Lektüre Mai 2022

Mai war ein guter Lesemonat. Viele sonnige Tage Lesetage auf dem Balkon und ansonsten die übliche der Insomnia geschuldete Nachtlektüre.

In alphabetischer Reihenfolge:

Jan Assmann – „Achsenzeit- eine Archäologie der Moderne erschienen im C. H. Beck Verlag

Um das 6. Jahrhundert vu. Z. traten in verschiedenen Kulturräumen der Welt Philosophen und Propheten auf, die das bisherige mythische Denken überwanden: Konfuzius und Laotse in China, Buddha in Indien, Zarathustra in Persien, die Propheten des Alten Israel und die Philosophen in Griechenland. Diese Zeit wurde von Karl Jaspers „Achsenzeit“ genannt. Jan Assmann beschreibt, wie Historiker und Philosophen seit der Aufklärung die erstaunliche Gleichzeitigkeit der Achsenzeit-Kulturen erklärt und in der Achsenzeit die geistigen Grundlagen der Moderne gesucht haben.

Habe gefühlt das halbe Buch unterstrichen. Ein wirklich spannendes, gut geschriebenes Buch über eine der spannensten Zeiten in der Menschheitsgeschichte, über die ich definitiv noch viel mehr lernen möchte.

Die Achsenzeit-Theorie hat diese Formel auf den Weg des menschlichen Denkens überhaupt ausgedehnt. In der Tradition Max Webers mit seiner These der Entzauberung der Welt unabwendbar fortschreitenden Rationalisierung der Welt erweist sich die Achsenzeit-Theorie als eine Form der Modernisierungstheorie, die besagt, dass die Menschheit in ihrem geistigen Entwicklungsgang mehr oder weniger unaufhaltsam von niedrigen, defidizienten Stufen ihres Welt- und Selbstbewusstseins zu immer vollständigeren und klareren Stufen fortschreitet bzw fortschreiten sollte. … Die Achsenzeit-Theorie versteht diesen Weg jedoch von allem Anfang an als global, jedenfalls als transkulturell, weil China, Indien, Persien, Israel und Griechenland ihn gleichzeitig beschritten und auf lange Sicht alle anderen Kulturen nachgezogen haben.

Isabel Bogdan „Der Pfau“ erschienen im Insel Verlag

Ein charmant heruntergekommener Landsitz in den schottischen Highlands, eine Londoner Investmentbankertruppe zum Teambuilding – und ein durchgedrehter Pfau, der bei Blau nur noch rotsieht und dadurch ein Geschehen in Gang setzt, das alle Beteiligten an ihre Grenzen bringt.

Leichte Lektüre die große Lust auf einen Schottland-Besuch mit Scones und High Tea macht.

Einer der Pfauen war verrückt geworden. Vielleicht sah er auch nur schlecht, jedenfalls hielt er mit einem Mal alles, was blau war und glänzte, für Konkurrenz auf dem Heiratsmarkt.

Amanda Cross „Poetic Justice“ auf deutsch unter dem Titel „Eine feine Gesellschaft“ im dtv Verlag

Wir schreiben das Jahr 1970 in New York City, und die Universität, an der Professorin Kate Fansler viktorianische Literatur unterrichtet, ist von Studentenunruhen heimgesucht worden. Das Überleben des University College steht in Frage, zumal ihr Präsident Jeremiah Cudlipp entschlossen ist, es zu schließen.

Mitten in der Abwägung zwischen Dissertationsvorschlägen und akademischer Politik steht Kate vor einem unüberwindbaren Hindernis. Doch bewaffnet mit einer Handvoll rebellischer Kollegen, der Poesie von W. H. Auden und ihrem neuen Verlobten gibt sie nicht auf.

Kate ist bereit, bis zum Tod für ihr College zu kämpfen, aber nur ein Wunder – oder vielleicht ein Mord – kann ihre geliebte Institution retten …

The news that Kate was acquiring a husband became, as the fall semester got under way, the excuse for a bacchanal. Which is to say that the three secretaries in the English Department, certain that marriage is more important than revolution, planned a department party to celebrate.

