September Lektüre

Der September ist einer meiner Lieblingsmonate – und auch literarisch war er in diesem Jahr ein voller Erfolg. Besonders geprägt war er vom Erlanger Poetinnenfest, wo ich gleich mehreren der Autor*innen meiner diesmonatigen Lektüren begegnet bin: Ulrike Draesner, Fikri Anıl Altıntaş und Dimitrij Kapitelman. Insgesamt habe ich neun Bücher gelesen – ein wahrer literarischer Roadtrip.

Meine Lektürereise führte mich quer durch Zeiten und Kontinente: nach Mexiko, durch die USA an der Seite von John Steinbeck und seinem Königspudel Charley, bis hinaus aufs Meer, wo Penelope vor Ithaka in See sticht – und ich gleich dortgeblieben bin, denn auch Richard Powers’ „Das große Spiel“ spielt zu weiten Teilen im Ozean. Mit Dimitrij Kapitelman und Fikri Anıl Altıntaş habe ich zudem zwei besondere Familiengeschichten gelesen, die auf sehr unterschiedliche, aber gleichermaßen berührende Weise von Herkunft und Identität erzählen.

Ein wirklich guter Monat also – vielfältig, nachdenklich, manchmal melancholisch, oft überraschend. Hier kommt nun meine Septemberlektüre im Detail: Bücher, die ich euch wärmstens ans Herz legen möchte.

Ulrike Drasener – penelopes sch()iff erschienen im Penguin Verlag

Dieser Roman in Versform hat mich sehr begeistert und ich habe ihn hier vor Kurzem bereits besprochen.

Travels with Charley – John Steinbeck auf deutsch unter dem Titel „Die Reise mit Charley: Auf der Suche nach Amerika“ in dtv Verlag erschienen, übersetzt von Burkhart Kroeber

Dieses Buch wurde mir von einer lieben Freundin schon vor einer ganzen Weile empfohlen und endlich komme ich dazu, ihrem guten Tipp zu folgen: Selten hat mich ein Buch so sehr dazu gebracht, sofort den Koffer zu packen und einfach loszufahren. Dieses Buch hat in mir ein Fernweh geweckt, das zugleich Freiheit, Abenteuer und Lust auf stille Begegnungen macht. Ganz ohne großes Pathos, ganz ohne literarische Verrenkungen – einfach durch Steinbecks Blick, seine Sprache, seinen Ton.

Worum geht es? 1960, schon ein berühmter und reifer Autor, macht sich Steinbeck auf, sein eigenes Land noch einmal neu zu erkunden. Er will die Vereinigten Staaten nicht aus der Distanz der Zeitungen und Fernseher sehen, sondern mit eigenen Augen und Ohren erleben. Dazu lässt er sich ein Gefährt bauen, das er liebevoll Rocinante nennt, nach Don Quijotes klapprigem Pferd. Mit an Bord: Charley, ein französischer Pudel, der nicht nur Begleiter, sondern fast so etwas wie Gesprächspartner und Spiegel ist. Gemeinsam ziehen sie los, durch Neuengland, den Mittleren Westen, die Weiten Montanas, die Städte und Sümpfe des Südens.

I have always lived violently, drunk hugely, eaten too much or not at all, slept around the clock or missed two nights of sleeping, worked too hard and too long in glory, or slobbed for a time in utter laziness. I’ve lifted, pulled, chopped, climbed, made love with joy and taken my hangovers as a consequence, not as a punishment

Es ist eine Reise voller kleiner Begegnungen: Tankwarte, Farmer, Verkäuferinnen, Städter. Steinbeck hört zu, fragt nach, beobachtet – und hat ein unglaubliches Talent, die Geschichten dieser Menschen in ein paar Seiten lebendig werden zu lassen. Dabei klingt er nie gönnerhaft, nie belehrend. Er schaut hin, er beschreibt, und man spürt seine große Zuneigung zu den Menschen, so unterschiedlich sie auch sind.
Genauso eindringlich sind seine Naturbeschreibungen. Wenn Steinbeck durch die Wälder von Maine fährt oder die Ebenen der Dakotas durchquert, dann spürt man diese Landschaften beim Lesen. Er schreibt klar, ungekünstelt, aber immer poetisch – so, dass man glaubt, man säße selbst auf dem Beifahrersitz, mit Charley im Rückspiegel.

