitute for the experience itself. We don’t get to tell a person with a broken leg or a bullet wound that they are not in pain. And people who have hit the caste lottery are not in a position to tell a person who has suffered under the tyranny of caste what is offensive or hurtful or demeaning to those at the bottom. The price of privilege is the moral duty to act when one sees another person treated unfairly. And the least that a person in the dominant caste can do is not make the pain any worse.

    Obwohl Wilkerson das Konzept der Kaste auf das gesamte gesellschaftliche Gefüge der USA anwendet, zeigt sich, dass dieses Konzept manchmal zu starr ist und den realen Fortschritten der Bürgerrechtsbewegung sowie einem langsamen, aber stetigen gesellschaftlichen Wandel entgegensteht.

    Trotzdem präsentiert Wilkerson am Ende ihres Buches ein hoffnungsvolles Konzept der radikalen Empathie. Durch ein konsequentes Denken an der Stelle des Anderen hält sie eine Welt ohne Kaste grundsätzlich für möglich. Dieser Ansatz lässt Raum für Hoffnung und zeigt einen Weg auf, wie eine gerechtere und empathischere Gesellschaft erreicht werden könnte.

    Vom Zauber des Untergangs – Gabriel Zuchtriegel erschienen im Propyläen Verlag

    Gabriel Zuchtriegels Buch „Vom Zauber des Untergangs war die perfekte vorbereitende Reiselektüre auf meinen Besuch in Pompeij letzte Woche. Das Buch bietet nicht nur einen faszinierenden Einblick in die archäologischen Schätze Pompejis, sondern spannt auch einen Bogen von der Antike bis in die Gegenwart.

    Gabriel Zuchtriegel, ein 42-jähriger Archäologe leitet seit 2021 den Archäologiepark Pompeji in Italien. Sein Buch reflektiert nicht nur die Geschichte der antiken Stadt, sondern wirft auch einen neuen Blick auf ihre Bedeutung für unsere heutige Zeit. Als ich durch die gut erhaltenen Überreste von Garküchen, Sklavenzimmern und Tempeln wanderte, wurde mir klar, dass diese vergangenen Zivilisationen mehr mit unserer Gegenwart zu tun haben, als wir oft glauben.

    Zuchtriegel beschreibt in seinem Buch nicht nur die archäologischen Ausgrabungen und Restaurierungen, sondern auch die neuen Forschungsergebnisse, die ständig ans Licht kommen. Dabei schlägt er immer wieder eine Brücke zwischen der antiken Welt und unserer modernen Gesellschaft. Er stellt Fragen nach dem Wandel der Gesellschaft und der Bedeutung von Kultur und Erbe für unsere Identität.

    Während man die beeindruckenden Überreste der antiken Villen und Theater bewundert, kommt man nicht umhin, darüber nachzudenken, wie sich das Leben in Pompeji vor dem verheerenden Ausbruch des Vesuvs abspielte. Doch Zuchtriegel erinnert uns daran, dass Pompeji nicht nur eine historische Stätte ist, sondern auch eine Quelle der Inspiration und Reflexion für unsere heutige Zeit.

    Zuchtriegels Buch ist nicht nur eine Sammlung von Fakten und Daten über Pompeji, sondern auch eine persönliche Reise durch die Geschichte und Kultur einer vergangenen Zivilisation. Seine Leidenschaft für die Archäologie und sein Engagement für den Schutz und die Bewahrung des kulturellen Erbes sind in jedem Wort spürbar und ansteckend.

    Gibt es auch heute Sachverhalte, von denen zukünftige Generationen sagen werden, dass uns dafür die Begriffe fehlten? Und welche könnten das sein?

    Pompeji ist nicht nur eine historische Stätte, sondern auch ein Symbol für die Vergänglichkeit des Lebens und die Notwendigkeit, unser kulturelles Erbe zu schützen und zu bewahren.

    Gabriel Zuchtriegel lädt uns ein, Pompeji mit neuen Augen zu sehen und die versteckten Geschichten und Geheimnisse dieser faszinierenden antiken Stadt zu entdecken. Eine Lektüre, die nicht nur für Archäologen und Geschichtsinteressierte, sondern für alle, die sich für die menschliche Geschichte und Kultur interessieren, von Interesse ist.

