Februar Lektüre

Diesen Monat war ich überall: in Italien mit den Mann-Brüdern, in Israel mitten in einer moralischen Zwickmühle, in einem japanischen Teehaus mit Franka Potente – und sogar auf Großwildjagd im Kongo – ein Hörbuch, das mich völlig überrascht hat. Truman Capote nahm mich mit in ein sonniges Baumhaus. Mit Deniz Ohde sah ich den Industrieschnee fallen, und die poetischen Worte und Bilder von Robert Macfarlane und Jackie Morris ließen mich staunen.

Welche Bücher davon kennt ihr und welche landen vielleicht auf eure Leseliste?

Beteigeuze – Barbara Zeman erschienen im dtv Verlag

Barbara Zemans „Beteigeuze“ ist ein sprachgewaltiger Roman, der mich wirklich komplett in seinen Bann gezogen hat. Ich habe in den letzten Tagen quasi in dem Buch gewohnt. Ein Buch, das man nicht nur liest, sondern erlebt – funkelnd, irrlichternd, poetisch. So unfassbar wie schön. Ohne zu zögern habe ich ihm fünf Sterne gegeben, denn es ist ein Werk, das auf eine Weise leuchtet, die in der Literatur selten geworden ist.

Beteigeuze, der rote Riesenstern im Sternbild Orion, trägt den Hauch der Vergänglichkeit in sich. Er ist ebenso flimmernd, poetisch und irrlichternd wie dieser Roman.

Das letzte Mal, dass ich ihn hier an dieser Stelle sah, da stand er höher. Rotes Scheibchen Beteigeuze, links unterhalb des Mondes. Wie ich mich auf den Winterhimmel freue. Da machen sich die Sterne in der Dunkelheit groß wie die Goldäpfel im Märchen, dass ich sie mir aus dem Himmel brocke und einen nach dem anderen verspeise, wenn ich denn einen essen will.

Wenn der rote Riese schließlich explodiert, wird der Himmel für Wochen in einem überirdischen Leuchten erstrahlen. Ein kosmischer Abgang, ein letztes Feuerwerk. Doch noch glimmt sein Feuer. Noch trotzt er der Dunkelheit. Und genau diese Vergänglichkeit, dieses Flackern und Leuchten spiegelt sich in Zemans Roman wider. Die Protagonistin Theresa Neges, deren Name übersetzt „Du solltest Nein sagen“ bedeutet, lebt in einer kleinen blauen Wohnung in Wien. Ohne festen Beruf, ohne Geld, mit einem Freund, den sie vielleicht liebt, aber nicht wirklich besitzt. In ihrem großen grauen Mantel streift sie durch die Stadt, legt sich im Hallenbad auf den Beckengrund und übt das Luftanhalten, sucht den Schwindel auf einem Karussell – sie möchte ins Leichte, ins Schwebende, näher an Beteigeuze, diesen brennenden Riesen, der ihr seit ihrer Kindheit vertraut ist.

Immer zärtlicher nimmt sie den Schnee wahr als etwas zur ihr Gehöriges. Ihre Adern, die sind winzige, eisig blaue Flüsse. Gefrierend knisternd. Und ihre Gedanken sind schwer, verlieren alle Schnelligkeit. Welch schöne Muster der Frost ihnen gibt. Wie von Zauberhand sind sie zu Kristallen gereiht.

Zeman schreibt nicht einfach eine Geschichte. Sie erschafft ein Sprachkunstwerk, aufgespannt zwischen Weltraum und Unterwasserwelt, zwischen Absturz und Schweben. Es funkelt in hell und dunkel, im Zentrum ein tanzender Stern. Die Sprache vibriert, schillert, greift nach den Lesenden. Es ist einer dieser seltenen Romane, bei denen es mir komplett egal ist, worum es geht – weil jeder einzelne Satz schon Grund genug ist, das Buch zu lieben. Barbara Zeman, geboren 1981 im Burgenland, lebt in Wien. Sie ist Historikerin, Journalistin und erhielt 2012 den Wartholzpreis. Ihr Debüt „Immerjahn“ erschien 2019, und mit einem Auszug aus „Beteigeuze“ war sie 2022 für den Ingeborg-Bachmann-Preis nominiert.

Sie versteht es, mit Sprache umzugehen, wie es nur wenige tun. Ihre Sätze sind ein Kaleidoskop aus Bildern und Tönen, manchmal messerscharf, manchmal melancholisch verwaschen – eine Supernova von einem Roman.

„Beteigeuze“ ist ein Roman, der in mir nachglüht wie sein namensgebender Stern. Er schwankt zwischen Explosion und Erlöschen, zwischen Schönheit und Schmerz. Ein poetisches Meisterwerk, das man vermutlich entweder nach ein paar Seiten entnervt in die Ecke wirft oder feiert.

Die Grasharfe – Truman Capote erschienen im Suhrkamp Verlag, übersetzt von Friedrich Podszus und Annemarie Seidel

Truman Capote war ein Meister der poetischen Prosa, ein Schriftsteller, der mit wenigen Worten ganze Welten erschaffen konnte. Sein Roman „Die Grasharfe“ ist ein gutes Beispiel dafür. Capote, bekannt für Werke wie „Frühstück bei Tiffany“ und „Kaltblütig“, schöpft hier aus seinen eigenen Erinnerungen an seine Kindheit im Süden der USA. Der Roman trägt eine autobiografische Note, denn Collin Fenwick, der Erzähler, weist deutliche Parallelen zu Capotes eigenem Werdegang auf: ein vaterloser Junge, der bei exzentrischen Verwandten aufwächst und in der Natur eine Zuflucht findet.

Dieses kleine Buch ist ein sonnendurchfluteter Spätsommerroman, voller Nostalgie und Lebensweisheit. Es erzählt die Geschichte von Dolly Talbo, einer sanften, intuitiven Frau, die sich von ihrer dominanten Schwester Verena abwendet, um mit ihrer Catherine, die sie ein Leben lang begleitet sowie ihrem Neffen Collin in einem Baumhaus Zuflucht zu suchen. Sie werden bald von zwei weiteren Außenseitern begleitet: Riley Henderson, ein draufgängerischen Jungen aus der Stadt, und Richter Charlie Cool, einem alten Mann, der nach einem Leben voller Urteile endlich Freiheit sucht. Gemeinsam bilden sie eine provisorische Familie, eine Gemeinschaft jenseits gesellschaftlicher Zwänge.

Was mich an Die Grasharfe am meisten berührt hat, ist die Atmosphäre. Capote gelingt es, die Natur als einen lebendigen, atmenden Raum darzustellen – ein Ort des Friedens, aber auch der Erkenntnis. Die leise flüsternden Grashalme, die Titel gebende „Grasharfe“, scheinen Geschichten aus der Vergangenheit zu erzählen, Geschichten von Verlorenen und Suchenden. Es ist ein Buch über Zugehörigkeit, über Liebe und die Wahl, seinen eigenen Weg zu gehen. Dabei bleibt die Erzählung immer leicht, schwebend, durchzogen von einem feinen Humor, aber auch von einer tiefen Melancholie.

Es war ein Schiff, und wenn man dort oben saß, konnte man die wolkengesäumten Küsten aller Träume entlangsegeln.

Jedes Wort dieses kleinen Romans ist mit Bedacht gewählt, jeder Satz trägt eine poetische Kraft. Man spürt man die Wehmut in jeder Zeile. Man möchte wieder Kind sein, durch Felder streifen, sich in den Ästen eines Baumes verstecken und den Stimmen der Natur lauschen. Der Roman ist kein großes Drama, kein aufwühlendes Epos – er ist eine kleine stille Meditation über das Leben und die Menschen, die es prägen. Dennoch bleibt er spannend, weil Capote es versteht, dass die Leser*innen sich den Figuren verbunden fühlen. Besonders Dolly ist eine sehr faszinierendste Figur, herzlich mit einer fast tiefen Verbindung zur Natur. Es gibt eine Szene, in der Collin beschreibt, wie Dolly das Wetter vorhersagen, Pilze und Wildhonig finden und die süßesten Früchte aufspüren kann – als wäre sie selbst ein Teil des Waldes. Diese sanfte Weisheit ist es, die sie so unvergesslich macht.

