Stimmen die bleiben: Marie-Luise Kaschnitz

Marie Luise Kaschnitz gehört zu jenen Stimmen der deutschen Nachkriegsliteratur, die leise sprechen und doch lange nachhallen. Sie, die 1901 in Karlsruhe als Freiin Marie Luise von Holzing-Berstett geboren wurde, wuchs in einer Welt auf, die von Hierarchien und Distanz bestimmt war. Die Mutter – schön, eitel, unnahbar – ließ sich, wie sie später schrieb, „nur durch den Schleier küssen“. Der Vater – melancholisch, vergeistigt, ein Mann des 19. Jahrhunderts – blieb die stille Mitte, um deren Aufmerksamkeit Mutter und Töchter konkurrierten. Besonders die ältere Schwester Helena, genannt Lonja, war die Rivalin im Schatten – ein Konflikt, der das Verhältnis der Schwestern dauerhaft prägte und sich in vielen ihrer Texte als unterschwelliger Schmerz wiederfindet.

Kaschnitz’ Herkunft war konservativ, großbürgerlich, preußisch im besten und im schlechtesten Sinne. Sie lernte früh, sich zurückzunehmen, eine Beobachterin zu sein. Vielleicht erklärt das ihre eigentümliche Haltung während der NS-Zeit: keine aktive Gegnerin, aber auch keine Mitläuferin. Sie schrieb weiter, hielt sich bedeckt, und was sie notierte, zeugt von innerer Distanz – und von Angst. In ihren später veröffentlichten Tagebüchern liest man, wie sehr sie den Krieg, den Hunger, das moralische Verstummen um sie herum als Verstörung empfand, die nie ganz abklingen sollte. Es war, als hätte sie den Schock in sich konserviert. Nach 1945 wurde dieses Verstummen zu ihrem poetischen Thema: das Weiterleben nach dem Zusammenbruch, das langsame Wiederauftauchen aus Schutt und Asche.

An der Seite ihres Mannes, des Archäologen Guido Kaschnitz von Weinberg, führte sie ein bewegtes, weltoffenes Leben. Er war ihre große Liebe, ihr Gegenüber, ihr Maßstab. Gemeinsam reisten sie nach Italien, Griechenland, Ägypten – ein Leben zwischen Ausgrabungsstätten und Bibliotheken, voller Gespräche, voller gegenseitiger Achtung. Als Guido 1958 stirbt, stürzte sie in eine tiefe Einsamkeit. In ihren Gedichten klingt die Trauer unüberhörbar nach: „Seit du fort bist, bin ich eine, die wartet, ohne zu wissen, worauf.“ Dieser Satz ist mehr als privater Schmerz – er ist auch ein Echo jener kollektiven Verlorenheit, die das Nachkriegsdeutschland prägte.

Der Dichter ist das Sprachrohr der Ratlosigkeit seiner Zeit.

Die „Dame Kaschnitz“, wie man sie halb ehrfürchtig, halb spöttisch nannte, mochte diesen Titel nicht. Doch was konnte sie dafür, dass sie so wirkte – korrekt, beherrscht, mit jenem unaufdringlichen Stil, den man sich nicht aneignet, sondern mit der Kinderstube erbt. Ihre Herkunft ließ sich nicht verleugnen, ihre Haltung auch nicht. Sie gehörte zu den wenigen Frauen, die sich in die männlich dominierten literarischen Zirkel wagten, als klassische Erscheinung mit doppelter Perlenkette, mit diesen faszinierend schimmernden Augen unter dunklen, buschigen Brauen. Sie rüttelte nicht an den sprachlichen Konventionen, sie erfand die Literatur nicht neu. Aber sie machte sich das zu eigen, was sie kannte, und schrieb daraus Sätze von solcher Klarheit und Würde, dass sie auch heute noch frisch und zeitlos klingen. Sie scheute sich aber auch nicht von ihren Gewissensqualen zu sprechen, als Mutter versagt und in der Nazizeit geschwiegen zu haben.

Das Schwermütige war ein Wesenszug ihrer Dichtung ebenso wie die verspielte Leichtigkeit, die aber, wie Kaschnitz einmal bekannte, Produkt künstlerischer Anstrengung war. Das Geheimnisvolle, Rätselhafte, ein unauflöslicher, ungeklärter Rest sind kennzeichnend für ihre Erzählungen. Surrealistische, gespenstische, unheimliche Elemente erzeugen eine Spannung, die hineinzieht ins Geschehen der scheinbar realistisch erzählten Geschichten. Dieser rational nicht ganz aufzulösende Rest eröffnet eine andere Dimension, die wohl für Marie Luise Kaschnitz lebens- und werkimmanent ist: die Welt der Phantasie. Dass gerade eine Autorin, die mit Perlenkette, Handtasche und hochtoupierter Dauerwelle auftrat, solche Abgründe zu öffnen verstand, gehört zu den schönsten literarischen Überraschungen des 20. Jahrhunderts. Hinter der gepflegten Fassade lauerte stets ein Abgrund – und Kaschnitz sah genau hin.

