Read around the world meets Italy be the Book II

Procida. Schon beim Aussteigen aus dem Boot hatte ich das Gefühl, dass man hier nicht nur ankommt, sondern irgendwie… ein bisschen verschwindet. Die Insel ist winzig, eng, lautlos und lebendig zugleich. Es gibt diese verwitterten Hausfassaden in Rosa, Gelb, Blau, in allen denkbaren Pastelltönen, und dazwischen Gassen, durch die man sich wie in einer Choreografie mit Menschen, Mopeds, E-Bikes und den wunderbaren Apes bewegt. Niemand hat es eilig, aber alles ist in Bewegung und irgendwann werde ich Postbotin auf Procida und liefere mit meiner Ape Briefe und Pakete aus – so!

Wir wohnten in einem kleinen Gartenhäuschen unter Zitronenbäumen. Unsere Gastgeberin vermietet auf ihrem Grundstück vier kleine Häuschen, jedes mit Hängematte, Terrasse und eigenen Eidechsen. Ich lag stundenlang zwischen duftenden Zweigen, las Elsa Morantes „Arturos Insel“, pflückte Zitronen direkt vom Baum, und hatte dabei immer wieder das Gefühl, dass das, was ich las, und das, was ich sah, irgendwie ineinanderfloss.

Die Insel hat etwas Zeitloses. Sie ist nicht besonders stylisch oder herausgeputzt, eher das Gegenteil. Aber genau das macht ihren Reiz aus. Nichts hier ist für Tourist*innen inszeniert. Man findet Cafés, die nur geöffnet sind, wenn die Besitzer*innen Lust haben, Läden, in denen man auf Zetteln anschreiben kann, und Strände, an denen man abends wirklich allein ist. Am liebsten waren wir am Il-Postino-Strand, der nach dem gleichnamigen Film benannt ist, da auf der Insel einige Szenen des Films gedreht wurden. Tagsüber verirren sich ein paar Familien her, aber ab dem späten Nachmittag gehört er nur noch den Möwen – und uns. Kein Lärm, kein geöffneter Kiosk, einfach ein leerer, weicher, schwarzer Sandstrand, an dem wir picknickten, lasen, herumschauten. Es gibt kaum etwas Wohltuenderes als ein selbstgemachtes Panini mit Blick auf ein leeres Meer.

Wenn man Lust auf mehr Trubel hat, geht man einfach rüber zum Corricella-Hafen – ein Ort, der aussieht, als hätte jemand ein Kinderbuch illustriert und dann vergessen, dass echte Menschen da wohnen. Hier sitzt man mit Teller Spaghetti alle vongole oder Spaghetti limone, trinkt einen kühlen Weißwein und schaut den Fischern beim Putzen ihrer Boote zu. Und spätestens wenn die Sonne untergeht und das Licht alles in Gold taucht, versteht man, warum hier Filme wie „Il Postino“ und „Der talentierte Mr. Ripley“ gedreht wurden. Diese Farben kann man sich nicht ausdenken.

Apropos Filmkulisse: Wer bereit ist, ein bisschen (?!) zu schwitzen, sollte den Weg hinauf zur Terra Murata nicht scheuen. Oben angekommen erwartet einen eine Mischung aus mittelalterlicher Festung, leergefegten Gassen, windigen Aussichtspunkten und dem ehemaligen Gefängnis, das heute ganz harmlos daliegt, als wäre es nie etwas anderes gewesen. Der Palazzo d’Avalos war einst Heimat für Schwerverbrecher und Mafiosi – heute blühen dort Kräuter zwischen den Steinen, und man sieht den ganzen Golf von Neapel, den Vesuv inklusive.

Ein kleines Highlight war definitiv unser Bootsausflug mit Julio – einem Freund unserer Vermieterin, der das Boot gelegentlich sogar mit den Füßen steuerte (!), zwischendurch Seeigel vom Meeresgrund holte, die wir direkt an Bord löffelten, und mit uns die Insel umrundete. An mehreren Stellen sprangen wir ins Wasser – kein Strand, keine Menschen, nur Meer, Sonne, Boot. Für mich ist das das schönste Schwimmen: direkt vom Boot ins tiefe, klare Blau.

Und natürlich: Marina Grande. Der Hauptanleger, der erste Eindruck, das geschäftigste Eckchen der Insel. Hier kommen die Fähren an, hier sitzt man mit einem Limoncello Sprizz und beobachtet das Kommen und Gehen. Zwischen all dem Gewusel versteckt sich mit dem Istituto Nautico auch die älteste Seefahrtschule Europas – ein stilles Monument an eine Zeit, in der fast jede Familie auf Procida jemanden zur See geschickt hat.

