November Lektüre

Wieder ein wirklich hervorragender Lesemonat! Dieses Mal sogar noch besser als zuletzt – kein einziger Flop, nicht mal in Sichtweite. Alle Bücher lagen stabil zwischen 4 und 5 Sternen, und jedes einzelne hat mich auf ganz eigene Weise überrascht, bewegt oder begeistert. Würde ich mich für ein „Buch des Monats“ entscheiden müssen, wäre das fast unmöglich, denn die Qualität war durchgehend beeindruckend. Ein paar Favoriten kristallisieren sich trotzdem heraus, aber selbst da trennen sie nur Nuancen.

Hier die Bücher in alphabetischer Reihenfolge – los geht’s:

Balle, Solvej – Über die Berechnung des Rauminhalts II erschienen im Matthes & Seitz Verlag, übersetzt von Peter Urban Halle

If you know, you know. Wer einmal in diese seltsam klar leuchtende Zeitschleife geraten ist, den lässt sie nicht mehr los. Auch der zweite Band knüpft nahtlos an Tara Selters ewigen 18. November an ein Tag, der für alle anderen neu ist, nur für sie nicht. Und doch fühlt sich dieser Band anders an: ruhiger, wacher, fast schon meditativ.

Balle lässt Tara durch Europa ziehen, auf der Suche nach Jahreszeiten, die ihr verwehrt bleiben. Sie ahmt Feiertage nach, jagt Schneeflocken im Norden und Herbstlicht im Süden wie jemand, der verzweifelt versucht, seinem inneren Kalender zu glauben. Besonders stark ist, wie der Roman unsere fixen Erwartungen an Zeit, Wetter, Traditionen auseinandernimmt. Die Idee, dass Jahreszeiten psychologische statt meteorologische Phänomene sind?

Gleichzeitig schleicht sich ein dunklerer Ton ein: Tara als „Monster auf der Wanderschaft“, das die Welt verbraucht, weil nichts wieder aufgefüllt wird. Eine fast schon ökologische Parabel über Konsum, Spuren, Verantwortung – alles verdichtet in einem einzigen, endlosen Tag.

Es ist windstill, und ich denke, es muss die Stille sein, die mich weckt, die Abwesenheit der Geräusche. Das ist sicher so, weil es schneit, aber ich verstehe es nicht, denn wie kann der Schnee Geräusche dämpfen, wenn sowieso alles still ist.

Und dann wieder diese Momente, in denen Tara akzeptiert, dass ihre Zeit nicht fließt, sondern ein Raum ist ein Gefäß, in dem man sich einrichten kann. Vielleicht, weil wir alle unsere eigenen Räume in der Zeit haben, ob wir wollen oder nicht.Vielleicht ist das das Berührendste an diesem Band: die langsame, verletzliche Annäherung an ein Leben außerhalb des Bekannten.

Vielleicht brauchen wir Balle-Zeitreisenden irgendwann ein gemeinsames Erkennungszeichen, mit dem wir rund um die Erde den 18. November feiern. Ich weiß nur eines: Für die nächsten beiden bereits erschienenen Bände warte ich garantiert nicht wieder bis zum 18.11. ich will jetzt mit Tara weiterreisen. Seid ihr auch dabei?

Baltasar, Eva – Mammut erschienen im Schöffling Verlag, übersetzt von Petra Zickmann

Ein Buch wie ein Schlag in die Magengrube – es packt einen total und man weiß gar nicht genau warum, denn es ist roh, sperrig und unangenehm. Eva Baltasar wagt in Mammut etwas radikal Eigenes: Eine Protagonistin, die mit entwaffnender Klarheit weiß, was sie will und gleichzeitig jede Art von menschlicher Nähe verachtet. Zu ihrem 24. Geburtstag plant sie, durch einen One-Night-Stand schwanger zu werden; später flieht sie aus Barcelona, sie löst sich von der Stadt wie von einem alten, unpassenden Mantel um aufs Land zu fliehen, um endlich irgendetwas zu spüren.

Was dann passiert, ist bizarr, düster, manchmal fast satirisch und immer kompromisslos. Baltasar kreeirt eine Figur, die ihr Leben mit kühler Pragmatik in die Hand nimmt und dabei permanent an die Grenzen des Erträglichen stößt – und uns mitreißt, obwohl wir nie ganz greifen können, warum. Genau das macht diese Figur so faszinierend: freundlich und menschenverachtend zugleich, brutal ehrlich, verletzlich ohne Sentimentalität.

Aber: Mammut ist kein Buch für jeden. Die Gewaltszenen besonders die gegenüber Tieren – haben mich abgestoßen, also hier echt mal Trigger Warning. Baltasar zeigt Natur und Mensch als ungeschönt brutal, fern jeder romantischen Dorfidylle. Leben ist hier immer auch Sterblichkeit, ob im Altenheim oder zwischen Schafen, Gicht und Einsamkeit.

Ein verstörendes, eigenwilliges Buch und vielleicht darum ziemlich einzigartig. Es ist der dritte Teil einer Trilogie, die aber komplett unabhängig voneinander gelesen werden kann. Große Empfehlung mit kleinen Abstrichen. Bin auf die anderen beiden Bände „Boulder“ und „Permafrost“ schon sehr gespannt.

Ich danke dem Schöffling Verlag für das Rezensionsexemplar.

Eng, Tan Twan – The House of Doors auf deutsch unter dem Titel das Haus der Türen im Dumont Verlag erschienen, übersetzt von Michaela Grabinger

Auf Tan Twan Engs „The House of Doors“ hab ich mich schon lange gefreut und es hat mich umgehend gepackt mit einer leisen, fast hypnotischen Intensität, die einen unmerklich in eine andere Zeit und Welt zieht. Schon nach wenigen Seiten war ich mitten in der flirrenden Hitze Malaysias, konnte das Rascheln der Palmen hören und den Geruch von Regen und Meer beinahe spüren.

Ich habe eine besondere Schwäche für Romane, in denen Schriftsteller selbst zu Figuren werden – Geschichten über das Erzählen, über die Macht und die Verantwortung, die mit dem Schreiben einhergehen und genau das bietet The House of Doors auf meisterhafte Weise. Im Zentrum steht Lesley Hamlyn, die in den 1940ern auf einer Farm in Südafrika lebt und auf ihr früheres Leben im kolonialen Penang zurückblickt. Dort begegnet sie 1921 William Somerset Maugham „Willie“, der mit seinem Sekretär und Lebensgefährten Gerald Haxton reist. Maugham, 1874 in Paris geboren und einer der meistgelesenen britischen Autoren seiner Zeit, ist auf der Suche nach Geschichten, nach den feinen Rissen hinter den Fassaden menschlicher Beziehungen. Haxton begleitet ihn seit Jahren auf all seinen Reisen, ihre Beziehung bewegt sich zwischen tiefer Zuneigung, Abhängigkeit und dem permanenten Druck, ihre Liebe in einer Zeit der gesellschaftlichen Enge verbergen zu müssen.

Willie’s words had polished the lens through which I had always viewed my husband, and yet, at the same time, they shifted him slightly out of focus.

Tan Twan Eng beschreibt diese beiden mit einer Zartheit und Genauigkeit, die weit über bloße Hommage hinausgeht. Seine Beobachtungsgabe erinnert an Maugham selbst doch Eng nutzt die Perspektive der Kolonisierten, um die moralischen und kulturellen Bruchstellen dieser Welt offenzulegen. Lesley, gefangen zwischen Loyalität, Schuld und dem Wunsch nach Wahrheit, steht am Schnittpunkt dieser Spannungen. Das titelgebende „Haus der Türen“ ist dabei weit mehr als ein Schauplatz: Es ist ein Sinnbild für Erinnerung und Erzählung, für die unzähligen Türen, die wir im Leben öffnen oder verschlossen halten. Eng gelingt es, historische Begebenheiten die Begegnung mit dem Revolutionär Sun Yat-sen, den realen Mordfall Ethel Proudlock mit fiktionaler Raffinesse zu verweben, ohne den emotionalen Kern aus den Augen zu verlieren.

Der Roman liest sich wie ein fein komponiertes Musikstück, getragen von Melancholie, von der Schönheit des Vergehens und der Frage, wie aus Leben Literatur wird. Tan Twan Eng, selbst in Penang geboren, beweist einmal mehr sein Gespür für Atmosphäre, für leise Zwischentöne und das Unsagbare zwischen den Zeilen. Am Ende hat mich The House of Doors nicht nur berührt, sondern auch ganz schön neugierig gemacht – auf Maugham selbst, auf seine Romane, seine Kurzgeschichten und vor allem auf das faszinierende, widersprüchliche Leben eines Mannes, der wie kaum ein anderer wusste, dass jede Geschichte zwei Seiten hat: die erzählte und die verschwiegene.

Ich habe das Buch für den Bookclub und den „Read around the World“ Stopp in Malaysia gelesen.

Harpman, Jacqueline – I Who Have Never Known Men auf deutsch unter dem Titel Ich, die ich Männer nicht kannte im Klett-Cotta Verlag erschienen, übersetzt von Luca Homburg

Was für ein großartiges, wiederentdecktes Juwel aus den 1980er-Jahren. Der Roman folgt 40 Frauen, eingesperrt in einem Bunker, ohne irgendeine Erklärung weder für sie noch für uns. Unsere Erzählerin ist die Jüngste unter ihnen, aufgewachsen in Gefangenschaft, ohne Erinnerung an eine Welt davor. Und genau hier liegt die eigentliche Sprengkraft des Buches: Es verweigert sich jeder Form von Auflösung. Wer Antworten braucht, klare Strukturen, eine Art „Aha, deshalb“, wird hier garantiert scheitern. Aber wer bereit ist, durch die Finsternis zu gehen und sich vom Nichtwissen tragen zu lassen, wird mit einer Erfahrung belohnt, die einen noch lange verfolgt.

Trotz des dystopischen, beinahe außerweltlichen Settings ist „I Who Have Never Known Men“ zutiefst menschlich. Harpman stellt große Fragen, ganz ohne philosophisches Trommelwirbel:
Was macht uns eigentlich zu Menschen? Wie verändern sich Zeit, Erinnerung und Identität, wenn die Welt unverständlich wird?

Besonders faszinierend ist die Dynamik zwischen der Erzählerin und den anderen Frauen. Während die 39 Gefährtinnen noch ums Festhalten an früheren Leben ringen, kennt die Erzählerin diese Welt nur aus ihren bruchstückhaften Erinnerungen. Das macht sie analytischer, neugieriger und auf eine seltsame Weise freier. Die Beziehungen zwischen den Frauen, ihr ständiges Anpassen, ihr Zusammenwachsen und Zerfallen: Das alles wirkt gleichzeitig zart und gnadenlos.

I was forced to acknowledge too late, much too late, that I too had loved, that I was capable of suffering, and that I was human after all.

Und ja, das Buch ist düster. Richtig düster. The Road wirkt dagegen fast gemütlich. Harpman erspart uns jede Form von Trost. Keine Erklärungen, keine Erlösungen, keine epische Enthüllung am Ende. Nur die Frage, was bleibt, wenn alles, was wir für menschlich halten: Liebe, Nähe, Hoffnung einfach weg ist.

Die Stille in diesem Roman ist lauter als jedes World-Building. „I Who Have Never Known Men“ ist brillant, zutiefest verstörend, philosophisch – ein Roman mit einem letzten Satz, der einem quasi in die Magengrube haut.

Im Grunde könnte meine Rezension lauten: I who have never known a book like that.
Jacqueline Harpman ist eine Autorin die man unbedingt wiederentdecken sollte.

Hertmans, Stefan – Dius erschienen im Diogenes Verlag übersetzt von Ira Wilhelm

Es gibt Zufälle, die so schräg sind als wäre kurz ein Riss im Raum-Zeit-Kontinuum entstanden und man zweifelt, ob das Buch sich vielleicht ins echte Leben ausgedehnt hat. Während ich Stefan Hertmans’ „Dius“ las ein Buch, in dem Vittore Carpaccios Bilder eine recht zentrale Rolle spielen fand ich auf meinem täglichen Spaziergang mit der kleinen Gasthündin im offenen Bücherschrank ausgerechnet einen Bildband dieses Malers. Carpaccio, nicht da Vanci oder Michaelangeo, ein Maler, den man nun wirklich nicht an jeder Ecke erwartet. Plötzlich wurde aus einer ohnehin schon intensiven Lektüre ein kleines multimediales Erlebnis: Musik über die Playlist, die beim Diogenes-Zoom-Abend mit dem Autor empfohlen wurde, Hertmans’ Worte im Buch und dann diese Bilder, die direkt daneben aufschlugen und die mich wirklich sehr fasziniert haben.

Im Zentrum des Romans steht Anton, ein Kunsttheoretiker voller Sehnsucht, der oft eher beobachtet als handelt. Schon früh gibt es eine Szene, die sich ins Gedächtnis brennt: ein Autounfall, ein Hirsch, eine beinahe tödliche Bewegung. Hertmans schreibt das mit einer Intensität, die einen sofort in Antons Kopf zieht. An seiner Seite steht Dius, zunächst sein Student, dann sein Freund impulsiver, unmittelbarer, ein Künstler, der die Welt mit den Händen begreift. Zwischen den beiden entsteht eine enge, zugleich fragile Verbindung, getragen von Gesprächen über Kunst und Natur, aber auch von all dem, was unausgesprochen bleibt. Am Ende geht Dius nach Italien, Anton bleibt zurück – und die Lücke zwischen ihnen erzählt ebenso viel wie ihre gemeinsamen Jahre.


Hertmans verankert diese Freundschaft in einem alten Bauernhaus in den weiten Westflämischen Poldern, einer Landschaft, die wie ein Resonanzraum wirkt, Seine Naturbeschreibungen sind präzise und voller Zärtlichkeit, und immer wieder stellt der Text die Frage, wie man Schönheit überhaupt fassen kann – ob Sprache reicht, um zu vermitteln, was Kunst, Landschaft oder ein Mensch in uns auslösen können.

In solchen Momenten weiß ich warum Dius in mein Leben treten musste: weil wir beiden den Durst nach längst vergangenen Zeiten teilen, die uns durch die frühen Erinnerungen irgendwie in den Körper eingeschrieben sind und uns unbehaust werden lassen im Lärm unserer Gegenwart. Kultur ist etwas Unbegreifliches; das Höchste ist mit dem Abgründigsten verwandt, und voll all den Jahrhunderten voller Schmerz, Verzückung und Verwirrung bleibt uns am Ende nur diese himmlische Musik, bei der sich mein Herz vor Verlangen zusammenkrampft, während ich unter der leichten Daunendecke liege….


Anton, ist Kunsttheoretiker, der oft an den Rändern des Lebens entlanggleitet. Einer, der eher denkt als handelt, der seine Sehnsüchte und seine Melancholie mit sich herumträgt und im Gegensatz Ein Gegenpol, lebendig, impulsiv, handfest im besten Sinn. Er denkt nicht nur über Kunst nach, er greift nach ihr, verschmilzt mit Material und Werkzeug, ein Mensch, der mit seiner Umgebung in eine Art physischer Resonanz tritt. Zwischen den beiden entsteht eine Freundschaft, die nicht idyllisch ist, sondern vibrierend; eine Beziehung, in der Nähe und Verrat, Inspiration und Verletzlichkeit von Anfang an mitschwingen.

Gerade weil Dius kein klassisch plotgetriebenes Buch ist, wirkt das, was geschieht, umso intensiver. Hertmans schildert ein Leben, das von Verlust, Erinnerung und dem Bedürfnis nach Nähe geprägt ist aber auch von dem Versuch, sich über Kunst und die Betrachtung der Welt neu zu verorten. Durch die kunsthistorischen Exkurse, die Musik und die Naturbeobachtungen entsteht ein Geflecht, das gleichzeitig poetisch, scharf und berührend ist. Es ist ein Buch über das Sehen im wörtlichen wie im übertragenen Sinn. Dius hat mich sehr berührt, und als Nächstes wartet nun Hertmans’ Krieg und Terpentin auf mich. Danke an Susanne vom Diogenes Verlag für ihre treffsichere Empfehlung und natürlich an den Diogenes Verlag für das Rezensionsexemplar.

Dius war außerdem die Lektüre für meinen Read around the World Belgien Stop.