Als 2000 ihre Tagebücher veröffentlicht wurden, war das kein literarischer Skandal, sondern ein stiller Einblick in ein Leben zwischen Anpassung und Zweifel, Liebe und Verlust. Zehn Jahre nach ihrem Tod wurde der Marie-Luise-Kaschnitz-Preis ins Leben gerufen, der das Lebenswerk deutschsprachiger Schriftstellerinnen und Schriftsteller ehrt – ein passendes Vermächtnis für eine Autorin, die zeitlebens nach der Wahrheit in den Zwischenräumen suchte.

Marie Luise Kaschnitz ist eine Stimme, die bleibt. Weil sie uns daran erinnert, dass Literatur, wenn sie ehrlich ist, kein Trostpflaster ist – sondern eine Form von Widerstand sein kann.

Ich würde mich so freuen, wenn mehr Menschen Lust bekämen Marie-Luise Kaschnitz wieder zu entdecken. Mich erinnern Kaschnitz Erzählungen an Muriel Spark oder Shirley Jackson. Gerade heute, an Halloween, wäre doch ein guter Tag mit einer ihrer unheimlichen Geschichten wie unter anderem „Vogel Rock“, „Das dicke Kind“ oder „Die Füße im Feuer“. Im Suhrkamp Verlag kann man ihre gesamten Werke auch als Taschenbuchausgaben für kleines Geld bekommen.

Stimmen die bleiben: Carry Brachvogel

Wer heute durch Schwabing geht, ahnt kaum, dass sich hier um 1900 Salons voller Debatten, Gedichte und Streitgespräche fanden. Einer der berühmtesten Treffpunkte lag in der Ludwigstraße, gleich beim Siegestor. Dort empfing Carry Brachvogel – Schriftstellerin, Netzwerkerin, Kämpferin für die Rechte von Frauen – die geistige Elite ihrer Zeit.

Carry Brachvogel, geboren 1864, war Schriftstellerin, Salonnière und Mitglied im „Verein für Fraueninteressen“, den Ika Freudenberg gegründet hatte – eine Organisation der bürgerlichen Frauenbewegung, die sich bewusst von radikaleren Positionen etwa von Anita Augspurg distanzierte, aber dennoch wichtige gesellschaftliche Veränderungen anstieß. 1911 hielt Brachvogel dort ihren Vortrag „Hebbel und die moderne Frau“, in dem sie das Frauenbild der deutschen Klassik dem neuen Typus der selbstbestimmten Frau gegenüberstellte; 1912 erschien der Text im Druck. Ein Jahr später wurde sie in den Vorstand gewählt, setzte sich für bessere Arbeitsbedingungen von Bühnenschauspielerinnen ein und gründete im Verein eine Kommission für Bühnenangelegenheiten.

Ihr Schwabinger Salon in den 1920er Jahren war ein Zentrum des kulturellen Lebens der Stadt. Ernst von Wolzogen kam, Max Haushofer Jr., Oskar Mysing, Hugo Steinitzer, Rainer Maria Rilke, Lou Andreas-Salomé – Namen, die heute wie aus einem Literaturlexikon klingen, damals aber einfach ihre Gäste waren. Brachvogel kultivierte gezielt ein Image, das ihr Respekt als Schriftstellerin sichern sollte: kühl, unnahbar, scharfzüngig. Sie wusste, wie schnell Frauen in der Literatur in die Schublade „nett, aber nicht ernst zu nehmen“ gesteckt wurden.

Auch als Netzwerkerin unter Autorinnen war sie prägend. 1913 gründete sie mit Emma Haushofer-Merk den Münchner Schriftstellerinnen-Verein, um gegen „gewissenlose Verleger“ und für angemessene Bezahlung von Frauen zu kämpfen. Innerhalb eines Jahres zählte der Verein schon 70 Mitglieder, darunter Ricarda Huch, Annette Kolb, Frieda Port. Ab 1925 stand Brachvogel dem Verein allein vor, richtete in den wirtschaftlich schwierigen 1920er Jahren einen Hilfsfonds für bedürftige Mitglieder ein und lehnte immer wieder Anfragen ab, für andere Verbände kostenlos Texte zu liefern – Solidarität hieß für sie, dass Frauenarbeit nicht entwertet wird.

Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 änderte sich alles. Ihre jüdische Herkunft rückte ins Zentrum, und in vorauseilendem Gehorsam setzte der Schriftstellerinnen-Verein sie ohne ihr Wissen vor die Tür. Wenige Monate später beschloss die Hauptversammlung die Auflösung. Sie erhielt Berufsverbot, musste ihren Salon schließen. Ihr Bruder Siegmund Hellmann verlor ebenfalls seine Arbeit. Die beiden zogen sich in die Wohnung in der Herzogstraße 55 zurück. Trotz Verbots veröffentlichte Brachvogel noch einzelne Essays, erwog zeitweise ein Exil, doch blieb. Am 21. Juli 1942 holte die Gestapo sie und ihren Bruder ab, am nächsten Tag wurden sie nach Theresienstadt deportiert. Carry Brachvogel starb dort am 20. November 1942 im Alter von 78 Jahren, Siegmund am 7. Dezember.