Wer nervenzerreissende Spannungsliteratur sollte nicht zu diesem Buch greifen. Es ist kein wirklich Krimi, mehr ein feministischer Feelgood-Krimi mit viel literarischem Flair, den ich wieder gerne gelesen habe und der mir große Lust auf die Gedichte von Auden machte.

Lauren Groff „Matrix“ auf deutsch unter dem gleichen Titel im Claassen Verlag

Eine Geschichte von weiblicher Gemeinschaft und Macht. Ein Fest der Erzählfreude, der Erfindungskraft und des Intellekts. Das neue Meisterwerk von Lauren Groff.

Marie ist siebzehn Jahre alt, groß und ungelenk und nach allgemeiner Ansicht ungeeignet für die Ehe und das höfische Leben. Sie verehrt ihre Königin, Eleanore von Aquitanien, doch die verstößt sie mit einem Lächeln: Marie soll Priorin eines abgelegenen Klosters werden, irgendwo im Schlamme Englands, fern von den zärtlichen Zuwendungen ihrer Dienerin. Lebendig begraben in der Gemeinschaft verarmter, frierender, hungernder Nonnen – ausgerechnet sie, die aus einer Familie von Kriegerinnen stammt und alles andere als fromm ist. Doch in der Abgeschlossenheit des Klosters findet Marie für sich und ihre Schwestern ungeahnte Möglichkeiten von weltlichem Einfluss, Wohlstand und neuer Gemeinschaft.

Matrix erzählt die Geschichte einer fehlbaren Heldin: einer Frau – kriegerisch, imposant, machtbewusst, hingebungsvoll –, deren Visionen verlorengehen, wie so viele Stimmen starker Frauen im Lauf der Geschichte. Der neue, flirrend aufregende Roman von Lauren Groff erweckt sie zum Leben und beschwört die utopische Kraft weiblicher Kreativität in einer korrumpierten Welt.

Großes Lese-Highlight für mich.

Women act counter to all the laws of submission when they remove themselves from availability.

Judith Hermann „Alice“ erschienen im S. Fischer Verlag

Wenn jemand geht, der dir nahe ist, ändert sich dein ganzes Leben, es ändert sich, ob du willst oder nicht. Alles wird anders. Alice ist die Heldin dieser fünf Geschichten, alle erzählen von ihr – und davon, wie das Leben ist und das Lieben, wenn Menschen nicht mehr da sind. Dinge bleiben zurück, Bücher, Briefe, Bilder, und ab und zu täuscht man sich in einem Gesicht. Lebenswege kreuzen sich, ändern die Richtung und werden unwiederbringlich auseinandergeführt.

Wie schon in „Sommerhaus, später“ und „Nichts als Gespenster“ schreibt Judith Hermann Geschichten von filigraner dunkler Schönheit.

Das siebente Haus ist das Haus der Türen. Durch die die Menschen kommen und von dir weggehen. Die Planeten laufen langsam, aber sie machen ihre Transite, und dann ändert sich dein ganzes Leben.

Lisa Kröger & Melanie R. Anderson – Monster, she wrote erschienen bei Quirk Books

Wer mich und meinen Blog ein bisschen kennt, weiß um meine große Liebe zu Gothic, Grusel und Übernatürlichem, daher war dieses spannende Büchlein hier absolut perfekt für mich. Hier treffen wir die Autorinnen, die sich den Konventionen widersetzten und einige der ungewöhnlichsten Geschichten der Literatur schufen, von Frankenstein bis The Haunting of Hill House und noch viel mehr.