Während Capote oft mit seinen düsteren Reportagen und Charakterstudien in Kaltblütig oder Frühstück bei Tiffany in Verbindung gebracht wird, zeigt er hier seine lyrische Seite. Es war sein zweiter Roman und sein erster kommerzieller Erfolg. Die Grasharfe liest sich fast wie ein langes Gedicht, voller Bilder, die nachhallen. Und ja – es macht Lust, ein Baumhaus zu bauen, einen Ort der Freiheit zu schaffen, an dem man den Zwängen der Welt entfliehen kann.

Wer dieses Buch liest, sollte sich Zeit nehmen. Es ist kein Roman, den man hastig konsumiert. Er will in der Sonne gelesen werden, mit dem Wind in den Haaren und dem Rascheln der Blätter im Hintergrund. Es ist ein literarisches Kleinod, das von Freiheit, Freundschaft und den Geschichten erzählt, die in uns weiterleben.

Längst fällige Verwilderung – Simone Lappert erschienen im Diogenes Verlag

In Simone Lapperts Lyrik vermoosen Gedanken und leuchtet der Mond siliziumhell. Die Liebe schmeckt nach Quitte, die Katastrophe nach Erdbeeren, und die Dichterin fragt sich, fragt uns: ›sag, wie kommt man noch gleich ohne zukunft durch den winter?‹ Gedichte über Aufbrüche, Sehnsüchte, Selbstbestimmung und die fragile Gegenwart. Alle Sinne verdichten sich, aller Sinn materialisiert sich in diesen Texten voller Schönheit, Klugheit und Witz.

Ein sehr schöner Gedichtband, den ich gerne gelesen habe. Habe noch zwei Romane im Regal stehen von Simone Lappert, auf die freue ich mich jetzt noch mehr. Eine Autorin die wunderbar mit Sprache spielen kann, die einen Gedichtband verfasst hat, den ich vielleicht auch Leuten in die Hand drücken würde, die sich sonst nicht wirklich an Lyrik herantrauen. Wirklich schön.

Teufels Bruder – Matthias Lohre erschienen im Piper Verlag

Matthias Lohres Roman „Teufels Bruder“ ist die Geschichte über die beiden Brüder Thomas und Heinrich Mann, die gemeinsam eineinhalb Jahre in Italien verbringe. Das wird nicht nur spannend, sondern auch atmosphärisch dicht erzählt und es scheint so viel italienische Sonne durch den Roman, man möchte direkt los reisen.

Lohre gelingt es unwahrscheinlich gut, historische Fakten mit literarischer Fiktion zu verweben. Er zeichnet die Beziehung der beiden Brüder in all ihren Facetten: die Rivalität, die Bewunderung, die unterschiedlichen Lebensentwürfe. Heinrich, der ältere, bereits als Schriftsteller anerkannte Bruder, der sich in die Schauspielerin Lina verliebt, und Thomas, der suchende, schwankende jüngere Bruder, der sich immer wieder in seiner Faszination für einen lockigen melancholischen Jüngling verliert. Gerade diese Passagen fand ich anfangs faszinierend, irgendwann aber etwas zu ausschweifend. Das ständige Hinterherschleichen und die intensiven Grübeleien hätten für meinen Geschmack etwas gestrafft werden können – aber das ist Jammern auf hohem Niveau.

Was Lohre besonders gut macht, ist die psychologische Tiefe seiner Figuren. Thomas Mann wird nicht als der überlebensgroße Literat dargestellt, sondern als junger Mensch, der seinen Platz in der Welt sucht, zwischen bürgerlichen Erwartungen und künstlerischer Ambition. Man spürt seinen inneren Zwiespalt, die Bewunderung für den älteren Bruder, die Unsicherheit, das Staunen über die eigene wachsende Schaffenskraft. Dass diese Reise nicht nur einen literarischen, sondern auch einen persönlichen Wendepunkt für ihn darstellt, wird immer deutlicher, je weiter der Roman voranschreitet.

Heinrich leerte sein Glas in wenigen Zügen und ließ sich den Weg zu den Waschräumen zeigen. Auch wenn der Verlegersohn nur aussprach, wovon er selbst überzeugt ar, war dessen Gestus doch anstössig. Junior schien unter der Schlechtigkeit der Menschen nicht zu leiden, sondern sie zu genießen.

Die Atmosphäre des südlichen Italiens fängt Lohre hervorragend ein. Man fühlt sich in die Hitze Neapels versetzt, hört das geschäftige Treiben Roms und spürt die Melancholie Venedigs. Gerade die Szenen in Palestrina, wo Thomas Mann dem „Bösen schlechthin“ begegnet, haben eine fast unheimliche Intensität. Es bleibt unklar, was genau dort geschah, aber die Andeutungen reichen aus, um die Schwere dieses Erlebnisses zu erahnen.

Besonders gelungen fand ich die literarischen Bezüge. Wer Thomas Manns Werk kennt, wird hier viele Motive und Anklänge wiederfinden – sei es an „Buddenbrooks“, „Tod in Venedig“ oder „Doktor Faustus“. Doch auch ohne Vorkenntnisse funktioniert der Roman, denn Lohre erzählt eine eigenständige Geschichte, die sich nicht in literarischen Anspielungen verliert, sondern ihre ganz eigene Kraft entfaltet.

Insgesamt ist „Teufels Bruder“ ein großartiger Roman, der sowohl als fiktionale Biografie als auch als eigenständige Erzählung überzeugt. Er hätte vielleicht 100 Seiten kürzer sein können, aber das ändert nichts daran, dass ich ihn sehr mochte. Eine klare Leseempfehlung und ich möchte nach „Felix Krull“ das mich letztes Jahr so begeistert hat dieses Jahr unbedingt die „Buddenbrooks“ lesen. Lohre hat mir da echt Lust drauf gemacht.

Antarctica – Claire Keegan auf deutsch unter dem Titel „Wo das Wasser am tiefsten ist“ im Steidl Verlag erschienen

Mit Claire Keegans Debüt Kurzgeschichten Band bin ich überhaupt nicht warm geworden. Die erste titelgebende Geschichte war krass, sehr düster und an die denke ich immer noch. Alle anderen haben nicht gefunkt bei mir und sind irgendwie alle ineinander geflossen. Ich mochte ihren Schreibstil, möchte auch gerne noch einen ihrer Romane lesen, aber bei den Kurzgeschichten bin ich raus.

Hat einer von euch etwas von Claire Keegan gelesen? Welchen Roman würdet ihr empfehlen?

Löwen wecken – Ayelet Gundar-Goshen erschienen im Kein & Aber Verlag übersetzt von Ruth Achlama

Der Roman den ich für den Stopp in Israel auf meiner literarischen Weltreise gelesen habe. Meine Rezension dazu könnt ihr hier nachlesen.

Zehn – Franka Potente erschienen im Piper Verlag

Wir hatten ein paar wirklich graue Tage in München und irgendwann habe ich beschlossen eine kleine „Reise nach Japan“ zu unternehmen und unser wunderschönes japanisches Teehaus zu besuchen. Entsprechende Reiselektüre habe ich auch eingepackt und Franka Potentes Kurzgeschichten haben mich gut unterhalten. Zehn feine kleine Geschichten mit Beobachtungen aus dem japanischen Alltag, viel Augenmerk auf Essen und Heizgeräte 😉

Besonders gern mochte ich die erste Kurzgeschichte „Götterwinde“ über eine Frau die einen Laden für handgemachte Fächer hat und eine besondere Begegnung mit einem Kunden hat. Perfekte Begleitlektüre für meinen Ausflug.

Streulicht – Deniz Ohde erschienen im Suhrkamp Verlag

Industrieschnee markiert die Grenzen des Orts, eine feine Säure liegt in der Luft, und hinter der Werksbrücke rauschen die Fertigungshallen – Deniz Ohde entwirft in ihrem Debütroman Streulicht eine Kulisse, die mir seltsam vertraut ist. Ich bin und bleibe wohl eine Identifikationsleserin. Und selten habe ich mich einer Protagonistin so nahe gefühlt wie hier.

Ohde erzählt von einer jungen Frau, die in einem westdeutschen Arbeiterhaushalt aufwächst, deren Vater tagein, tagaus Aluminiumbleche beizt, deren Mutter irgendwann ihre Koffer packt und verschwindet, deren Großvater an seiner eigenen Stille und Unbeweglichkeit fast erstickt. Sie erzählt von einem Mädchen, das sich in einem Bildungssystem behaupten muss, das Chancengleichheit verspricht, aber (unsichtbare) Hürden aufbaut, die für manche kaum zu überwinden sind. Vom frühen Schulabbruch, von der Anstrengung, sich durchzukämpfen, von der Angst, nicht zu genügen, und der Scham, wenn man doch immer wieder zurückverwiesen wird auf den Platz, den andere für einen vorgesehen haben.