    Sternstunden der Menschheit – Stefan Zweig erschienen im S. Fischer Verlag

    Stefan Zweigs „Sternstunden der Menschheit“ ist ein zeitloses Meisterwerk, das die Leser auf eine faszinierende Reise durch die Geschichte menschlicher Errungenschaften führt. Mit seiner unvergleichlichen Erzählkunst fängt Zweig vierzehn historische Momente ein, die als Sternstunden der Menschheit gelten können.

    Von bedeutenden Persönlichkeiten wie Napoleon und Dostojewski bis hin zu wagemutigen Entdeckern und begabten Künstlern erzählt Zweig von den wegweisenden Ereignissen, die die Geschichte maßgeblich geprägt haben. Jeder dieser Augenblicke wird von Zweig mit einer novellistischen Intensität und einem tiefen Verständnis für die menschliche Natur dargestellt.

    Immer sind Millionen Menschen innerhalb eines Volkes nötig, damit ein Genius entsteht, immer müssen Millionen müßige Weltstunden verrinnen, ehe eine wahrhaft historische, eine Sternstunde der Menschheit in Erscheinung tritt.

    Durch Zweigs meisterhafte Erzählungen werden die Leser in die Atmosphäre und die Bedeutung dieser historischen Momente hineingezogen. Man spürt die Spannung von Napoleons Niederlage in Waterloo, erlebt die Aufregung der Entdeckung Kaliforniens und fühlt die Erleichterung von Dostojewskis Begnadigung.

    „Sternstunden der Menschheit“ ist mehr als nur eine Sammlung von Geschichten – es ist eine Hommage an die Menschheit und ihre Fähigkeit, in entscheidenden Momenten über sich hinauszuwachsen. Stefan Zweigs Werk bleibt auch nach 125 Jahren ein unverzichtbarer Bestandteil der Weltliteratur und fasziniert weiterhin Leser auf der ganzen Welt.

    Das war insgesamt ein richtig guter Lesemonat. Fast durchweg Bücher, denen ich 4-5 Sterne gegeben habe, bis auf Elena Ferrante auch alles Autor*innen die ich definitiv wieder lesen würde.

    Was waren Eure Highlights im April und konnte ich euch auf das eine oder andere Buch hier Lust machen? Freu mich von Euch zu hören.

    Januar by the Book

    Im frostigen Januar tauchte ich tief ein in die Welt der Bücher die mir eine gemütliche Flucht vor der winterlichen Kälte boten. Mit Barbara Kingsolver lernte ich unfassbar viel über die Opioid Krise in den USA, Naomi Aldermans blickte auf Tech Milliardäre, Macht und Gesellschaft, mit Haruki Murakamis reiste ich in ein faszinierendes Paralleluniversum, während Cho Nam-Joo mich mit ihrem Blick auf die südkoreanische Gesellschaft nachdenklich stimmte. Hörbücher über Caspar David Friedrich und gruselige Leuchttürme komplettierten meine literarische Reise, die mich von der Ostsee über Dresden bis hin zu den Weiten der USA führte. Das war ein richtig guter Lese Monat mit gleich mehreren 5 Sterne Büchern und keinem einzigen Ausfall – so mag ich das.

    Jetzt wieder wie gewohnt in alphabetischer Reihenfolge durch den Lesemonat Januar:

    The Future – Naomi Alderman erschienen im Heyne Verlag übersetzt von Barbara Ostrop

    Ich habe „The Future“ inhaliert und innerhalb von 36 Stunden beendet. Was Bücher angeht ist 2024 richtig großartig bisher. Ich werde versuchen, hier nicht zu viel zu verraten, also schnallt euch an:
    In The Future geht es darum, wie sich fiktive Versionen von Techno-Giganten wie Jobs, Bezos und Zuckerberg auf ein möglicherweise bevorstehendes apokalyptisches Ereignis vorbereiten. Sie haben geheime Bunker auf der ganzen Welt in denen sie sich vom Rest der Welt isolieren könnten, falls die Kacke mal wieder am Dampfen ist. Eine Gruppe von Menschen die diesen CEOs nahe stehen, erkennen dass es ebendiese CEOs sind, die an der Situation Schuld sind und zu ihrem Entstehen beigetragen haben auch weil sie komplett immun sind was die Probleme angeht denen der Rest der Welt gegenübersteht. Diese Gruppe wird zu Freund*innen die einen waghalsigen Plan aushecken um zu verhindern, dass wirklich alles den Bach runtergeht. Der Roman strotzt vor großartiger Ideen und spannenden Einsichten. Ich hab unfassbar viel gelernt. Alderman ist eine Brainbox und ich finde „The Future“ ist ein würdiger Nachfolger von „The Power“.