Frankenstein war nur der Anfang: Horrorgeschichten und andere gruselige Romane gäbe es nicht ohne die Frauen, die sie geschaffen haben. Von Gothic-Geistergeschichten über psychologischen Horror bis hin zu Science-Fiction – Frauen waren die Hauptakteure der spekulativen Literatur in den unterschiedlichsten Genres. Und ihre eigenen Lebensgeschichten sind oft ebenso faszinierend wie ihre Geschichten. Jeder kennt Mary Shelley, die Schöpferin von Frankenstein, von der es heißt, sie habe das Herz ihres verstorbenen Mannes in ihrer Schreibtischschublade aufbewahrt. Aber kennt ihr zum Beispiel Margaret „Mad Madge“ Cavendish über die Marius von Buchhaltung in meiner „Women in SciFi“-Reihe berichtete, die 150 Jahre zuvor ein Science-Fiction-Epos schrieb (und im Theater gerne oben ohne rumlief)?

Über Shirley Jackson deren Roman The Haunting of Hill House als Netflix-Serie neu erfunden wurde, muss ich nicht viel sagen, habe mich aber sehr gefreut auch wirklich spannende Neuentdeckungen zu machen, wie zum Beispiel die Autorin von psychologischen Spukgeschichten, Violet Paget, die in der viktorianischen Ära ganz offen langfristige romantische Beziehungen mit Frauen unterhalten hat. In diesem Buch trifft man bekannte Ikonen, vergessene Autorinnen und die heutige Avantgarde. Kuratierte Leselisten haben meinen Wunschzettel dann auch entsprechend wachsen lassen.

Teils Biografie, teils Leseführer, stellen die fesselnden Beschreibungen und detaillierten Leselisten mehr als hundert Autorinnen und über zweihundert ihrer geheimnisvollen und gruseligen Romane, Novellen und Geschichten vor.

Sarah Perry „Melmoth“ auf deutsch unter dem gleichen Titel im Eichborn Verlag erschienen, übersetzt von Eva Bonné

Ein fesselnder und wunderbar unheimlicher Roman…

Helen Franklins Leben nimmt eine jähe Wende, als sie in Prag auf ein seltsames Manuskript stößt. Es handelt von Melmoth – einer mysteriösen Frau in Schwarz, der Legende nach dazu verdammt, auf ewig über die Erde zu wandeln. Helen findet immer neue Hinweise auf Melmoth in geheimnisvollen Briefen und Tagebüchern – und sie fühlt sich gleichzeitig verfolgt. Liegt die Antwort, ob es Melmoth wirklich gibt, in Helens eigener Vergangenheit?

Ein Buch, das einen packt und nicht mehr loslässt. Düster, mystisch und beklemmend – ganz nach meinem Geschmack.

My reader, my dear- you know her, you have been waiting for her: it is the witness, the wandering woman- the punished world’s wickedness unfolds! Oh beloved one, my companion- it is I, Melmoth, whose voice you have heard all these hours, all these days…It was I who told you to read, and to bear witness….Didn’t you know? Didn’t you guess?

Carlo Rovelli „Seven Brief Lessons on Physics“ auf deutsch unter dem Titel „Sieben kurze Lektionen über Physik“ und „The Order of Time“ auf deutsch unter dem Titel „Die Ordnung der Zeit“ beide erschienen im Rowohlt Verlag, übersetzt von Sigrid Vagt bzw Enrico Heinemann

Wo kommen wir her? Was können wir wissen? Seit ihren umwälzenden Entdeckungen im zwanzigsten Jahrhundert spüren Physiker den Kräften und Teilchen nach, die die Welt im Innersten und Äußersten zusammenhalten. Für jedermann verständlich, hat Carlo Rovelli dieses zauberhafte Buch darüber geschrieben. Es stürmte in wenigen Wochen an die Spitze der italienischen Bestsellerliste und wird derzeit in fast zwanzig Sprachen übersetzt.

In the awareness that we can always be wrong, and therefore ready at any moment to change direction if a new track appears; but knowing also that if we are good enough we will get it right and will find what we are seeking. This is the nature of science.


In eleganten, klaren Sätzen erklärt Rovelli die Physik der Moderne: Einstein und die Relativitätstheorie, Max Planck und die Quantenmechanik, die Entstehung des Universums, Schwarze Löcher, die Elementarteilchen, die Beschaffenheit von Raum und Zeit – und die Loop-Theorie, sein ureigenstes Arbeitsfeld.