Ich kenne dieses Gefühl so gut. Es ist das Gefühl, mit jedem Schritt, den man geht, gegen eine unsichtbare Wand zu laufen. Das Gefühl, dass der eigene Hintergrund sich wie ein bleierner Schatten über alle Ambitionen legt. Deniz Ohde hat es geschafft, all das in eine Sprache zu fassen, die so unfassbar präzise ist, dass man das Gefühl hat sich manchmal blutige Schrammen zu holen. Ihre Sätze sind zurückgenommen und gleichzeitig eindringlich, jede Beobachtung sitzt, jedes Detail erzählt eine eigene Geschichte.

Und während ich lese, denke ich auch zurück. Ich bin nicht schaumgeboren, sondern ölofendunstgeboren. Der Geruch, der mich sofort in meine Kindheit zurückkatapultiert, ist der von Öl, das aus der Kanne in den Ofen gegossen wird. Dieser alles durchdringende, stechende Geruch, der nicht nur im Keller bei den riesigen Öltanks vorherrschte, sondern sich auch in unser Essen schlich. Denn meine Oma lagerte aus Platzmangel unsere Vorräte im Keller – Kartoffeln, Karotten, Kohl, direkt neben den Tanks.

Der eingebaute Schrank, in dem die Ölkannen standen. Heizungsölgeruch in den Klamotten und immer die Sorge, andere können das an einem riechen. Wir lebten in einer Reihe von vier Mietskasernen, doch nur unsere Reihe hatte keine Heizung. Sie war für die Aussiedler und Flüchtlinge vorgesehen. Heute sind es Eigentumswohnungen – ein absurdes Schicksal für diese Bauten, oder? Krass, wie sehr die Orte, in denen wir aufwachsen, uns formen, wie tief sich ihre Geschichten in unsere Körper einschreiben.

Ohde beschreibt diese Welt ohne Pathos, aber mit einer Wahrhaftigkeit, die manchmal schwer auszuhalten ist. Sie zeigt, was es bedeutet, wenn Herkunft nicht nur eine Tatsache, sondern ein Stigma ist. Wie Klassismus sich in feinen, kaum sichtbaren Rissen im Selbstbewusstsein eingräbt. Wie er sich als verinnerlichte Abwertung manifestiert – und wie schwer es ist, sich davon zu befreien. Und dann sind da noch die anderen Linien der Ausgrenzung: subtiler Rassismus, Armut, psychische Krankheiten, alles ineinander verschränkt, alles spürbar in jeder Begegnung, jedem Blick, jeder Geste.


Wenn einem etwas angetan wird, dann ist er nicht selbst schuld daran; wenn einer in einem System versagt, das von vornherein auf sein Versagen angelegt ist, liegt die Schuld nicht bei ihm. Für wen ist das Netz gebaut. Für wen ist es ein Fangnetz, und für wen ist der Abgrund darunter bestimmt.

Ich habe diesen Roman nicht nur gelesen – ich habe ihn durchlebt. Ich saß mit der Protagonistin im Klassenzimmer und habe die Lehrer verflucht, ich sah mit ihr auf den Industriepark mit seinen hohen Schloten, ich spürte ihre Resignation auf meinen eigenen Schultern lasten. Und ich ging mit ihr mühevolle Schritte mit dem Gefühl, falsch zu sein, selbst schuld zu haben, durchs Raster gefallen zu sein – in einem Land, das gleiche Bildungschancen proklamiert.

Deniz Ohde hat meinen tiefsten Respekt für diesen Roman. Es ist eine Geschichte, die bleiben wird, weil sie nicht nur erzählt, sondern auch entblößt. Weil sie einen nicht nur an die Hand nimmt, sondern einem auch einen Spiegel vorhält. Und weil sie mich – und sicher viele andere – an Dinge erinnert, die sonst oft unsichtbar bleiben. Ich bin gespannt auf alles, was sie noch schreiben wird. Denn wenn Streulicht eines bewiesen hat, dann das: Es gibt Literatur, die uns nicht nur etwas über andere erzählt, sondern uns mit jedem Wort mehr über uns selbst verrät. Was für ein Roman!

Die verlorenen Wörter – John Macfarlene & Jackie Morris erschienen bei Naturkunden im Matthes & Seitz Verlag, übersetzt von Daniela Seel

Es gibt Bücher, die man liest, bewundert und dann wieder ins Regal stellt. Und es gibt Bücher wie „The Lost Words/Die verlorenen Wörter“ von Robert Macfarlane und Jackie Morris, die man nicht nur liest, sondern immer wieder zur Hand nimmt, weil sie einen ganz tief berühren. Dieses Buch ist mehr als eine Sammlung von Versen und Illustrationen – es ist ein Zauberbuch, das verlorene Worte und damit verlorene Welten zurückruft.

Die Geschichte hinter diesem Buch ist ein bißchen traurig, hat enthält aber auch einen Hauch Hoffnung: Als das Oxford Junior Dictionary 2007 Wörter wie „Eichel“, „Dachs“ und „Königsfischer“ strich, um Platz für Begriffe wie „Broadband“ und „Voicemail“ zu machen, war das ein bezeichnendes Zeichen unserer Zeit. Ein Kind, das keine Worte für die Natur hat, verliert nicht nur die Fähigkeit, sie zu benennen, sondern auch, sie wirklich wahrzunehmen. Sprache formt unsere Vorstellungskraft, und wenn uns die Worte für das Wilde, das Ursprüngliche fehlen, wird es Stück für Stück unsichtbar.

Macfarlane und Morris haben darauf mit einer poetischen „Rebellion“ geantwortet. Sie haben nicht einfach ein Kinderbuch geschaffen – sie haben eine Sammlung von „Zaubersprüchen“ geschrieben, Verse, die die verlorenen Worte zurückholen und ihnen neues Leben einhauchen. Jackie Morris’ Illustrationen sind wunderschön, detailverliebt und von einer tiefen Liebe zur Natur durchdrungen. Würde so gerne so zeichnen können! Jedes Bild, jede Seite ist ein kleiner Zauber, der die Magie der Sprache und der Wildnis feiert.



Ja, es ist eigentlich ein Kinderbuch – aber es weckt eine tiefe Sehnsucht nach der Natur, egal wie alt man ist. „Die verlorenen Wörter“ sollte vielleicht vom Arzt als Antidepressiva verschrieben werden, als Gegenmittel gegen Doom-Scrolling, Betontristesse und die allgemeine Entzauberung der Welt.

Dieses Buch zaubere ich jetzt in jedes Klassenzimmer, jede Bibliothek, jedes Zuhause. Es ist eine Einladung, die Natur wieder zu entdecken. Denn nur was wir benennen können, können wir auch lieben. Und nur was wir lieben, werden wir bewahren.

Geschafft! Was waren eure Februar Highlights? Freue mich von euch zu hören!

Flirrende August Lektüre

Der August war ein wirklich guter Lesemonat mit acht Büchern, darunter zwei Highlights, viele weitere großartige Titel – kein einziger Ausfall, ich bin rundum zufrieden! Aber jetzt ohne groß Schnacken geht es direkt los. Bin gespannt, welche davon ihr bereits kennt oder auf welche ich euch Lust machen kann. Freue mich auf eure Rückmeldungen. Wie war euer Lesemonat August?

Für den Zweifel – Carolin Emcke erschienen im S. Fischer Verlag

Beim Lesen von Carolin Emckes „Für den Zweifel“ als auch beim Besuch ihres Gesprächs mit Asal Dardan in der Monacensia in München im Juni habe ich unglaublich viel gelernt. Emcke denkt und spricht in Lichtgeschwindigkeit, und ich habe versucht, mir so viele Notizen wie möglich zu machen. Ihre kluge und gleichzeitig bescheidene Art, insbesondere ihr ständiges Zweifeln und das Eingeständnis, nicht alles zu wissen, hat mich sehr beeindruckt. Davon bräuchten wir heute viel mehr.

Emckes Buch ist eine tiefgehende Auseinandersetzung mit dem Thema Zweifel. Sie zeigt, dass Zweifel keine Schwäche, sondern ein wichtiger Teil des Erkenntnisprozesses ist. In einer Welt, die oft nach schnellen und einfachen Antworten sucht, erinnert sie uns daran, dass es wichtig ist, innezuhalten und gründlich nachzudenken. Ihre Bereitschaft, Unsicherheit zuzulassen und Fragen offen zu lassen, vermittelt eine wertvolle Lektion in Bescheidenheit und Offenheit.