Kim, Monika – Das Beste sind die Augen erschienen im Kiepenheuer & Witsch Verlag, übersetzt von Jasmin Humburg

Ich hatte mich durchaus auf Horror eingestellt – aber was Monika Kim in diesem Debüt abliefert, hat meine Vorstellung doch noch mal ordentlich übertroffen. Es geht um die koreanisch-amerikanische Schülerin Ji-won, die versucht, ihre Familie zusammenzuhalten, während sie sich gleichzeitig durch alltägliche Mikroaggressionen, Fetischisierung und unterschwelligen Rassismus kämpft. Und irgendwo auf diesem Weg kippt etwas in ihr – langsam, aber unaufhaltsam.


Ji-won ist keine Karikatur und keine reine Horrorfigur, sondern eine vielschichtige, verletzte, wütende junge Frau die irgendwann einen Weg wählt, der definitiv ins Dunkle führt. Und ja, es geht um Augen. Um das Essen von Augen. Um eine Obsession, die eng mit dem neuen Freund ihrer Mutter zusammenhängt, einem weißen Mann, der die Familie so unverhohlen exotisiert, dass es einem schon beim Lesen unangenehm wird.

Stark fand ich die Stellen, in denen Kim zeigt, wie unterschiedlich Rassismus aussehen kann: Der offensichtliche, laute Typ wie George – aber auch die Sorte, die sich hinter vermeintlichem „Ich bin doch einer von den Guten“ versteckt. Diese leisen, schmierigen, hohlen Gesten, die sich erst später als echte Gefahr entpuppen.

Männer wie George sind nicht wie wir. Nicht wie ich, nicht wie Ji-hyun. Nicht einmal mein Vater, ein anderer Mann, kann George das Wasser reichen, da seine Macht nicht allein der Tastsache entspringt, dass er einen Penis hat. Sie basiert auf seiner weißen Haut. Für uns ist diese Art der Bestimmtheit und Selbstsicherheit unmöglich. Uns Mädchen wird von klein auf eingebläut, dass wir nachweislich weniger wert sind als unsere männlichen Zeitgenossen. Wir sind kleiner, schwächer, dümmer. Wenn wir Erfolg haben, dann nur, weil Männer es uns erlauben. Und als asiatische Frauen sind wir besonders machtlos und fremdartig, mit unserer vermeintlichen Porzellanhaut, der zierlichen Figur, der „Schlitzaugenpussy“ und dem ruhigen, unterwürfigen Naturell.

Allerdings wirken einige der Charaktere ziemlich schablonenhaft und bestimmte Wendungen waren schon früh vorhersehbar. Noch eine Warnung: wer empfindlich auf Splatter reagiert, sollte sich auf etwas gefasst machen. Einige Szenen gehen wirklich an die Grenze selbst mir wurde es zwischendurch mulmig und so ganz schnell geht das bei mir eigentlich nicht.

„Das Beste sind die Augen“ ist mutig, ungewöhnlich und wagt eine Perspektive, die man so selten liest. Ji-wons Abstieg ist verstörend, aber zugleich auch nachvollziehbar erzählt und weckt sogar stellenweise Mitgefühl. Und ganz ehrlich: Wenn wir seit Jahrzehnten empathisch erzählte Serienkiller-Stories über weiße Typen lesen, dann ist es absolut an der Zeit, dass auch andere Stimmen diesen Raum bekommen.

Ich danke dem Kiepenheuer & Witsch Verlag für das Rezensionsexemplar.

Toller, Ernst – Eine Jugend in Deutschland erschienen im Rowohlt Verlag

Ernst Toller war ein Mensch, der das Wort „Humanität“ nicht nur schrieb, sondern lebte. Geboren 1893 in Samotschin, aufgewachsen in einer bürgerlich-jüdischen Familie, erlebte er als junger Mann den Ersten Weltkrieg an der Front – ein Erlebnis, das ihn zutiefst prägte und zum Pazifisten machte. Aus dem patriotischen Studenten wurde ein Suchender, ein Zweifler, ein Kämpfer für eine gerechtere, menschlichere Welt.

Sein autobiographisches Werk „Eine Jugend in Deutschland“ ist nicht nur Erinnerungsbuch, sondern ein erschütterndes, poetisches Bekenntnis. Toller beschreibt darin den Weg eines sensiblen, idealistischen Menschen, der den Krieg als Wahn erkennt und im Chaos der Nachkriegszeit versucht, durch Mitgefühl und Phantasie politische Verantwortung zu übernehmen.

In München wird er einer der führenden Köpfe der Räterepublik – nicht aus Machtstreben, sondern aus der Hoffnung heraus, eine neue, menschlichere Gesellschaft zu schaffen. Sein Leitsatz bleibt unverrückbar:

Wir kämpfen für eine gerechtere Welt, wir fordern Menschlichkeit, wir müssen menschlich sein.

Doch die Geschichte war grausam zu denen, die zu früh zu viel wollten. Nach dem Scheitern der Räterepublik wird Toller wegen Hochverrats zu fünf Jahren Haft verurteilt. Die Bedingungen sind entsetzlich – Hunger, Kälte, Isolation –, und doch entstehen in dieser Dunkelheit einige seiner hellsten Texte. In der Zelle schreibt er Antikriegsstücke wie „Masse Mensch“ und das zarte, tröstende „Schwalbenbuch“.

Zwei Schwalben fliegen vor mein Gitter,
sie bauen ihr Nest an der grauen Wand.
Ich sehe sie, wie sie fliegen und singen,
und mein Herz fliegt mit ihnen hinaus.

Diese Zeilen fassen alles, was Toller ausmacht: die Sehnsucht nach Freiheit, das Vertrauen in das Leben, selbst dort, wo es keine Hoffnung zu geben scheint.

Als er 1924 entlassen wird, ist er erst knapp dreißig Jahre alt – durch die Haft aber gealtert, innerlich wie äußerlich. Bis zu seiner Ausbürgerung 1933 schreibt er mehrere Dramen, in denen er die Fragen nach Verantwortung, Gewalt und Mitgefühl unermüdlich weiterstellt.

Im Exil – zunächst in England, dann in den USA – verliert er alles: seine Heimat, seine Sprache, seine Freunde, und zuletzt den Glauben, noch etwas bewirken zu können. 1939, in einem New Yorker Hotelzimmer, beendet er sein Leben – verlassen, bettelarm, und, wie er glaubte, überflüssig geworden.

Es ist eine bittere Wahrheit, dass Ernst Toller nach dem Krieg in der Bundesrepublik kaum Anerkennung fand. Die Bühnen, die ihn hätten ehren sollen, schwiegen. Dabei ist er ein Autor, dessen Werk – getragen von moralischem Mut und poetischer Zärtlichkeit – heute aktueller ist denn je.

„Eine Jugend in Deutschland“ ist ein Vermächtnis. Es ruft uns in Erinnerung, dass Menschlichkeit auch in Zeiten der Verzweiflung möglich bleibt, dass Widerstand ohne Hass denkbar ist. Toller war ein Dichter, ein Politiker, ein Idealist – und vor allem: ein Mensch, von deren Format wir heute mehr denn je brauchen.

Was waren eure Highlights im November und konnte ich euch auf das eine oder andere Buch Lust machen? Freue mich auf eure Rückmeldungen.

Read around the world: Belgien

Der nächste Halt meiner literarischen Weltreise führt uns wieder in ein Nachbarland – eines, das meine allererste Auslandsreise überhaupt war, meine Schul-Abschlussfahrt vor mehreren Äonen. Dort habe ich zum ersten Mal das Meer gesehen, stand staunend vor dieser unendlichen Weite, die ich bis dahin nur aus Filmen und Büchern kannte. Brügge und Gent haben mich damals richtig verzaubert, mit seinen Kanälen, dem Kopfsteinpflaster, den Häusern, die aussehen, als würde jeden Moment Ms Marple um die Ecke kommen. Und Brüssel habe ich gleich zweimal besucht – eine Stadt, die ich sehr gerne mag und ich erinnere mich an ein wahnsinnig gutes Abendessen in einem Restaurant in einer alten Bank – Belga Queen – kann ich sehr empfehlen und wenn ich mich recht erinnere, kam das Restaurant sogar in einem Roman vor, den ich vor einer Weile gelesen habe, in Robert Manesses „Die Hauptstadt“. Belgien ist also ein Nachbarland, das ich zumindest ein bißchen kenne, und dennoch eines, das in seiner Tiefe, Vielfalt und Komplexität immer noch weiter entdeckt werden kann.

Belgien wirkt auf den ersten Blick überschaubar: klein, dicht besiedelt, eines dieser Länder, das man leicht auf der Europakarte übersehen könnte, wenn man nicht gerade Pommes liebt. Es entfaltet dann aber bei näherem Hinsehen eine erstaunliche kulturelle und politische Vielschichtigkeit. Die drei offiziellen Sprachen: Niederländisch, Französisch und Deutsch sind keine bloßen Verwaltungsakte, sondern Ausdruck historischer Prägungen, Identitäten und rivalisierender kultureller Räume. Wer Belgien bereist, bewegt sich ständig zwischen ihnen: Flandern mit seinen flämischen Städten wie Gent oder Antwerpen, die französischsprachige Wallonie mit Lüttich oder Namur, dazwischen das politisch pulsierende Herz Brüssel sowie im Osten jene kleine deutschsprachige Gemeinschaft, die oft vergessen wird, die aber ihr ganz eigenes literarisches und kulturelles Erbe trägt.

Das Spannende an Belgien ist dieses Gefühl, dass die Vielfalt nicht wie in fernen, weiten Ländern als bunter Flickenteppich erscheint, sondern in dichter Nachbarschaft lebt. Man fährt nur wenige Kilometer und landet sprachlich in einer anderen Welt, mit anderen Traditionen, anderer Mentalität, anderem Humor. Schön ist, dass sich das in der Literatur widerspiegelt: Geschichten, die zwischen Sprachen wandern, zwischen Erinnerungen, Identitäten und Brüchen, zwischen regionalen Eigenheiten und europäischer Weite.

Politisch zeigt sich Belgien als föderale konstitutionelle Monarchie, in der sich die regionalen und sprachlichen Besonderheiten tief in die politischen Strukturen eingeschrieben haben. Regierung und Koalitionsbildung sind oft ein Geduldsspiel nicht, weil Belgier*innen besonders streitlustig wären, sondern weil die Macht zwischen Regionen und Gemeinschaften so fein austariert ist, dass jede Entscheidung mehrere Ebenen durchlaufen muss. Das Land besteht aus Regionen (Flandern, Wallonien, Brüssel) und Sprachgemeinschaften (niederländisch-, französisch- und deutschsprachig), die jeweils eigene Zuständigkeiten haben. Politik ist hier ein Balanceakt, eine ständige Suche nach Kompromissen und Koalitionen, die manchmal fragil wirken, aber doch seit Jahrzehnten dafür sorgen, dass das Land trotz Krisen und Spannungen funktioniert.

In gewisser Weise ist Belgien vielleicht eines der prototypisch europäischen Länder: klein, föderal, vielfältig, kompliziert – und gerade deshalb so interessant. Es steht für ein Miteinander, das nicht immer friktionsfrei ist, aber in seiner Reibung Ideen, Geschichten und Perspektiven hervorbringt, die untrennbar mit seiner kulturellen Identität verbunden sind.

Hier wie immer die vergleichenden Daten:

  • Bevölkerung: ca. 11,8 Mio. Menschen (Stand 2025)
  • Fläche: rund 30.700 km² (etwa so groß wie Baden-Württemberg)
  • Bevölkerungsdichte: sehr hoch, vor allem in Flandern und rund um Brüssel
  • Sprachen: Niederländisch, Französisch, Deutsch
  • Politisches System: föderale konstitutionelle Monarchie mit stark regionalisierten Zuständigkeiten

Auch wenn Belgien heute häufig überwiegend mit „Brügge sehen und sterben“ oder Pommes assoziiert wird man darf nicht vergessen, wie stark das Land die Pop- und Comic-Kultur geprägt hat. Tim und Struppi ist wohl das berühmteste Beispiel dafür: Der belgische Zeichner Hergé (bürgerlich Georges Remi) schuf mit dem Reporter Tim und seinem treuen Foxterrier Struppi eine der erfolgreichsten und einflussreichsten Comicserien Europas. Der erste Band erschien 1929, die Reihe lief bis zum Tod Hergés 1983 und zwischenzeitlich wurden über 230 Millionen Alben verkauft, in unzählige Sprachen übersetzt. Tim und Struppi sind nicht nur ein Stück Abenteuer- und Kindheitsnostalgie, sondern auch ein Symbol für Belgien als Land, das mit einem Fuß in der Belletristik, dem anderen in der Pop- und Drachen-Kultur steht ein Beleg, wie sehr Geschichten, Erzählungen und Bildwelten belgisch sind.

Musikalisch steht Belgien für mich ganz klar unter dem Stern des DUNK! Festivals. Ich habe es bisher noch nicht geschafft diese Kultstätte des Postrocks zu besuchen, aber irgendwann klappt das sicherlich noch mal. Mein lieber Blognachbar Gerhard vom Blog Kulturforum hat schon des Öfteren davon berichtet.

Vorstellen möchte ich euch heute die Band „We stood like Kings“ die ich vor ein paar Jahrenlive bei einem ganz besonderen Event erleben durfte. Auch hier gibts im Kulturforum entsprechendes nachzulesen – und das lohnt sich 🙂

Auch filmisch liefert Belgien ordentlich ab. Chantal Akerman gilt als eine der bedeutendsten belgischen Regisseurinnen und als zentrale Stimme des feministischen und experimentellen Kinos. Ihr Film „Jeanne Dielman, 23, quai du Commerce, 1080 Bruxelles“ (1975) ist ein radikal ruhiges, minutiös beobachtetes Porträt weiblicher Alltagsroutine und innerer Zermürbung ist wirklich ein Meilenstein der Filmgeschichte, der zeigt, wie politisch und effektiv scheinbar unspektakuläre Gesten sein können. Kann den Film wirklich nur empfehlen.

Nach all den Musik- und Filmtipps möchte ich Belgien nun auch literarisch vorstellen und habe dafür „Dius“ von Stefan Hertmans gelesen:

Dius – Stefan Hertmans erschienen im Diogenes Verlag, übersetzt von Ira Wilhelm

Es gibt Zufälle, die so schräg sind als wäre kurz ein Riss im Raum-Zeit-Kontinuum entstanden und man zweifelt, ob das Buch sich vielleicht ins echte Leben ausgedehnt hat. Während ich Stefan Hertmans’ „Dius“ las – ein Buch, in dem Vittore Carpaccios Bilder eine recht zentrale Rolle spielen – fand ich auf meinem täglichen Spaziergang mit der kleinen Gasthündin im offenen Bücherschrank ausgerechnet einen Bildband dieses Malers. Carpaccio, nicht da Vanci oder Michaelangeo, ein Maler, den man nun wirklich nicht an jeder Ecke erwartet. Plötzlich wurde aus einer ohnehin schon intensiven Lektüre ein kleines multimediales Erlebnis: Musik über die Playlist, die beim Diogenes-Zoom-Abend mit dem Autor empfohlen wurde, Hertmans’ Worte im Buch –und dann diese Bilder, die direkt daneben aufschlugen und die mich wirklich sehr fasziniert haben.

Im Zentrum des Romans steht Anton, ein Kunsttheoretiker voller Sehnsucht, der oft eher beobachtet als handelt. Schon früh gibt es eine Szene, die sich ins Gedächtnis brennt: ein Autounfall, ein Hirsch, eine beinahe tödliche Bewegung. Hertmans schreibt das mit einer Intensität, die einen sofort in Antons Kopf zieht. An seiner Seite steht Dius, zunächst sein Student, dann sein Freund impulsiver, unmittelbarer, ein Künstler, der die Welt mit den Händen begreift. Zwischen den beiden entsteht eine enge, zugleich fragile Verbindung, getragen von Gesprächen über Kunst und Natur, aber auch von all dem, was unausgesprochen bleibt. Am Ende geht Dius nach Italien, Anton bleibt zurück und die Lücke zwischen ihnen erzählt ebenso viel wie ihre gemeinsamen Jahre.