There are frontiers where we are learning, and our desire for knowledge burns. They are in the most minute reaches of the fabric of space, at the origins of the cosmos, in the nature of time, in the phenomenon of black holes, and in the workings of our own thought processes. Here, on the edge of what we know, in contact with the ocean of the unknown, shines the mystery and the beauty of the world. And it’s breathtaking.

Warum stehen wir mit den Füßen auf dem Boden? Newton meinte, weil sich Massen anziehen, Einstein sagte, weil sich die Raumzeit krümmt. Carlo Rovelli hat eine andere Erklärung: vielleicht ja deshalb, weil es uns immer dorthin zieht, wo die Zeit am langsamsten vergeht. Wenn, ja wenn es so etwas wie Zeit überhaupt gibt. Kaum etwas interessiert theoretische Physiker von Rang so sehr wie der Begriff der Zeit. Leben wir in der Zeit oder lebt die Zeit vielleicht nur in uns? Warum der physikalische Zeitbegriff immer weiter verschwimmt, je mehr man sich ihm nähert, warum es im Universum keine allgemeine Gegenwart gibt, warum die Welt aus Geschehnissen besteht und nicht aus Dingen und warum wir Menschen dennoch gar nicht anders können, als ein Zeitbewusstsein zu entwickeln: Rovelli nimmt uns mit auf eine Reise durch unsere Vorstellungen von der Zeit und spürt ihren Regeln und Rätseln nach. 

This is time for us. Memory. A nostalgia. The pain of absence. But it isn’t absence that causes sorrow. It is affection and love. Without affection, without love, such absences would cause us no pain.
For this reason, even the pain caused by absence is in the end something good and even beautiful. Because it feeds on that which gives meaning to life.

Freue mich sehr über Rückmeldung von Euch daher sagt mal habt ihr schon eines der Bücher gelesen bzw konnte ich euch Lust auf das eine oder andere machen?

Happy Reading 🙂

Große gemischte Tüte

Zu warm für lange Rezensionen. Hier in Kürze 5 Empfehlungen für schwüle Sommernächte:

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Süd-Afrika 1901. Sarah van der Watt und ihr sechsjähriger Sohn Fred werden während des Burenkrieges aus ihrem Haus in ein Internierungslager verschleppt, wo die höflichen britischen Angreifer ihnen versichern, sie seien in Sicherheit dort.

2014. Der sechzehnjährige Willem ist ein Außenseiter. In der Hoffnung, dass er endlich der Sohn wird, den sich seine Mutter und ihr Freund wünschen, zwingen sie ihn, ins New Dawn Safari Training Camp zu gehen, wo man stolz darauf ist, aus Jungs Männern zu machen. Sie versprechen ihm, er werde dort in Sicherheit sein.

“Above all this the stars shine. Willem pauses for a moment and feels the world turn as he struggles to pick out the Southern Cross among the interstellar static, He’s never seen a sky so big or so bright. It’s dizzying and he spins slowly to take it all in…” 

You will be safe hier ist ein eindringlicher Roman, der zwei südafrikanische Geschichten miteinander verbindet. Ein Roman um das Vermächtnis von Gewalt und unseren Willen zu überleben. Ein Buch das unter die Haut geht.

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Machines Like Me spielt in einer alternativen Vergangenheit in den 1980er Jahren in London. Charlie treibt antriebslos durch sein Leben, verdient ein paar Kröten mit Online-Börsenhandel und ist in seine Nachbarin Miranda verliebt, die ein schreckliches Geheimnis hütet. Als Charlie Geld erbt, kauft er sich einen Adam, einen der ersten künstlichen Menschen. Mit Mirandas Hilfe co-designt er Adams Persönlichkeit.

“The future kept arriving. Our bright new toys began to rust before we could get them home, and life went on much as before.” 

Dieser nahezu perfekte Mensch ist schön, stark, klug und es entspinnt sich sehr bald ein subversive Dreiecksbeziehung. Die drei werden mit einem tiefgehenden moralischen Dilemma konfrontiert – McEwans beliebter Modus Operandi.

