Juni Lektüre

Still Life war für mich eines dieser Bücher, bei denen man schon beim Lesen weiß: das wird bleiben. Großartig geschrieben, voller Wärme und leiser Schönheit.

Und Beklaute Frauen von Leonie Schöller, das mich gleichermaßen wütend, bewegt und tief beeindruckt zurückgelassen hat – so wichtig, so stark.

Enttäuschung des Monats war leider Zadie Smiths The Fraud – trotz großer Vorfreude konnte es mich (und auch meinen Bookclub) nicht abholen.

Ansonsten: ein spannender Mix – mal politisch, mal literarisch, mal laut, mal leise.
Den Stopp in Sri Lanka mit Brotherless Night stelle ich in den nächsten Tagen im Rahmen meines Read Around the World noch ausführlicher vor.

Beklaute Frauen – Leonie Schöler erschienen im Penguin Verlag

Leonie Schölers Beklaute Frauen ist ein dringendes, wütendes und klug recherchiertes Buch, das zeigt, wie systematisch Frauen in der Geschichte der Arbeiter*innenbewegung unsichtbar gemacht, ausgebremst und vergessen wurden. Ob Rosa Luxemburg, Clara Zetkin oder weniger bekannte Aktivistinnen – Schöler spürt Biografien nach, die aus den großen Erzählungen gestrichen wurden, obwohl sie maßgeblich geprägt haben.

Der Ton ist kämpferisch, auch mal wütend aber nie beliebig. Die Autorin gibt sich nicht mit bloßer Empörung zufrieden, sondern liefert historische Fakten, verwebt persönliche Reflexionen mit politischen Analysen und zeigt: Die Geschichte der Linken ist ohne Frauen nicht nur unvollständig – sie ist falsch erzählt.

Beklaute Frauen sich bewußt zu machen: Wer fehlt in den Geschichten, die wir erzählen? Ein schmerzhaft wichtiges Buch, das nachhallt – und dem ich von Herzen viele Leser*innen wünsche.

Erste Hilfe für Demokratie-Retter – Jürgen Wiebicke erschienen im Kiepenheuer & Witsch Verlag

Jürgen Wiebickes „Erste Hilfe für Demokratie-Retter“ ist ein engagiertes, handliches Plädoyer gegen politischen Fatalismus – und eine Anleitung für all jene, die sich fragen, was sie dem wachsenden Autoritarismus, der Polarisierung und der Demokratie-Müdigkeit entgegensetzen können.

In 100 kurzen Ideen, Impulsen und Appellen ruft Wiebicke dazu auf, Haltung zu zeigen, ins Gespräch zu gehen, Widerspruch zu leisten – und die eigene Wirksamkeit nicht kleinzureden. Der Ton ist zugänglich, oft persönlich, manchmal bewusst provokant. Dabei bleibt das Buch stets nah am Alltag und bietet eine niedrigschwellige Ermutigung zum politischen Handeln im Kleinen.

Allerdings wirkt die Form – 100 Tipps auf knappem Raum – mitunter etwas formelhaft und lässt Tiefe vermissen. Manche Gedanken bleiben an der Oberfläche, und komplexe gesellschaftliche Probleme werden mitunter etwas zu leicht abgehandelt.

Trotzdem: Ein guter Einstieg für alle, die nach Orientierung in politisch schwierigen Zeiten suchen.

Was soll aus dem Jungen bloß werden? – Heinrich Böll erschienen im dtv Verlag

Der Untertitel „Irgendwas mit Büchern“ war es, der mich sofort neugierig gemacht hat – und tatsächlich gewährt Heinrich Böll in diesem schmalen autobiografischen Text einen leisen, oft lakonischen Blick zurück auf seine Jugend im Köln der 1930er Jahre.

Mit trockenem Humor und melancholischer Distanz beschreibt Böll, wie er in einem zunehmend autoritären Deutschland zum Bücherliebhaber – und später zum Schriftsteller – wurde. Zwischen katholischer Prägung, schulischer Disziplin und ersten literarischen Träumereien bleibt der Ton zurückhaltend, manchmal fast spröde.

