Read around the World: USA

Ich hatte bei meiner Reihe „Read around the World“ natürlich viel an ferne Länder gedacht, von denen ich selten bis nie Bücher lese. Aber da ich einen Zufallsgenerator nutze, um die nächsten Länder auszuwählen, über die ich schreiben möchte, traf es mich recht früh in der Reihe – die USA. Ich lese ohnehin viel Literatur aus den USA, so dass ich mir nicht sicher war, ob ich hier Neues entdecken könnte. Doch dann fiel mir Tommy Oranges Roman „There There“ ein, der schon länger auf meiner To-Read-Liste stand. Es erschien mir plötzlich unglaublich passend, dieses Buch im Rahmen dieser Reihe zu lesen.

Die USA – ein Land, das jedem irgendwie bekannt ist. Selbst wer noch nie persönlich dort war, hat unzählige Eindrücke über Filme, Serien, Musik und Bücher gesammelt. Als ich das erste Mal die USA besuchte, speziell New York, war ich erstaunt darüber, wie vertraut mir alles vorkam. Ich hatte das Gefühl, bereits dort gewesen zu sein. Doch abseits der Großstädte änderte sich mein Eindruck. Da spürte ich zum ersten Mal die schiere Größe dieses Landes. Wir wissen natürlich alle, dass die USA riesig sind. Aber das Gefühl, zB am Ufer des Michigansees zu stehen – einem Gewässer, das fast so groß wie die Schweiz ist – war einfach surreal.

Die Geschichte der Vereinigten Staaten ist eine Geschichte der Kontraste: von Expansion und Unabhängigkeit, aber auch von Kolonialismus und tiefgreifender Ungerechtigkeit. Ursprünglich war das heutige Gebiet der USA von zahlreichen indigenen Stämmen besiedelt, deren Kulturen sich über Jahrtausende entwickelten. Die ersten bekannten Kontakte mit Europäern erfolgten Ende des 15. Jahrhunderts, doch es dauerte bis zum 17. Jahrhundert, bis europäische Kolonialmächte wie England, Frankreich und Spanien hier dauerhaft Fuß fassten. 1776 erklärten 13 britische Kolonien entlang der Ostküste ihre Unabhängigkeit – ein mutiger Schritt, der zur Gründung der Vereinigten Staaten von Amerika führte.

Anfang der 2000er verbrachte ich mal eine Weile in New York und hatte auch die wahnwitzige Idee meine Abfindung dazu zu nutzen dort einen Buchladen aufzumachen. Nun ja, das ist alles schon an die Wand gefahren, bevor es richtig Fahrt aufnehmen konnte und zeugt vermutlich von meinen großartigen unternehmerischen Talenten und praktischen Fähigkeiten. Aber es ist immer eine coole Geschichte, die man auf Parties erzählen kann.

Die Unabhängigkeitserklärung von 1776 gilt als Geburtsstunde der amerikanischen Demokratie. Sie basierte auf den Prinzipien der Aufklärung, insbesondere den Ideen von Gleichheit, Freiheit und dem Recht auf das Streben nach Glück. Doch die Umsetzung dieser Ideale war von Anfang an unvollkommen. Die Verfassung von 1787, die bis heute das Fundament der amerikanischen Demokratie bildet, war ein bahnbrechendes Dokument, das ein System von Checks and Balances schuf, um die Macht zwischen Exekutive, Legislative und Judikative zu verteilen. Dennoch blieben Frauen, indigene Bevölkerungen und versklavte Menschen von diesen Rechten ausgeschlossen.

Im Laufe der Jahrhunderte wurde das demokratische System der USA weiterentwickelt, oft durch harte Kämpfe um bürgerliche Rechte und soziale Gerechtigkeit. Die Abschaffung der Sklaverei, das Frauenwahlrecht und die Bürgerrechtsbewegung des 20. Jahrhunderts sind Meilensteine auf dem Weg zu einer inklusiveren Demokratie. Doch die Spannungen zwischen Idealen und Realitäten der Demokratie bestehen weiterhin.