In solchen Momenten weiß ich warum Dius in mein Leben treten musste: weil wir beiden den Durst nach längst vergangenen Zeiten teilen, die uns durch die frühen Erinnerungen irgendwie in den Körper eingeschrieben sind und uns unbehaust werden lassen im Lärm unserer Gegenwart. Kultur ist etwas Unbegreifliches; das Höchste ist mit dem Abgründigsten verwandt, und voll all den Jahrhunderten voller Schmerz, Verzückung und Verwirrung bleibt uns am Ende nur diese himmlische Musik, bei der sich mein Herz vor Verlangen zusammenkrampft, während ich unter der leichten Daunendecke liege….


Hertmans verankert diese Freundschaft in einem alten Bauernhaus in den weiten Westflämischen Poldern, einer Landschaft, die wie ein Resonanzraum wirkt, Seine Naturbeschreibungen sind präzise und voller Zärtlichkeit, und immer wieder stellt der Text die Frage, wie man Schönheit überhaupt fassen kann – ob Sprache reicht, um zu vermitteln, was Kunst, Landschaft oder ein Mensch in uns auslösen können.


Anton, ist Kunsttheoretiker, der oft an den Rändern des Lebens entlanggleitet. Einer, der eher denkt als handelt, der seine Sehnsüchte und seine Melancholie mit sich herumträgt und im Gegensatz Ein Gegenpol, lebendig, impulsiv, handfest im besten Sinn. Er denkt nicht nur über Kunst nach, er greift nach ihr, verschmilzt mit Material und Werkzeug, ein Mensch, der mit seiner Umgebung in eine Art physischer Resonanz tritt. Zwischen den beiden entsteht eine Freundschaft, die nicht idyllisch ist, sondern vibrierend; eine Beziehung, in der Nähe und Verrat, Inspiration und Verletzlichkeit von Anfang an mitschwingen.

Gerade weil Dius kein klassisch plotgetriebenes Buch ist, wirkt das, was geschieht, umso intensiver. Hertmans schildert ein Leben, das von Verlust, Erinnerung und dem Bedürfnis nach Nähe geprägt ist – aber auch von dem Versuch, sich über Kunst und die Betrachtung der Welt neu zu verorten. Durch die kunsthistorischen Exkurse, die Musik und die Naturbeobachtungen entsteht ein Geflecht, das gleichzeitig poetisch, scharf und berührend ist. Es ist ein Buch über das Sehen – im wörtlichen wie im übertragenen Sinn. Dius hat mich sehr berührt, und als Nächstes wartet nun Hertmans’ Krieg und Terpentin auf mich. Danke an Susanne vom Diogenes Verlag für ihre treffsichere Empfehlung – und natürlich an den Diogenes Verlag für das Rezensionsexemplar.

Wer noch mal zu den vorherigen Stationen (Sri Lanka, Italien, Trinidad & Tobago, Nigeria, Südkorea, China, Israel, Belarus, Japan, DR & Republik Kongo, USA, Polen, Chile, Afghanistan, Vietnam, Ukraine, Mauretanien, Mexiko, Niederlande, Malaysia) zurückreisen möchte wird in meiner Kategorie „Read around the World“ fündig.

Weitere Romane belgischer Autor*innen die ich gelesen und empfehlen kann:

  • I who have never known men – Jacqueline Harpman
  • Trophäe – Gesa Schoeters
  • Auf der Suche nach Marie – Madeleine Bourdouxhe
  • Der Buchhändler von Archangelsk – George Simenon
  • Mit Staunen und Zittern – Amélie Nothomb

Was sind eure Tipps für Belgien? Würde gerne mal wieder hin und welche Buch-Musik-Film Tipps habt ihr? Freue mich von euch zu hören und bin sehr gespannt!

Oktober Lektüre

Wieder ein wirklich guter Lesemonat! Kein Flop in Sicht – alle Bücher zwischen 3,5 und 5 Sternen, und jedes hat mich auf seine Art begeistert. Müsste ich mich für ein „Buch des Monats“ entscheiden, wäre das richtig schwer, aber mit minimalem Vorsprung ginge der Titel an „The Safekeep“ von Yael van der Wouten – ich kann einfach nicht aufhören, darüber nachzudenken. Ins Bild eingeschlichten hat sich Herr Toller, der gehört in den November, dafür fehlt Ex Libris von Anne Fadiman und Martyr! habe ich als Hörbuch gehört.

Die Vorstellung der einzelnen Titel folgt keiner besonderen Reihenfolge:

Martyr! – Kaveh Akbar auf deutsch unter dem Titel Märtyrer! im Rowohlt Verlag erschienen, übersetzt von Stefanie Jacobs

Martyr! ist ein Romandebüt: intensiv, sprachlich präzise und voller Fragen, die einen lange beschäftigen.
Der Roman erzählt von Cyrus, einem jungen Dichter, der mit seiner Sucht, seiner Depression und seinem Platz in der Welt ringt. Er sucht nach Bedeutung – in seiner Kunst, in der Erinnerung an seine Eltern, im Leben selbst – und manchmal auch im Tod.

Akbar schreibt mit schneidender Klarheit, in der jeder Satz sorgfältig gebaut wirkt, rhythmisch und voller Poesie. Man merkt, dass er aus der Poesie kommt: geboren im Iran, aufgewachsen in den USA, bekannt für seine Lyrikbände „Calling a Wolf a Wolf“ und „Pilgrim Bell“, in denen er ähnliche Themen verhandelt – Sucht, Sprache, Herkunft, Glauben. In seinem Prosadebüt verdichtet sich all das zu einer eindringlichen, klugen und sehr persönlichen Erzählung über Identität.

Eight of the ten commandments are about what thou shalt not. But you can live a whole life not doing any of that stuff and still avoid doing any good. That’s the whole crisis. The rot at the root of everything. The belief that goodness is built on a constructed absence, not-doing. That belief corrupts everything, has everyone with any power sitting on their hands.


Cyrus lebt in Indiana, zwischen Kulturen, Sprachen und Lebensentwürfen. Seine Mutter starb, als ein iranisches Passagierflugzeug von der US-Regierung abgeschossen wurde; sein Vater zerbrach an einem Leben in der amerikanischen Arbeitswelt; sein Onkel war wortwörtlich der Tod – in den Diensten des iranischen Militärs. Zwischen diesen Biografien und Brüchen stellt sich Cyrus die großen Fragen: Wie iranisch ist man, wenn man in den USA aufgewachsen ist? Wie amerikanisch, wenn man anders aussieht, heißt, glaubt? Und wie frei ist man, wenn man als queerer Mann ständig zwischen Sichtbarkeit und Anpassung balanciert?

Was mich besonders berührt hat, war, wie Akbar Trauer und Erinnerung ineinanderfließen lässt. Es gibt eine Szene, in der Cyrus durch die Stadt läuft und um seine Mutter trauert – leise, unspektakulär, aber voller Schmerz und Zärtlichkeit. Die hat mich total gepackt.

Nicht alles funktioniert gleich gut: Das Ende wirkt etwas zu konstruiert, manche Wendungen zeichnen sich früh ab, und die vielen Traumsequenzen waren mir persönlich zu viel. Aber das alles fällt kaum ins Gewicht, weil der Roman sprachlich so eindringlich, so lebendig und so unverstellt ist.

Martyr! ist kein perfektes Buch – aber eines, das wirklich etwas wagt. Es sucht nach Bedeutung inmitten von Chaos, und genau darin liegt seine Schönheit.

The Safekeep – Yael van der Wouten auf deutsch unter dem Titel „In ihrem Haus“ im Gutkind Verlag erschienen, übersetzt von Stefanie Ochel

Es gibt Bücher, die irgendwie leise daher kommen, sich ganz langsam entfalten – und einen dann völlig überraschen. The Safekeep von Yael van der Wouden war für mich genau so ein Buch: leise, konzentriert, präzise, und plötzlich von einer Wucht, die man nicht kommen sieht. Schon nach wenigen Seiten war klar, dass hier keine gewöhnliche Familiengeschichte erzählt wird, sondern ein vielschichtiges Spiel aus Erinnerung, Schuld und Begehren. In mehrfacher Hinsicht ist dieses Buch etwas Besonderes: Es ist das Debüt der niederländischen Autorin Yael van der Wouden, es wurde ursprünglich auf Englisch verfasst, und sie ist damit die erste niederländische Autorin, die es auf die Shortlist des Booker Prize geschafft hat. Yael van der Wouden wurde 1987 geboren und wuchs in den Niederlanden auf. Sie hat einen israelisch-niederländischen Hintergrund, studierte Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Utrecht und an der Binghamton University in den USA.

Die Handlung führt in die niederländische Provinz Overijssel, in den Sommer 1961. Isabel lebt dort allein in dem Haus ihrer verstorbenen Mutter, umgeben von Dingen, die in penibler Ordnung verharren. Alles ist still, geregelt, kontrolliert – ein Leben, das sich in Ritualen und Routinen festhält. Als ihr Bruder Louis mit seiner neuen Freundin Eva auftaucht und für den Sommer bleibt, gerät dieses fragile Gleichgewicht ins Wanken. Eva ist das genaue Gegenteil von Isabel: lebendig, neugierig, körperlich. Sie bewegt sich durch das Haus, öffnet Türen, betritt Räume, die Isabel lieber verschlossen gehalten hätte. Zwischen den beiden Frauen entsteht eine Spannung, die sich kaum benennen lässt – eine Mischung aus Abwehr, Begehren und schleichender Bedrohung. Was anfangs wie eine stille Familiengeschichte beginnt, entwickelt sich zu einem psychologisch dichten Drama, in dem Schuld, Erinnerung und Verdrängung untrennbar miteinander verwoben sind. Und dann kommt eine Wendung, so unerwartet und doch so konsequent, dass man das Buch für einen Moment zuschlagen möchte, um durchzuatmen.

She thought: I can hold you and find that I still miss your body. She thought: I can listen to you speak and still miss the sound of your voice.

Was mich an The Safekeep besonders beeindruckt hat, ist die Art, wie Yael van der Wouden Atmosphäre erzeugt. Sie braucht keine spektakulären Szenen oder großen Gesten. Das Unheimliche wächst in der Stille, im Zögern, in einem Blick, der zu lange dauert. Das Haus wird zur Bühne der inneren Zersetzung, ein Ort, an dem Vergangenheit und Gegenwart unmerklich ineinanderfließen. Man spürt in jedem Satz die Spannung zwischen Kontrolle und Kontrollverlust. Van der Wouden schreibt in einer klaren, präzisen Sprache, die an niederländische Stillleben erinnert – jede Bewegung, jedes Detail scheint festgehalten, bis man merkt, dass etwas im Bild verrutscht.

Auch thematisch bewegt sich der Roman auf mehreren Ebenen zugleich. Die familiäre Enge und das unausgesprochene Trauma verweisen auf eine größere historische Dimension: die Nachkriegszeit, die Schatten der Kollaboration, das Schweigen über Schuld. Diese Themen sind nie plakativer Hintergrund, sondern fließen in die private Geschichte ein – in die Art, wie Isabel Dinge ordnet, wie sie mit Erinnerungen ringt, wie sie versucht, das Unheimliche zu bannen. In dieser Verbindung von psychologischer Genauigkeit und geschichtlicher Tiefe liegt für mich die große Stärke des Romans.

Besonders die überraschende Wendung am Ende verleiht der Geschichte eine neue Perspektive, ohne den Zauber oder die Ambivalenz der Figuren aufzulösen. Sie zwingt einen, das Gelesene noch einmal neu zu betrachten, mit anderen Augen.

The Safekeep ist ein außergewöhnliches Debüt – eines, das sowohl literarisch anspruchsvoll als auch emotional tief berührend ist. Es ist ein Roman über Ordnung und das Chaos darunter, über Begehren, das sich nicht benennen lässt, über das, was ein Haus bewahrt, und das, was darin verloren geht. Wer sich auf diese stille, intensive Geschichte einlässt, wird reich belohnt. Für mich zählt sie jetzt schon zu meinen Lieblingsbüchern dieses Jahres.

The Knife – Salman Rushdie unter dem Titel „Knife – Gedanken nach einem Mordversuch“ im Penguin Verlag erschienen, übersetzt von Bernhard Robben

Knife ist weit mehr als eine autobiografische Nacherzählung des furchtbaren Messerattentats auf Salman Rushdie, das ihn im August 2022 während einer Lesung in Chautauqua beinahe das Leben kostete und tragischerweise ein Auge kostete. Knife ist eine Meditation über Verletzlichkeit, Sprache und Überleben – ein Buch über das Weiterleben und das Weiterschreiben nach der Gewalt. Es ist sicherlich Rushdies persönlichstes Buch.

Seine Waffe ist nicht das Messer, sondern das Wort. „Language, too, was a knife“, schreibt er, „it could cut open the world and reveal its meaning.“ Und genau das tut er: Er seziert das Erlebte, die Angst, die Hilflosigkeit, aber auch die Wut, den Trotz und die ungebrochene Liebe zum Leben.

Das Buch ist schonungslos ehrlich, manchmal erschütternd körperlich. Rushdie erzählt, wie der eigene Körper nach einem solchen Angriff entprivatisiert wird, wie er in den Händen von Ärzten, Pflegern, Therapeuten liegt und plötzlich nur noch Objekt ist – und wie mühsam der Weg zurück zur Autonomie, zur Sprache und zur eigenen Identität ist.

Hier schreibt kein Oper, sondern ein Überlebender, der die Deutungshoheit über sein Leben und seine Geschichte zurückfordert. Rushdie verweigert dem Täter jede namentliche Nennung, er nennt ihn nur „the A“ – eine bewusste Geste der Entmachtung. In fiktiven Dialogen konfrontiert er seinen Angreifer mit dessen eigenen Ängsten und seiner stupiden Naivität. Rushdie lässt sich das Geschehen nicht von außen diktieren sondern verwandelt es in Literatur er eignet es sich an, um weiter existieren zu können.

Knife ist ein Buch über Mut – und über die Unmöglichkeit, zu schweigen. Das Buch schwankt zwischen Schmerz und Ironie, Pathos und Lakonie, aber immer bleibt es zutiefst menschlich. Und wer Rushdie einmal live erlebt hat, der spürt diesen Ton sofort. Ich erinnere mich noch gut an seine Lesung im Münchner Cuvilliés-Theater im Jahr 2015, nur wenige Tage nach den fürchterlichen Anschlägen des IS.

Art is not a luxury. It stands at the essence of our humanity, and it asks for no special protection except the right to exist.

Rushdie sprach damals darüber, dass er aus einer nichtreligiösen Familie komme und sich in den Sechzigerjahren niemals hätte vorstellen können, eines Tages Romane über Religion zu schreiben. Aber die Welt, sagte er, habe sich verändert, das Thema sei zu groß geworden, um es zu ignorieren. „Nicht nachgeben, keinen Zentimeter“, war seine Botschaft. „Wir müssen unser Leben weiterleben wie vorher und unsere Freiheit genießen und ausleben.“

Diese Haltung zieht sich auch durch Knife: das entschlossene „Weiterleben“, selbst wenn der Körper versehrt ist, selbst wenn die Angst real bleibt. Rushdie hält es – wie er damals sagte – „ganz mit Charlie Hebdo: Ihr habt die Waffen, aber wir haben den Champagner.“

Es ist dieser unerschütterliche Glaube an die Kraft der Kunst, der dieses Buch so stark macht.

Rushdie verwandelt das Messer, das ihn treffen sollte, in ein Symbol der Sprache. Er sticht nicht zurück, sondern öffnet das, was viele lieber verdrängen würden: die Angst, den Hass, die Gewalt, aber auch die unzerstörbare Möglichkeit des Menschen, sich durch Erzählung selbst zu heilen. Am Ende aber bleibt die Erkenntnis, dass Freiheit, Würde und Sprache nicht verhandelbar sind. Knife ist kein einfaches Buch, aber ein sehr wichtiges – und für mich ein bewegendes Zeugnis dafür, was es heißt, ein freier Mensch zu sein. Ich fand es wirklich gut.

Muttermale – Dagmar Leupold erschienen im Jung und Jung Verlag

Dagmar Leupold schenkt uns und sich zu ihrem 70. Geburtstag kürzlich – einen Roman von großer sprachlicher Schönheit und stiller Wucht. Muttermale, für den sie auch für den Bayerischen Buchpreis nominiert ist, ist kein klassisch erzähltes Buch, sondern ein fein komponiertes Erinnerungsgewebe. In fragmentarischen Miniaturen nähert sich Leupold dem Leben ihrer Mutter, einer Frau, deren Biografie von der Flucht aus Ostpreußen, vom Ankommen im Westen und vom leisen Beharren auf Würde geprägt ist.