Natürlich hat die Reise auch dunkle Seiten. Besonders im Süden stößt Steinbeck auf offene Rassentrennung und Proteste gegen die Integration. Seine Notizen dazu sind von einer Schärfe, der man seine Wut dagegen anmerkt. Er will nicht einfach nur reisen, er will verstehen. Er konfrontiert sich mit dem, was weh tut, und genau darin liegt die Ehrlichkeit dieses Buches.

Travels with Charley ist nicht nur eine Reise durch Amerika, sondern auch eine Reise ins Innere – ein Buch über Begegnungen, Landschaften, Politik, Alltag, über die Sehnsucht nach Freiheit und das Bedürfnis nach Nähe. Vor allem aber ist es ein stilles, wunderschönes Plädoyer dafür, sich immer wieder neu aufzumachen, mit offenen Augen und offenen Ohren.
Ein Buch, dass es auf Rezept geben sollte, da es garantiert Blutdruck senkende und stressmindernde Qualitäten hat. Vertraut mir und lest dieses Buch 😊

The Illiac Crest – Cristina Rivera Garza erschienen im Verlag And Other stories, übersetzt von Sarah Booker (eine deutsche Übersetzung gibt es bislang nicht) und Die Schwerelosen – Valeria Luiselli erschienen im Kunstmann Verlag, übersetzt von Dagmar Ploetz

Diese beiden Bücher habe ich für meine Mexiko Stopp auf der literarischen Weltreise gelesen und meinen Eindruck dazu könnt ihr hier nachlesen.

Zwischen uns liegt August – Fikri Anıl Altıntaş erschienen im C. H. Beck Verlag


Noch ein Autor den ich auf dem Poetinnenfest endeckt habe und ein Roman bei dem ich schon nach wenigen Sätzen dachte: hier jemand schreibt, der genau hinhört – in die Zwischenräume von Sätzen, in die stillen Bewegungen zwischen Mutter und Sohn. Dank an C. H. Beck für das Rezensionsexemplar.

Altıntaş erzählt von den letzten Monaten einer an Krebs erkrankten Mutter und ihres Sohnes – und er tut das ohne Pathos, ohne jedes überflüssige Wort. Während die Krankheit das Ende unausweichlich erscheinen lässt, bleibt der Alltag seltsam standhaft: Krankenhausflure, Fahrten zum Supermarkt, das gemeinsame Kochen, kleine Gesten, die plötzlich mehr Gewicht tragen als große Erklärungen. Diese Alltäglichkeit verleiht dem Buch seine besondere Stärke – es ist kein Roman über das Sterben, sondern über das Weiterleben, bis zuletzt.

Parallel entfaltet sich die Vergangenheit der Mutter: ihre Kindheit in der Türkei, das Aufbrechen nach Deutschland, das Leben zwischen Sprachen, zwischen Erwartungen und Eigenwillen. Der Sohn versucht, zu verstehen, was sie geprägt hat, was sie weitergegeben hat – und was unausgesprochen blieb. Altıntaş beschreibt all das mit großer Empathie und einem genauen Blick für die leisen Brüche, die Generationen und Kulturen voneinander trennen und zugleich verbinden.

Es tut weh, darüber nachzudenken, dass sich Routinen verschieben

Mich hat dieses Buch sehr berührt, vielleicht gerade weil es sich nie übermässig in Emotionen verliert. Es bleibt leise, und gerade darin liegt seine Eindringlichkeit. Zwischen den Zeilen spürt man die Zärtlichkeit dieser Beziehung, aber auch die unausgesprochenen Spannungen, die Scham, die Müdigkeit, das zähe Ringen um Nähe. Besonders stark fand ich den Moment, in dem die Mutter – unerwartet und klar – für sich selbst einsteht, für ihre eigenen Wünsche und Bedürfnisse, die sie so lange zurückgestellt hatte. Dieser Augenblick wirkt wie ein kleines Aufleuchten inmitten des Abschieds.

Altıntaş schreibt ohne große Dramatik, aber mit einem tiefen Wissen um das, was zwischen Menschen unausgesprochen bleibt. Eine eindringliche, zärtliche und zugleich schmerzlich ehrliche Geschichte – und für mich eines der bewegendsten Bücher des Jahres.