„Dass es Erfahrungen geben kann, die sich nicht sofort beschreiben lassen, ja, dass es Erfahrungen gibt, die sich nicht einmal sofort verstehen lassen, weil sie uns überfordern, weil sie alles außer Kraft setzen, was sonst gilt, weil sie alle Erwartungen an das, was Menschen aneinander antun, übersteigen – das ist ungeheuerlich.“

Ein zentraler Punkt in Emckes Werk und im Gespräch war der Umgang mit Gewalt und Fanatismus in unserer Gesellschaft. Sie betont die Bedeutung des Dialogs und des Verständnisses für den Anderen, selbst wenn es schwierig ist. Sie fordert dazu auf, die Ursachen von Hass und Gewalt zu verstehen, anstatt vorschnelle Urteile zu fällen.

Ihre Erfahrungen als Reporterin in Krisengebieten verleihen ihren Argumenten eine besondere Authentizität. Emckes Berichte über ihre Begegnungen mit Gewalt und Entmenschlichung sind erschütternd und inspirierend zugleich. Sie zeigt, wie wichtig es ist, die Geschichten und Erfahrungen anderer Menschen zu hören, um die Welt besser zu verstehen.

In „Für den Zweifel“ fordert Emcke uns auf, immer wieder innezuhalten und zu reflektieren. Diese Haltung, stets neugierig und offen für Neues zu bleiben, sind inspirierend und da lasse ich gerne meine Hirnwindungen (ver)glühen…

Trespasses – Louise Kennedy auf deutsch unter dem Titel „Übertretung“ im Steidl Verlag erschienen, übersetzt von Claudia Glenewinkel und Hans-Christian Oeser

Ich muss ehrlich zugeben, dass es einige Themen in der Literatur gibt, um die ich normalerweise einen großen Bogen mache: zum Beispiel Mafia, Sport, Spionage oder auch der Nordirland-Konflikt. Doch manchmal purzeln durch meinen Bookclub Bücher auf meine Leseliste, die ich sonst wahrscheinlich nie in die Hand genommen hätte – und das ist wirklich gut so. Ein perfektes Beispiel dafür ist Louise Kennedys Trespasses, das mich gehörig aufgewühlt hat.

Die Geschichte spielt im Jahr 1975 in Nordirland, zu einer Zeit, in der der Alltag der Menschen von Gewalt und Terror geprägt war. Was mich besonders fasziniert hat, ist die Art und Weise, wie Kennedy den alltäglichen Schrecken darstellt. Diese Abgestumpftheit, die sich in den Menschen festsetzt, wenn Bedrohung und Anschläge zur traurigen Normalität werden, ist erschütternd und geht unter die Haut. Es ist kein Buch, das man leicht vergisst, weil es einem diese dunklen, tragischen Aspekte so unmittelbar vor Augen führt.

Im Zentrum der Handlung steht Cushla, eine junge katholische Lehrerin, die sich in einen älteren, verheirateten protestantischen Anwalt verliebt. Obwohl die Liebesgeschichte einen zentralen Teil des Buches ausmacht, hat sie mich persönlich weniger interessiert. Viel mehr habe ich mich auf die Darstellung des alltäglichen Lebens während der „Troubles“ konzentriert, auf die kleinen Details, die Kennedy so meisterhaft einfängt – wie den „soft dunt“ eines sich schließenden Kühlschranks oder die bedrückende Atmosphäre in einem Pub, in dem britische Soldaten die Gäste im Auge behalten.

Wir hatten eine wirklich spannende Diskussion im Bookclub, auch oder vielleicht gerade, weil es sehr unterschiedliche Meinungen zum Buch gab. Ein besonders spannender Aspekt bei der Diskussion über Trespasses in unserem Bookclub war, dass wir Informationen aus erster Hand hatten. Eine Teilnehmerin, die während der Troubles in Nordirland aufgewachsen ist – glücklicherweise auf dem Land, wo die Gewalt weniger spürbar war als in Belfast – lobte das Buch in den höchsten Tönen.Sie war besonders beeindruckt von der realistischen Darstellung der Ereignisse und bestätigte, wie genau Kennedy die bedrückende Atmosphäre jener Zeit eingefangen hat.

„Sprengfalle. Brandsatz. Plastiksprengstoff. Nitroglyzerin. Molotowcocktail. Gummigeschoss. Saracen. Internierung. Special Powers Act. Vortrupp. Was heutzutage zum Wortschatz eines siebenjährigen Kindes gehört.“

Kennedy ist eine Autorin, die erst spät zur Literatur gefunden hat, nachdem sie fast drei Jahrzehnte als Köchin gearbeitet hat. Vielleicht ist es gerade diese Lebenserfahrung, die ihrem Schreiben diese besondere Tiefe und Sensibilität verleiht. In Trespasses geht es nicht nur um die äußeren Umstände, sondern auch um die inneren Kämpfe der Charaktere – und genau das macht das Buch so lesenswert.

Ich bin froh, dass ich mich aus meiner literarischen Komfortzone herausgewagt habe, denn Trespasses ist ein Buch, bei dem ich eine Menge gelernt habe und das mir glaube ich noch lange in Erinnerung bleiben wird.

Ich danke dem @steidlverlag ganz herzlich für das Rezensionsexemplar.

Der grosse Sommer – Ewald Arenz erschienen im Dumont Verlag

I know I know dieses Buch hätte ich natürlich auf dem 10m Brett im Schwimmbad fotografieren müssen, aber die Schlange war zu lang, ihr müsst also mit dem Bächlein hinterm Haus vorlieb nehmen. Ich denke das Buch muss ich nicht großartig vorstellen. Gefühlt hat es schon jede*r gelesen und ich jetzt auch. Ich mochte es, es zu lesen fühlt sich nach Sommerferien, Freibadpommes und Gartenglück an.

„Nana blätterte weiter. Ein Regenbild am Abend. Sie konnte einfach so gut malen. Ich fühlte einen Stich. Ich wollte auch etwas können. Richtig können. Irgendwas.“

Vielleicht werde ich mich bald nicht mehr an allzu viel aus dem Buch erinnern – aber das macht nichts. Ich habe darin eine neben Dulcie aus „The Offing“ eine weitere wunderbare coole weise Lady kennengelernt – gute Role Models fürs Alter kann man gar nicht genug haben.

Hier kurz der Klappentext:
Die Zeichen auf einen entspannten Sommer stehen schlecht für Frieder: Nachprüfungen in Mathe und Latein. Damit fällt der Familienurlaub für ihn aus. Ausgerechnet beim gestrengen Großvater muss er lernen. Doch zum Glück gibt es Alma, Johann – und Beate, das Mädchen im flaschengrünen Badeanzug. In diesen Wochen erlebt Frieder alles: Freundschaft und Angst, Respekt und Vertrauen, Liebe und Tod. Ein großer Sommer, der sein ganzes Leben prägen wird.
Hellsichtig, klug und stets beglückend erzählt Ewald Arenz von den Momenten, die uns für immer verändern.

Ein Buch das bezaubert, an vergangene Sommer erinnert und wirklich sehr große Lust auf Arschbombe im Freibad macht.

Keyserlings Geheimnis – Klaus Modick erschienen im Kiepenheuer & Witsch Verlag

Klaus Modicks „Keyserlings Geheimnis“ liest sich ganz wunderbar am Ufer des Starnberger Sees. Wer also plant seine Sommerfrische dort zu verbringen, für den gibt es keine passendere Lektüre. Der Roman schafft es auf wunderbare Weise, die Stimmung des Fin de Siècle lebendig werden zu lassen und die Leser*innen in die Welt des Schriftstellers Eduard von Keyserling mitzunehmen. Modick verwebt geschickt historische Fakten mit Fiktion und lässt uns teilhaben an einem schicksalhaften Sommer am Starnberger See im Jahr 1901. Der Fokus liegt auf den letzten Lebensjahren von Keyserling, einem geheimnisvollen, von der Syphilis gezeichneten Dichter, der seine Vergangenheit sorgsam unter Verschluss hält.

Mir gefiel, wie Modick die Atmosphäre dieser Zeit einfängt – die Sommerfrische, die intellektuellen Gespräche in den Münchner Kneipen, die dekadente Bohème, die sich dort versammelt. Er schafft es, das Lebensgefühl jener Epoche einzufangen, ohne dabei kitschig oder nostalgisch zu werden. Stattdessen entsteht ein authentisches, lebendiges Bild, das Lust darauf macht, sich tiefer mit dieser Zeit und ihrer Literatur auseinanderzusetzen.