In der jüngeren Vergangenheit wurden die Grundpfeiler der amerikanischen Demokratie zunehmend in Frage gestellt. Die Wahl von Donald Trump im Jahr 2016 war ein Wendepunkt, der tiefe gesellschaftliche und politische Gräben offenbarte. Trumps Rhetorik und Politik haben die Institutionen der Demokratie auf die Probe gestellt. Besonders besorgniserregend war sein Umgang mit der Wahlniederlage 2020 und die darauf folgende Erstürmung des Kapitols am 6. Januar 2021. Dieses Ereignis, ein Angriff auf den Sitz der amerikanischen Demokratie, unterstrich die Fragilität des Systems.

Gleichzeitig haben Polarisierung, Desinformation und Angriffe auf die Pressefreiheit die demokratische Kultur geschwächt. Viele Beobachter*innen sind besorgt, dass das Vertrauen in die Wahlen und die Unabhängigkeit der Gerichte abnimmt. Doch es gibt auch Zeichen der Hoffnung: Bewegungen für soziale Gerechtigkeit, Klimaschutz und Menschenrechte zeigen, dass viele Amerikanerinnen und Amerikaner weiterhin für die Werte ihrer Demokratie einstehen.

Die Geschichte der indigenen Völker Nordamerikas reicht weit vor die Ankunft europäischer Kolonisatoren zurück. Vor der Kolonialisierung lebten schätzungsweise bis zu 10 Millionen Menschen auf dem Gebiet der heutigen USA, organisiert in hunderten verschiedenen Stämmen mit eigenen Sprachen, Traditionen und Lebensweisen. Diese Kulturen waren tief mit der Natur verwoben und oft durch komplexe soziale Strukturen geprägt.

Die Ankunft der Europäer brachte nicht nur Gewalt, sondern auch Krankheiten, gegen die die indigenen Bevölkerungen keine Immunität hatten. Pocken, Masern und andere Seuchen dezimierten die Bevölkerung innerhalb weniger Jahrzehnte drastisch. Während der Kolonialzeit und später im jungen US-amerikanischen Staat wurden indigene Gemeinschaften systematisch marginalisiert. Landraub und Assimilationspolitik bestimmten das Verhältnis der US-Regierung zu den indigenen Völkern.

Im 20. Jahrhundert änderten sich die Ansätze. Zwar wurden indigene Gemeinschaften weiterhin diskriminiert, doch ab den 1960er Jahren kam es zu einer Renaissance indigener Kulturen. Aktivisten kämpften für Landrechte, politische Autonomie und kulturelle Anerkennung. Heute leben über fünf Millionen Menschen indigener Abstammung in den USA, die Mehrheit davon in Städten. Tommy Oranges Roman „There There“ thematisiert genau diese städtische indigene Erfahrung – eine Perspektive, die in der Literatur selten zu finden ist.

Hier noch ein paar Fakten zu den USA

  • Fläche: 9,8 Millionen km², damit etwa 27 mal so groß wie Deutschland
  • Bevölkerung ca. 332 Millionen, in Deutschland etwa 84 Millionen
  • Bevölkerungsdichte USA: 36 Einwohner/km², Deutschland: 235 Einwohner/km²

Für die Weltreise habe ich wie oben schon erwähnt Tommy Oranges Roman „There There“ ausgewählt, der 2019 im Hanser Verlag unter dem Titel „Dort, Dort“ veröffentlicht wurde.

„There There“ hat mich hat mich wirklich sehr berührt – ein Buch, das mir nicht nur neue Perspektiven eröffnet, sondern auch einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen hat. Schon beim Hören des Hörbuchs war ich überwältigt von der Kraft und Schönheit seiner Sprache. Ständig hatte ich den Wunsch, Sätze zu markieren, sie zu unterstreichen und immer wieder zu lesen. Dieses Buch, das zu Recht so viel Aufmerksamkeit und Hype erhalten hat, ist eines, das ich unbedingt noch einmal in Buchform lesen möchte.