Liebe in Zeiten des Hasses – Florian Illies erschienen im S. Fischer Verlag

Florian Illies’ Liebe in Zeiten des Hasses ist ein Buch, das man nicht einfach liest, sondern in das man hineingezogen wird wie in eine Chronik des taumelnden 20. Jahrhunderts. Diese kurzen, vignetteartigen Miniaturen über Künstler, Dichterinnen, Denker und Verirrte der Zwischenkriegszeit entfalten eine eigentümliche Mischung aus Eleganz, Schmerz und Ironie. Illies beherrscht die Kunst, das Schicksal einer ganzen Epoche in einem einzigen Augenblick, in einer Geste, in einem Blick zwischen zwei Liebenden oder einem Satz aus einem Brief zu verdichten. So entsteht ein Mosaik aus schillernden, verletzlichen Fragmenten, in dem sich die Jahre 1930 bis 1939 wie ein langsames, unausweichliches Abrutschen anfühlen – von der fiebrigen Kreativität der Avantgarde hinein in den Abgrund der Gewalt.

Beim Lesen überkommt einen immer wieder dieses „uncanny“ Gefühl, dass Geschichte keine lineare Bewegung ist, sondern ein Kreisen – dass sich die Gespenster jener Zeit längst wieder in unserer Gegenwart einnisten. Man liest von den Intellektuellen, die sich noch über politische Extreme mokieren, während sie sich schon in deren Bannkreis befinden, und man denkt unwillkürlich an die Rhetorik unserer Tage, an die neuen Fronten, die wieder gezogen werden. Illies’ Stil – halb distanziert, halb zärtlich – verstärkt diese Beklemmung. Er kommentiert kaum, er beobachtet, lässt uns die Ahnung des Kommenden mitempfinden, als säßen wir mit ihm am Rande eines brennenden Jahrzehnts und wüssten, dass der Rauch schon zu uns herüberzieht.

Manchmal ist mir da aber auch zu viel Hektik bei all der Spannung zwischen Schönheit und Entsetzen. Da ist eine fast voyeuristische Lust, in die Salons und Ateliers jener Zeit zu blicken, wo noch getanzt, geliebt, gestritten wird – wissend, dass all das bald zerstört sein wird. Illies zeichnet diese Welt mit feiner Ironie, aber ohne Spott; man spürt seine Melancholie über das, was unwiederbringlich verloren ging, und seine stille Wut darüber, wie blind viele damals in ihr eigenes Verderben liefen.

Man kann kein Licht entdecken, solange man nur die Dunkelheit analysiert.

So liest sich Liebe in Zeiten des Hasses letztlich wie ein Spiegel – ein historischer, aber auch ein existenzieller. Die Figuren dieser Jahre sind uns näher, als wir glauben: in ihrem Wunsch nach Bedeutung, nach Liebe, nach Schönheit trotz der Dunkelheit. Und während man Seite um Seite in diese Welt eintaucht, stellt sich unweigerlich die Frage, ob wir gerade wieder in einer solchen Zwischenzeit leben – in einem Moment, in dem alles noch möglich scheint, aber längst kippt.

Russische Spezialitäten – Dimitrij Kapitelman erschienen im Hanser Verlag

Ich habe Dimitrij Kapitelmans „Russische Spezialitäten“ zuerst gehört, dann erst gelesen – bei seiner Lesung in Erlangen. Kapitelman hat für mich in seiner Stimme schon den Rhythmus seines Schreibens mitschwingen zu lassen: eine Mischung aus Schärfe, Witz und stiller Melancholie. Ich hatte das Buch für einen Bekannten mitgebracht, der unbedingt eine Widmung seines Lieblingsautors wollte – und in der Aufregung zwischen Publikum, Signiertisch und Smalltalk habe ich dann völlig vergessen, ein schönes Cover-Bild für den Artikel hier zu machen.

Gelesen habe ich Russische Spezialitäten schließlich auf der Rückfahrt vom Poetinnenfest, in einer Reihe von Nahverkehrszügen mit reichlich Verspätung und somit genügend Zeit, mich ganz in diese Geschichte zu versenken. Es war die perfekte Lektüre für eine solche Reise: ein Buch über das Unterwegssein, über Herkunft und Zugehörigkeit, über das, was bleibt, wenn man ständig zwischen Welten pendelt.

Kapitelman erzählt von seiner ukrainisch-jüdischen Familie, von Eltern, die sich in der Fremde neu erfinden müssen, und von einem Sohn, der versucht, ihre Vergangenheit zu verstehen, ohne sich darin zu verlieren. Das klingt nach schwerem Stoff, ist es aber nicht. Sein Ton ist leicht, fast tänzerisch. Humor und Schmerz stehen nebeneinander, oft in einem Satz. Er schreibt mit Zärtlichkeit, aber ohne Sentimentalität, mit Ironie, aber ohne Distanz. Gerade diese Balance macht das Buch so besonders – es ist persönlich, politisch und poetisch zugleich. Da ich vor Kurzem erst seinen Roman „Eine Formalie in Kiew“ gelesen habe, kam mir das ganze Setting und seine Protagonist*innen wunderbar vertraut vor.