Was ich besonders mochte: Procida ist ganz und gar nicht aufgebrezelt, sondern einfach da. Die meisten anderen Tourist*innen, die wir getroffen haben, waren Italiener*innen vom Festland, die das Feiertagswochenende für einen Ausflug nutzten. In Chiaiolella badet man mit Blick auf Segelboote und das offene Meer, Kinder spielen im flachen Wasser, der Sand ist schwarz und weich und wärmt noch abends die Fußsohlen. Und wenn man keine Lust mehr auf Sand hat, geht man eben auf ein Boot.

Ein weiteres Highlight war unser geführter Ausflug auf die kleine Halbinsel Vivara, ein Naturschutzgebiet, das man nur mit Anmeldung und Begleitung betreten darf. Über einen schmalen Steg gelangt man auf die Insel, wo ein ruhiger Pfad durch alte Bäume, blühende Wiesen, verfallene Mauern und immer wieder beeindruckende Ausblicke aufs Tyrrhenische Meer führt. Überall zwitschert und flattert es, manchmal sieht man Reiher, manchmal einfach nur Licht zwischen den Zweigen. Es war einer dieser Spaziergänge, nach denen man ein bisschen das Gefühl hat, wirklich weg gewesen zu sein – im besten Sinne.

Und wie überall in Italien gibt es natürlich auch hier eine lokale Spezialität: die „Lingua di Procida“ – ein zungenförmiges Gebäck aus Blätterteig, gefüllt mit Zitronencreme. Wir haben es bewundert, aber nicht probiert, aber den lokalen Zitronensalat dafür um so häufiger gegessen. Selbstgemacht mittags auf der Terrasse mit den Zitronen die gerade runtergepurzelt waren. Zitrone filettieren, Olivenöl drüber, ein paar Minzblätter zupfen und direkt essen – auf keinen Fall stehen lassen, sonst oxidieren die Zitronen. So So lekcer. Ein Gericht das zu Procida gehört wie die Hängematte unter den Zitronenbäumen, die salzigen Haare nach dem Schwimmen, das Glitzern auf dem Wasser, das niemand fotografieren kann, ohne dass es kitschig wirkt.

Lektüre durfte natürlich auch nicht fehlen und es gibt wirklich Bücher, die man zur richtigen Zeit am richtigen Ort lesen sollte. Arturos Insel gehört definitiv dazu. Ich hatte den Roman ohne große Erwartungen im Gepäck, lediglich mit dem Wissen, dass er auf Procida spielt. Und kaum jemand hätte besser zu meinem Aufenthalt dort gepasst. Man kann man sich übrigens ganz direkt auf Arturos Spuren begeben: Im Rahmen der Kulturhauptstadt-Initiative wurde ein Percorso Elsa Morante angelegt – ein literarischer Spazierweg mit mehreren Stationen, an denen Schautafeln Auszüge aus dem Roman zeigen und Bezüge zu den jeweiligen Orten herstellen. Mein Buch war eine sehr alte Ausgabe aus der Bibliothek, aber man kann es aktuell auch in einer deutlich schöneren Ausgabe bekommen:

Arturos Insel – Elsa Morante erschienen im Verlag Klaus Wagenbach, übersetzt von Susanne Hurni-Maehler

Elsa Morante, 1912 in Rom geboren, zählt zu den bedeutendsten italienischen Autorinnen des 20. Jahrhunderts. Sie war eine unabhängige, oft eigensinnige Stimme in einer Männerwelt, bekannt für ihre politischen Überzeugungen und ihr Engagement. Ihr Werk ist geprägt von einer tiefen Beschäftigung mit menschlichen Abgründen und sozialen Konflikten. Morante war mit dem Schriftsteller Alberto Moravia verheiratet und bewegte sich in linken intellektuellen Kreisen Roms – dennoch blieb sie stets eine Eigenständige, die sich nicht vereinnahmen ließ.

Arturos Insel erschien 1957 und brachte Morante als erste Frau den prestigeträchtigen Premio Strega ein – ein Zeichen für die literarische Kraft dieses Werks. Die Geschichte folgt dem Jungen Arturo, der auf Procida, eben jener Insel, aufwächst. Allein mit seinem stillen Vater lebt er in einem alten Haus, seine Mutter ist verstorben. Das Leben auf der Insel ist zugleich Freiheit und Gefängnis: eine Mischung aus Einsamkeit, kindlicher Sehnsucht und dem schweren Versuch, die Erwachsenenwelt zu verstehen.