Der Text ist keine klassische Autobiografie, sondern eher eine Skizze, ein Erinnerungsfragment. Wer sich für Bölls Werk oder für die Atmosphäre der Vorkriegszeit interessiert, wird hier fündig. Große Erzählbögen oder emotionale Tiefe darf man nicht erwarten – dafür punktet das Buch mit stiller Selbstironie und einem feinen Gespür für Sprache und gesellschaftliche Zwischentöne.

Kein Must-read, aber ein kleiner Einblick in die frühen Jahre eines etwas in Vergessenheit geratenen Autors, – besonders für alle, die selbst immer „irgendwas mit Büchern“ machen (wollten).

Arturos Insel – Elsa Morante erschienen im Verlag Klaus Wagenbach, übersetzt von Susanne Hurni-Maehler

Die Rezension zu diesem ganz besonderen Roman könnt ihr hier beim Italien Stopp der literarischen Weltreise nachlesen.

Still Life – Sarah Winman auf deutsch unter dem Titel „Das Fenster zur Welt“ bei Klett Cotta erschienen, übersetzt von Elina Baumbach

Ich habe Still Life auf der Zugfahrt von Neapel nach München gelesen – und während der Zug durch die Toskana rollte und Florenz am Fenster vorbeizog, fühlte es sich an, als würde sich die Landschaft direkt mit dem Buch verbinden. Nicht nur, weil ein Großteil der Handlung in Florenz spielt, sondern auch weil der Ton des Romans so viel von dem trägt, was man mit dieser Gegend verbindet: Wärme, Geschichte, Schönheit – aber auch Brüche und Neuanfänge.

Die Geschichte beginnt 1944 in einem kleinen italienischen Dorf, als der junge britische Soldat Ulysses Temper auf Evelyn Skinner trifft, eine ältere, kluge Kunsthistorikerin, die Italien liebt und gerade auf der Suche nach verschollenen Kunstwerken ist. Ihre Begegnung ist kurz, aber bedeutungsvoll – und zieht sich wie ein unsichtbarer Faden durch die Jahrzehnte, die folgen.

The responsibility of privilege must always be to raise others up.

Im Mittelpunkt steht Ulysses, der zurück in London versucht, in ein normales Leben zurückzufinden – und schließlich, gemeinsam mit einer bunt zusammengewürfelten Gruppe von Freund*innen, in Florenz ein neues Zuhause findet. Das Buch erzählt nicht in klassischer Dramaturgie, sondern in kleinen Episoden, Momentaufnahmen, in denen sich das Leben ganz leise entfaltet. Es gibt Verluste, Veränderungen, Umwege – aber alles in einem Ton, der nie resigniert, sondern immer den Blick nach vorn richtet.

Winmans Sprache ist zugänglich, dabei poetisch und oft sehr treffend. Sie beschreibt ihre Figuren mit viel Empathie, ohne sie zu idealisieren. Besonders schön ist, wie beiläufig und selbstverständlich queere Identitäten im Roman vorkommen. Es wird nichts erklärt, nichts betont – sie sind einfach Teil dieser Gemeinschaft, die sich jenseits traditioneller Familienstrukturen gefunden hat.

Still Life ist ein Roman über Freundschaft, über Lebensentscheidungen, über die Bedeutung von Kunst, Geschichte – und über das, was bleibt, wenn alles andere sich verändert. Er stellt keine großen Fragen laut in den Raum, aber beantwortet viele kleine, fast beiläufig: Wie leben wir mit anderen? Wo fühlen wir uns zugehörig? Und was macht ein gutes Leben aus?