Seit der Invasion habe ich das Gefühl, kein richtiger Mensch mehr zu sein. Die unerträgliche und unerträglich sinnlose Tragödie, die Russland in mein Geburtsland gebracht hat. Ich blende sie aus, um in meinem friedlichen, vom dummen Glück okkupierten Leben zu funktionieren.

Ich war ehrlich überrascht, Russische Spezialitäten nicht auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises zu finden. (Genauso wenig wie meine absolute Favoritin Annett Gröschner mit „Schwere Lasten“ – grrrr) Für mich ist der Roman Literatur, die wirkt, weil sie vertraut klingt – wie ein Gespräch, das man auf einer langen Zugstrecke zufällig beginnt und ungern beendet. Vielleicht war das für die Juror*innen nicht experimentell genug.

Kapitelman schreibt mit einer Wärme, die ich sehr schätze: aufmerksam, witzig, verletzlich. „Russische Spezialitäten“ ist ein Buch, das sich leise entfaltet, das nachwirkt und Lust macht auch weitere Bücher des Autors zu lesen.

Sommer in Lesmona – Marga Berck erschienen im Rowohlt Verlag

Ich wollte mich mit „Sommer in Lesmona“ vom Sommer verabschieden und erwartete eine leichte, nostalgische Geschichte mit Lindenblütenduft und Sonnenschein. Doch schon nach den ersten Seiten merkte ich, dass unter dieser heiteren Oberfläche etwas anderes schwingt: eine Ahnung von Vergänglichkeit, die das ganze Buch durchzieht. Marga Berck – hinter diesem Pseudonym steht Magdalene Pauli, geborene Melchers, Bremer Kaufmannstochter und spätere Frau des Kunsthistorikers Gustav Pauli – hat in „Sommer in Lesmona“ weit mehr hinterlassen als eine charmante Folge von Backfischbriefen die sie mit ihrer besten Freundin austauscht. Sie hat Zeugnis abgelegt über Jugend und Freiheit im Schatten einer Zeit, die noch gar nicht weiß, dass sie vergeht.

Der Roman, der auf einem echten Briefwechsel aus den 1890er Jahren basiert, beginnt als scheinbar harmlose Sommergeschichte: Ein junges Mädchen schreibt ihrer Freundin von Reisen, Festen, Spaziergängen und einer verbotenen Liebe. Diese Briefe atmen eine Unschuld, die von einer leisen Melancholie überlagert sind und eine unerwartete dramatische Wendung nehmen. Denn alles, was Marga erlebt, scheint so hell, so lebendig, und doch weiß man als Leserin: Diese Welt wird verschwinden – nicht nur für sie, sondern für ganz Europa.

Die Eltern trafen viele Bekannte, darunter sehr viele elegante Leute aus Frankfurt und London. Angesichts dieser Welt entdeckte Mama, daß ich angezogen wäre wie ein Mistkäfer. Sie selbst sieht ja immer so vornehm aus. Aber nun sah sie ein, daß ich aussah, als käme ich aus Gröpelingen. Abends waren beide Eltern furchbar zärtlich zu mir und sagten, es wäre doch so nett, daß Du und ich so wenig Wert auf teure Kleider gelegt hätten. Du hättest ja nun als Braut schon sehr schöne Sachen aus Hannover bekommen, und ich sollte jetzt in Wiesbaden ganz neu ausgesteuert werden! Wir haben wirklich beide wenig an unsere Kleider gedacht, und für Bremen hat es ja noch immer genügt.

Hinter dem hellen Licht von Lesmona liegt der Schatten einer Biografie, die fast symbolisch für den Verlust einer ganzen Epoche steht. Magdalene Pauli, die Verfasserin dieser Briefe, führt später ein Leben, das kaum gegensätzlicher sein könnte: aus der Geborgenheit des großbürgerlichen Bremen hinaus in eine Welt der Brüche. Sie heiratet einen Kunsthändler, erlebt die kulturelle Blüte Europas – und wird zugleich Zeugin seines Untergangs. Zwei Weltkriege, wirtschaftliche Krisen, gesellschaftliche Umwälzungen. Sie überlebt all ihre Kinder – und wird zum Glück im hohem Alter überredet diese Jugendbriefe herauszugeben.