Die Autorin rekonstruiert dieses Leben nicht linear, sondern tastend, suchend, in leisen Andeutungen. Zwischen Andenken, Briefen, Fotos und Erinnerungssplittern entfaltet sich das Porträt einer Generation, die gelernt hat, zu überleben – und zu schweigen. Eine Mutter die es der Tochter nicht immer einfach machte sie zu lieben. Im Versuch, die Mutter zu verstehen, wird zugleich die Frage nach der eigenen Herkunft, nach der genealogischen und emotionalen Vererbung gestellt: Was bleibt von unseren Eltern in uns zurück, welche Spuren tragen wir weiter – und welche möchten wir am liebsten tilgen? Das titelgebende Muttermal wird so zu einem poetischen Symbol für all das Unauslöschliche, das uns prägt.

Leupolds Sprache ist von einer fast musikalischen Präzision: reduziert, poetisch, nie pathetisch, immer aufmerksam für die Zwischentöne. Jeder Satz scheint sorgsam geschliffen, jede Beobachtung von einer zärtlichen Genauigkeit getragen.

Ein bei Tageslicht nicht zu erreichender Aggregatzustand trat ein: Die Seelenruhe. Im Schlaf hast du deine Tochter womöglich sogar gerngehabt.

Ein ganz eigener Reiz war für mich: Die Familie lebte in Mainz – und viele der beschriebenen Orte, Straßen und Lokale kenne ich gut. Das Wiedererkennen, vertrauter Orte war ein besonderer Bonus und hat der Lektüre für mich eine zusätzliche Tiefe verliehen.

Muttermale ist ein leises, zugleich eindringliches Buch über Erinnerung, Verlust und die Unausweichlichkeit von Herkunft. Ein Roman, der sich nicht aufdrängt, der aber nachklingt und bleibt. Ich drücke Dagmar Leupold fest die Daumen für den Bayerischen Buchpreis – verdient hätte sie ihn allemal und jetzt schau ich mir mal ihre anderen Werke an.

Ich danke dem @jung.und.jung Verlag sehr für das Rezensionsexemplar und hätte gern ein Glas auf Frau Leupold zum Gewinn des Bayrischen Buchpreises erhoben, das sollte leider nicht sein, aber für mich ist sie definitiv die Gewinnerin 🙂

Pompeijs letzter Sommer – Gabriel Zuchtriegel erschienen im Propyläen Verlag

Schon mit „Der Zauber des Untergangs“ hat Gabriel Zuchtriegel es geschafft, die Lebendigkeit und die ewige Faszination dieser untergegangenen Stadt einzufangen – so sehr, dass man sich beim Lesen fühlt, als würde man selbst durch die Straßen laufen.

Ich bin seit meiner Kindheit von Pompeji fasziniert – seit ich mit meinem Opa als Sechsjährige ein Buch über die Stadt angeschaut habe. Nach der Lektüre Ich muss da hin. Letztes Jahr hat es endlich geklappt – und „Pompejis letzter Sommer“ hat mich beim Lesen sofort wieder dorthin zurückversetzt.

Zuchtriegel nimmt uns mit in das Jahr 79 n. Chr., in ein Pompeji kurz vor der Katastrophe – lebendig, laut, voller Gegensätze. Eine Stadt, in der unfassbar Reiche in prachtvollen Villen lebten, deren Luxus auf der Arbeit von Sklaven basierte, die unter härtesten Bedingungen schuften mussten. Diese Spannung zwischen Glanz und Elend, Freiheit und Abhängigkeit, fängt Zuchtriegel wirklich gut ein. Man spürt das Brodeln unter der Oberfläche, nicht nur geologisch, sondern auch gesellschaftlich.

Das Christentum führte weder zum Untergang des römischen Reiches noch zur Abschaffung der Sklaverei. Viel mehr leben beide in wechselnder Gestalt weiter: Wir leben in einem „Imperium“, nur, das heute anstelle des Kaisers die Logik von Weltbank und WTO regiert. Genozid, Folter und moderne Formen der Sklaverei, prägten das koloniale Zeitalter und existieren, weitgehend aus dem Blickfeld der Industriestaaten verdrängt, nach wie vor in mannigfaltiger Form in der sogenannten dritten Welt. Kleidungsstücke, die wir tragen, Lebensmittel, die wir essen, werden unter sklaven-ähnlichen Bedingungen hergestellt. Von einem christlichen Sklavenaufstand in der Geschichte des Westens zu sprechen, ist Augenwischerei (Kehinde Andrews)

Besonders spannend fand ich, wie er zeigt, dass Pompeji nicht nur physisch am Rand des Untergangs stand, sondern auch geistig in einer Umbruchzeit war. Immer mehr Menschen begannen, an den alten Götterglauben zu zweifeln, und wandten sich einer „seltsamen kleinen Sekte“ zu – den frühen Christen. Zuchtriegel beschreibt diesen Wandel sehr eindrücklich: Wie eine Gesellschaft, die jahrhundertelang auf die Macht der römischen Götter vertraute, langsam ihren Halt verliert und sich nach neuen Antworten sehnt. Das hat für mich etwas sehr Zeitloses – denn auch heute erleben wir ähnliche Brüche im Denken und Glauben, wenn alte Gewissheiten bröckeln und Menschen neue Formen von Sinn suchen.

Was mir an Zuchtriegels Stil gefällt ist seine ansteckende Leidenschaft, er schreibt mit einem Gespür für Atmosphäre und Menschlichkeit. Man hört förmlich das Leben in den Straßen, das Rufen der Händler, das Lachen in den Thermen – und gleichzeitig spürt man das nahende Ende. Dieses Gefühl eines „letzten Sommers“ zieht sich wie ein feiner Schatten durch das Buch.

Natürlich hätte ich mir an manchen Stellen noch ein bisschen mehr wissenschaftlichen Tiefgang gewünscht, aber Zuchtriegel gelingt etwas, das nur wenige schaffen: Er verbindet Fachwissen mit echter Erzählkunst. Pompejis letzter Sommer ist nicht einfach ein Archäologie-Buch, sondern eine Reflexion über das Menschsein – über Macht, Glaube, Vergänglichkeit und die Suche nach Sinn.

Für mich ist es ein Buch, das man nicht nur liest, sondern erlebt. Es hat mich wieder an meinen eigenen Besuch erinnert – an dieses besondere Gefühl, durch eine scheinbar tote Stadt zu gehen, in der doch noch so viel Leben steckt. Ich würde Pompejis letzter Sommer mit 4,5 von 5 Sternen bewerten, mit klarer Tendenz nach oben. Ein faszinierendes, kluges und bewegendes Buch über eine Stadt, die uns mehr über uns selbst erzählt, als man auf den ersten Blick denkt.

Ich danke dem Propyläen Verlag für das Rezensionsexemplar.

Salt Slow – Julia Armfield auf deutsch unter dem Titel „Salzsirenen“ im Kommode Verlag erschienen, übersetzt von Hannah Pöhlmann

Nach „Our Wives Under the Sea“, das schon vor zwei Jahren eines meiner absoluten Lieblingsbücher war, zeigt Julia Armfield mit Salt Slow, wo ihre literarischen Wurzeln liegen: in einer Welt, in der das Körperliche und das Unheimliche untrennbar ineinandergreifen.

Diese Geschichten sind seltsam, schön, beunruhigend – eine wunderbare Mischung aus queerem Body Horror, Mythen und Magic Realism. Armfield schreibt über Frauenkörper, über Verwandlung und Zerfall, über die feinen Risse zwischen Intimität und Bedrohung. Ihre Protagonistinnen häuten sich, wachsen zu etwas Neuem heran oder zerfallen langsam – und all das wirkt gleichzeitig grotesk und zutiefst menschlich.

Was mich an Armfields Schreiben so fasziniert, ist ihr Blick für das Unheimliche im Alltäglichen. Eine Beziehung, ein Körper, ein gewöhnlicher Tag – und plötzlich kippt alles in etwas Dunkles, Schillernd und traumgleich, das man kaum greifen kann. Dabei bleibt ihre Sprache elegant, präzise, fast zärtlich in ihrer Beschreibung des Schreckens. Und immer wieder blitzt ein beißender, sehr britischer Humor auf, der das Morbide sehr reizvoll macht.

The sky is gory with stars, like the insides of a gutted night


Salt Slow erinnert an Autorinnen wie Shirley Jackson oder Mariana Enríquez, und doch ist Armfields Ton unverkennbar eigen: zugleich kühl und emotional, distanziert und tief berührend. Jede Geschichte öffnet eine kleine Welt für sich, seltsam und vollkommen – und ich wollte, sie würden nie enden.

Ein brillantes, düsteres Debüt, das zeigt, wie poetisch, queer und wunderschön Horror sein kann.

Die Wut ist ein heller Stern – Anja Kampmann erschienen im Hanser Verlag

Als ich Anja Kampmann beim Erlanger Poetinnenfest aus „Die Wut ist ein heller Stern“ lesen hörte, war ich sofort hin und weg, Buch gekauft und auch noch eine sehr schöne Signatur bekommen. Und dann lag es da, schön und verheißungsvoll, und ich merkte schnell: leicht wird das nicht. Ich brauchte mehrere Anläufe, habe es immer wieder zur Seite gelegt, bin zurückgekehrt, habe mit ihm gerungen. Ein Buch wie ein Boxkampf – aber einer, den ich unbedingt gewinnen wollte. Und ich bin froh, dass ich drangeblieben bin, denn am Ende hat sich jeder Schlagabtausch gelohnt.

Der Roman erzählt von Hedda, einer Artistin im Varieté „Alkazar“ auf der Reeperbahn Anfang der 1930er Jahre. Sie balanciert nicht nur auf dem Seil, sondern auch im Leben, während um sie herum die Welt kälter wird. Ihr Bruder Jaan zieht als Harpunenschmied in die Antarktis, ihr kleiner Bruder Pauli ist kränklich und verletzlich. Als die Nazis die Macht iübernehmen, verändert sich der Kiez gravierend. Heddas Freunde, die in kommunistischen Sportgruppen aktiv sind, werden verhaftet und ermordet.

Langsam zieht sich das Netz der politischen und gesellschaftlichen Veränderungen zu. Die Schutzräume werden weniger, die Lichter im Varieté flackern, während draußen Uniformen auftauchen. Man merkt Anja Kampmann sofort an, dass sie aus der Lyrik kommt. Ihre Sprache ist dicht, manchmal kühl mehr spürbar als erklärbar.

Es gibt Passagen, die unfassbar schön sind, und andere, in denen ich schlicht nicht wusste, was gemeint war. Dieses ständige „Rita?“ – ich habe mich oft gefragt, warum, bis ich irgendwann aufgehört habe, alles verstehen zu wollen. Als ich mich der Stimme einfach hingegeben habe, mich tragen ließ, statt zu analysieren, wurde es plötzlich leichter.

Die Rita macht weiter, streckt sich so schön. Es ist warm. Samstagnacht, das Alkazar gut besucht. Schsch. Da ist dieses Glimmen im Auge des Kaiman. Eddy und Fred, die sonst so betäubt auf der Bühne liegen, sind hellwach, in ihren Augen ein seltsamer Glanz. Der Keiler ist wach. Da schwingt sie, die Rita, und die sich regen könnte, die spricht, ist irgendwo verborgen.

Kampmann schreibt keinen klassischen Roman, sie malt mit Worten, baut Räume aus Schweigen, Zwischenräumen, Blicken. Ihre Figuren sprechen in Andeutungen, ihre Sätze sind wie Seile, an denen man sich festhalten – oder verheddern – kann. Die Poetik ist kühl, aber nicht distanziert; sie hat eine fast körperliche Präsenz, die unter die Haut geht.

Die Wut ist ein heller Stern ist kein Buch, das man einfach so liest. Man muss sich darauf einlassen, sich in den Ring stellen, bereit sein, auch mal K.O. zu gehen – aber dann steht man wieder auf und liest weiter. Ich kann sehr gut verstehen, dass der Roman auf Platz 1 der SWR-Bestenliste steht. Er ist kompromisslos, sprachlich brillant, tief durchdacht. Aber definitiv keine Massenware. Wer einfach eine Geschichte „weglesen“ will, wird scheitern. Wer sich aber gern auf eine sprachliche Erfahrung einlässt, die fordert und berührt, der wird belohnt.

Ex Libris. Confessions of a Common Reader – Anne Fadiman auf deutsch unter dem Titel „Bekenntnisse einer Bibliomanin“ im Diogenes Verlag erschienen, übersetzt von Melanie Walz

Dieses Buch habe ich von einer lieben Bookclub-Freundin geliehen bekommen – und schon nach ein paar Seiten wusste ich: Anne Fadiman ist eine von uns. In fünfzehn kleinen Essays schreibt sie über das Leben mit (und manchmal auch wegen) Büchern – über zerlesene Ausgaben, über das Glück, Randnotizen zu hinterlassen, und über die Eigenheiten all jener, die sich zwischen Regalen am wohlsten fühlen. Besonders der erste Essay, “Marrying Libraries”, hat mich herrlich amüsiert: wie unterschiedlich zwei bücherverrückte Menschen mit ihren Lesewelten umgehen und wie emotional so ein gemeinsames Bücherregal werden kann! (es kam mir alles sehr bekannt vor ;))

Ich habe mich in vielem wiedergefunden – und war gleichzeitig froh zu merken, dass es offenbar Menschen gibt, die noch ein bisschen buchverrückter sind als ich. Dann wirkt die eigene Manie gleich ganz normal dagegen.

Fadiman, 1953 geboren, Essayistin, Redakteurin und bekennende Bibliomanin, schreibt mit Witz, Wärme und einem feinen Sinn für die kleinen Absurditäten des Lesens. Ex Libris ist charmant, klug und einfach herzerwärmend – und ja, es hat meine Leseliste natürlich verlängert. Mit Blick auf das bald nahende Weihnachtsfest: ein wunderbares Geschenk für alle, die Bücher nicht nur lesen, sondern leben.

So meine Lieben – das war mein Oktober. Wie war eurer? Was habt ihr gelesen und besonders gemocht? Konnte ich euch mit einem meiner Titel Lust auf die Lektüre machen? Freue mich über euer Feedback.

September Lektüre

Der September ist einer meiner Lieblingsmonate – und auch literarisch war er in diesem Jahr ein voller Erfolg. Besonders geprägt war er vom Erlanger Poetinnenfest, wo ich gleich mehreren der Autor*innen meiner diesmonatigen Lektüren begegnet bin: Ulrike Draesner, Fikri Anıl Altıntaş und Dimitrij Kapitelman. Insgesamt habe ich neun Bücher gelesen – ein wahrer literarischer Roadtrip.

Meine Lektürereise führte mich quer durch Zeiten und Kontinente: nach Mexiko, durch die USA an der Seite von John Steinbeck und seinem Königspudel Charley, bis hinaus aufs Meer, wo Penelope vor Ithaka in See sticht – und ich gleich dortgeblieben bin, denn auch Richard Powers’ „Das große Spiel“ spielt zu weiten Teilen im Ozean. Mit Dimitrij Kapitelman und Fikri Anıl Altıntaş habe ich zudem zwei besondere Familiengeschichten gelesen, die auf sehr unterschiedliche, aber gleichermaßen berührende Weise von Herkunft und Identität erzählen.

Ein wirklich guter Monat also – vielfältig, nachdenklich, manchmal melancholisch, oft überraschend. Hier kommt nun meine Septemberlektüre im Detail: Bücher, die ich euch wärmstens ans Herz legen möchte.

Ulrike Drasener – penelopes sch()iff erschienen im Penguin Verlag

Dieser Roman in Versform hat mich sehr begeistert und ich habe ihn hier vor Kurzem bereits besprochen.

Travels with Charley – John Steinbeck auf deutsch unter dem Titel „Die Reise mit Charley: Auf der Suche nach Amerika“ in dtv Verlag erschienen, übersetzt von Burkhart Kroeber

Dieses Buch wurde mir von einer lieben Freundin schon vor einer ganzen Weile empfohlen und endlich komme ich dazu, ihrem guten Tipp zu folgen: Selten hat mich ein Buch so sehr dazu gebracht, sofort den Koffer zu packen und einfach loszufahren. Dieses Buch hat in mir ein Fernweh geweckt, das zugleich Freiheit, Abenteuer und Lust auf stille Begegnungen macht. Ganz ohne großes Pathos, ganz ohne literarische Verrenkungen – einfach durch Steinbecks Blick, seine Sprache, seinen Ton.