Evelyn Skinner ist eine Figur, die ich nicht mehr vergessen werde. Sie erinnert mich sehr an Dulcie in „The Offing“

The Fraud – Zadie Smith auf deutsch unter dem Titel „Betrug“ im Kiepenheuer & Witsch Verlag erschienen, übersetzt von Tanja Handels

Zadie Smith gehört seit White Teeth zu meinen literarischen Favoritinnen – umso größer war die Vorfreude auf The Fraud. Leider blieb sie unerfüllt.

Der Roman spielt im viktorianischen London und verwebt reale historische Ereignisse mit fiktiven Figuren, allen voran die Schriftstellerin Eliza Touchet. Es geht um Wahrheit und Täuschung, um Klasse, Rassismus, Literatur und Kolonialismus – Themen, die zweifellos relevant sind. Doch Smith versucht, all das auf einmal zu erzählen, und genau darin liegt das Problem.

Man spürt die immense Recherche, das kluge Fundament – aber statt zu fokussieren, wollte Smith offenbar alles unterbringen. The Fraud wirkt dadurch überfrachtet, wie ein Gericht mit lauter guten Zutaten, das am Ende trotzdem nicht schmeckt. Die Figuren blieben für mich seltsam blass, der Erzählfluss stockte immer wieder, und auch im Bookclub wurde das Buch eher durchgekämpft als genossen.

Ambitioniert, aber unbefriedigend. Wer Smiths erzählerisches Können wirklich erleben will, greift besser zu „White Teeth“

Liebes Arschlosch – Virginie Despentes erschienen im Kiepenheuer & Witsch Verlag, übersetzt von Ina Kronenberger und Tatjana Michaelis

Liebes Arschloch ist ein literarischer Schlagabtausch, der sich liest wie ein wütender Briefwechsel unserer Gegenwart.

In E-Mails zwischen einem abgehalfterten Schauspieler und einer feministischen Autorin verhandelt Despentes Themen wie Cancel Culture, Macht, Sexismus, #MeToo und digitale Empörungskultur. Was dabei herauskommt, ist alles andere als schwarz-weiß: Beide Figuren sind kantig, verletzlich, widersprüchlich – und gerade deshalb glaubwürdig.

Despentes bleibt ihrem Stil treu: direkt, roh, laut, aber manchmal auch überraschend zärtlich. Ihr gelingt das Kunststück, Widerspruch auszuhalten und Ambivalenz nicht nur zu zeigen, sondern auszuhalten. Ein kluges, streitbares Buch voller Reibung – unbequem, provokant, pointiert aber absolut notwendig. Kein Roman zum Wohlfühlen, sondern zum Mitdenken und Aushalten.

Das war der Juni – krass schon wieder ein halbes Jahr um. Was war euer Juni Highlight und habt ihr von den vorgestellten Büchern schon was gelesen? Falls ja, wie ist eure Meinung oder konnte ich euch auf eines der Bücher Lust machen? Freue mich von euch zu hören.

Read around the world meets Italy be the Book II

Procida. Schon beim Aussteigen aus dem Boot hatte ich das Gefühl, dass man hier nicht nur ankommt, sondern irgendwie… ein bisschen verschwindet. Die Insel ist winzig, eng, lautlos und lebendig zugleich. Es gibt diese verwitterten Hausfassaden in Rosa, Gelb, Blau, in allen denkbaren Pastelltönen, und dazwischen Gassen, durch die man sich wie in einer Choreografie mit Menschen, Mopeds, E-Bikes und den wunderbaren Apes bewegt. Niemand hat es eilig, aber alles ist in Bewegung und irgendwann werde ich Postbotin auf Procida und liefere mit meiner Ape Briefe und Pakete aus – so!

Wir wohnten in einem kleinen Gartenhäuschen unter Zitronenbäumen. Unsere Gastgeberin vermietet auf ihrem Grundstück vier kleine Häuschen, jedes mit Hängematte, Terrasse und eigenen Eidechsen. Ich lag stundenlang zwischen duftenden Zweigen, las Elsa Morantes „Arturos Insel“, pflückte Zitronen direkt vom Baum, und hatte dabei immer wieder das Gefühl, dass das, was ich las, und das, was ich sah, irgendwie ineinanderfloss.