Ich habe dieses Buch mit einer zunehmenden Wehmut gelesen. Pauli hat mit Sommer in Lesmona ein Denkmal gesetzt für die Zerbrechlichkeit des Glücks. Ein leises, kluges, vollkommen zeitloses Buch – und, wenn man die Tragik der Autorin kennt, auch ein sehr bewegenden Zeitzeugnis Wer sich mit Sommer in Lesmona vom Sommer verabschiedet, verabschiedet sich zugleich von einer Welt, die es so nie wieder geben wird.

Das große Spiel – Richard Powers erschienen im Penguin Verlag, übersetzt von Eva Bonné

Kennt ihr das? Autorinnen, Bands, Künstlerinnen, die eigentlich komplett eurem Beuteschema entsprechen, alles klingt, als müsse es definitiv passen – aber es wird irgendwie nix. Musikalisch denke ich da gerade an Nine Inch Nails, literarisch ist das bei mir Richard Powers. Schon durch „The Overstory“ habe ich mich sehr gequält, obwohl ich mich auf das Buch gefreut hatte. Mit „Das große Spiel“ ging es mir definitiv besse, denn gequält habe ich mich absolut nicht, ich habe es durchaus flott gelesen, konnte aber trotzdem keine wirkliche Verbindung zu der Geschichte aufbauen.

Inhaltlich erzählt Powers die Geschichte von mehreren Menschen, deren Leben auf komplexe Weise miteinander verwoben sind. Evie, Meeresbiologin, erforscht die Tiefen des Ozeans; Todd, Programmierer, arbeitet an einem Spiel, das Realität und Simulation verschwimmen lässt; Rafi, Künstler, sucht nach neuen Ausdrucksformen in einer zunehmend digitalen Welt. Ihre Wege kreuzen sich auf überraschende und teilweise geheimnisvolle Weise, wobei die Insel Makatea als eine Art Brennpunkt für Neubeginn, Begegnung und persönliche Reflexion dient. Powers verwebt darin Themen wie Wissenschaft, Kunst, menschliche Beziehungen und die Suche nach Sinn in einer komplexen, globalisierten Welt.

Jeder Tanz ist ein Spiel, und jedes Spiel erklärt sich am besten selbst. Denn was tun alle Geschöpfe anderes, als auf dem Erdkreis zu spielen, im Angesicht eines spielenden Gottes?

Evie fand ich als Protagonistin durchaus faszinierend, aber ihre Geschichte verendet irgendwann im Belanglosen, und das Ende des Buches wirkte auf mich merkwürdig. Die erzählerische Struktur, das Verweben der unterschiedlichen Perspektiven und die fast kaleidoskopische Breite des Romans haben mich zeitweise an die letzte Folge von Lost erinnert 😉

Das Bild vom Leben als Spiel fasst die Grundidee des Romans treffend zusammen: eine poetische Reflexion über die Verflochtenheit von Menschen, Handlungen und der Welt, ohne dass Powers dabei versucht ist einfache Antworten zu geben.

Für mich bleibt „Das große Spiel“ ein solides Buch – gut zu lesen, klug und auch ambitioniert, aber insgesamt funkt es einfach nicht zwischen mir und Powers.

Jetzt bin ich gespannt – was waren eure Highlights im September und konnte ich euch vielleicht auf das eine oder andere Buch neugierig machen?

Read around the world: Mexiko

Mexiko ist ein Land voller Gegensätze – faszinierend, widersprüchlich, oft von außen auf Klischees reduziert. Die Bilder reichen von Traumstränden und farbenfrohen Festen bis hin zu Schlagzeilen über Gewalt und Migration. Doch dazwischen liegt ein Land mit einer tief verwurzelten Geschichte, einer vielfältigen Kultur und einer Gegenwart, die nicht in einfachen Erzählungen aufgeht.

Für mich war Mexiko lange ein Ort, den ich vor allem aus Filmen, Musik und Schlagzeilen kannte. Erst mit der Lektüre wurde mir zumindest etwas klarer, wie viele Schichten dieses Land prägen: die Spuren präkolumbischer Hochkulturen, die Brüche der Kolonialisierung, die Hoffnungen und Enttäuschungen der Revolution, die Kämpfe um Gerechtigkeit heute. Ich war noch nie dort und könnte ich mich beamen, würde ich vielleicht mal eine Reise dorthin machen, aber ich fliege immer weniger gern, von daher wird es wohl bei diesem Stopp hier bleiben.