„Der wahre Sommer ist niemals der, den man gerade erlebt, sondern der andere, lichtdurchwobene, dufterfüllte, wundervolle, an den man sich eines Tages erinnert. Die heimatliche Sonne leuchtet heller in der Fremde, die Gärten der Kindheit duften stärker in der Erinnerung. Was verloren geht, das gerinnt zum Bild. Oder wird zu einer Geschichte. Es ist natürlich lästig, dass sie erst noch geschrieben werden muss, während die Erinnerung einfach da ist, die unauslöschliche Erinnerung an Ado oder auch an Veronika, an Vroni, die er in seinem Wiener Roman Tini genannt hat“

Die Figur des Eduard von Keyserling selbst, ein adeliger Dandy und Außenseiter, bleibt dabei rätselhaft und faszinierend. Durch die Augen des Malers Lovis Corinth, der Keyserling porträtiert, und des Dramatikers Max Halbe, der ihn zu dieser Sommerfrische eingeladen hat, erleben wir einen Mann, der charmant und wortgewandt ist, aber stets eine gewisse Distanz wahrt. Die Gerüchte um einen Skandal in seiner Jugendzeit, die ihn schließlich ins Exil trieben, werden nur angedeutet und tragen zur geheimnisvollen Aura bei, die den Schriftsteller umgibt.

Modicks Roman macht definitiv Lust mehr über Eduard von Keyserling zu erfahren. Geboren 1855 in einem deutsch-baltischen Adelsgeschlecht, führte Keyserling ein Leben, das ebenso schillernd wie tragisch war. Nach einem Skandal verließ er seine Heimat und verbrachte einen Großteil seines Lebens in München. Seine impressionistischen Werke, die oft von einer melancholischen Grundstimmung durchzogen sind, gehören zu den bedeutendsten literarischen Zeugnissen dieser Zeit.

Die Bagage – Monika Helfer erschienen im Hanser Verlag

Monika Helfer hat mit „Die Bagage“ einen Roman vorgelegt, der tief in die Geschichte einer armen und teilweise am Existenzminimum lebenden Familie eintaucht und gleichzeitig das Thema Herkunft auf nachdrückliche Weise behandelt. Die Autorin nimmt uns mit in ein abgelegenes österreichisches Bergdorf während des Ersten Weltkriegs, wo sie die Geschichte ihrer Großeltern Maria und Josef erzählt.

Maria, eine Frau von außergewöhnlicher Schönheit, und Josef, ihr schweigsamer und furchteinflößender aber ebenfalls sehr schöner Ehemann, stehen im Zentrum des Romans. Ihre Geschichte wird von den Gerüchten im Dorf über die Familie sowie aufgrund des drohenden Krieges überschattet. Als Josef eingezogen wird, geraten Maria und die Familie noch weiter ins Visier der Dorfbewohner, und die Unsicherheit über die wahre Herkunft eines ihrer Kinder wird zum Kern der Erzählung. Helfer erzählt eine ländlich geprägte Geschichte die dennoch universell erscheint.

Was Helfers Roman besonders auszeichnet, ist die Art und Weise, wie sie die Fragmentierung von Erinnerungen und Geschichten darstellt. „Die Bagage“ ist nicht nur ein Familienroman, sondern auch eine Reflexion darüber, wie Geschichte erzählt und wahrgenommen wird. Die Autorin gelingt es, die Balance zwischen dokumentarischer Genauigkeit und spekulativer Erzählung zu halten, wodurch die Lebensgeschichten ihrer Vorfahren in einem neuen Licht erscheinen. Helfer bleibt als Erzählerin meist im Hintergrund, lässt ihre Figuren jedoch durch kleine Details und liebevolle Beobachtung lebendig werden.

„Ihr braucht nicht mehr in die Schule zu gehen“ sagte sie. „Überhaupt nicht mehr. Nicht mehr, solange Krieg ist. Alles, was ihr in der Schule lernt, kann ich euch auch beibringen.“

„Die Bagage“ ist ein dichter und atmosphärischer Roman von nur knapp 160 Seiten, der durch seine präzise und doch poetische Sprache besticht. Die Art, wie Helfer die Beziehungen und Spannungen innerhalb der Familie schildert, lässt erahnen, wie schwer das „Gepäck“ der eigenen Herkunft wiegen kann. Besonders die Tatsache, dass das Buch auf realen Familienerinnerungen basiert, verleiht ihm eine zusätzliche Tiefe und Authentizität.

Monika Helfer hat mit diesem Roman nicht nur die Geschichte ihrer Familie auf beeindruckende Weise festgehalten, sondern gezeigt, dass ein Werk verfasst, das über das Individuelle hinausgeht und universelle Fragen nach Identität und Zugehörigkeit aufwirft. Ich habe auf jeden Fall Lust bekommen weitere Werke der Autorin zu entdecken.

Prodigal Summer – Barbara Kingsolver auf deutsch ist das Buch unter dem Titel „Im Land der Schmetterlinge“ im Piper Verlag erschienen, übersetzt von Anne Ruth Frank-Strauss

„Prodigal Summer“ von Barbara Kingsolver hat mich, nachdem ich „Demon Copperhead“ Anfang des Jahres verschlungen habe, wieder tief beeindruckt. Obwohl es nicht ganz an die Intensität von „Demon Copperhead“ heranreicht, war es wieder eine Lektüre, die ich kaum aus der Hand legen konnte. Besonders faszinierend fand ich es, über die Generation vor den Ereignissen in „Demon Copperhead“ zu lesen, und einen Einblick in das Leben der „Hillbillies“ in den Appalachen rund um das Jahr 2000 zu bekommen.

Das Leben auf den Farmen, das sich seit Jahrhunderten kaum verändert hat, bekommt zunehmend Risse. Man merkt wie der traditionelle Lebensstil immer mehr unter Druck gerät. Die Veränderungen in der Landwirtschaft, die Kingsolver beschreibt, wie das langsame Sterben kleiner Betriebe, die vom Farming allein nicht mehr leben können, machen deutlich, wie diese Entwicklung unaufhaltsam in die Armut und die Opioid-Krise der folgenden Jahrzehnte führen würde.

“Her body moved with the frankness that comes from solitary habits. But solitude is only a human presumption. Every quiet step is thunder to beetle life underfoot; every choice is a world made new for the chosen. All secrets are witnessed.“

Das Buch erzählt drei miteinander verwobene Geschichten von Menschen, die alle ihre Verbindung zur Natur auf unterschiedliche Weise leben und erleben. Die Protagonisten Deanna, Lusa und Garnett sind tief in ihrer Umgebung verwurzelt, und ihre jeweiligen Geschichten vermitteln ein starkes Gefühl für die Herausforderungen aber auch die Schönheiten des ländlichen Lebens. Besonders hat mir die Figur der Deanna gefallen, die als Park Rangerin allein in den Bergen lebt und sich für die dort ansässigen Kojoten einsetzt. Ihre Begegnungen mit einem jungen Mann bringen ihr selbstgewählt einsames Leben durcheinander und eröffnen spannende Perspektiven auf das Zusammenspiel von Mensch und Natur.

Lusa, die durch den plötzlichen Tod ihres Mannes in eine völlig neue Lebenssituation geworfen wird, muss sich in der rauen und teilweise feindseligen Schwiegerfamilie behaupten. Ihre Geschichte zeigt, wie tief verwurzelt Vorurteile und Traditionen in solch kleinen Gemeinschaften sein können, und wie schwer es sein kann, diese zu überwinden.

Das Buch vom Salz – Monique Truong erschienen im C. H. Beck Verlag und wurde von Barbara Rojahn-Deyk aus dem Englischen übersetzt.

„Das Buch vom Salz“ von Monique Truong ist eine Geschichte, die gleichzeitig melancholisch und von einer sommerlichen Leichtigkeit durchzogen ist. Die Erzählweise, ist fein und sinnlich, lässt einen förmlich den Duft frischer Kräuter und exotischer Gewürze in der Luft riechen.

Binh, der vietnamesische Koch von Gertrude Stein und Alice B. Toklas, ist die Hauptfigur dieses Romans. Durch seine Augen erleben wir nicht nur den Alltag dieser beiden berühmten Frauen, sondern vor allem seine eigene, schmerzhafte Geschichte des Exils und der Suche nach Zugehörigkeit. Die Art, wie Truong die Sinnlichkeit des Kochens und der Sprache miteinander verwebt, ist beeindruckend und lässt den/die Leser*in selbst in die Küche eilen, um etwas von dieser Magie einzufangen.