Worum geht es? 1960, schon ein berühmter und reifer Autor, macht sich Steinbeck auf, sein eigenes Land noch einmal neu zu erkunden. Er will die Vereinigten Staaten nicht aus der Distanz der Zeitungen und Fernseher sehen, sondern mit eigenen Augen und Ohren erleben. Dazu lässt er sich ein Gefährt bauen, das er liebevoll Rocinante nennt, nach Don Quijotes klapprigem Pferd. Mit an Bord: Charley, ein französischer Pudel, der nicht nur Begleiter, sondern fast so etwas wie Gesprächspartner und Spiegel ist. Gemeinsam ziehen sie los, durch Neuengland, den Mittleren Westen, die Weiten Montanas, die Städte und Sümpfe des Südens.

I have always lived violently, drunk hugely, eaten too much or not at all, slept around the clock or missed two nights of sleeping, worked too hard and too long in glory, or slobbed for a time in utter laziness. I’ve lifted, pulled, chopped, climbed, made love with joy and taken my hangovers as a consequence, not as a punishment

Es ist eine Reise voller kleiner Begegnungen: Tankwarte, Farmer, Verkäuferinnen, Städter. Steinbeck hört zu, fragt nach, beobachtet – und hat ein unglaubliches Talent, die Geschichten dieser Menschen in ein paar Seiten lebendig werden zu lassen. Dabei klingt er nie gönnerhaft, nie belehrend. Er schaut hin, er beschreibt, und man spürt seine große Zuneigung zu den Menschen, so unterschiedlich sie auch sind.
Genauso eindringlich sind seine Naturbeschreibungen. Wenn Steinbeck durch die Wälder von Maine fährt oder die Ebenen der Dakotas durchquert, dann spürt man diese Landschaften beim Lesen. Er schreibt klar, ungekünstelt, aber immer poetisch – so, dass man glaubt, man säße selbst auf dem Beifahrersitz, mit Charley im Rückspiegel.

Natürlich hat die Reise auch dunkle Seiten. Besonders im Süden stößt Steinbeck auf offene Rassentrennung und Proteste gegen die Integration. Seine Notizen dazu sind von einer Schärfe, der man seine Wut dagegen anmerkt. Er will nicht einfach nur reisen, er will verstehen. Er konfrontiert sich mit dem, was weh tut, und genau darin liegt die Ehrlichkeit dieses Buches.

Travels with Charley ist nicht nur eine Reise durch Amerika, sondern auch eine Reise ins Innere – ein Buch über Begegnungen, Landschaften, Politik, Alltag, über die Sehnsucht nach Freiheit und das Bedürfnis nach Nähe. Vor allem aber ist es ein stilles, wunderschönes Plädoyer dafür, sich immer wieder neu aufzumachen, mit offenen Augen und offenen Ohren.
Ein Buch, dass es auf Rezept geben sollte, da es garantiert Blutdruck senkende und stressmindernde Qualitäten hat. Vertraut mir und lest dieses Buch 😊

The Illiac Crest – Cristina Rivera Garza erschienen im Verlag And Other stories, übersetzt von Sarah Booker (eine deutsche Übersetzung gibt es bislang nicht) und Die Schwerelosen – Valeria Luiselli erschienen im Kunstmann Verlag, übersetzt von Dagmar Ploetz

Diese beiden Bücher habe ich für meine Mexiko Stopp auf der literarischen Weltreise gelesen und meinen Eindruck dazu könnt ihr hier nachlesen.

Zwischen uns liegt August – Fikri Anıl Altıntaş erschienen im C. H. Beck Verlag


Noch ein Autor den ich auf dem Poetinnenfest endeckt habe und ein Roman bei dem ich schon nach wenigen Sätzen dachte: hier jemand schreibt, der genau hinhört – in die Zwischenräume von Sätzen, in die stillen Bewegungen zwischen Mutter und Sohn. Dank an C. H. Beck für das Rezensionsexemplar.

Altıntaş erzählt von den letzten Monaten einer an Krebs erkrankten Mutter und ihres Sohnes – und er tut das ohne Pathos, ohne jedes überflüssige Wort. Während die Krankheit das Ende unausweichlich erscheinen lässt, bleibt der Alltag seltsam standhaft: Krankenhausflure, Fahrten zum Supermarkt, das gemeinsame Kochen, kleine Gesten, die plötzlich mehr Gewicht tragen als große Erklärungen. Diese Alltäglichkeit verleiht dem Buch seine besondere Stärke – es ist kein Roman über das Sterben, sondern über das Weiterleben, bis zuletzt.

Parallel entfaltet sich die Vergangenheit der Mutter: ihre Kindheit in der Türkei, das Aufbrechen nach Deutschland, das Leben zwischen Sprachen, zwischen Erwartungen und Eigenwillen. Der Sohn versucht, zu verstehen, was sie geprägt hat, was sie weitergegeben hat – und was unausgesprochen blieb. Altıntaş beschreibt all das mit großer Empathie und einem genauen Blick für die leisen Brüche, die Generationen und Kulturen voneinander trennen und zugleich verbinden.

Es tut weh, darüber nachzudenken, dass sich Routinen verschieben

Mich hat dieses Buch sehr berührt, vielleicht gerade weil es sich nie übermässig in Emotionen verliert. Es bleibt leise, und gerade darin liegt seine Eindringlichkeit. Zwischen den Zeilen spürt man die Zärtlichkeit dieser Beziehung, aber auch die unausgesprochenen Spannungen, die Scham, die Müdigkeit, das zähe Ringen um Nähe. Besonders stark fand ich den Moment, in dem die Mutter – unerwartet und klar – für sich selbst einsteht, für ihre eigenen Wünsche und Bedürfnisse, die sie so lange zurückgestellt hatte. Dieser Augenblick wirkt wie ein kleines Aufleuchten inmitten des Abschieds.

Altıntaş schreibt ohne große Dramatik, aber mit einem tiefen Wissen um das, was zwischen Menschen unausgesprochen bleibt. Eine eindringliche, zärtliche und zugleich schmerzlich ehrliche Geschichte – und für mich eines der bewegendsten Bücher des Jahres.

Liebe in Zeiten des Hasses – Florian Illies erschienen im S. Fischer Verlag

Florian Illies’ Liebe in Zeiten des Hasses ist ein Buch, das man nicht einfach liest, sondern in das man hineingezogen wird wie in eine Chronik des taumelnden 20. Jahrhunderts. Diese kurzen, vignetteartigen Miniaturen über Künstler, Dichterinnen, Denker und Verirrte der Zwischenkriegszeit entfalten eine eigentümliche Mischung aus Eleganz, Schmerz und Ironie. Illies beherrscht die Kunst, das Schicksal einer ganzen Epoche in einem einzigen Augenblick, in einer Geste, in einem Blick zwischen zwei Liebenden oder einem Satz aus einem Brief zu verdichten. So entsteht ein Mosaik aus schillernden, verletzlichen Fragmenten, in dem sich die Jahre 1930 bis 1939 wie ein langsames, unausweichliches Abrutschen anfühlen – von der fiebrigen Kreativität der Avantgarde hinein in den Abgrund der Gewalt.

Beim Lesen überkommt einen immer wieder dieses „uncanny“ Gefühl, dass Geschichte keine lineare Bewegung ist, sondern ein Kreisen – dass sich die Gespenster jener Zeit längst wieder in unserer Gegenwart einnisten. Man liest von den Intellektuellen, die sich noch über politische Extreme mokieren, während sie sich schon in deren Bannkreis befinden, und man denkt unwillkürlich an die Rhetorik unserer Tage, an die neuen Fronten, die wieder gezogen werden. Illies’ Stil – halb distanziert, halb zärtlich – verstärkt diese Beklemmung. Er kommentiert kaum, er beobachtet, lässt uns die Ahnung des Kommenden mitempfinden, als säßen wir mit ihm am Rande eines brennenden Jahrzehnts und wüssten, dass der Rauch schon zu uns herüberzieht.

Manchmal ist mir da aber auch zu viel Hektik bei all der Spannung zwischen Schönheit und Entsetzen. Da ist eine fast voyeuristische Lust, in die Salons und Ateliers jener Zeit zu blicken, wo noch getanzt, geliebt, gestritten wird – wissend, dass all das bald zerstört sein wird. Illies zeichnet diese Welt mit feiner Ironie, aber ohne Spott; man spürt seine Melancholie über das, was unwiederbringlich verloren ging, und seine stille Wut darüber, wie blind viele damals in ihr eigenes Verderben liefen.

Man kann kein Licht entdecken, solange man nur die Dunkelheit analysiert.

So liest sich Liebe in Zeiten des Hasses letztlich wie ein Spiegel – ein historischer, aber auch ein existenzieller. Die Figuren dieser Jahre sind uns näher, als wir glauben: in ihrem Wunsch nach Bedeutung, nach Liebe, nach Schönheit trotz der Dunkelheit. Und während man Seite um Seite in diese Welt eintaucht, stellt sich unweigerlich die Frage, ob wir gerade wieder in einer solchen Zwischenzeit leben – in einem Moment, in dem alles noch möglich scheint, aber längst kippt.

Russische Spezialitäten – Dimitrij Kapitelman erschienen im Hanser Verlag

Ich habe Dimitrij Kapitelmans „Russische Spezialitäten“ zuerst gehört, dann erst gelesen – bei seiner Lesung in Erlangen. Kapitelman hat für mich in seiner Stimme schon den Rhythmus seines Schreibens mitschwingen zu lassen: eine Mischung aus Schärfe, Witz und stiller Melancholie. Ich hatte das Buch für einen Bekannten mitgebracht, der unbedingt eine Widmung seines Lieblingsautors wollte – und in der Aufregung zwischen Publikum, Signiertisch und Smalltalk habe ich dann völlig vergessen, ein schönes Cover-Bild für den Artikel hier zu machen.

Gelesen habe ich Russische Spezialitäten schließlich auf der Rückfahrt vom Poetinnenfest, in einer Reihe von Nahverkehrszügen mit reichlich Verspätung und somit genügend Zeit, mich ganz in diese Geschichte zu versenken. Es war die perfekte Lektüre für eine solche Reise: ein Buch über das Unterwegssein, über Herkunft und Zugehörigkeit, über das, was bleibt, wenn man ständig zwischen Welten pendelt.

Kapitelman erzählt von seiner ukrainisch-jüdischen Familie, von Eltern, die sich in der Fremde neu erfinden müssen, und von einem Sohn, der versucht, ihre Vergangenheit zu verstehen, ohne sich darin zu verlieren. Das klingt nach schwerem Stoff, ist es aber nicht. Sein Ton ist leicht, fast tänzerisch. Humor und Schmerz stehen nebeneinander, oft in einem Satz. Er schreibt mit Zärtlichkeit, aber ohne Sentimentalität, mit Ironie, aber ohne Distanz. Gerade diese Balance macht das Buch so besonders – es ist persönlich, politisch und poetisch zugleich. Da ich vor Kurzem erst seinen Roman „Eine Formalie in Kiew“ gelesen habe, kam mir das ganze Setting und seine Protagonist*innen wunderbar vertraut vor.

Seit der Invasion habe ich das Gefühl, kein richtiger Mensch mehr zu sein. Die unerträgliche und unerträglich sinnlose Tragödie, die Russland in mein Geburtsland gebracht hat. Ich blende sie aus, um in meinem friedlichen, vom dummen Glück okkupierten Leben zu funktionieren.

Ich war ehrlich überrascht, Russische Spezialitäten nicht auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises zu finden. (Genauso wenig wie meine absolute Favoritin Annett Gröschner mit „Schwere Lasten“ – grrrr) Für mich ist der Roman Literatur, die wirkt, weil sie vertraut klingt – wie ein Gespräch, das man auf einer langen Zugstrecke zufällig beginnt und ungern beendet. Vielleicht war das für die Juror*innen nicht experimentell genug.

Kapitelman schreibt mit einer Wärme, die ich sehr schätze: aufmerksam, witzig, verletzlich. „Russische Spezialitäten“ ist ein Buch, das sich leise entfaltet, das nachwirkt und Lust macht auch weitere Bücher des Autors zu lesen.

Sommer in Lesmona – Marga Berck erschienen im Rowohlt Verlag

Ich wollte mich mit „Sommer in Lesmona“ vom Sommer verabschieden und erwartete eine leichte, nostalgische Geschichte mit Lindenblütenduft und Sonnenschein. Doch schon nach den ersten Seiten merkte ich, dass unter dieser heiteren Oberfläche etwas anderes schwingt: eine Ahnung von Vergänglichkeit, die das ganze Buch durchzieht. Marga Berck – hinter diesem Pseudonym steht Magdalene Pauli, geborene Melchers, Bremer Kaufmannstochter und spätere Frau des Kunsthistorikers Gustav Pauli – hat in „Sommer in Lesmona“ weit mehr hinterlassen als eine charmante Folge von Backfischbriefen die sie mit ihrer besten Freundin austauscht. Sie hat Zeugnis abgelegt über Jugend und Freiheit im Schatten einer Zeit, die noch gar nicht weiß, dass sie vergeht.

Der Roman, der auf einem echten Briefwechsel aus den 1890er Jahren basiert, beginnt als scheinbar harmlose Sommergeschichte: Ein junges Mädchen schreibt ihrer Freundin von Reisen, Festen, Spaziergängen und einer verbotenen Liebe. Diese Briefe atmen eine Unschuld, die von einer leisen Melancholie überlagert sind und eine unerwartete dramatische Wendung nehmen. Denn alles, was Marga erlebt, scheint so hell, so lebendig, und doch weiß man als Leserin: Diese Welt wird verschwinden – nicht nur für sie, sondern für ganz Europa.

Die Eltern trafen viele Bekannte, darunter sehr viele elegante Leute aus Frankfurt und London. Angesichts dieser Welt entdeckte Mama, daß ich angezogen wäre wie ein Mistkäfer. Sie selbst sieht ja immer so vornehm aus. Aber nun sah sie ein, daß ich aussah, als käme ich aus Gröpelingen. Abends waren beide Eltern furchbar zärtlich zu mir und sagten, es wäre doch so nett, daß Du und ich so wenig Wert auf teure Kleider gelegt hätten. Du hättest ja nun als Braut schon sehr schöne Sachen aus Hannover bekommen, und ich sollte jetzt in Wiesbaden ganz neu ausgesteuert werden! Wir haben wirklich beide wenig an unsere Kleider gedacht, und für Bremen hat es ja noch immer genügt.

Hinter dem hellen Licht von Lesmona liegt der Schatten einer Biografie, die fast symbolisch für den Verlust einer ganzen Epoche steht. Magdalene Pauli, die Verfasserin dieser Briefe, führt später ein Leben, das kaum gegensätzlicher sein könnte: aus der Geborgenheit des großbürgerlichen Bremen hinaus in eine Welt der Brüche. Sie heiratet einen Kunsthändler, erlebt die kulturelle Blüte Europas – und wird zugleich Zeugin seines Untergangs. Zwei Weltkriege, wirtschaftliche Krisen, gesellschaftliche Umwälzungen. Sie überlebt all ihre Kinder – und wird zum Glück im hohem Alter überredet diese Jugendbriefe herauszugeben.

Ich habe dieses Buch mit einer zunehmenden Wehmut gelesen. Pauli hat mit Sommer in Lesmona ein Denkmal gesetzt für die Zerbrechlichkeit des Glücks. Ein leises, kluges, vollkommen zeitloses Buch – und, wenn man die Tragik der Autorin kennt, auch ein sehr bewegenden Zeitzeugnis Wer sich mit Sommer in Lesmona vom Sommer verabschiedet, verabschiedet sich zugleich von einer Welt, die es so nie wieder geben wird.

Das große Spiel – Richard Powers erschienen im Penguin Verlag, übersetzt von Eva Bonné

Kennt ihr das? Autorinnen, Bands, Künstlerinnen, die eigentlich komplett eurem Beuteschema entsprechen, alles klingt, als müsse es definitiv passen – aber es wird irgendwie nix. Musikalisch denke ich da gerade an Nine Inch Nails, literarisch ist das bei mir Richard Powers. Schon durch „The Overstory“ habe ich mich sehr gequält, obwohl ich mich auf das Buch gefreut hatte. Mit „Das große Spiel“ ging es mir definitiv besse, denn gequält habe ich mich absolut nicht, ich habe es durchaus flott gelesen, konnte aber trotzdem keine wirkliche Verbindung zu der Geschichte aufbauen.