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Ich beginne mal direkt mit den vergleichenden Daten:

  • Fläche: Mit etwa 1,964 Millionen km² ist Mexiko rund fünfmal so groß wie Deutschland (≈ 357.000 km²).
  • Bevölkerung: Rund 130 Millionen Menschen leben in Mexiko (Stand 2025), etwa eineinhalb Mal so viele wie in Deutschland (ca. 84 Millionen).
  • Bevölkerungsdichte: Mexiko ist (abhängig von Region) gemischt besiedelt — in Ballungszentren wie Mexiko-Stadt oder Monterrey sehr dicht, in dünn besiedelten Gebieten im Norden oder im Hochland weit weniger.
  • Wirtschaft: Mexiko ist eine der größten Volkswirtschaften Lateinamerikas, mit bedeutendem industriellem Sektor (Automobilproduktion, Elektronik, Öl), starkem Dienstleistungssektor und zugleich großen Disparitäten zwischen armen und reichen Regionen und ausgeprägter Abhängigkeit vom Export, z. B. in die USA.

Die Geschichte Mexikos ist eine Geschichte von Eroberung, Widerstand und Erneuerung. Lange vor der Ankunft der Spanier existierten Hochkulturen wie die Olmeken, Maya, Zapoteken und Azteken — Gesellschaften mit beeindruckender Architektur, Astronomie, Schrift und Religion. Mit der Ankunft der Konquistadoren im 16. Jahrhundert begann eine gewaltsame Kolonialisierung, unter der indigene Bevölkerungen epidemisch dezimiert, Land enteignet und Kulturen unterdrückt wurden.

Im 19. Jahrhundert erkämpfte sich Mexiko die Unabhängigkeit (1821), doch politische Instabilität, Interventionen aus dem Ausland (z. B. der Amerikanisch-Mexikanische Krieg 1846–48) und interne Konflikte prägten das 19. Jahrhundert. Die Revolution von 1910–1920 brachte tiefgreifende soziale Umwälzungen, Landreformen, neue politische Bewegungen – aber auch Gewalt, Machtkämpfe und enttäuschte Hoffnungen.

Im 20. und 21. Jahrhundert ist Mexiko mit Herausforderungen wie Drogenkartellen, Korruption, sozioökonomischen Ungleichheiten, Umweltproblemen und Migration konfrontiert. Gleichzeitig erleben wir eine reiche kulturelle Vitalität. In Gesellschaft und Politik wachsen Spannungen: Indigene Rechte, Landansprüche, Fragen der Identität, Geschlechtergerechtigkeit und Gewalt gegen Frauen sind drängende Themen. Zugleich gibt es Hoffnungsträger*innen – Aktivist*innen, Künstler*innen, Intellektuelle, die mit Mut und Kreativität intervenieren.

Die rechtliche Situation der LGBTQ+ Community hat in den letzten Jahren deutliche Fortschritte gemacht: 2022 wurde die gleichgeschlechtliche Ehe in allen Bundesstaaten Mexikos legal, nachdem der letzte Staat (Tamaulipas) ein entsprechendes Gesetz verabschiedete.

Ein weiterer Schritt: Der mexikanische Senat hat ein Gesetz verabschiedet, das sogenannte “Conversion Therapy” untersagen will. Trotz dieser Fortschritte ist die Situation im Alltag für viele LGBTQ+ Menschen weiterhin schwierig. Gewalt, Diskriminierung und Hassverbrechen bleiben ein großes Problem. Besonders Trans-Personen sind überproportional von Morden betroffen: Zwischen Oktober 2023 und September 2024 wurden mindestens 71 Trans- oder gender-diverse Personen getötet.

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Ein Beispiel für ein positives Signal: In Mexiko-Stadt wurde ein Gesetz erlassen, das “Transfemizid” als Verbrechen anerkennt – also gezielte Tötungen von trans Frauen. Das ist ein wichtiger Schritt, um die oft bestehende Straflosigkeit solcher Gewalt besser zu bekämpfen.

Seit dem 1. Oktober 2024 ist Claudia Sheinbaum die Präsidentin Mexikos – die erste Frau, die dieses Amt innehat. Sie bringt eine ungewöhnliche Kombination aus wissenschaftlichem Hintergrund, politischer Erfahrung und sozialem Anspruch mit: Sie hat Energie- und Umweltwissenschaften studiert und war vorher u.a. bereits Regierungschefin von Mexico City.