Morantes Darstellung ist dabei alles andere als romantisch verklärt. Die Insel wird zur Metapher für das Leben selbst – schön, rau, widersprüchlich und manchmal erdrückend. Arturo ist kein Held in konventionellem Sinne, sondern ein verletzlicher Beobachter, dessen inneres Chaos sich durch die Sprache zieht wie ein roter Faden. Die Ankunft der neuen Frau im Haus, die das fragile Gefüge aus Routine und Stille zerstört, führt ihn an die Grenzen seiner Kindheit und bringt auch die dunklen Seiten von Liebe und Loyalität zum Vorschein.

Das Buch verzichtet auf einfache Antworten oder Wohlfühlmomente. Stattdessen konfrontiert Morante den Leser mit der Wucht von Gefühlen, die oft widersprüchlich sind – Liebe und Schmerz, Bewunderung und Enttäuschung, Nähe und Isolation. Ihre Sprache ist präzise und zugleich poetisch, mal knapp, mal fast lyrisch, und schafft es, das Lebensgefühl einer ganzen Generation einzufangen. Für mich war Arturos Insel ein intensives Leseerlebnis, das mich nicht nur durch die Geschichte, sondern auch sprachlich gefesselt hat.

Besonders spannend fand ich, wie Morante die Insel nicht nur als geografischen Raum nutzt, sondern als Charakter, der das Geschehen mitprägt und reflektiert. Procida wird zur Bühne für menschliche Dramen, aber auch für die einfachen, kleinen Momente, die das Leben ausmachen. Man spürt in jeder Zeile die Liebe der Autorin für diesen Ort – und gleichzeitig die Härte, mit der das Leben hier gelebt wird.

Wer Arturos Insel liest, sollte keine leichte Urlaubslektüre erwarten. Es ist ein Buch, das nachhallt, das Fragen stellt und in seiner Intensität auch unbequem sein kann. Aber gerade das macht es so wertvoll. Für alle, die sich auf Procida oder eine ähnliche Insel einlassen wollen, bietet der Roman eine unerwartete Tiefe und Perspektive – ein literarisches Gegenstück zu der Realität, die man dort erlebt.

Ich weiß nicht, was es mit Inseln auf sich hat – aber meine liebsten Orte auf der Welt sind fast immer Inseln. Skye, Kreta, Procida – so verschieden sie auch sind, verbindet sie etwas, das ich nicht ganz greifen kann. Vielleicht ist es die Abgeschiedenheit, vielleicht das Licht, vielleicht einfach die Ruhe. Für mich sind sie jedenfalls einzigartig – und wunderbar.

Wer jetzt Lust bekommen hat auf mehr Lektüre aus Italien, ich verlinke mal vorher besprochene Bücher hier: Elizabeth von Arnim – Verzauberter April, Bernard Berenson – One year of reading for fun, Paolo Cognetti – Acht Berge, Rachel Cusk – The Last Supper, Umberto Eco – Der Name der Rose, Elena Ferrante – Lästige Liebe, EM Forster – A room with a view, Christine Frohmann – Vier Wochen, Jumpha Lahiri – Roman stories, Mercedes Lauenstein – Blanca, Thomas Mann – Der Tod in Venedig, Hisham Matar – A month in Siena, Maugham W. Somerset – Up at the villa, Ian McEwan – The comfort of strangers, Ali Smith – How to be both, Muriel Spark – The Driver Seat und meine einzige Sachbuch-Empfehlung dich hier einschmuggel: Gabriel Zuchtriegel – Vom Zauber des Untergangs

Ich hoffe ich konnte euch ein bißchen Lust auf Procida, Il Postino und Elsa Morante machen. Habt ihr schon mal etwas von der Autorin gelesen?

#WomeninSciFi (19) Kryptozän – Pola Oloixarac

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Nach den ersten paar Seiten hatte ich den Eindruck, ich habe es mit einer riesigen Borges Verehrerin zu tun. Pola Oloixaracs Stil imitiert den Stil wissenschaftlicher Dokumente und präsentiert eine Science Fiction Geschichte, die unerwarterweise im Jahr 1882 beginnt mit der botanischen Entdeckung einer halluzinogenen Pflanze, die in der Lage ist, die Limitierungen des Individuums zu überwinden und eins zu werden mit dem Universum.

Der Roman wird in drei Teilen erzählt. Die Geschichte des Botanikers Niklas im Jahr 1882, von Cassio dem Hacker im Jahr 1983 und schließlich mit der Geburt von Piera im Jahr 2004, einer Molekular-Biologin, die mit Hilfe von Cassio die endgültige Symbiose zwischen einem lebendem Organismus und einem Computer Code erschafft.

Der Roman verbindet die wissenschaftlichen Fortschritte mit den drei Charakteren und erschafft dabei ein geheimnisvoll-rätselhaftes, aber auch unvollendetes Universum.