Der Titel des Romans bezieht sich auf Gertrude Steins berühmte Bemerkung über Oakland, Kalifornien: „There is no there there“. Oakland, Oranges Heimatstadt, bildet den Schauplatz des Romans und wird zu einem Symbol für das Erbe und die Erfahrung indigener Gemeinschaften in den USA. Orange, selbst ein Mitglied der Cheyenne und Arapaho, erzählt die Geschichten einer Gruppe indigener Menschen, deren Leben auf komplexe Weise miteinander verflochten sind. Schon das Eröffnungsprolog, das nüchtern und zugleich tief erschütternd die koloniale Unterdrückung und Gewalt gegenüber indigenen Völkern schildert, setzt den Ton für das, was folgt.

Was dieses Buch für mich so besonders macht, ist die Balance zwischen Schmerz, Verzweiflung aber auch Hoffnung. Orange verzichtet bewusst auf romantisierte Darstellungen indigener Kultur oder nostalgische Bilder von offenen Prärien. Stattdessen zeigt er das Leben indigener Menschen in städtischen Räumen – in all seiner Widersprüchlichkeit, Zerbrechlichkeit und Schönheit. Figuren wie der durch fetales Alkoholsyndrom gezeichnete Tony Loneman, der Dokumentarfilmer Dene Oxendene oder der junge Orvil Red Feather, der sich mit gestohlener Regalia auf ein Powwow vorbereitet, sind so lebendig und greifbar, dass sie mir während des Lesens regelrecht ans Herz gewachsen sind.

Besonders beeindruckt hat mich, wie Orange es schafft, die Geschichte und Gegenwart der indigenen Bevölkerung der USA miteinander zu verbinden. Das Powwow in Oakland, das den zentralen Schauplatz der Handlung bildet, steht nicht nur für den Versuch, kulturelle Traditionen zu bewahren, sondern auch für die Herausforderungen und Spannungen, die damit einhergehen. Die unterschiedlichen Perspektiven und Lebenswege der Charaktere verdichten sich hier zu einem explosiven Finale, das irgendwie schockierend und zugleich unvermeidlich wirkt. Es ist ein Ende, das beschäftigt – ein Spiegel der Realität, in der Gewalt und Ungleichheit allgegenwärtig sind.

Die Beziehung zwischen Jacquie und ihrer Schwester Opal, die versuchen, alte Wunden zu heilen und sich einander wieder anzunähern, hat mich besonders bewegt. Ihre Geschichte, die bis zur Besetzung von Alcatraz in den späten 1960er Jahren zurückreicht, zeigt, dass auch inmitten von Verlust und Schmerz die Möglichkeit besteht, etwas Neues zu schaffen. Dieses Spannungsfeld zwischen Resignation und Widerstand, zwischen Zerstörung und Wiederaufbau durchzieht das gesamte Buch und nimmt einen wirklich mit.

We are the memories we don’t remember, which live in us, which we feel, which make us sing and dance and pray the way we do, feelings from memories that flare and bloom unexpectedly in our lives like blood through a blanket from a wound made by a bullet fired by a man shooting us in the back for our hair, for our heads, for a bounty, or just to get rid of us.

Ich habe bei der Lektüre unglaublich viel über die Geschichte und Gegenwart indigener Gemeinschaften gelernt. Es war eine harte, aber notwendige Auseinandersetzung mit einer Realität, die oft verdrängt wird. Oranges Buch zwingt uns, hinzusehen und zuzuhören. Es gibt denjenigen eine Stimme, die zu lange überhört wurden, und fordert uns auf, die Komplexität und Menschlichkeit indigener Erfahrungen anzuerkennen.