Ein Bereich, in dem sie besonders aktiv ist, ist ihre Fokussierung auf soziale Programme und Armutsbekämpfung – sie setzt viele der Initiativen ihres Vorgängers fort, mit dem Ziel, Ungleichheiten zu verringern. Gleichzeitig versucht sie, politische Stabilität mit einer gewissen Rationalität und wissenschaftlicher Herangehensweise zu verbinden: Bei Themen wie Klimaschutz, nachhaltiger Entwicklung und öffentlicher Gesundheit sieht man bereits, dass sie nicht nur symbolische Politik macht, sondern versucht, konkrete Strukturen zu etablieren.

Auch in außen- und handelspolitischen Fragen zeigt sie sich selbstbewusst: Sie will Mexiko gegenüber den USA und anderen Partnern stärker vertreten sehen und technologische Innovation fördern. Natürlich gibt es auch Kritik und große Herausforderungen: Gewalt (insbesondere durch Kartelle), Ungleichheiten, Korruption, regionale Unterschiede in der Umsetzung von politischen Maßnahmen. Aber selbst Menschen, die ihre Politik skeptisch sehen, erkennen an, dass sie versucht, das Amt anders zu führen – mit Pragmatismus, mit Blick auf soziale Gerechtigkeit und mit dem Anspruch, Mexiko in seiner Komplexität gerecht zu werden.

Gelesen habe ich für diesen Stopp zwei Bücher, die ich euch vorstellen und beide auch ans Herz legen möchte:

The Illiac Crest – Cristina Rivera Garza erschienen im Verlag And Other stories, übersetzt von Sarah Booker (eine deutsche Übersetzung gibt es bislang nicht)

Cristina Rivera Garza, geboren 1964 in Matamoros im mexikanischen Bundesstaat Tamaulipas, ist eine der bedeutendsten Stimmen der zeitgenössischen lateinamerikanischen Literatur. Sie studierte Soziologie in Mexiko, promovierte in Geschichte in den USA und lehrt heute Creative Writing in Houston. Rivera Garza ist bekannt für ihre literarischen Experimente, in denen sie Genregrenzen überschreitet und Fragen nach Identität, Sprache und Macht in eindringliche Bilder übersetzt.

Ihr Roman The Iliac Crest ist dafür ein besonders gutes Beispiel. Die Geschichte beginnt mit einem klassischen, „gothic trope“: In einer stürmischen Nacht taucht eine geheimnisvolle Frau beim Erzähler auf, einem Arzt, der in einem Sanatorium arbeitet. Sie behauptet, die mexikanische Schriftstellerin Amparo Dávila zu sein, eine Autorin, die für ihre unheimlichen und fantastischen Erzählungen bekannt ist. Von diesem Moment an gerät die Realität ins Wanken: Die Besucherin stellt das Leben, die Identität und schließlich das Geschlecht des Erzählers infrage. Je tiefer er in ihr Spiel hineingezogen wird, desto mehr verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und Einbildung, zwischen Normalität und Wahnsinn.

Das Buch entfaltet eine düstere, rätselhafte Atmosphäre, die sich weniger durch spektakuläre Handlung als durch die subtile Verunsicherung trägt, die Rivera Garza meisterhaft erzeugt. Wiederholungen, Andeutungen, fragmentierte Bilder – alles scheint zu bedeuten und doch entzieht sich die Bedeutung. Der titelgebende Hüftknochen wird zum Symbol für Körperlichkeit, Identität und Verletzlichkeit, während das Schweigen und die Leerstellen ebenso viel Gewicht haben wie die Worte. In dieser Zwischenwelt aus Sturm, Nacht und verschobener Wahrnehmung entsteht ein Sog, der mich nicht losgelassen hat.

Besonders eindrucksvoll fand ich, wie Rivera Garza die Frage nach Geschlecht und Identität behandelt: nicht als These oder Statement, sondern als unheimliches, poetisches Gleiten, das den Leser zwingt, vertraute Kategorien infrage zu stellen. Gleichzeitig ist „The Iliac Crest“ eine Hommage an vergessene Schriftstellerinnen, an Stimmen, die aus Archiven und Randbereichen wieder ans Licht geholt werden.

Wer sich auf diese verschattete, vieldeutige Welt einlässt, findet in „The Iliac Crest“ ein Werk von fast schon hypnotischer Intensität – ein Buch, das weniger Antworten gibt als Fragen stellt und gerade darin seine Kraft entfaltet.