    „Wie entsteht Vertrauen zwischen Menschen? Es ist ein Geben und Nehmen. Es fängt damit an, dass man sich in eine Lage begibt, in der man verletzlich ist, wenn auch zunächst nur ein wenig. Man prüft, ob der andere das ausnutzt. Vertrauen entsteht, wenn Menschen sich einander zuwenden und im selben Moment lachen. Es ist, als fertigte man in seinem Inneren ein Modell der anderen Person an, setzte es sich auf die Hand, betrachtete es von allen Seiten und sagte sich: Ja, ich sehe die Fehler und Gefahren, aber hier wird mir nichts geschehen.“

    Wer Lust auf einen intelligenten, tiefgründigen Technothriller hat, der Hoffnung gibt in diesem grauen Januar, der ist hier genau richtig. Einzige Kritik – jeez hatten die Protagonisten teilweise Namen: Lenk Skettlish, Zimri Nommik, Si Packship ähmmm ok 😉

    The Lighthouse Witches – CJ Cooke bislang nicht auf deutsch erschienen

    Jaaaa ich weiß, ich weiß. Gerade hab ich noch gesagt jetzt erst mal keine Gothic Novels mehr und hier bin ich mit einer Gothic Novel. Aber zu meiner Ehrenrettung muss ich sagen, ich hab das Audiobook schon vor Weihnachten angefangen und gestern als München so leise eingeschneit wurde und ich das Bücherregal sortiert hab, war es einfach der perfekte Moment es zu Ende zu hören. Erfreulicherweise hat es sich auch richtig gelohnt, der Roman hat mir sehr gefallen CJ Cooke did it again 🙂

    The Lighthouse Witches spielt in auf einer rauen Hochseeinsel in Schottland und die Sprecher des Audiobooks hatten einen so wunderbaren schottischen Akzent, dass alleine das dem Roman schon Bonuspunkte gebracht hat.

    Ich liebe den schottischen Akzent so sehr, man könnte mir wahrscheinlich auch das Telefonbuch von Inverness vorlesen und ich würde 5 Sterne vergeben.

    The Lighthouse Witches spielt auf drei Zeitebenen. Da ist zum einen Liv die in einer Nacht- und Nebelaktion ihre drei Töchter ins Auto packt und düst mit ihnen auf die abgelegene schottische Insel Black Isle wo sie in einem Leuchtturm ein Mural malen soll.
    Die Insel ist nicht wirklich idyllisch. Rau, dunkel, einsam und ein Ort voller Mythen und düsteren Ereignissen.

    „I used to tell myself that I regretted the choices I’d made in my life. But every choice, including the wrong ones, made me who I was… -both the good and bad experiences strengthened you, shaped you. We are not just made of blood and bone- we are made of stories. Some of us have our stories told for us, other write their own- you wrote yours.“

    Ein gelungener Mix aus schottischer und nordischer Folklore, eine Höhle in der Frauen die der Hexerei angeklagt waren festgehalten und gefoltert wurden, bevor man sie verbrannte, Wildlings, Hexen, Flüche und Kinder die verschwinden.

    Es dauert nicht lange, bis auch Livs Töchter verschwinden und in einer weiteren Timeline treffen wir Luna eine ihrer Töchter wieder, die nach über 20 Jahren den Anruf erhält, dass ihre verschwundene Schwester wiedergefunden wurde, allerdings ist diese nach wie vor ein Kind von 7 Jahren.

    In der dritten Timeline hören wir aus Patricks Tagebuch was im 17. Jahrhundert während der Verhaftungen der Frauen als Hexen, der Anklage und letztendlich der Hinrichtungen tatsächlich passierte.

    CJ Cooke verbindet all das zu einer spannenden Geschichte die viel Atmosphäre hat und sehr gut an einem kalten Winterwochenende gehört oder gelesen werden kann. Empfehlung!