„Wissenschaft und Technik haben mit ihren exponentiell wachsenden Fähigkeiten einen Punkt erreicht, an dem sie gar nicht mehr reguliert werden können. Deshalb ist es lächerlich, nicht alles niederzureißen und sich stattdessen anständig zu verhalten, also weiterhin Hierarchien zu huldigen, die längst keine Bedeutung mehr besitzen … was ich meine, ist, dass sie keine Bedeutung mehr besitzen, weil sie nicht existieren. Sie sind buchstäblich inexistent. Es ist so, als bewohnen sie eine andere Dimension, eine Dimension, die mit der Welt, in der sich die Technologie in Wirklichkeit bewegt, überhaupt nicht in Kontakt kommt.“

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Diese dunklen Konstellationen verlieren ihre Magie, die nicht so sehr in der Geschichte selbst steckt, sondern in der erzählenden Kraft der Autorin sowie den existentiellen, vor sich hin mäandernden Themen. Kein einfaches Buch, aber eine dennoch lohnende Lektüre. 

Oloixaracs scharfsichige Beobachtungen und Analogien sowie ihr sehr umfangreiches Wissen über die Archäologie des Internets mit phreaking, Assemblern, BBS etc. machen Spaß und trösten über den teilweise etwas löchrigen Plot hinweg.

Das dünne Büchlein hat es auf jeden Fall in sich. Es geht um Biologie/Bioelektronik und präsentiert eine deutlich andere Sicht auf Evolution, um Politik und Wirtschaft und warnt vor der totalen Datensammlung. Es porträtiert den Hacker in Zeiten von Hyperconnectivity als vielleicht letzten Retter – und das auf ganz poetische, manchmal verwirrende Weise. Oh und es ist ziemlich pornographisch.

Die Argentinierin Pola Oloixarac nimmt mit ihrem Roman Stellung zur Rolle Argentiniens, das unglaubliche Mengen an biometrischen und genetischen Daten seiner Bürger sammelt, wie kaum ein anderes Land dieser Welt. Sie antizipiert wie Quantencomputer und biologisch umgewandelte IT-Viren künftig zu ganz neuen Möglichkeiten führen könnten und uns in ein neues Erdzeitalter manövrieren: das Kryptozän. Sie beunruhigt und beruhigt ob dieser Möglichkeiten und lässt den Leser am Ende recht zwiegespalten zurück.

„In Argentinien war der nationale Kampf gegen die Personenerfassung schon im vorangegangenen Jahrhundert verlorengegangen. Aufgrund eines während der Militärdiktatur erlassenen Gesetzes war jedes Individuum verpflichtet, einen Nationalen Identitätsnachweis (DNI) mitzuführen, der in den folgenden Jahrzehnten vom Planministerium um biometrische Informationen, digitale Lichtbilder und Fingerabdrücke ergänzt wurde. Angefangen mit dem ersten im Jahr 2012 geborenen Baby archivierte Argentinien die biometrischen Daten der Neugebornenen in einer Datenbank, die schnell auf Millionen von Einträgen anwuchs. An solche Kontrollen durch die Regierung schloss sich die Überwachung über Netztechnologien wie Telefone, Kreditkarten und das öffentliche Transportwesen an und erzeugte so „Lebenslinien“, Chroniken jedes Einzelnen und seiner geolokalisierten Bewegungen, die vom PROJEKT und dem Planministerium gesammelt und gespeichert wurden. Das Projekt zur Regionalen Reorganisation der genetischen Daten wurde bald danach auf ganz Lateinamerika ausgedehnt und schuf riesige Datenlager für „Personen im Prozess der Linienzeichnung“, also Lebende.“

Pola Oloixarac wurde 1977 in Buenos Aires geboren und ist Schriftstellerin, Journalistin und Übersetzerin die u. a. für die New York Times, The Telegraph und The Rolling Stone arbeitet. Sie schreibt und lebt in Berlin.

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Bild: Verlag Klaus Wagenbach

Hier ein Interview mit der Autorin, die auch eine Playlist für ihr Buch erstellt hat mit dem wunderbaren Namen:

„Eine Playlist des Hackers als junger Mann“

  1. Star Wars Theme
  2. November Rain – Guns & Roses
  3. Too drunk to fuck – Dead Kennedys
  4. California Uber Alles – Dead Kennedys
  5. One Hundred Years – The Cure
  6. Lua de Cristal – Xuxa
  7. Vision of Love – Maria Carey
  8. Subterranean Homesick Alien – Radiohead
  9. We Suck Young Blood – Radiohead
  10. Cramp Stomp – The Cramps
  11. Al Ver Veras – Luis Alberto Spinetta
  12. No sabemos nada – Los Siquicos Litoralenos
  13. Biological Speculation – Funkadelic

Ich danke dem Klaus Wagenbach Verlag für das Rezensionsexemplar.