Die Schwerelosen – Valeria Luiselli erschienen im Kunstmann Verlag, übersetzt von Dagmar Ploetz

Valeria Luiselli, geboren 1983 in Mexiko-Stadt, gehört ebenfalls zu den spannenden literarischen Stimmen Mexikos. Sie wuchs in Südafrika, Indien und den USA auf, lebt heute in Mexiko und New York und schreibt auf Spanisch sowie auf Englisch. Ihre Werke bewegen sich an der Grenze zwischen Fiktion, Essay und Autofiktion, oft mit einer spielerischen Leichtigkeit im Ton, die sich mit einer präzisen, manchmal fast schon schmerzhaften Beobachtungskraft verbindet.

Die Schwerelosen ist ihr Debütroman – und schon darin zeigt sich, wie souverän Luiselli Sprache und Erzählform handhabt. Erzählt wird aus der Perspektive einer jungen Mutter und Schriftstellerin, die in New York lebt und versucht, über ihre Erfahrungen zu schreiben. Doch ihr Text öffnet sich in verschiedene Richtungen: hinein in ihre Erinnerungen an ihre Zeit als Lektorin, hinein in das Leben des mexikanischen Dichters Gilberto Owen, der in den 1920er Jahren ebenfalls in New York lebte, und hinaus in eine Art Zwischenraum, in dem Stimmen, Zeiten und Identitäten miteinander verschwimmen.

Der Roman spielt virtuos mit Spiegelungen und Überlagerungen. Die Erzählerin glaubt, Owen im U-Bahn-Fenster gesehen zu haben, während Owen wiederum eine Frau zu erkennen meint, die wie eine Erscheinung durch sein Leben streift. Es entstehen Dopplungen, Durchlässigkeiten, Verschiebungen – als würden Figuren und Erzählerinnen in der Schwebe gehalten, schwerelos, wie der Titel sagt.

Besonders gefallen hat mir auch hier die Atmosphäre des Romans: Sie ist zugleich leicht und melancholisch, schwebend aber auch verwirrend. Luiselli schafft es, in wenigen, fast skizzenhaften Szenen große Stimmungen aufzubauen. Ihr Schreiben ist voller literarischer Anspielungen, aber nie prätentiös, eher verspielt, neugierig, durchlässig.

„Die Schwerelosen“ ist ein Roman über Literatur, Erinnerung und Identität, aber auch über die fragile Balance zwischen Alltag und künstlerischem Schaffen, zwischen Familienleben und imaginativen Räumen. Wer sich auf die fragmentarische, poetische Struktur einlässt, bekommt ein Buch, das nicht linear erzählt, sondern wie in einem Schwebezustand Gedanken und Figuren miteinander verknüpft. Ein vielstimmiges, experimentierfreudiges Debüt, das eine ganz eigene Welt erschafft.

Natürlich dürfen auch musikalische und filmische Tipps nicht fehlen. Eine Band aus Mexiko die ich sehr gerne mag ist Hello Seahorse!

Eine Post-Rock Band darf natürlich auch nicht fehlen. Hier mag ich besonders die Band Austin TV:

Wenn ich jetzt noch meinen Film Tipp loswerde, habe ich es tatsächlich geschafft einen ganzen Artikel über Mexiko zu schreiben, ohne Frida Kahlo zu erwähnen…

La región salvaje“ / The Untamed (2016) von Amat Escalante hab ich vor ein paar Jahren auf dem Fantasy Filmfest gesehen und sehr gemocht – Tantacle Lovers kommen hier besonders auf ihre Kosten 😉

Ansonsten habe ich tatsächlich bisher erst einen weiteren Roman mexikanischer Autor*innen gelesen und zwar:

  • Bittersüße Schokolade – Laura Esquivel

Ein Roman der zumindest in Mexiko spielt und sich mit Anna Seghers und ihrer Zeit in Mexiko beschäftigt ist der Roman „Brennendes Licht“ von Volker Weidermann den ich ebenfalls sehr empfehlen kann.

Jetzt seid ihr dran – was verbindet ihr mit Mexiko? Seid ihr schon mal dagewesen, oder plant ihr eine Reise? Welche Bücher / Filme / musikalischen Tipps habt ihr für mich?

Wer noch mal zu den vorherigen Stationen (Sri Lanka, Italien, Trinidad & Tobago, Nigeria, Südkorea, China, Israel, Belarus, Japan, DR & Republik Kongo, USA, Polen, Chile, Afghanistan, Vietnam, Ukraine, Mauretanien) zurückreisen möchte wird in meiner Kategorie „Read around the World“ fündig.