„Ich war sicher, daß ich die vertraute Schärfe von Salz spüren würde, aber was ich wissen mußte, war, was für eine Art von Salz: Küche, Schweiß, Tränen oder das Meer“

Die Melancholie, die über allem liegt, erinnert an die bittersüßen Momente, die das Leben so lebenswert machen. Gleichzeitig ist da aber auch eine Leichtigkeit, fast wie ein warmer Sommerwind, der durch die Seiten streicht wenn man Binhs „stream of consciousness“ folgt. Man fühlt mit Binh – mit seiner Sehnsucht, seinen Erinnerungen und seiner stillen Traurigkeit, aber auch mit seiner Leidenschaft für das Kochen und das Leben selbst.

Der Roman erinnert wie stark das Band zwischen Essen und Erinnerung sein kann, wie tief eine einfache Mahlzeit Gefühle und Vergangenheit miteinander verbinden kann. „Das Buch vom Salz“ ist ein sinnliches Erlebnis, das einen dazu einlädt, mit allen Sinnen zu lesen und danach den Kochlöffel in die Hand zu nehmen. Eine literarische Reise, auf die ich euch gerne mitnehmen möchte mit diesem Buch.

Liebesgeschichten – Marie Luise Kaschnitz erscheint im Suhrkamp Verlag

Marie Luise Kaschnitz’ „Liebesgeschichten“ wollte ich anfangs erst gar nicht so recht lesen, denn ich bin jetzt nicht unbedingt ein Fan von Liebesgeschichten. Ich hatte aber arge Lust wieder was von dieser spannenden Autorin zu lesen und aktuell war das alles was die heimische Bibliothek hergab. Zum Glück! Was für eine Überraschung – das schmale Büchlein enthält 11 Kurzgeschichten (ausgewählt von #elisabethborchers) , die auf faszinierende Weise das Unheimliche und Skurrile des Alltags offenbaren. Die erste Geschichte, spielte in Pompeji (juhu!!) und hat mich begeistert – die Atmosphäre ist so dicht und „unsettling“, damit hatte ich nicht gerechnet.

„Du hast deinen Kopf nach links und rechts gedreht, wie die Eisbären, und ich habe dich darum oft meinen Eisbären genannt.“

Die Erzählungen sind überraschend und oft auch beunruhigend. Besonders „Eisbären“ hat mich beeindruckt: Hier wird eine kleine Notlüge einer Frau zum Schicksalsschlag. Es zeigt, wie sehr unsere unausgesprochenen Erwartungen unser Leben prägen können. Auch „Die Füße im Feuer“ wird mir im Gedächtnis bleiben – eine Geschichte über jemanden, der keinen Schmerz empfindet und dadurch fast die Fähigkeit verliert, das Leben richtig zu spüren. Das fand ich unglaublich intensiv.

Kaschnitz, die 1901 geboren wurde und bis 1974 lebte, gehört für mich zu den spannendsten Erzählerinnen ihrer Zeit. Ihre Art zu schreiben ist so aufmerksam und präzise, dass sie die feinen Nuancen des Lebens mit wenigen Worten auf den Punkt bringt. Ich würde mir so wünschen, dass viel mehr Menschen #marieluisekaschnitz wieder entdecken. Mit diesem Band hier kann sie Shirley Jackson oder Muriel Spark absolut Konkurrenz machen. Große Leseempfehlung!

Danke fürs Durchhalten – ich hoffe, ihr hattet auch einen guten Lesemonat. Welches der Bücher würde euch am meisten interessieren?

Meine Woche

Gesehen: Little Joe (2019) von Jessica Hausner mit Emily Beecham, Ben Wishaw und Kit Connor. Eine Molekularbiologin und Pflanzenzüchterin entwickelt eine Pflanze die glücklich macht durch Oxytocin. Doch es gibt unerwartete Nebenwirkungen.

Gehört: Palmless Prayer – Mono, Pain – Bleib Modern, It must change – Anohni, Never tear us apart – INXS (Cover), Sturgeon moon/beaver moon – missing scenes, I inside the old I dying – PJ Harvey

Gelesen: Mia Latkovic: Was man über Deutschland, die AfD und Deutsche wahrscheinlich nicht sagen darf, aber kann, wenn man will – Teil 1, How to reduce the damage done by gentrification, Can everyone take a sabbatical?, Wie Kafka zum Kult-Autor im Amerika des kalten Krieges wurde

Getan: liebe Freundinnen zum Teil mit Nachwuchs aus USA und der Schweiz zu Besuch gehabt, mit lieben Freundinnen lecker gegessen, den Balkon bepflanzt und Koffer-Abenteuer bei der Reparatur erlebt

Gefreut: über die andauernde Liebe des kleinen Zain zu unserem Staubsauger 😉 und das Buch-Paket vom Steidl-Verlag

Geärgert: nö

Getrauert: nein

Gegessen: ein sehr leckeres Menü im Ya – The Mandarin Room

Gelernt: es spart wirklich enorm viel Energie elektronische Geräte in den Dark Mode zu packen

Geklickt: auf die Sommer Lesliste des New Yorkers, hier kann man mit B&O sein musikalisches Porträt erstellen lassen und auf dien Podcast zum Thema „Megalithe

Gestaunt: zwischen diesen beiden Bilder liegen nur 66 Jahre

Gelacht: als ich in der U6 Loop gefangen war

Gewünscht: diese Weingläser, dieses Hemd, dieses Haus

Geplant: Venus und den Mond mit dem Teleskop beobachten

Gefunden: nix

Gekauft: Pflanzen

Gedacht: “I’ve always liked quiet people: You never know if they’re dancing in a daydream or if they’re carrying the weight of the world.”― John Green

Meine Woche

Gesehen: Star Trek Picard – Season 3 (2022) mit Patrick Stewart, Jerri Ryan und eigentlich allen alten Bekannten aus TNG. So schön – schade, dass es die letzte Season ist. Gefällt mir sehr.

Moloch (2022) von Nico van den Brink mit Sallie Harmsen und Alexandre Willaume. Holländischer Folk Horror um ein uraltes Geheimnis im Moor. Sehr spannend.

Requiem (2021) von Emma J. Gilbertson mit Bella Ramsey und Safia Oakley-Green. Kurzfilm vor dem Hintergrund der Hexenprozesse. Evelyn läßt sich auf ein Katz- und Mausspiel mit ihrem Vater, Minister Gilbert ein, für ein paar gestohlene Augenblicke mit ihrer Liebsten.

Unterwegs in Schottland (2022) von Jeannine Apsel. Arte-Doku über die Fahrt mit dem „Royal Scotsman“ entlang an der Westküste Schottlands von Edinburgh bis Mallaig. Will sofort hin und irgendwann wieder da wohnen.

Gehört: Berlin 87 – Sqürl, Exception – Ryuichi Sakamoto, Uoon I – Alva Noto, True Mirror – Esben and the Witch, Voodoo Spinning – Oiseaux Tempete, Night Tracks von BBC Sounds, Shiver – Fever Ray, 11 Dec 1980 – Eliane Radigue, Girl like You – The Pearl Hearts

Gelesen: Patricia Lockwood went searching for Virginia Woolf on the isle of Skye, diesen Artikel über die Mathematikerin Mary Somerville, über die Vergiftungsfälle an iranischen Mädchenschulen, When witches were wise women

Getan: Pizza gegessen mit einer lieben Freundin, Date Night im Ukiyo, die Hausärztin besucht und ein paar erste Spaziergänge wieder draußen, die Bänder erlauben langsam meinen Lockdown zu lockern 😉

Gefreut: über eine Buchsendung vom Steidl Verlag und über tolle Fotos aus Los Angeles

Geweint: nein

Gegessen: Sushi und Pizza

Getrunken: Riesling

Geklickt: 10 great places to stay for Book lovers in UK, Mary Beard’s top 5 powerful women in ancient Greece and Rome, Is the Alpha wolfe idea a myth?