Die Insel hat etwas Zeitloses. Sie ist nicht besonders stylisch oder herausgeputzt, eher das Gegenteil. Aber genau das macht ihren Reiz aus. Nichts hier ist für Tourist*innen inszeniert. Man findet Cafés, die nur geöffnet sind, wenn die Besitzer*innen Lust haben, Läden, in denen man auf Zetteln anschreiben kann, und Strände, an denen man abends wirklich allein ist. Am liebsten waren wir am Il-Postino-Strand, der nach dem gleichnamigen Film benannt ist, da auf der Insel einige Szenen des Films gedreht wurden. Tagsüber verirren sich ein paar Familien her, aber ab dem späten Nachmittag gehört er nur noch den Möwen – und uns. Kein Lärm, kein geöffneter Kiosk, einfach ein leerer, weicher, schwarzer Sandstrand, an dem wir picknickten, lasen, herumschauten. Es gibt kaum etwas Wohltuenderes als ein selbstgemachtes Panini mit Blick auf ein leeres Meer.

Wenn man Lust auf mehr Trubel hat, geht man einfach rüber zum Corricella-Hafen – ein Ort, der aussieht, als hätte jemand ein Kinderbuch illustriert und dann vergessen, dass echte Menschen da wohnen. Hier sitzt man mit Teller Spaghetti alle vongole oder Spaghetti limone, trinkt einen kühlen Weißwein und schaut den Fischern beim Putzen ihrer Boote zu. Und spätestens wenn die Sonne untergeht und das Licht alles in Gold taucht, versteht man, warum hier Filme wie „Il Postino“ und „Der talentierte Mr. Ripley“ gedreht wurden. Diese Farben kann man sich nicht ausdenken.

Apropos Filmkulisse: Wer bereit ist, ein bisschen (?!) zu schwitzen, sollte den Weg hinauf zur Terra Murata nicht scheuen. Oben angekommen erwartet einen eine Mischung aus mittelalterlicher Festung, leergefegten Gassen, windigen Aussichtspunkten und dem ehemaligen Gefängnis, das heute ganz harmlos daliegt, als wäre es nie etwas anderes gewesen. Der Palazzo d’Avalos war einst Heimat für Schwerverbrecher und Mafiosi – heute blühen dort Kräuter zwischen den Steinen, und man sieht den ganzen Golf von Neapel, den Vesuv inklusive.

Ein kleines Highlight war definitiv unser Bootsausflug mit Julio – einem Freund unserer Vermieterin, der das Boot gelegentlich sogar mit den Füßen steuerte (!), zwischendurch Seeigel vom Meeresgrund holte, die wir direkt an Bord löffelten, und mit uns die Insel umrundete. An mehreren Stellen sprangen wir ins Wasser – kein Strand, keine Menschen, nur Meer, Sonne, Boot. Für mich ist das das schönste Schwimmen: direkt vom Boot ins tiefe, klare Blau.

Und natürlich: Marina Grande. Der Hauptanleger, der erste Eindruck, das geschäftigste Eckchen der Insel. Hier kommen die Fähren an, hier sitzt man mit einem Limoncello Sprizz und beobachtet das Kommen und Gehen. Zwischen all dem Gewusel versteckt sich mit dem Istituto Nautico auch die älteste Seefahrtschule Europas – ein stilles Monument an eine Zeit, in der fast jede Familie auf Procida jemanden zur See geschickt hat.

Was ich besonders mochte: Procida ist ganz und gar nicht aufgebrezelt, sondern einfach da. Die meisten anderen Tourist*innen, die wir getroffen haben, waren Italiener*innen vom Festland, die das Feiertagswochenende für einen Ausflug nutzten. In Chiaiolella badet man mit Blick auf Segelboote und das offene Meer, Kinder spielen im flachen Wasser, der Sand ist schwarz und weich und wärmt noch abends die Fußsohlen. Und wenn man keine Lust mehr auf Sand hat, geht man eben auf ein Boot.