Inhaltlich erzählt Powers die Geschichte von mehreren Menschen, deren Leben auf komplexe Weise miteinander verwoben sind. Evie, Meeresbiologin, erforscht die Tiefen des Ozeans; Todd, Programmierer, arbeitet an einem Spiel, das Realität und Simulation verschwimmen lässt; Rafi, Künstler, sucht nach neuen Ausdrucksformen in einer zunehmend digitalen Welt. Ihre Wege kreuzen sich auf überraschende und teilweise geheimnisvolle Weise, wobei die Insel Makatea als eine Art Brennpunkt für Neubeginn, Begegnung und persönliche Reflexion dient. Powers verwebt darin Themen wie Wissenschaft, Kunst, menschliche Beziehungen und die Suche nach Sinn in einer komplexen, globalisierten Welt.

Jeder Tanz ist ein Spiel, und jedes Spiel erklärt sich am besten selbst. Denn was tun alle Geschöpfe anderes, als auf dem Erdkreis zu spielen, im Angesicht eines spielenden Gottes?

Evie fand ich als Protagonistin durchaus faszinierend, aber ihre Geschichte verendet irgendwann im Belanglosen, und das Ende des Buches wirkte auf mich merkwürdig. Die erzählerische Struktur, das Verweben der unterschiedlichen Perspektiven und die fast kaleidoskopische Breite des Romans haben mich zeitweise an die letzte Folge von Lost erinnert 😉

Das Bild vom Leben als Spiel fasst die Grundidee des Romans treffend zusammen: eine poetische Reflexion über die Verflochtenheit von Menschen, Handlungen und der Welt, ohne dass Powers dabei versucht ist einfache Antworten zu geben.

Für mich bleibt „Das große Spiel“ ein solides Buch – gut zu lesen, klug und auch ambitioniert, aber insgesamt funkt es einfach nicht zwischen mir und Powers.

Jetzt bin ich gespannt – was waren eure Highlights im September und konnte ich euch vielleicht auf das eine oder andere Buch neugierig machen?

penelopes schi()ff – Ulrike Draesner

Was für ein Erlebnis! Ein Roman in Versform, in dem Penelope, endlich mehr sein darf als die ewig Webende und Wartende, eine die tatsächlich handelt – klug, entschlossen, regierend und schließlich aufbrechend. Ulrike Draesner hat dafür Altgriechisch gelernt, um die Quellen im Original zu lesen, und zeigt, wie sehr spätere Übersetzungen das Frauenbild des 19. Jahrhunderts mittransportierten. Die vermeintlich „treue“ Penelope, die tags webt und nachts ribbelt, ist nur eine Verengung – in der ursprünglichen Überlieferung aber regiert sie Ithaka, fördert Landwirtschaft, hält klug Verwaltung und Menschen im Gleichgewicht. Draesner lässt dieses verschüttete Bild wieder aufscheinen: Penelope als weise Herrscherin, als gestaltende Kraft.

Penelope – lange gesehen als Inbegriff der treuen Gattin – wird hier in all ihrer Vielschichtigkeit lebendig: klug, freiheitsliebend, leidenschaftlich. Als deutlich wird, dass Odysseus, traumatisiert und brutalisiert, als Herrscher nicht mehr tragbar ist, übernimmt sie das Ruder. Mit List – und in Begleitung von Sirenen, ehemaligen Sklavinnen, Großmüttern und Homer als Schildkröte – entkommen sie den Verfolgern.

Versklavte, freie, junge, alte – die Unterschiede verlieren sich nach und nach, denn auf dem Schiff zählt nur noch, was jede beitragen kann. Keine Titel, keine alten Rollen, sondern Zusammenarbeit. Natürlich ist die Reise kein Honigschlecken: Stürme, Verluste, Zweifel gehören dazu. Manche bleiben unterwegs zurück, andere halten durch. Und am Ende? Gemeinsam gründen sie eine neue Stadt – Venedig, das bis heute keinen richtigen Gründungsmythos hatte. Was für ein Einfall!

nur wer keine geradeausherkunft hat wird eine neue heimat erzähle

Das gemeinsame Treffen mit Ulrike Draesner beim Poet*innenfest in Erlangen, erst beim Mittagessen mit Bloggerinnen und später bei ihrer Lesung, war für mich ein Höhepunkt – denn penelopes sch()iff muss man hören. Die Verse entfalten ihre ganze Kraft im Klang, man schließt die Augen, spürt den Wind und wi Ich fragte mich sofort: Welche Rolle hätte ich auf diesem Schiff übernommen? So begegnet man einem der größten Mythen der abendländischen Kulturgeschichte angemessen: indem man ihn neu verpackt, transportabel macht und uns als notwendige Utopie überlässt.

Das Schiff ist mehr als ein Fortbewegungsmittel, es ist Medium und Metapher, eine Gemeinschaft in der Schwebe, eine Form demokratischer Neugründung.

Alles in allem: Dieses Buch hat mich nicht nur beeindruckt, es hat mich bewegt. Poetisch, wild, witzig, manchmal auch sperrig – ein Roman den man sich ein bißchen erarbeiten muss, der aber soviel zurückgibt. Ein Versroman, der einen mitnimmt aufs Meer und zeigt, dass man alte Mythen wirklich neu erzählen kann.

Und ehrlich gesagt wünsche ich mir jetzt nur noch ein Hörbuch – gelesen von Ulrike Draesner selbst, damit ich mir penelopes sch()iff jederzeit wieder in See stechen kann.

Ich danke dem Penguin Verlag für das Rezensionsexemplar.

August Lektüre

Mein August war wieder ein ziemlich bunter Lesemonat – mit teils großer Begeisterung, einer wunderbaren (Wieder-)Entdeckung, aber auch ein, zwei Bücher, die mich nicht wirklich gepackt haben. Lasst uns ohne lange Vorrede direkt starten – es gibt viel zu besprechen 🙂

James – Percival Everett erschienen im Hanser Verlag, übersetzt von Nikolaus Stingl

Percival Everett gelingt mit James ein außergewöhnlicher Roman, der gleichzeitig Klassiker und Neuschöpfung ist. Ausgangspunkt ist Mark Twains Huckleberry Finn, doch Everett gibt der Figur James – bei Twain meist nur „Jim“ genannt – die eigene Stimme zurück. Diese Stimme ist klar, reflektiert, voller Intelligenz und Würde. Damit dreht sich die Perspektive radikal: Wir sehen nicht mehr den Abenteuerroman aus der Sicht des Jungen, sondern erleben die Geschichte durch die Augen eines Mannes, der im System der Sklaverei ums Überleben kämpft und Sprache als Schutz, Waffe und Identität nutzt.

Der Roman ist sprachlich brillant, oft von dunklem Humor getragen, zugleich erschütternd in seiner Darstellung von Gewalt, Abhängigkeit und Überlebensstrategien. Everett zeigt, wie unterdrückte Menschen oft absichtlich gebrochen oder „falsch“ sprachen, um Erwartungen weißer Gesellschaft zu erfüllen und sich so einen Spielraum zu verschaffen. Diese doppelte Ebene der Sprache ist das Herzstück des Buches.

James überzeugt sowohl literarisch als auch emotional. Der Roman ist hochintelligent komponiert, ohne ins Theoretische zu verfallen. Er erzählt eine mitreißende Geschichte, die man nicht aus der Hand legen möchte, und schafft eine Figur, mit der man noch lange innerlich im Gespräch bleibt. Kein Wunder also, dass unser Bookclub nahezu einhellig Höchstnoten vergeben hat.

Halbe Leben – Susanne Gregor erschienen im Zsolnay Verlag

Schon die erste Szene, ein tötlicher Sturz, setzt den Grundton dieses Romans. Kein großer Knall, kein Drama, eher ein dumpfes Nachhallen, das einen durch das ganze Buch begleitet.

Paulina, die gelernte Krankenschwester lebt tatsächlich zwei halbe Leben: einmal in der Slowakei als alleinerziehende Mutter von zwei Söhnen, dann in Österreich als helfende Hand in einer fremden Familie. Sie bewegt sich wie ein Chamäleon zwischen diesen Welten, passt sich an, übernimmt, trägt, macht möglich – und verliert dabei immer mehr von sich selbst. Ich habe beim Lesen oft gedacht: Wie viel von uns allen steckt in dieser Haltung, „immer funktionieren zu müssen“, auch wenn es einen innerlich zerreißt?

Besonders bedrückend fand ich die Szenen in der Gastfamilie. Klara, die Architektin, so zielstrebig, so selbstsicher, hat Paulina an ihrer Seite fast wie ein zweites Fundament ihres Erfolges. Ihr Mann dagegen wirkt wie ein schwebender Luftballon, frei von den Lasten des Alltags. Und Paulina fängt das alles auf. Man spürt förmlich, wie sie immer tiefer in ein Leben hineingleitet, das nicht ihres ist, bis die Grenze zwischen Dienen und Ausgenutztwerden verschwimmt. Das Beklemmende daran: Es ist kein offener Missbrauch, kein Skandal – sondern eine Reihe kleiner, leiser Verschiebungen, die sich summieren.

Ihre Mutter war zu einem defekten Rädchen im Uhrwerk ihrer Tage geworden, das alle anderen durcheinanderbrachte, und Klara der Zeiger, der sich nonstop im Kreis drehte

Was mich an Gregors Schreibweise beeindruckt hat ist diese leise Eindringlichkeit. Die Sprache ist schlicht, fast zurückhaltend, und gerade dadurch entsteht eine enorme Spannung. Vieles bleibt ungesagt, aber man fühlt es umso stärker zwischen den Zeilen. Es gibt keine plakativen Appelle, keine moralischen Zeigefinger – und doch schleicht sich die Kritik an unserer perfekt organisierten, aber zutiefst ungleichen Welt unübersehbar ein.

Ein Roman in dem das sozialkritische nicht plakativ im Vordergrund steht, sondern als stilles Kammerspiel, beklemmend klar die Rolle einer Frau zeigt, die immer gebraucht wird – und nie ankommt.

Das Narrenschiff – Christoph Hein erschienen im Suhrkamp Verlag

Christoph Heins „Das Narrenschiff“ hat mich von Anfang an gepackt und gleichzeitig auf Abstand gehalten. Ein seltsamer Zwiespalt, denn auf der einen Seite war ich komplett absorbiert, habe Seite um Seite verschlungen, unfassbar viel über die DDR gelernt und mich an vieles wieder erinnert – an Gespräche, an Stimmungen, an diesen ganz eigenen gesellschaftlichen Tonfall. Und trotzdem: Die Figuren, so klar sie gezeichnet sind, blieben mir fern. Das liegt sicherlich auch an Heins Schreibstil – nüchtern, analytisch, oft beinahe kühl. Emotional andocken war schwer, was aber wohl auch Teil seines literarischen Konzepts ist. Hein will nicht rühren, er will verstehen machen – und das gelingt ihm auf fast schon unheimlich präzise Weise.

Der Roman öffnet mit der Rückkehr prominenter Antifaschisten im April/Mai 1945 aus Moskau – der berüchtigten „Gruppe Ulbricht“ – und begleitet sie, darunter Karsten Emser, Johannes Goretzka und Benaja Kuckuck, auf ihrem Aufstieg in den DDR-Apparat.

… was ist aus unseren Hoffnungen und Träumen geworden? Wir wollten ein anderes Land, einen anderen Staat aufbauen, friedlicher, solidarischer und vor allem gerechter.

Der Fokus liegt klar auf dem Machtpersonal, auf Politikern und Funktionären, die die Gründungsjahre des Staates markieren und später dessen Strukturen mittragen – stets mit einem Blick für ihre eigene Ideologie und ihr oft tragisches Scheitern.

Was ich dabei allerdings ein wenig vermisst habe – und das ist ein Punkt, der mir beim Lesen immer wieder durch den Kopf ging – war ein breiteres Panorama der DDR-Gesellschaft. Die Figuren, die Hein porträtiert, stammen allesamt aus einem eher elitären, privilegierten Milieu. Intellektuelle, Funktionäre, Parteikader. Mir fehlte das kulturelle Leben, das so viel zur Identität der DDR beigetragen hat – Literatur, Theater, Musik – und auch das Leben der „normalen“ Leute, der Arbeiter*innen, derjenigen, die mit dem System auf andere Weise rangen oder es schlichtweg ignorierten. Ich hätte gerne mehr über diese Facetten gelesen, über das, was jenseits des Apparats existierte. Heins Fokus liegt klar auf den Strukturen der Macht, auf den Mechanismen der inneren Systemlogik.

Der Roman war eine gute Ergänzung für mich zu Erpenbecks „Kairos“ das ich schlußendlich etwas gelungener fand.

Ich habe einen Anschlag auf sie vor. Der Briefwechsel – Christpoph Hein & Elmar Faber erschienen im Faber & Faber Verlag

Der Briefwechsel „Ich habe einen Anschlag auf Sie vor“ zwischen Christoph Hein und Elmar Faber ist weit mehr als ein literarisches Dokument – er ist eine Begegnung zweier starker Persönlichkeiten, die sich über mehr als dreißig Jahre hinweg mit Witz, Ernst und unverstellter Offenheit austauschen. Die Korrespondenz, die 1983 beginnt und bis kurz vor Fabers Tod 2017 reicht, schlägt dabei einen Ton an, der gleichermaßen respektvoll wie pointiert ist. Man spürt in jedem Schreiben die Freude am geistigen Schlagabtausch, das Bedürfnis, die eigenen Beobachtungen zu teilen, und den Mut, auch unbequeme Wahrheiten nicht zu verschweigen.

Thematisch öffnet sich ein Panorama, das weit über Privates hinausgeht: der literarische Alltag in der DDR, der ständige Balanceakt zwischen Kunst und Zensur, die Brüche und Herausforderungen nach der Wiedervereinigung, dazu persönliche Fragen nach dem Älterwerden, nach Krankheit, nach dem Platz der eigenen Arbeit im größeren Zusammenhang. Hein erscheint darin als genauer, oft spöttischer Beobachter, während Faber die Rolle des streitbaren, humorvollen Verlegers verkörpert. Beide aber eint der Wille, Kultur nicht nur zu gestalten, sondern sie als lebendiges, widerständiges Element einer Gesellschaft zu begreifen.

So liest sich dieser Briefwechsel nicht nur als Zeugnis einer Freundschaft, sondern auch als literarisches Zeitdokument, das Einblicke in Denk- und Arbeitsweisen zweier wichtiger Stimmen der deutschen Nachkriegsliteratur bietet. Dass ausgerechnet dieser Band 2019 der erste Titel des wiederbelebten Leipziger Verlages Faber & Faber wurde, hat Symbolkraft: Elmar Faber, der den Verlag 1990 gemeinsam mit seinem Sohn Michael gegründet hatte, wird hier nicht nur als Verleger, sondern auch als Mensch sichtbar. Das Buch ist damit Hommage, Geschichtsbuch und kurzweilige Lektüre in einem – eine Einladung, sich in den Dialog zweier kluger Köpfe hineinziehen zu lassen.

War eine gute Begleitlektüre für „Das Narrenschiff“ kann diesen Briefwechsel sehr empfehlen.

Alltagsmenschen – Carry Brachvogel erschienen im Allitera Verlag

Carry Brachvogels „Alltagsmenschen“ habe ich auf dem Blog bereits kürzlich in meiner Reihe „Stimmen, die bleiben“ vorgestellt. Hier geht es zum Beitrag.
Brachvogel (1864–1942) war eine deutsch-jüdische Schriftstellerin, die in ihren Werken besonders das Leben und die Herausforderungen von Frauen eindrucksvoll schilderte.

Freie Menschen kann man nicht zähmen – Yayou Ekhou erschienen im Alibri Verlag

Yayou Ekhou’s „Freie Menschen kann man nicht zähmen“ habe ich bereits im Rahmen meiner Reihe „Read around the world“ für Mauretanien vorgestellt. Hier geht’s zum Beitrag.
Ekhou ist ein mauretanische Autor und Aktivist, der in seinen Texten eindrücklich von Freiheit, Identität und gesellschaftlichem Wandel erzählt.