McEwan hat wieder einen unglaublich intelligenten, unterhaltsamen und anregenden Roman geschrieben, der sich mit den grundsätzlichen Fragen beschäftigt: Was macht uns zu Menschen? Unsere äußerlichen Handlungen oder unser innerstes Sein? Kann eine Maschine das menschliche Herz verstehen? Wieviel Rechte hat ein künstliches Leben?

“We create a machine with intelligence and self-awareness and push it out into our imperfect world. Devised along generally rational lines, well disposed to others, such a mind soon finds itself in a hurricane of contradictions. We’ve lived with them and the list wearies us. Millions dying of diseases we know how to cure. Millions living in poverty when there’s enough to go around. We degrade the biosphere when we know it’s our only home. We threaten each other with nuclear weapons when we know where it could lead. We love living things but we permit a mass extinction of species. And all the rest – genocide, torture, enslavement, domestic murder, child abuse, school shootings, rape and scores of daily outrages.” 

Ein provokanter, spannender Roman, der uns davor warnt, Geister zu rufen, die wir dann nicht loswerden bzw. nicht mehr kontrollieren können…

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Als Cora Seabornes brillianter, aber auch dominanter Ehemann stirbt, beginnt ein neues Leben für sie. Sie lässt ihre unglückliche Ehe hinter sich und hat endlich Gelegenheit, ihrer außergewöhnlichen Intelligenz und Neugier den Raum zu geben, den sie braucht.

Zusammen mit ihrer Freundin und ihrem wahrscheinlich autistischen Sohn Francis verlässt sie London für einen Besuch an der Küste Essex, wo sie – ihrem Vorbild Mary Anning gleich – einem wissenschaftlichen Geheimnis auf der Spur ist.

Sie trifft bei ihren Nachforschungen auf den Pfarrer William Ransom, der ebenfalls mit dem Geheimnis um die „Essex Serpent“ beschäftigt ist. Cora ist eine begeisterte Naturforscherin mit wenig Sinn für Übersinnliches oder Religion und so sehr William und sie sich als Freunde schätzen, immer wieder geraten sie aufgrund ihrer unterschiedlichen Weltanschauungen aneinander.

The Essex Serpent ist eine großartige Gothic Novel im besten Sinne. Die Geschichte mag im späten 19. Jahrhundert spielen, die Themen finden sich aber ganz genau so im 21. Jahrhundert wieder. Glaube und Aberglaube treffen auf Wissenschaften und Fakten und auch die unterschiedlichen Formen der Liebe sowie moralische Limitierungen sowohl in der Liebe als auch in der Medizin.

“We both speak of illuminating the world, but we have different sources of light” 

Besonders gefiel mir, wie differenziert Perry mit den verschiedenen Formen der Liebe umgeht. Den schmalen Grat erfasst, wo Freundschaften sich verwandeln in andere Formen von Beziehungen, nicht immer klar benennbar, sondern changierend und abwechslungsreich.

“The windows in her room were open and light was fading on the wall. She said, ‘There may be blood,’ and he said, ‘Better that way – better’; and it was Cora’s mouth he kissed, and Cora’s hand she placed where she wanted it most. Each was only second best: they wore each other like hand-me-down coats.”

Großes Lesevergnügen.

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Loyalty Island in Washington State wird vom Meer beherrscht. Jeden Herbst fahren die Schiffe der Loyalty Islander hoch zur Bering See, um den Winter über Königskrabben zu fangen. Das ist die Industrie, die die Stadt und seine Geschäfte am Leben erhält, auch wenn stets der drohende Tod auf See über ihnen hängt. Für Cal, dessen Vater Kapitän eines der Boote ist, haben das Meer und Alaska etwas ähnlich mystisches wie die Piratengeschichten, die sein Vater ihm als Kind erzählte – aber er sieht auch, wie sehr das Meer verantwortlich dafür ist, dass die Ehe seiner Eltern alles andere als glücklich verläuft. Sowohl wenn sein Vater auf See ist, als auch, wenn er für ein paar Monate wieder zu Hause ist.