Gestaunt: über diese Fotos von der aktuellen Aurora Action am Himmel, the astonishing biodiversity of Funghi blooms

Gelacht: über die „aspects of lettuce

Gewünscht: diese Tasse, diese Kerze, einen Aufenthalt in diesem Retreat

Gefunden: Bücher

Gekauft: Badeanzug

Gedacht: „I have a deeply hidden and inarticulate desire for something beyond the daily life.“ -Virginia Woolf

Kleine gemischte Tüte

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Carolin Emckes „Wie wir begehren“ ist zugleich eine biografische Erinnerung, als auch ein Essay, in dem sie den Fragen nachgeht, die ihr im Laufe ihres Lebens immer wieder begegnen. Es sind Fragen, die aus den Erfahrungen der Autorin entstanden sind, aus ihren Entscheidungen und aus dem, was sie sagt und was sie verschweigt.

Gekonnt verknüpft sie persönliches mit politischem, sie berichtet von ihrem Alltag als Journalistin in Krisen- und Kriegsgebieten, während sie ihren persönlichen Hintergrund stets aufs neue beleuchtet, hinterfragt, wieviel Ehrlichkeit und Authentizität der jeweiligen Situation angemessen ist und auch, wieviel davon ihre eigene und die Sicherheit ihrer Übersetzer und Weggefährten etwa gefährdet.

Mich hat die Geschichte des offensichtlich schwulen Übersetzers in Gaza sehr berührt. Wie schwierig es war zu ahnen, ob andere eine Ahnung davon hatten oder er selbst eigentlich von seinem Schwulsein wusste.

„Wer den Normen entspricht, kann es sich leisten zu bezweifeln, dass es sie gibt“

„Wie wir begehren“ ist eine komplexe, nachdenkliche, artikulierte Lektüre. Das erforscht anschaulich die menschliche Psyche und die Beziehung zu ihren eigenen Wünschen.

Emcke untersucht die soziale Dynamik des Begehrens und der Identität (Wir sind nicht nur das, was wir sein wollen, wir sind auch das, was andere aus uns machen), die Quelle der Entstehung des Begehrens, die Form, die es annimmt, die Art und Weise, wie es entsteht und ausgedrückt wird.

„Es war die Arroganz ihrer Klasse, die eingeübte Herablassung, die sich als schützend erwies für diese Jungen, weil sie der psychischen Ungleichheit der Erwachsenen-Kind-Relation eine andere, mächtigere Ungleichheit gegenüberstellte.“

Ab und an habe ich den roten Faden etwas verloren und die musiktheoretischen Abstecher hätten etwas kürzer sein dürfen, aber insgesamt ein sehr interessanter Einblick in das Entdecken und Wiederentdecken der eigenen Identität und des Begehrens.

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Ein unerbittlicher Strom von Wahlmöglichkeiten konfrontiert uns ständig, und doch bietet uns unsere Kultur nicht wirklich Möglichkeiten, uns zu entscheiden. Das Dilemma scheint unvermeidlich, aber tatsächlich ist es relativ neu. Im mittelalterlichen Europa war die Stimme Gottes die zentrale Kraft, im antiken Griechenland stand gar ein ganzes Pantheon strahlender Götter bereit, um den Menschen als Vorbilder zu dienen. Können in unserer Kultur, in der der Glaube an Gott nicht mehr selbstverständlich ist, trotzdem noch mit den homerischen Stimmungen des Staunens und der Dankbarkeit in Berührung kommen und uns von den Bedeutungen leiten lassen, die sie offenbaren?

„Wenn Wallace damit recht hatte und falls es genau diese kulturelle Konstellation ist, auf die er so ungemein sensibel reagierte, dann bedeutet sein Selbstmord sehr viel mehr als den Verlust eines einzelnen talentierten Menschen. Dann ist er eine Warnung, die unsere höchste Aufmerksamkeit erfordert – ein Kanarienvogel in der Kohlemine unserer modernen Existenz, der vor tödlichen Gasen warnt.“

Die Autoren von „Alles, was Leuchtet“ glauben das zumindest. Hubert Dreyfus und Sean Dorrance Kelly beleuchten einige der größten Werke des Westens, um zu identifizieren, wie wir unsere leidenschaftliche Auseinandersetzung mit der Welt und unsere Empfindsamkeit verloren haben. Ihre Reise führt uns vom Wunder und der Offenheit des Polytheismus Homers, zum Monotheismus Dantes, von der Autonomie Kants zu den vielfältigen Welten Melvilles und schließlich zu den spirituellen Schwierigkeiten, die von modernen Autoren wie David Foster Wallace und Elizabeth Gilbert heraufbeschworen werden.

Dreyfus, seit vierzig Jahren Philosoph an der University of California, Berkeley, ist ein origineller Denker, der in den klassischen Texten unserer Kultur eine neue Relevanz für das Alltagsleben der Menschen findet.

Die Schlussfolgerungen, zu denen die Autoren kommen, sind durchaus interessant – wir fühlen uns am Lebendigsten, wenn wir uns auf eine Aktivität einlassen, die uns über uns selbst hinaushebt. Dies geschieht oft im Sport, wenn wir „im Flow“ sind. Die „Götter“ rufen uns auf, unsere Sensibilität zu kultivieren, und das Staunen nicht zu verlieren.

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Die „Mary Russell“ liegt 1823 im kleinen Hafen von Cove vor Anker. Sie ist kein gewöhnliches Schiff, sondern Gegenstand einer Untersuchung und wilder Spekulationen: In der Kabine liegen die Leichen von sieben brutal geschlagenen Männern, der Kapitän ist verschwunden. Der Forschers und Predigers William Scoresby und dessen Schwager machen es sich zur Aufgabe, die Überlebenden zu befragen und anhand der Zeugenaussagen eine Idee davon zu bekommen, warum und vor allem von wem die sieben Matrosen getötet wurden.

Nach und nach fügen sich die zunächst widersprüchlich erscheinenden Augenzeugenberichte zu einem halbwegs passenden Puzzle zusammen – oder war alles doch vielleicht ganz anders, als es auf den ersten Blick scheint?

Alexander Pechmann trifft in diesem modernen Schauerroman wunderbar den Ton eines im positiven Sinne altmodischen Abenteuerromans, der sich gut in die Gedankenwelt der Menschen im 19. Jahrhundert hineinversetzen kann, eine Welt, in der der Wille Gottes selbst vor Gericht noch Gewicht hatte.

„Morley und ich froren ebenfalls wie verlorene Seelen, doch wollte ich mir nichts anmerken lassen und bat lediglich einen der Schiffsjungen darum, meine Pfeife rauchen zu dürfen, die mir schon in schlimmeren Situationen Wärme und Trost gespendet hat. Da keiner der anderen Männer an Deck erschienen war, befanden sich inzwischen wohl alle in der Gewalt des Käptns und unter der Aufsicht der drei Jungs, die keine Fesseln trugen, sondern bewaffnet mit ner Harpune, nem Kappbeil und nem Dreizack an Deck patrouillierten.“

Mit 161 Seiten ist es ein kompaktes, aber sehr unterhaltsames Lesevergnügen. Man ist sofort mitten im Geschehen und ist gemeinsam mit den beiden „Ermittlern“ am spekulieren, was nun wirklich passiert sein könnte. Das Ganze ist mehr psychologische Studie als Krimi, was der Spannung aber keinen Abbruch tut.

Ein wunderbarer kleiner Roman für Liebhaber von Abenteuergeschichten à la Jack London, von Meutereien, Geheimnissen und Seebären.

Welches Buch darf es also sein für dich sein? (hier bitte Herzblatt Stimme vorstellen:) Möchtest du mit Carolin Emcke über die Begierde diskutieren, mit den Herren Dreyfus und Kelly den Sinn des Lebens in großer Literatur suchen oder doch lieber mit Alexander Pechmann in See stechen und Abenteuer erleben?

Die Nebelkrähe – Alexander Pechmann

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Alexander Pechmann hat seinen Roman „Die Nebelkrähe“ Oscar Wildes Nichte Dorothy Wilde gewidmet (1895 – 1941) und allein für die Entdeckung dieser interessanten Dame bin ich dem Roman schon dankbar. Dorothy Wilde war eine spannende, selbstbewusste Frau, die im ersten Weltkrieg in der rein weiblich besetzten „Brakespeare Unit“ als Ambulanzfahrerin tätig war und in den 1920er Jahren mit der (ebenfalls lesbischen) Autorin Nathalie Clifford Barney in Paris zusammenlebte und die Pariser Salons aufmischte.

Dorothy begegnet dem Protagonisten erstmals bei einer Ambulanzfahrt an der Front, doch erst ein paar Jahre später treffen sie in London wieder aufeinander und es dauert eine Weile, bevor Peter Vane sich erinnert, wo er die schillernde Dorothy schon einmal gesehen hat.