Ein Bericht für eine Akademie – Franz Kafka sowie Mikromegas – Voltaire beide erschienen in der Edition Hibana

Über die beiden von Florian L. Arnold illustrierten Bücher habe ich in meiner Reihe „Illustrierte Klassiker“ geschrieben, den link dazu findet ihr hier.

Stone Yard Devotional – Charlotte Wood auf deutsch unter dem Titel „Tage mit dir“ im Kein & Aber Verlag erschienen, übersetzt von Michaela Grabinger

Charlotte Woods Stone Yard Devotional ist ein leises, zugleich aber unglaublich eindringliches Buch. Im Mittelpunkt steht eine Frau, die sich nach einer Ehe in Sydney in ein Kloster zurückzieht – nicht, weil sie eine religiöse Berufung verspürt, sondern weil sie Ruhe, Rückzug und einen neuen Rhythmus sucht.

Mich hat der Anfang komplett hineingezogen. Diese leicht bedrohliche, schwer greifbare Atmosphäre war so packend, dass ich das Buch kaum aus der Hand legen konnte. Als die Protagonistin dann aber nicht mehr nur Besucherin, sondern Teil der religiösen Gemeinschaft wurde, war der Zugang für mich schwieriger.

Die Handlung verlagert sich zunehmend auf das Leben innerhalb der Gemeinschaft, die während der Covid-Beschränkungen auf die Rückkehr der Überreste einer ermordeten Mitschwester wartet. Parallel dazu bricht eine unfassbar drastische Mäuseplage über das Kloster herein – ein Ereignis, das tatsächlich in New South Wales stattgefunden hat. Wood beschreibt Szenen von Ausmaß und Grausamkeit (inklusive kannibalistischen Verhaltens der Tiere), die mühelos jedem Stephen-King-Roman das Wasser reichen. Das war wirklich krass und hat mich nachhaltig verstört.

Zwischen der Rückkehr einer Ordensschwester, die mit der Ermordeten im Ausland gearbeitet hat, den Knochen, die schließlich eintreffen, und dieser biblisch anmutenden Mäuseplage türmen sich Belastungen auf, die die Gemeinschaft fast zu zerreißen scheinen.

Stone Yard Devotional ist ein leises Buch – keines, das man einfach wegliest. Eher eines, das nachhallt, das mich zwingt, über Schuld, Verlust und Gemeinschaft nachzudenken. Und gleichzeitig ist es ein Buch, mit dem ich auf eine bestimmte Weise noch immer hadere. Vielleicht genau deshalb denke ich so oft daran zurück.

Stone Yard Devotional landete 2024 auf der Booker Shortlist – kein Buch für zwischendurch, aber durchaus lohnend, wenn man sich darauf einläßt.

Sister Europe – Nell Zink erschienen im Rowohlt Verlag, übersetzt von Tobias Schnettler

Ich habe Sister Europe als Hörbuch gehört – und leider bin ich damit nicht warm geworden. Immer wieder fanden sich kluge Sätze und tolle Bilder, aber die eigentliche Geschichte hat mich überwiegend eher genervt. Besonders schwierig fand ich die Struktur des Romans: Die Handlung spielt innerhalb weniger Stunden – einen einzelnen Abend und die darauffolgende Nacht – und führt eine Vielzahl von Figuren ein. Beim Hören habe ich die Protagonist*innen immer wieder durcheinandergebracht, was den Zugang zusätzlich erschwert hat.

Der Roman spielt in Berlin im Februar 2023 und beginnt mit einer Literaturpreisverleihung in einem Hotel, bei der ein arabischer Autor geehrt wird. Rund um diese Veranstaltung begegnen wir einer bunten, zum Teil exzentrischen Gruppe: Der Kunstkritiker Demian, seine transgender Tochter Nicole, ein amerikanischer Verleger namens Toto mit seiner schwer fassbaren Begleitung Avianca, eine privilegierte Livia, ein arabischer Prinz und ein verdeckter Polizist namens Klaus, der ihnen folgt. Gemeinsam streifen sie durch die Berliner Nacht – vom Interconti über eine U-Bahn-Party bis hin zu Burger King – und führen Dialoge, die gleichermaßen bissig, witzig und kritisch sind. Themen wie Identität, Privileg, Einsamkeit, politische Debatten und gesellschaftliche Leere spielen eine zentrale Rolle.

Nell Zink ist eine US-amerikanische Autorin die seit vielen Jahren in Deutschland lebt und schreibt. Ihre Romane sind bekannt für ihre witzige, scharfzüngige Prosa, ihren gesellschaftlichen Tiefgang und ihr Gespür für das Abgründige im Alltäglichen.

Leider kann ich für dieses Buch keine Empfehlung aussprechen – trotz der glitzernden, scharfsinnigen Dialoge, die Nell Zink wie gewohnt liefern kann. Der Stil ist zweifellos clever, ironisch und geistreich, aber für mich fehlte die erzählerische Struktur, die Figuren blieben zu flach, um nachhaltig zu fesseln.

Das war mein Lesemonat August – wie war eurer? Was waren eure Highlights? Habt ihr schon das eine oder andere hier vorgestellte Buch gelesen? Besonders würde mich eure Meinung zu Stone Yard Devotional und den Büchern von Nell Zink interessieren, falls ihr die gelesen habt.

Ich wünsche euch einen guten Lese-September 🙂

Stimmen die bleiben: Carry Brachvogel

Wer heute durch Schwabing geht, ahnt kaum, dass sich hier um 1900 Salons voller Debatten, Gedichte und Streitgespräche fanden. Einer der berühmtesten Treffpunkte lag in der Ludwigstraße, gleich beim Siegestor. Dort empfing Carry Brachvogel – Schriftstellerin, Netzwerkerin, Kämpferin für die Rechte von Frauen – die geistige Elite ihrer Zeit.

Carry Brachvogel, geboren 1864, war Schriftstellerin, Salonnière und Mitglied im „Verein für Fraueninteressen“, den Ika Freudenberg gegründet hatte – eine Organisation der bürgerlichen Frauenbewegung, die sich bewusst von radikaleren Positionen etwa von Anita Augspurg distanzierte, aber dennoch wichtige gesellschaftliche Veränderungen anstieß. 1911 hielt Brachvogel dort ihren Vortrag „Hebbel und die moderne Frau“, in dem sie das Frauenbild der deutschen Klassik dem neuen Typus der selbstbestimmten Frau gegenüberstellte; 1912 erschien der Text im Druck. Ein Jahr später wurde sie in den Vorstand gewählt, setzte sich für bessere Arbeitsbedingungen von Bühnenschauspielerinnen ein und gründete im Verein eine Kommission für Bühnenangelegenheiten.

Ihr Schwabinger Salon in den 1920er Jahren war ein Zentrum des kulturellen Lebens der Stadt. Ernst von Wolzogen kam, Max Haushofer Jr., Oskar Mysing, Hugo Steinitzer, Rainer Maria Rilke, Lou Andreas-Salomé – Namen, die heute wie aus einem Literaturlexikon klingen, damals aber einfach ihre Gäste waren. Brachvogel kultivierte gezielt ein Image, das ihr Respekt als Schriftstellerin sichern sollte: kühl, unnahbar, scharfzüngig. Sie wusste, wie schnell Frauen in der Literatur in die Schublade „nett, aber nicht ernst zu nehmen“ gesteckt wurden.

Auch als Netzwerkerin unter Autorinnen war sie prägend. 1913 gründete sie mit Emma Haushofer-Merk den Münchner Schriftstellerinnen-Verein, um gegen „gewissenlose Verleger“ und für angemessene Bezahlung von Frauen zu kämpfen. Innerhalb eines Jahres zählte der Verein schon 70 Mitglieder, darunter Ricarda Huch, Annette Kolb, Frieda Port. Ab 1925 stand Brachvogel dem Verein allein vor, richtete in den wirtschaftlich schwierigen 1920er Jahren einen Hilfsfonds für bedürftige Mitglieder ein und lehnte immer wieder Anfragen ab, für andere Verbände kostenlos Texte zu liefern – Solidarität hieß für sie, dass Frauenarbeit nicht entwertet wird.

Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 änderte sich alles. Ihre jüdische Herkunft rückte ins Zentrum, und in vorauseilendem Gehorsam setzte der Schriftstellerinnen-Verein sie ohne ihr Wissen vor die Tür. Wenige Monate später beschloss die Hauptversammlung die Auflösung. Sie erhielt Berufsverbot, musste ihren Salon schließen. Ihr Bruder Siegmund Hellmann verlor ebenfalls seine Arbeit. Die beiden zogen sich in die Wohnung in der Herzogstraße 55 zurück. Trotz Verbots veröffentlichte Brachvogel noch einzelne Essays, erwog zeitweise ein Exil, doch blieb. Am 21. Juli 1942 holte die Gestapo sie und ihren Bruder ab, am nächsten Tag wurden sie nach Theresienstadt deportiert. Carry Brachvogel starb dort am 20. November 1942 im Alter von 78 Jahren, Siegmund am 7. Dezember.

Ihr Schicksal ist tragisch und eine Mahnung. Das viel beschworene „Nie wieder“ bedeutet nichts, wenn es nicht im Heute gelebt wird. Hätte man sich Anfang der 1920er Jahre entschlossen gegen den aufkeimenden Faschismus gestellt, vielleicht hätte er gebremst werden können. Genau wie heute wo (zu viele) Konservative lieber mit den Faschisten paktieren – aus Angst vor den „bösen woken linksgrün Versifften“ unserer Zeit. Der Gedanke ist erschreckend vertraut: Lieber mit denen paktieren, die menschenfeindlich sind, als das eigene Weltbild in Frage zu stellen. Hauptsache, man kann „noch alles sagen“.

Umso wichtiger sind heute die Zeichen der Erinnerung. Seit 1992 erinnert der „Carry-Brachvogel-Salon“ in der Seidlvilla an die einst so berühmte Münchnerin, 2012 wurde in Bogenhausen eine Straße nach ihr benannt. Und im Juli 2024 wurde an der Herzogstraße 55 eine Gedenktafel angebracht – ein fester Ort im Stadtbild, an dem ihr Name nicht nur in Archiven weiterlebt.

Vieles von Carry Brachvogels Werk ist heute nur antiquarisch greifbar – umso wichtiger die in den letzten Jahren von der Edition Monacensia in Zusammenarbeit mit dem Allitera Verlag verantworteten Neuausgaben. Aktuell lieferbar sind vier zentrale Titel: ihr Debütroman Alltagsmenschen (1895), der satirische München-um-1900-Roman Der Kampf um den Mann (1910), der den Ersten Weltkrieg entzaubernden Roman Schwertzauber (1917) und ihre Reportage Im Weiß-Blauen Land (1923). Diese Ausgaben, jeweils editorisch betreut (u. a. mit Nachworten von Ingvild Richardsen), holen Brachvogels Stimme zurück ins heutige Lesen – und machen sichtbar, wie modern ihre gesellschaftliche Beobachtung war. Andere ihrer einst vielgelesene Bücher wie die historischen Porträts Die Marquise de Pompadour (1905) oder Katharina II. von Russland (1906) sind derzeit fast nur als Print-on-Demand- oder Antiquariatstitel zu haben, ihre essayistische Schriften wie Eva in der Politik (1919/1920) sind dagegen noch schwerer aufzutreiben, wenn dann nur antiquarisch. Wer also heute mit Brachvogel beginnen will, findet im Allitera-Programm den besten Einstieg – und zugleich den verlässlichsten Weg, ihr Werk wieder im öffentlichen Bewusstsein zu verankern

Endlich habe ich nun auch meinen ersten Roman von Carry Brachvogel gelesen: Alltagsmenschen, erschienen 1895. Elisabeth, verheiratet mit einem gut situierten Mann in München, lebt ein Leben voller Leere und Langeweile. Auch die Geburt eines Kindes ändert nichts an ihrem Drang nach Aufbruch, sie beginnt eine Affäre mit einem Legationsrat. Mit psychologischem Feingespür, großer Scharfsichtigkeit und poetischem Können porträtiert Brachvogel nicht nur eine junge Frau, sondern zeichnet ein exaktes Sittenbild des Münchens um 1900. Was mich besonders beeindruckt hat, sind die präzisen Einblicke in den Alltag eines wohlsituierten Paares jener Zeit – der Tagesrhythmus, die Konversationen, die unterschwelligen Machtspiele. Man spürt den scharfen Blick und die sprachliche Eleganz einer Frau, die mitten in den Debatten ihrer Epoche stand.

Dabei war Elisabeth gescheidt, hatte sich von jeher gemüht, ihre etwas oberflächliche Institutsbildung aus eigenen Kräften zu erweitern und zu vertiefen, und gerade deshalb erschien ihr dies alles, das den Freundinnen den Lebenszweck bildette, doppelt nichtig und leer, ungefähr nur wie wertlose Zwischentaktsmusik, die sie über das Verzögern der eigentlichen Handlung wegtrösten sollte. Zuweilen befiel sie ein Grauen, wenn sie überlegte, wie viele Tage jetzt schon so dahingeglitten waren, an denen sie nichts geleistet hatte, nichts für sich, nichts für andere. „Lilienaufdemfelddasein“ bedrückte sie schwer – sie wäre gerne ein Mann gewesen, der nutzbringend lebend und arbeiten, all seine Kräfte freudig und befriedigend bethätigen konnte.

Carry Brachvogel ist eine Stimme, die bleibt – trotz aller Versuche, sie zum Schweigen zu bringen. Heute liegt es an uns, sie wieder hörbar zu machen. Lest (mehr) Carry Brachvogel!

Eine weitere – sehr sehr schöne Besprechung findet ihr hier bei Anna vom Blog Buchpost, die schon 2014 auf Carry Brachvogel aufmerksam gemacht hat!

Juli Lektüre

Ein herausragender Lesemonat liegt hinter mir – einer, der mich auf meiner literarischen Weltreise in die Ukraine geführt hat. Für diesen Stopp habe ich die folgenden Bücher gelesen:

Vielleicht Esther – Katja Petrowskaja erschienen im Suhrkamp Verlag
Sie kam aus Mariupol – Natascha Wodin erschienen im Rowohlt Verlag
Eine Formalie in Kiew – Dmitrij Kapitelman erschienen im Hanser Verlag
Baba Dunas letzte Liebe – Alina Bronsky erschienen im Kiepenheuer & Witsch Verlag

die ausführliche Besprechung dazu könnt ihr hier finden. Die Bücher werde ich hier in der Monatsübersicht daher nicht noch einmal vorstellen.

Neu auf dem Blog ist außerdem meine Serie „Stimmen, die bleiben“, in der ich an Autor*innen erinnere, deren Worte nachhallen. Den Auftakt machte Anna Seghers – mit ihrem eigenen Erzählband und einer beeindruckenden biografischen Studie über ihre Zeit in Mexiko. Auch hierzu verlinke ich euch die Besprechung und widme mich jetzt den Büchern aus diesem Monat, die ich bislang noch nicht auf dem Blog besprochen habe:

Drei große Entdeckungen hatte ich in diesem Monat für mich: Silvia Bovenschen mit einer zutiefst persönlichen Hommage an ihre Partnerin, Penelope Lively mit einem perfekt komponierten Sommerroman, und die Debütantin Christina Fonthes, deren Coming-of-Age-Geschichte zwischen England und Kongo spielt.

Und schließlich: Einfach Literatur von Klaus Willbrandt – ein Buch, das ich sehr wehmütig gelesen habe. Ein literarischer Nachlass, der bleibt.

Alle Bücher lagen zwischen 4 und 5 Sternen – das kommt nicht oft vor. Aber Juli hat geliefert.

Wohin du auch gehst – Christina Fonthes erschienen im Diogenes Verlag, übersetzt von Michaela Grabinger

In ihrem vielschichtigen Debütroman erzählt Christina Fonthes die miteinander verflochtenen Geschichten zweier Frauen, Mira und Bijoux, die beide aus Kinshasa stammen und auf je eigene Weise mit Herkunft, Identität und gesellschaftlichen Erwartungen ringen. Mira verlässt in den 1980er Jahren den Kongo und zieht über Belgien und Paris nach London. Ihre Beziehung zu einem armen Musiker bringt sie in Konflikt mit der bürgerlich-aufstiegsorientierten Familie. Bijoux hingegen wird als Kind nach London geschickt, wo sie bei ihrer streng gläubigen Tante aufwächst – ihre queere Identität wird von dieser als „unchristlich“ und „unafrikanisch“ gebrandmarkt.