Ein weiteres Highlight war unser geführter Ausflug auf die kleine Halbinsel Vivara, ein Naturschutzgebiet, das man nur mit Anmeldung und Begleitung betreten darf. Über einen schmalen Steg gelangt man auf die Insel, wo ein ruhiger Pfad durch alte Bäume, blühende Wiesen, verfallene Mauern und immer wieder beeindruckende Ausblicke aufs Tyrrhenische Meer führt. Überall zwitschert und flattert es, manchmal sieht man Reiher, manchmal einfach nur Licht zwischen den Zweigen. Es war einer dieser Spaziergänge, nach denen man ein bisschen das Gefühl hat, wirklich weg gewesen zu sein – im besten Sinne.

Und wie überall in Italien gibt es natürlich auch hier eine lokale Spezialität: die „Lingua di Procida“ – ein zungenförmiges Gebäck aus Blätterteig, gefüllt mit Zitronencreme. Wir haben es bewundert, aber nicht probiert, aber den lokalen Zitronensalat dafür um so häufiger gegessen. Selbstgemacht mittags auf der Terrasse mit den Zitronen die gerade runtergepurzelt waren. Zitrone filettieren, Olivenöl drüber, ein paar Minzblätter zupfen und direkt essen – auf keinen Fall stehen lassen, sonst oxidieren die Zitronen. So So lekcer. Ein Gericht das zu Procida gehört wie die Hängematte unter den Zitronenbäumen, die salzigen Haare nach dem Schwimmen, das Glitzern auf dem Wasser, das niemand fotografieren kann, ohne dass es kitschig wirkt.

Lektüre durfte natürlich auch nicht fehlen und es gibt wirklich Bücher, die man zur richtigen Zeit am richtigen Ort lesen sollte. Arturos Insel gehört definitiv dazu. Ich hatte den Roman ohne große Erwartungen im Gepäck, lediglich mit dem Wissen, dass er auf Procida spielt. Und kaum jemand hätte besser zu meinem Aufenthalt dort gepasst. Man kann man sich übrigens ganz direkt auf Arturos Spuren begeben: Im Rahmen der Kulturhauptstadt-Initiative wurde ein Percorso Elsa Morante angelegt – ein literarischer Spazierweg mit mehreren Stationen, an denen Schautafeln Auszüge aus dem Roman zeigen und Bezüge zu den jeweiligen Orten herstellen. Mein Buch war eine sehr alte Ausgabe aus der Bibliothek, aber man kann es aktuell auch in einer deutlich schöneren Ausgabe bekommen:

Arturos Insel – Elsa Morante erschienen im Verlag Klaus Wagenbach, übersetzt von Susanne Hurni-Maehler

Elsa Morante, 1912 in Rom geboren, zählt zu den bedeutendsten italienischen Autorinnen des 20. Jahrhunderts. Sie war eine unabhängige, oft eigensinnige Stimme in einer Männerwelt, bekannt für ihre politischen Überzeugungen und ihr Engagement. Ihr Werk ist geprägt von einer tiefen Beschäftigung mit menschlichen Abgründen und sozialen Konflikten. Morante war mit dem Schriftsteller Alberto Moravia verheiratet und bewegte sich in linken intellektuellen Kreisen Roms – dennoch blieb sie stets eine Eigenständige, die sich nicht vereinnahmen ließ.

Arturos Insel erschien 1957 und brachte Morante als erste Frau den prestigeträchtigen Premio Strega ein – ein Zeichen für die literarische Kraft dieses Werks. Die Geschichte folgt dem Jungen Arturo, der auf Procida, eben jener Insel, aufwächst. Allein mit seinem stillen Vater lebt er in einem alten Haus, seine Mutter ist verstorben. Das Leben auf der Insel ist zugleich Freiheit und Gefängnis: eine Mischung aus Einsamkeit, kindlicher Sehnsucht und dem schweren Versuch, die Erwachsenenwelt zu verstehen.