Peter Vane hat seltsame Träume in denen er Stimmen hört, sieht einen verstorbenen Kollegen in Tagträumen immer wieder und erhält von ihm teils sehr scharfsinnige Bonmots übermittelt, die dem etwas blassen Vane etwas mehr Charisma verleihen. Trotzdem ist der nüchterne Mathematiker von diesen Träumen und Halluzinationen tief verstört und möchte der Sache unbedingt auf den Grund gehen.

„Entspannen Sie sich“, forderte Mrs. Dowden streng. „Lassen Sie den Arm ganz locker. Wehren Sie sich nicht. Nehmen Sie die Botschaft dankbar und freudig an. Ich spüre eine starke Präsenz…“

Ein ebenfalls der soliden Mathematik verschriebener Kollege empfiehlt ihm, sich auf ein Treffen mit einem Medium einzulassen, frei nach Sherlock Holmes wenn man alle logischen Lösungen eines Problems eliminiert, ist die unlogische obwohl unmöglich unweigerlich richtig.

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Dorothy Wilde
Foto: Wikipedia

Der Besuch bei Hester Dowden verunsichert ihn zu tief. Er erhält scheinbar Nachrichten aus dem Jenseits, scheint selbst ein nahezu perfektes Medium zu sein und versucht, mit Hilfe von Dorothy Wilde die Verbindung zwischen seinem ehemaligen gefallenen Kriegskameraden, der ihm das Foto eines kleinen Mädchens zum Abschied in die Hand gedrückt hatte, den Nachrichten von Oscar Wilde und seinen Halluzinationen auf die Spur zu kommen.

Gemeinsam mit Dolly begibt er sich auf eine rasante Spurensuche durch das London der 1920 Jahre, die ihn in die Opiumhöhlen Sohos, in die Salons verschrobener Büchernarren und drogensücheriger Prinzessinnen bringt.

„Die meisten Menschen, die ich kenne, saugen das Licht auf, anstatt es auszustrahlen. Sie können nur nehmen, niemals geben.“

Alexander Pechmann orientiert sich in seinem Roman neben Dorothy Wilde an einer ganzen Reihe anderer realer Personen. Auch das irische Medium Hester Dowden gab es tatsächlich. Sie machte 1923 Schlagzeilen, als sie behauptete mit dem Geist Oscar Wildes in Verbindung getreten zu sein. Ebenso real waren Nebenfiguren wie Mabel Cosgrove Wodehouse Pearse oder Billy Chang, der als Vorbild für die erfundene Figur Dr. Fu Manchu gilt.

Dorothy und Peter befragen jede Menge Leute, die losen Enden der Geschichte werden auch durchaus zusammengeführt, jedoch ohne eine Erklärung für die übersinnlichen Phänomene zu liefern. „Die Nebelkrähe“ ist atmosphärische Unterhaltung mit interessanten Protagonisten, perfekt für ein verregnetes Wochenende. Einzige Kritik vielleicht: bis auf Dolly bleiben eigentlich alle Charaktere etwas zweidimensional. Wer also keine größere Charakterstudie erwartet und sich mit guter Unterhaltung zufrieden gibt, kommt hier durchaus auf seine Kosten.

Besonders gefiel mir der Soundtrack, den Pechmann seinen Lesern ans Herz legt und den ich hier gerne mitliefern möchte:

Ich danke dem Steidl Verlag für das Rezensionsexemplar.

 

Amongst Women – John McGahern

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Das letzte Bookclub-Buch des Jahres, der irische moderne Klassiker „Amongst Women“, war leider auch gleichzeitig die Abschiedsparty für die uns verlassende Irin.

Nach einem wunderbaren Nigella Lawson Weihnachtsdinner nebst vorzüglichstem Poinsettia Cocktail widmeten wir uns dann ausgiebig Moran, dem alten dominanten Republikaner, und den vielschichtigen Beziehungen mit seiner Frau und seinen Töchtern.

Morans Leben wurde nachhaltig durch seine Glanzzeit als Guerilla Kämpfer im Unabhängigkeitskrieg bestimmt. Gewohnt daran als unangefochtene Autorität zu agieren und zu befehlen ist Widerspruch ein für ihn eher unbekanntes Phänomen, das er, sollte es ihm doch einmal begegenen, ob im Bekanntenkreis oder in der Familie sofort unnachgiebig bekämpft.

Seine glorreichen Tage sind vorbei, er lebt mit seiner zweiten Frau auf der alten Farm auf dem Land, bekommt gelegentlich Besuch von seinen drei Töchtern, seine beiden Söhne haben den Kontakt zu ihm mehr oder weniger abgebrochen.

„Such was the excitement and focus on Maggie that in spite of Rose’s care to draw him into the conversation Moran began to feel out of it and grew bored. I think it’s time to say the Rosary, he said earlier than usual, taking out his beads.“

„Amongst Women“ ist ein schmales Bändchen, jeder Satz perfekt komponiert, die klaustrophobische Atmosphäre innerhalb der Familie nimmt einem teilweise die Luft zum atmen. Der katholische irische Familienvater an sich ist eine ganz besondere Züchtung, aber ich glaube Menschen die im Irland der 60er Jahre aufgewachsen sind, (und höchstwahrscheinlich auch noch später) sind mit den Morans dieser Welt mehr als vertraut. Der Patriarch, umgeben von einer Heerschaar an Frauen, die alles dafür tun ihn bei Laune zu halten, deren Hauptaufgabe es ist ihm das Gefühl zu geben wichtig zu sein und gebraucht zu werden, für die er der Leitstern ist und ohne den sie glauben orientierungs- und ziellos durch das Leben zu wandern. Eine Abhängigkeit, die beiden Seiten nicht gut tut.

Moran entscheidet, wie die Stimmung im Haus ist und sonst keiner.

“To leave the everpresent tension of Great Meadow was like shedding stiff, formal clothes or kicking off pinching shoes.”

“As looking down from great heights brings the urge to fall and end the terror of falling, so his very watching put pressure on them to make a slip as they dried and stacked the plates and cups.”

 Moran spricht immer wieder davon, wie wichtig es ihm ist, alle seine Kinder gleich zu behandeln, keines ist besser als die anderen und fest verankert ist ihm die Überzeugung, für die mir gerade keine vernünftige Übersetzung einfällt: „Don’t try to rise above your station“.

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Mehrere von McGaherns Büchern landeten auf dem Index und es war in unserer folgenden Diskussion interessant zu erfahren, dass neben allen historischen Gründen im Nordirland-Konflikt auch durchaus die Sorge der Nordiren eine Rolle spielte, unter die Fuchtel der übermächtigen katholischen Kirche zu geraten.

Ich war anfangs skeptisch, da ich glaubte, momentan mit traurigen irischen Büchern nichts anfangen zu können. McGahern schreibt jedoch so  wundervoll, seine Sprache ist poetisch, knapp und meditativ fast wie Wellen, die langsam und rhythmisch ans Ufer schlagen. Er hat mich ungewollt in seinen Bann geschlagen.

Diese Dokumentation über John McGahern, kurz vor seinem Tod aufgenommen, ist richtig gut gemacht und absolut sehenswert:

https://www.youtube.com/watch?v=SLsItE6oAUk

 

 

Farewell C. and keep sending us your Irish book recommendations 😉

Die Book Jokes aus den Crackern möchte ich euch natürlich auch nicht vorenthalten. Here we go:

How did Charlotte Bronte help people to breathe?
She created Eyre.

What is purple and Dickensian?
Grape Expectations.

I just read a book about the digestive system.
The ending was shit.

What do you get when you mix alcohol and literature?
Tequila Mockingbird.

The past, the present and the future walk into a bar.
It was tense.

A book just fell on my head.
I’ve only got my shelf to blame.

Someone just stole my thesaurus.
Frankly, I’m lost for words.

I took up speed reading.
Last night I read War and Peace in twenty seconds.
It was only three words but I enjoyed it.

I went to the book shop today because they had a third off.
I bought The Lion, The Witch.

Mensch wie konnte ich eigentlich unsere wunderbare Literatur-Scharade vergessen, zwei Teams und die gelesenen Buchtitel der letzten 10 Jahre die gespielt werden mussten, das war alles andere als einfach, hat riesigen Spaß gemacht und ich weiß jetzt auch, dass „Zeitoun“ das arabische Wort für „Olive“ ist 😉

Das Buch ist auf deutsch unter dem Titel „Unter Frauen“ im Steidl Verlag erschienen.