Ihr Schicksal ist tragisch und eine Mahnung. Das viel beschworene „Nie wieder“ bedeutet nichts, wenn es nicht im Heute gelebt wird. Hätte man sich Anfang der 1920er Jahre entschlossen gegen den aufkeimenden Faschismus gestellt, vielleicht hätte er gebremst werden können. Genau wie heute wo (zu viele) Konservative lieber mit den Faschisten paktieren – aus Angst vor den „bösen woken linksgrün Versifften“ unserer Zeit. Der Gedanke ist erschreckend vertraut: Lieber mit denen paktieren, die menschenfeindlich sind, als das eigene Weltbild in Frage zu stellen. Hauptsache, man kann „noch alles sagen“.

Umso wichtiger sind heute die Zeichen der Erinnerung. Seit 1992 erinnert der „Carry-Brachvogel-Salon“ in der Seidlvilla an die einst so berühmte Münchnerin, 2012 wurde in Bogenhausen eine Straße nach ihr benannt. Und im Juli 2024 wurde an der Herzogstraße 55 eine Gedenktafel angebracht – ein fester Ort im Stadtbild, an dem ihr Name nicht nur in Archiven weiterlebt.

Vieles von Carry Brachvogels Werk ist heute nur antiquarisch greifbar – umso wichtiger die in den letzten Jahren von der Edition Monacensia in Zusammenarbeit mit dem Allitera Verlag verantworteten Neuausgaben. Aktuell lieferbar sind vier zentrale Titel: ihr Debütroman Alltagsmenschen (1895), der satirische München-um-1900-Roman Der Kampf um den Mann (1910), der den Ersten Weltkrieg entzaubernden Roman Schwertzauber (1917) und ihre Reportage Im Weiß-Blauen Land (1923). Diese Ausgaben, jeweils editorisch betreut (u. a. mit Nachworten von Ingvild Richardsen), holen Brachvogels Stimme zurück ins heutige Lesen – und machen sichtbar, wie modern ihre gesellschaftliche Beobachtung war. Andere ihrer einst vielgelesene Bücher wie die historischen Porträts Die Marquise de Pompadour (1905) oder Katharina II. von Russland (1906) sind derzeit fast nur als Print-on-Demand- oder Antiquariatstitel zu haben, ihre essayistische Schriften wie Eva in der Politik (1919/1920) sind dagegen noch schwerer aufzutreiben, wenn dann nur antiquarisch. Wer also heute mit Brachvogel beginnen will, findet im Allitera-Programm den besten Einstieg – und zugleich den verlässlichsten Weg, ihr Werk wieder im öffentlichen Bewusstsein zu verankern

Endlich habe ich nun auch meinen ersten Roman von Carry Brachvogel gelesen: Alltagsmenschen, erschienen 1895. Elisabeth, verheiratet mit einem gut situierten Mann in München, lebt ein Leben voller Leere und Langeweile. Auch die Geburt eines Kindes ändert nichts an ihrem Drang nach Aufbruch, sie beginnt eine Affäre mit einem Legationsrat. Mit psychologischem Feingespür, großer Scharfsichtigkeit und poetischem Können porträtiert Brachvogel nicht nur eine junge Frau, sondern zeichnet ein exaktes Sittenbild des Münchens um 1900. Was mich besonders beeindruckt hat, sind die präzisen Einblicke in den Alltag eines wohlsituierten Paares jener Zeit – der Tagesrhythmus, die Konversationen, die unterschwelligen Machtspiele. Man spürt den scharfen Blick und die sprachliche Eleganz einer Frau, die mitten in den Debatten ihrer Epoche stand.

Dabei war Elisabeth gescheidt, hatte sich von jeher gemüht, ihre etwas oberflächliche Institutsbildung aus eigenen Kräften zu erweitern und zu vertiefen, und gerade deshalb erschien ihr dies alles, das den Freundinnen den Lebenszweck bildette, doppelt nichtig und leer, ungefähr nur wie wertlose Zwischentaktsmusik, die sie über das Verzögern der eigentlichen Handlung wegtrösten sollte. Zuweilen befiel sie ein Grauen, wenn sie überlegte, wie viele Tage jetzt schon so dahingeglitten waren, an denen sie nichts geleistet hatte, nichts für sich, nichts für andere. „Lilienaufdemfelddasein“ bedrückte sie schwer – sie wäre gerne ein Mann gewesen, der nutzbringend lebend und arbeiten, all seine Kräfte freudig und befriedigend bethätigen konnte.

Carry Brachvogel ist eine Stimme, die bleibt – trotz aller Versuche, sie zum Schweigen zu bringen. Heute liegt es an uns, sie wieder hörbar zu machen. Lest (mehr) Carry Brachvogel!

Eine weitere – sehr sehr schöne Besprechung findet ihr hier bei Anna vom Blog Buchpost, die schon 2014 auf Carry Brachvogel aufmerksam gemacht hat!