There There ist für mich ein Meisterwerk – eines der Bücher, das man nicht nur liest, sondern das einen verändert. Es hat mich dazu gebracht, über meine eigenen Vorstellungen von Identität, Geschichte und Gemeinschaft nachzudenken. Tommy Orange hat mit diesem Roman etwas Großes geschaffen, das nicht nur unterhält, sondern auch berührt und inspiriert. Ich kann diesen Roman nur jedem wärmstens empfehlen.

Mein Filmtipp ist der herausragende Film „The new World“ aus dem Jahr 2005 von einem meiner Lieblingsregisseure Terrence Malick:

Falls ihr Lust auf die anderen Etappen habt, hier die Links zu den bisherigen Stationen:

Unser nächster Stopp führt uns wieder in entferntere Gefilde, aber ich bin trotzdem gespannt von euch zu hören. Wie ist euer Verhältnis zu den USA? Habt ihr es schon bereist, dort gelebt oder lässt es euch eher kalt und ihr habt wenig Interesse an einem Besuch?

Meine Woche

my dog sighs

Gesehen: The New World von Terence Malick. Die Verfilmung des Lebens Pocahontas. Klingt eigentlich gar nicht nach einem Film für mich. Hab auf eine Empfehlung vertraut und gut so. Wirklich toller sehenswerter Film.

Mogambo  – ich habe einfach eine Schwäche für diese knallbunten 50er Jahre Filme. Diese wunderbare Dschungel im Sturm Schmonzette mit Clark Gable, Grace Kelly und Ava Gardner ist einfach klasse.

The Sheltering Sky von Bernardo Bertolucci konnte nicht warten, wollte ihn unbedingt sehen kurz nach dem ich das Buch gelesen habe. Die Bilder sind atemberaubend. Die Darstellung der Charaktere in der Tat etwas schwach.

Gehört: Blur – Lonesome Street, Joanna Gruesome – Sugarcrush, Sophie Hunger – Love is not the Answer, im Restaurant wurde mit Gianna Nannini’s „I maschi“ ein Nostalgie-Anfall ausgelöst und die durchgeknallt komplizierten Godspeed You! Black Emperor mit Piss Crowns are trebled

Gelesen: diesen Artikel über Sylvia Plath, dieses Interview mit Sarah Waters und diesen Artikel über die Gefängnis-Situation in den USA

Getan: intensiv über Platten und Bücher diskutiert, viel über Employer Branding gelernt, trotz Bahnstreik gut nach Dortmund, Hagen und Berlin gekommen, jede Nacht in einem anderen Bett geschlafen (puh) und erfolgreich gemeinsam (ohne Trennungsgefahr) Ikea Regale aufgebaut.

Gegessen: diesen extrem leckeren Himbeer-Rhabarber-Baiser-Kuchen (ich kann das kaum schreiben, geschweige denn backen. OK – wenigstens das essen klappt 😉 )

Getrunken: einen sehr leckeren Mai Tai im Hauptstadtrestaurant „Gendarmerie

Gefreut:  3 Punkte gegen den Abstieg für St. Pauli und wie sehr gerade Punks in Nepal der Bevölkerung helfen

Geärgert: sorry mir fällt schon wieder nix ein

Gelacht: Please do not disturb – I’m disturbed enough already 😉

Geplant: 3 Tage arbeitstechnisch reinhauen und dann ein langes Wochenende mit Freunden und Oper

Gewünscht: diesen BH, diese Lampe und diesen Schrank

Gekauft: Das grüne Rollo von Heinrich Steinfest und den Musikexpress

Gefunden: einen Krimi im Papiermüll

Geklickt: auf die Vorlesungen der Zeppelin-Uni, diesen Artikel über die Kinderbücher die berühmte Autoren inspiriert haben
und diesen Artikel über den Architekten Rem Koolhaas

Gewundert: wie gut ich den Bahnstreik ignorieren konnte