    Zauber der Stille – Florian Illies erschienen im S. Fischer Verlag

    Ein zauberhaftes Buch, dass mir eigentlich gar nicht hätte gefallen sollen. Denn wer hier eine stringent erzählte Geschichte erwartet wird bitter enttäuscht. Es handelt sich eher um lose Vignetten, die Momente aus Friedrichs Leben oder den Menschen erzählen die mit seinen Bildern zu tun hatten, sie liebten oder verachteten. Und sowas mag ich eigentlich nicht.

    Hier hat es aber richtig gut funktioniert. Habe den Roman als Hörbuch gehört (Sprecher #stephanschad) und konnte gar nicht aufhören von den spannenden, teilweise zutiefst traurigen, aber auch witzigen und überraschenden Momenten aus Friedrichs Leben zu erzählen.
    All den Menschen da draußen, denen ich in den letzten Tagen als Friedrich Fangirl auf den Zwirn gegangen bin – sorry 😉

    „Es ist vielleicht das kostbarste Gut der schönsten Gemälde Friedrichs, dass sie keine Antworten geben und nur Fragen stellen.“

    Seine Bilder habe ich schon immer geliebt, das aber lange für eine meine zu wenig entwickelte künstlerische Ader zu halten, die doch lieber „schwierige“ moderne Kunst mögen sollte, als diese „einfachen“ zugänglichen Bilder. Half aber nix, mochte #casperdavidfriedrich und seine schwarz-romantischen Bilder schon immer.

    Er ist mir sehr ans Herz gewachsen, der schwierige Caspar, der schon als Kind schreckliche prägende Erlebnisse machen musste, der ein Goethe-Fanboy war und gar keine Gegenliebe bekam, dem er dann irgendwann aber auch einen zackigen Korb verpasste.

    Ich war faszinierend vom Brandschutzbeauftragten Friedrich, der Feuer so sehr fürchtete und dessen Bilder so oft dem Feuer zum Opfer gefallen sind.

    Ich danke meiner lieben Freundin Barbara sehr, die mir diesen Roman sehr ans Herz gelegt hat. Recht hatte sie!

    Wenig können wir momentan so sehr brauchen wie etwas mehr Stille und ich freue mich schon auf den nächsten Hamburg Besuch, damit ich die Friedrichs mal wieder besuchen kann in der Hamburger Kunsthalle.

    Große Empfehlung für dieses Buch – es erweitert den Blick, spendet Ruhe und macht große Lust auf einen Besuch im Museum.

    Demon Copperhead – Barbara Kingsolver auf deutsch im dtv Verlag erschienen, übersetzt von Dirk van Gunsteren

    Ich habe das Buch nur gelesen, weil es die Januar Lektüre unseres Bookclubs ist und hatte eigentlich gar keine Lust drauf. Aus irgendeinem Grund hatte ich Vorurteile gegen Barbara Kingsolver, befürchtete irgendwie süßliche Familiengeschichten in denen viel gekocht, eingemacht und geheiratet wird und wurde wieder einmal gründlich überrascht.

    Demon Copperhead ist die Geschichte eines Jungen der in den Appalachians in einem Trailerpark zur Welt kommt. Seine Mutter ist eine junge drogensüchtige Frau selbst noch minderjährig.
    Demon erlebt schreckliche Ungerechtigkeiten und die Unzulänglichkeiten des Systems mit Blick auf Pflegefamilien, Kinderarbeit und die systemische Ausbeutung von Menschen.

    Kingsolvers Blick ist voller Empathie für ihre Figuren und die Menschen in Appalachia, auf die in der Regel voller Häme und Überheblichkeit herabgesehen wird. Dieses Buch macht wütend, insbesondere auf die Pharma-Industrie die sehenden Auges Millionen Menschen aus Profitgier in die Abhängigkeit gestürzt hat.

    „Certain pitiful souls around here see whiteness as their last asset that hasn’t been totaled or repossessed.”

    Ich habe unfassbar viel gelernt in diesem Buch, konnte es überhaupt nicht aus der Hand legen und ich glaube ich vermisse Demon, Jules, Annie und Angus noch eine ganze Weile.
    Ich habe Dickens „David Copperfield“ vor vielen Jahren gelesen und Kingsolver ist eine mehr als würdige Nachfolgerin.