„Loyalty Island – das war der Gestank von Hering, Lackfarbe und fauligem Seetang an Anlegestellen und auf Stränden. Der Geruch von Kiefernnadeln, die sich am Boden braun verfärbten. Das Rumpeln von Außenbordern, von Windböen und Eismaschinen, das Heulen hydraulischer Winschen. Es war graues Dämmerlicht, das morgens und abends kam und ging – wie Ebbe und Flut.

Es war eine Aura der Einsamkeit.“

Die Familie Gaunt ist die mächtigste und einflußreichste auf der Insel. Ihnen gehört seit Generationen die Fangflotte auf Loyalty Island und sie sind der größte Arbeitgeber der Insel. Als John Gaunt plötzlich stirbt und sein entfremdeter Sohn Richard alles erbt, gerät das Leben auf der Insel außer Balance. Richard scheint wild entschlossen alles an die Japaner zu verkaufen und somit den Bewohnern der Insel ihre Lebens- und Arbeitsgrundlage zu entziehen. Als Cal entdeckt, dass sein Vater möglicherweise drastische Schritte unternommen hat, um ihre gewohnte Lebensweise zu bewahren, steht er vor einer schwierigen Wahl…

Ein wunderbarer Roman über Väter und Söhne, das Ende der Kindheit,  Verantwortung, Loyalität und über die Frage, was Menschen zu unmoralischem Handeln treib. Ein Buch, das definitiv seinen eigenen Soundtrack verdient:

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Gordon Comstock verachtet den Materialismus und die Oberflächligkeit der Mittelklasse, ihre Anbetung des Geldes und ihr Streben nach langweiliger muffiger Seriosiät. Er will ganz nach seinen Idealen leben und kündigt seine gut bezahlte Stelle als Werbetexter und gibt sich ganz seinem Leben in Armut und anderen edelmütigen Aktivitäten hin.

So ein Leben in Armut ist allerdings alles andere als ein Zuckerschlecken und seine permanente Geldfixiertheit (bzw. der Mangel an Geld) geht einem irgendwann auf den Keks. Es vergeht kein Absatz, in dem das Wort Geld nicht vorkommt. Ich hätte eventuell mehr Respekt für Gordon aufgebracht, wenn er in seiner edelmütigen Lebensweise in Armut nicht permanent auch seine Mitmenschen, insbesondere seine Verlobte und seine Schwester, mit ins Unglück gezerrt hätte.

“The mistake you make, don’t you see,is in thinking one can live in a corrupt society without being corrupt oneself. After all, what do you achieve by refusing to make money? You’re trying to behave as though one could stand right outside our economic system. But one can’t. One’s got to change the system, or one changes nothing. One can’t put things right in a hole-and-corner way, if you take my meaning.”

So edel seine Beweggründe sind, sich und seine Kunst (er ist Schriftsteller) nicht zu verkaufen, so wenig juckt es ihn, wie er die Menschen behandelt, die ihm nahestehen.
Ich bereue es keinesfalls, das Buch gelesen zu haben, es ist durchaus gut und hat viele gute Passagen, aber die Art, wie er mit Frauen umgeht und sein egozentrisches Verhalten haben ihn für mich zu einem der unsympathischsten Protagonisten gemacht, die ich seit langem in Büchern getroffen habe.

Down and out in Paris and London hat mir deutlich besser gefallen.

Hier noch mal die Bücher im Überblick:

  • Damian Barr – „You will be safe here“ erschienen bei Bloomsbury
  • Ian McEwan – „Machines like me“ auf deutsch unter dem Titel „Maschinen wie ich“ bei Diogenes erschienen
  • Sarah Perry – „The Essex Serpent“ auf deutsch unter dem Titel „Die Schlange von Essex“ bei Eichborn erschienen
  •  George Orwell „Keep the Aspidistra flying“ auf deutsch unter dem Titel „Die Wonnen der Aspidistra“ im Diogenes Verlag erschienen und nur noch antiquarisch erhältlich.