Morantes Darstellung ist dabei alles andere als romantisch verklärt. Die Insel wird zur Metapher für das Leben selbst – schön, rau, widersprüchlich und manchmal erdrückend. Arturo ist kein Held in konventionellem Sinne, sondern ein verletzlicher Beobachter, dessen inneres Chaos sich durch die Sprache zieht wie ein roter Faden. Die Ankunft der neuen Frau im Haus, die das fragile Gefüge aus Routine und Stille zerstört, führt ihn an die Grenzen seiner Kindheit und bringt auch die dunklen Seiten von Liebe und Loyalität zum Vorschein.

Das Buch verzichtet auf einfache Antworten oder Wohlfühlmomente. Stattdessen konfrontiert Morante den Leser mit der Wucht von Gefühlen, die oft widersprüchlich sind – Liebe und Schmerz, Bewunderung und Enttäuschung, Nähe und Isolation. Ihre Sprache ist präzise und zugleich poetisch, mal knapp, mal fast lyrisch, und schafft es, das Lebensgefühl einer ganzen Generation einzufangen. Für mich war Arturos Insel ein intensives Leseerlebnis, das mich nicht nur durch die Geschichte, sondern auch sprachlich gefesselt hat.

Besonders spannend fand ich, wie Morante die Insel nicht nur als geografischen Raum nutzt, sondern als Charakter, der das Geschehen mitprägt und reflektiert. Procida wird zur Bühne für menschliche Dramen, aber auch für die einfachen, kleinen Momente, die das Leben ausmachen. Man spürt in jeder Zeile die Liebe der Autorin für diesen Ort – und gleichzeitig die Härte, mit der das Leben hier gelebt wird.

Wer Arturos Insel liest, sollte keine leichte Urlaubslektüre erwarten. Es ist ein Buch, das nachhallt, das Fragen stellt und in seiner Intensität auch unbequem sein kann. Aber gerade das macht es so wertvoll. Für alle, die sich auf Procida oder eine ähnliche Insel einlassen wollen, bietet der Roman eine unerwartete Tiefe und Perspektive – ein literarisches Gegenstück zu der Realität, die man dort erlebt.

Ich weiß nicht, was es mit Inseln auf sich hat – aber meine liebsten Orte auf der Welt sind fast immer Inseln. Skye, Kreta, Procida – so verschieden sie auch sind, verbindet sie etwas, das ich nicht ganz greifen kann. Vielleicht ist es die Abgeschiedenheit, vielleicht das Licht, vielleicht einfach die Ruhe. Für mich sind sie jedenfalls einzigartig – und wunderbar.

Wer jetzt Lust bekommen hat auf mehr Lektüre aus Italien, ich verlinke mal vorher besprochene Bücher hier: Elizabeth von Arnim – Verzauberter April, Bernard Berenson – One year of reading for fun, Paolo Cognetti – Acht Berge, Rachel Cusk – The Last Supper, Umberto Eco – Der Name der Rose, Elena Ferrante – Lästige Liebe, EM Forster – A room with a view, Christine Frohmann – Vier Wochen, Jumpha Lahiri – Roman stories, Mercedes Lauenstein – Blanca, Thomas Mann – Der Tod in Venedig, Hisham Matar – A month in Siena, Maugham W. Somerset – Up at the villa, Ian McEwan – The comfort of strangers, Ali Smith – How to be both, Muriel Spark – The Driver Seat und meine einzige Sachbuch-Empfehlung dich hier einschmuggel: Gabriel Zuchtriegel – Vom Zauber des Untergangs

Ich hoffe ich konnte euch ein bißchen Lust auf Procida, Il Postino und Elsa Morante machen. Habt ihr schon mal etwas von der Autorin gelesen?