    Ein großartiger Roman den ich euch sehr ans Herz legen möchte.
    Gehet, kaufet und leset 😉

    Maniac – Benjamín Labatut erschienen im Suhrkamp Verlag, übersetzt von Thomas Brovot

    Maniac von Benjamín Labatut schlug bei mir ein wie eine Bombe. Mensch vs Maschine und die Suche nach den Anfängen der Künstlichen Intelligenz. Er verknüpft das Schicksal des Physikers Paul Ehrenfest in den 1930er Jahren, den die wachsende Macht der Nazis immer panischer werden lässt mit dem des genialen dämonischen Begründer der Spieltheorie, dem Geburtshelfer der Atombombe, KI Pionier und Teil der ungarischen Wissenschaftler die „die Ausserirdischen“ genannt wurde.
    Wahrscheinlich war von Neumann zu Lebzeiten wohl dem am nächsten was man eine künstliche Intelligenz nennen konnte.

    Von Neumann besaß eine zutiefst rationale aber auch unmenschliche Intelligenz, der die innersten Bedürfnisse des Menschen gleichgültig sind. Labatut beleuchtet die Geschichte der KI und – insbesondere im letzten Teil des Buches in dem es um den koreanischen Go-Spieler Lee Sedol und seinem Kampf Mensch gegen Maschine – wohin die Reise der KI gehen könnte. Das Buch wirft viele Fragen auf, man kommt aus dem Nachdenken nicht heraus und ist dabei überaus lesbar und eingängig. Große Empfehlung. Auch für Menschen die ggf in der Schule nicht so viel mit Mathematik oder Physik am Hut hatten. Lesen und danach (nochmal) Oppenheimer sehen, man wird viele Bekannte aus dem Buch im Film wiederfinden.

    „Er lächelte nur und sagte mit leiser Stimme, genau dann, in den dunkelsten Zeiten, könne man am weitesten sehen“

    Habe Herrn Labatut bei einer Lesung im Literaturhaus „kennengelernt“ und habe mein Buch signieren lassen. Ein interessanter Autor, bin aber nicht sicher, ob ich unbedingt ein Bier mit ihm trinken möchte. Muss ich aber auch nicht. Er soll einfach weiter Bücher schreiben. Kann er gut.

    Die Stadt und ihre ungewisse Mauer – Haruki Murakami erschienen im Dumont Verlag, übersetzt von Ursula Gräfe

    Ich bin dieses Mal nicht komplett warm geworden mit dem Protagonisten, dem Buch und schon gar nicht mit der Stadt. Klingt jetzt alles schlimmer, als es ist – denn auch ein Murakami mit dem ich nicht vollumfänglich warm geworden ist, ist immer noch ein schönes Leseerlebnis und ich habe auch sehr viele durchweg positive Stimmen gehört, ich denke, es liegt in diesem Fall wirklich mehr an mir als am Buch.
    Das Buch soll eine Art Weiterführung von „Hard Boiled Wonderland“ sein – ein Roman der auch nicht zu meinen Favoriten gehört, da liegt vermutlich der Grund fürs fremdeln.

    Ich mochte die olle Stadt nicht, wollte nicht so viel Zeit in ihr verbringen mit dem Protagonisten der seinen Schatten aufgegeben hatte und seine Augen am Tor zur Stadt operieren lassen musste um in der örtlichen Bibliothek alte Träume lesen zu können. Die Bibliothek hat keine Bücher (!), und der Grund warum er in die Stadt gelangt, war natürlich eine verschwundene Frau die er in der Bibliothek auch wieder trifft, die ihn aber nicht erkennt und die irgendwie insgesamt ziemlich farblos bleibt und ich nicht nachvollziehen kann, warum er sein Leben lang so derart fasziniert von ihr ist.

    „In meinem Kopf tobte ein heftiger Kampf zwischen Wirklichem und Unwirklichem. Ich stand jetzt an der Schwelle zwischen Bewusstem und Unbewusstem, und musste mich entscheiden, zu welcher Welt ich gehören wollte.“

    Der zweite Teil des Romans war schon etwas mehr nach meinem Geschmack und enthielt zumindest in homöopathischen Dosen die für mich so notwendigen Zutaten für mein rauschhaftes Murakami-Erlebnis: es wurde zumindest gelegentlich gekocht – einfache Mahlzeiten natürlich, ein Glas Chablis getrunken, in einer Bibliothek MIT Büchern gearbeitet (!), gelesen und Musik gehört. Es war alles in allem eine Geschichte die mir wie ein etwas größer geratener Macaron vorkam: zart, leicht süß aber kaum im Mund ist er auch schon weg (vielleicht entsteht die Assoziation auch durch das pastellige Cover – gegessen habe ich allerdings bei der Lektüre nach Jahren mal wieder einen Blaubeer-Muffin der war auch ein bißchen süß.)

    Ein 3,5 Sterne Murakami das ist durchaus solide und ich freue mich schon auf alle weiteren Romane die noch kommen. Bei den einfachen Mahlzeiten, dem ausreichenden Schlaf und dem vielen Sport den er treibt wird er doch sicher 120 🙂 Großartig übersetzt wieder von der wunderbaren Ursula Gräfe.

    Wo ich wohne, ist der Mond ganz nah – Cho Nam-Joo erschienen im KiWi Verlag, übersetzt von Jan Henriks Dirk

    Manis lebt als Mittdreißigerin noch immer zu Hause mit ihren Eltern in einem der der ärmsten Stadtteile von Seoul. Ihr Vater arbeitet in einem Imbiss und ihre Mutter ist Hausfrau. Als kleines Mädchen wollte Mani Sportgymnastin werden, inspiriert durch die Olympiade 1988 in Seoul. Ihre Mutter ermöglicht ihr unter schwierigen Umständen das Training muss aber schnell einsehen, dass sie im Vergleich zu anderen nur wenig Talent hat. Und wenig Talent reicht oft reicheren Menschen aus, weil sie die Mittel haben trotzdem weiterzumachen, Nachhilfe zu bekommen, Förderung etc aber ein armes Mädchen wie Mani hat eigentlich nur eine Chance. Übergroßes Talent und großes Glück. Und beides hat sie nicht. Sie führt ein einfaches, langweiliges Leben und der Roman schafft es aus meiner Sicht genau diese Lethargie, diese Kraftlosigkeit der Manis dieser Welt zu transportieren, denen einfach die Energie fehlt sich weiter groß anzustrengen. Für die es kein Entkommen gibt aus der Armut.

    Mani erwartet wenig vom Leben und bekommt auch nicht viel.

    In Seoul liegen bittere Armut und riesiger Reichtum ganz nah beieinander, anders als in „Saltburn“ oder „Parasite“ gibt es hier keine dramatischen unerwarteten Wendungen sondern Mani bekommt mehr oder weniger vom Leben das was sie auch erwartet.

    „Armselig bis auf die Knochen … Diese Angewohnheit, ohne Rücksicht auf die Qualität partout das Billigste zu wählen. Selbst wenn wir eine Milliarde, ach was, zehn Milliarden Won im Lotto gewonnen hätten – einfach mal richtig schön essen gehen wäre vermutlich trotzdem nicht drin gewesen. Ganz gleich, ob wir so verzagt geworden waren, weil wir arm waren, oder ob wir glaubten, dass wir unserer Armut – hipp, hipp, hurra! entkommen könnten, wenn wir so verzagt lebten.“

    Die Müdigkeit, das fehlende Selbstvertrauen, die Hoffnungslosigkeit die Mani ausstrahlt zieht sich durch den Roman und macht den Roman zu keiner einfachen, aber sehr lohnenswerten Lektüre.
    Arm bleibt Arm – viel zu oft.

    Aber man muss sich auf diverse Körperflüssigkeiten und Toilettengänge mit Detailbeschreibungen einlassen. Die bieten auf jeden Fall eine Menge Comic Relief.
    Ich danke dem KiWi Verlag für dieses Rezensionsexemplar / unbezahlte Werbung

    Das war also der Januar und jetzt freue ich mich wieder von Euch zu hören. Was davon habt ihr auch gelesen / wollt ihr noch lesen? Wo unterscheiden sich unsere Meinungen, wo decken sie sich? Konnte ich Euch auf das eine oder andere Buch neugierig machen?