Fonthes erzählt über einen Zeitraum von rund dreißig Jahren hinweg, springt elegant zwischen Zeiten und Orten – Kinshasa, Brüssel, London, Paris – und verbindet große politische Fragen (Migration, Diaspora, Religion, Geschlechterrollen, Kolonialgeschichte) mit sehr persönlichen Erfahrungen von Liebe, Scham, Entwurzelung und Widerstand.

Besonders eindrücklich ist, wie stark kulturelle Prägung in Sprache, Ritualen und Erinnerung weiterwirkt: Wenn die Figuren Fufu kochen, Lingala sprechen oder gemeinsam Lieder singen, ist Kinshasa immer präsent – egal, ob sie gerade in Kilburn, London oder in einem Pariser Friseursalon stehen.

Als ich die Augen wieder öffnete, schwebten goldene und silberne Flöckchen durchs Zelt. Ich sah Chancey an. Ich hatte keinen einzigen Schluck getrunken, trotzdem war mir schwindelig. Ich strich mit beiden Händen über ihren Körper, hierhin und dahin. Dort in dem Zelt und bei Rory und Darren und anderen Leuten zu sein, die so waren wie wir, erschien mir ganz selbstverständlich. In diesem Moment, während wir tanzten und lachten und Spaß miteinander hatten, waren wir wie alle anderen – zwei schwer verliebte Mädchen, zwei schwer verliebte Menschen.

Fonthes’ Stil ist poetisch und atmosphärisch, zugleich klar und erzählerisch dicht. Sie schafft es, komplexe Themen wie Homophobie, intergenerationale Konflikte, Trauma und Migration behutsam und doch ungeschönt darzustellen. Dabei verzichtet sie auf Klischees, zeigt stattdessen die Vielstimmigkeit, Würde und Widersprüchlichkeit kongolesischer Lebensrealitäten – sowohl im Kongo selbst als auch im Exil.

Christina Fonthes ist eine britisch-kongolesische Autorin, Spoken-Word-Künstlerin und Aktivistin, die sich für queere, afrikanische und diasporische Perspektiven stark macht. „Wohin du auch gehst“ ist ein kraftvoller, bewegender Auftakt ihres literarischen Schaffens – voller Emotion, politischer Klarheit und erzählerischer Eleganz. Eine Autorin von der ich sehr gerne noch weitere Bücher lesen möchte.

Ich danke dem Diogenes Verlag für das Rezensionsexemplar.

Sarahs Gesetz – Silvia Bovenschen erschienen im S. Fischer Verlag

In Sarahs Gesetz schreibt Silvia Bovenschen über das gelebte Leben mit ihrer langjährigen Lebensgefährtin Sarah Schumann – Künstlerin, Malerin, Zeichnerin und eine der zentralen Figuren der feministischen Kunstszene der 1970er Jahre. Entstanden ist ein ungewöhnlich stilles, zugleich kraftvolles Buch über die Liebe zwischen zwei eigenwilligen, starken Frauen – über Zuneigung, Widerspruch, Fürsorge, Krankheit, das Älterwerden und die Grenzen des Sagbaren im engen Miteinander.

Bovenschen porträtiert Sarah Schumann als widersprüchliche und kompromisslose Persönlichkeit: stolz, scharfzüngig, klug und oft schwer zugänglich. Doch statt zu verklären oder zu erklären, nähert sie sich ihr essayistisch und literarisch tastend, in Miniaturen, Reflexionen und Erinnerungsbildern, die mal zärtlich, mal bitter, aber nie gefällig sind.

Sarahs Gesetz ist kein klassisches Liebes- oder Erinnerungsbuch. Es ist ein Dialog mit einer Präsenz, die sich nicht einfach festhalten lässt – eine Annäherung an das Andere im geliebten Menschen. Ein kluges, bewegendes Werk über das Zusammenleben, das Altwerden in Würde und die Formbarkeit von Nähe, ohne deren Ambivalenzen auszublenden.

Ich vertraue Sarah mehr als mir selbst.

Krankheit adelt nicht.
Eine schwere Kindheit auch nicht.

Silvia Bovenschen (1946–2017) war Literaturwissenschaftlerin, Essayistin und eine der prägenden feministischen Intellektuellen Deutschlands. Bereits 1979 erschien ihr einflussreiches Buch Die imaginierte Weiblichkeit. Sie lehrte viele Jahre an der Universität Frankfurt, bevor sie sich – selbst seit ihrer Jugend an MS erkrankt – zunehmend dem literarischen Schreiben zuwandte. Mit Älter werden. Notizen (2006) erreichte sie ein großes Publikum. Sarahs Gesetz, erschienen 2015, ist eines ihrer persönlichsten Bücher – klug, liebevoll und radikal wahrhaftig.

Habe große Lust noch weitere Bücher von Silvia Bovenschen zu entdecken – eine sehr interessante Autorin.

Heat Wave – Penelope Lively auf deutsch unter dem Titel „Hinter dem Weizenfeld“ bei dtv erschienen, übersetzt von Isabella Nadolny

Könnt ihr euch noch erinnern, wie wir vor ein paar Tagen vor lauter Hitze kaum noch einen klaren Gedanken fassen konnten? Ich jedenfalls schon – schmorend in unserer gefühlt 60 Grad heißen Dachgeschosswohnung, mit dem Ventilator als einzigem Verbündeten. Vielleicht ist genau jetzt, wo draußen der Sommer als Herbst cosplayed, die beste Zeit, sich noch einmal in die drückende Hitze zurückzuversetzen.

Gelesen habe ich in diesen Tagen Penelope Livelys Roman „Heat Wave“ – ein Glücksgriff. Ohne große Erwartungen aufgeschlagen, wurde ich komplett hineingezogen in diese stille und dennoch spannungsgeladene Geschichte. Eine Lektüre, die mich so gefesselt hat, dass ich danach sofort mehr von Lively lesen wollte.

Heat Wave“, erschienen 1996, spielt während eines glühend heißen Sommers auf dem englischen Land – genauer: in einem umgebauten Bauernhof in den Midlands, genannt World’s End. Einen Sommer den ich im Übrigen in London mit erlebt habe und mich sehr genau daran erinnern kann. Dort verbringt Pauline, Anfang fünfzig und freiberufliche Lektorin (sie korrigiert in einem ihrer Aufträge Kommas in einem Einhorn-Roman), den Sommer mit ihrer Tochter Teresa, deren Ehemann Maurice und dem kleinen Enkelsohn Luke.

Die Figuren leben Wand an Wand in nebeneinander liegenden Cottages – eine räumliche Nähe, die emotional immer bedrückender wird. Denn Pauline erkennt früh, dass Maurice nicht ganz treu ist. Ihre eigenen Erfahrungen mit einem untreuen Ehemann holen sie ein, und sie steht vor der Frage: Redet sie mit Teresa – und wenn ja, wie viel sagt sie? Oder schweigt sie und wartet, bis die Tochter selbst erkennt, was los ist?

Was auf den ersten Blick wie ein ruhiges Beziehungsdrama wirkt, ist in Wahrheit hoch aufgeladen. Lively lässt die Spannung langsam, aber unaufhaltsam wachsen – mit jeder Hitzewelle, mit jeder verdorrten Wiese, mit jedem überhitzt flirrenden Nachmittag. Natur und Emotionen spiegeln sich ständig: Die Landschaft wird zum Seismograf innerer Erschütterungen.

Die Atmosphäre ist fast kammerspielartig dicht. Es gibt keinen actiongeladenen Plot, aber umso mehr psychologische Raffinesse. Pauline ist eine wunderbar gezeichnete Figur – klug, witzig, verletzlich. Rückblenden in ihre frühere Ehe, kleine Begegnungen mit ihrem sympathisch-schrulligen Buchhändlerfreund Hugh oder dem Romanautor Chris geben ihr Tiefe und eine Welt jenseits der Ferienhausgrenze. Und dann ist da noch diese fast van Gogh’sche Landschaft: gelbgoldene Felder unter einem strahlend blauen Himmel, flirrend vor Hitze – ein grandioses Setting für ein emotionales Flächenbrand-Drama.

It occurs to her that she is probably the first person to live here for whom the weather is an aesthetic diversion.

Was mir besonders gefallen hat, war die Art und Weise, wie Lively mit Erwartungshaltungen spielt. Anfangs glaubt man, das sei eine jener subtilen Erzählungen, in denen „nichts passiert“. Aber wer aufmerksam liest, merkt bald: Das Ende ist längst angelegt, in Andeutungen, kleinen Gesten, Blicken. Es kommt nicht plötzlich, aber wow war ich überrascht.

Penelope Lively wurde 1933 in Kairo geboren und ist noch very much alive and kicking 🙂 Sie ist eine der renommiertesten britischen Schriftstellerinnen der Gegenwart und wurde unter anderem 1987 für Moon Tiger mit dem Booker Prize ausgezeichnet. 2017 erschien ihr letztes Buch eine Biografie mit dem Titel Life in the Garden – möchte ich – neben Moon Tiger – unbedingt lesen.

Kultur – eine neue Geschichte der Welt – Martin Puchner erschienen bei Klett-Cotta

Für dieses Buch durfte ich bei Bild der Wissenschaft eine Kurz-Rezension verfassen, diese könnt ihr hier lesen.

Einfach Literatur – Klaus Willbrand & Daria Razumovych erschienen im S. Fischer Verlag

Ich folgte dem Buchantiquariat Willbrand auf Instagram fast von Anfang an. Seine ruhige Art, mit der er über Literatur sprach, hat mich sofort berührt und dann diese Geschichte: ein kleines Antiquariat in Köln, das kurz vor dem Aus stand. Und eine junge Kundin, Daria, die ihn dazu brachte, sein Wissen nicht aufzugeben, sondern es mit der Welt zu teilen.

Aus dieser Freundschaft entstand nicht nur eine digitale Erfolgsgeschichte, sondern auch ein ganz besonderes Buch: „Einfach Literatur“

In diesem Werk verbindet sich autobiografisches Erzählen mit literarischer Leidenschaft. Willbrandt schreibt über seine Kindheit mit Asthma und wie ihn das zum Bücherwurm werden ließ, seine Jahrzehnte im Buchhandel, seine Begeisterung für Schriftsteller wie Kafka, Böll, Ingeborg Bachmann oder Rolf Brinkmann. Sein Ton bleibt klar und schnörkellos, manchmal melancholisch, aber nie sentimental. Man merkt jedem Kapitel an, dass hier jemand schreibt, der Literatur nicht nur gelesen, sondern gelebt hat. Besonders beeindruckt hat mich seine dreijährige Lese-Auszeit. Krass, habe wohl tatsächlich einen Menschen gefunden, dem Bücher NOCH wichtiger sind als mir.

Was jedoch alle großen literarischen Werke vereint, ist ihre Fähigkeit, die Zeit zu überdauern. Sie schafft es, ein Momentum einzufangen, das in ihrer Epoche tief verwurzelt ist, und doch ruft dieses Momentum auch Assoziationen und Empfindungen hervor. So entstehen Klassiker – Werke, die motivisch zeitlos, aber zugleich so unverwechselbar mit der Ära verbunden sind, in der sie entstanden. Große Literatur bewahrt etwas von ihrer Zeit, bleibt dabei aber unvergänglich.

Wie schön, dass Daria Razumovych seine Stimme so einfühlsam begleitet und mit in dieses Buch mit übersetzt hat. Was mir besonders gefällt sind natürlich die Listen, bei denen ich noch das eine oder andere Werk oder Autor*in entdecken konnte und die authentische Mischung aus Erinnerung, Fachwissen und einem direkten Zugang, der weder belehrt noch überfordert. Es ist ein Buch, das einen – wie ein gutes Gespräch im Buchladen – in die richtige Richtung stupst.

Ich war sehr traurig, als ich Anfang des Jahres vom Tod Klaus Willbrandts erfuhr. Wie gerne wäre ich bei meinem nächsten Köln-Besuch in seinem Antiquariat vorbeigegangen und hätte mich mit ein paar Büchern eingedeckt und auf den einen oder anderen fachmännischen Geheimtipp gehofft. Umso schöner, dass es dieses Buch gibt. Es ist ein Vermächtnis, eine literarische Schatztruhe und eine Hommage an einen Mann, der mit seinen Empfehlungen mehr als nur Bücher teilte: Er teilte Haltung, Haltung zur Welt, zur Sprache, zum Menschsein.

Wie war euer Lesemonat? Was waren eure Highlights? Konnte ich euch auf eines der vorgestellten Bücher neugierig machen? Freue mich über eure Rückmeldungen 🙂

Juni Lektüre

Still Life war für mich eines dieser Bücher, bei denen man schon beim Lesen weiß: das wird bleiben. Großartig geschrieben, voller Wärme und leiser Schönheit.

Und Beklaute Frauen von Leonie Schöller, das mich gleichermaßen wütend, bewegt und tief beeindruckt zurückgelassen hat – so wichtig, so stark.

Enttäuschung des Monats war leider Zadie Smiths The Fraud – trotz großer Vorfreude konnte es mich (und auch meinen Bookclub) nicht abholen.

Ansonsten: ein spannender Mix – mal politisch, mal literarisch, mal laut, mal leise.
Den Stopp in Sri Lanka mit Brotherless Night stelle ich in den nächsten Tagen im Rahmen meines Read Around the World noch ausführlicher vor.

Beklaute Frauen – Leonie Schöler erschienen im Penguin Verlag

Leonie Schölers Beklaute Frauen ist ein dringendes, wütendes und klug recherchiertes Buch, das zeigt, wie systematisch Frauen in der Geschichte der Arbeiter*innenbewegung unsichtbar gemacht, ausgebremst und vergessen wurden. Ob Rosa Luxemburg, Clara Zetkin oder weniger bekannte Aktivistinnen – Schöler spürt Biografien nach, die aus den großen Erzählungen gestrichen wurden, obwohl sie maßgeblich geprägt haben.

Der Ton ist kämpferisch, auch mal wütend aber nie beliebig. Die Autorin gibt sich nicht mit bloßer Empörung zufrieden, sondern liefert historische Fakten, verwebt persönliche Reflexionen mit politischen Analysen und zeigt: Die Geschichte der Linken ist ohne Frauen nicht nur unvollständig – sie ist falsch erzählt.

Beklaute Frauen sich bewußt zu machen: Wer fehlt in den Geschichten, die wir erzählen? Ein schmerzhaft wichtiges Buch, das nachhallt – und dem ich von Herzen viele Leser*innen wünsche.

Erste Hilfe für Demokratie-Retter – Jürgen Wiebicke erschienen im Kiepenheuer & Witsch Verlag

Jürgen Wiebickes „Erste Hilfe für Demokratie-Retter“ ist ein engagiertes, handliches Plädoyer gegen politischen Fatalismus – und eine Anleitung für all jene, die sich fragen, was sie dem wachsenden Autoritarismus, der Polarisierung und der Demokratie-Müdigkeit entgegensetzen können.

In 100 kurzen Ideen, Impulsen und Appellen ruft Wiebicke dazu auf, Haltung zu zeigen, ins Gespräch zu gehen, Widerspruch zu leisten – und die eigene Wirksamkeit nicht kleinzureden. Der Ton ist zugänglich, oft persönlich, manchmal bewusst provokant. Dabei bleibt das Buch stets nah am Alltag und bietet eine niedrigschwellige Ermutigung zum politischen Handeln im Kleinen.

Allerdings wirkt die Form – 100 Tipps auf knappem Raum – mitunter etwas formelhaft und lässt Tiefe vermissen. Manche Gedanken bleiben an der Oberfläche, und komplexe gesellschaftliche Probleme werden mitunter etwas zu leicht abgehandelt.

Trotzdem: Ein guter Einstieg für alle, die nach Orientierung in politisch schwierigen Zeiten suchen.

Was soll aus dem Jungen bloß werden? – Heinrich Böll erschienen im dtv Verlag

Der Untertitel „Irgendwas mit Büchern“ war es, der mich sofort neugierig gemacht hat – und tatsächlich gewährt Heinrich Böll in diesem schmalen autobiografischen Text einen leisen, oft lakonischen Blick zurück auf seine Jugend im Köln der 1930er Jahre.

Mit trockenem Humor und melancholischer Distanz beschreibt Böll, wie er in einem zunehmend autoritären Deutschland zum Bücherliebhaber – und später zum Schriftsteller – wurde. Zwischen katholischer Prägung, schulischer Disziplin und ersten literarischen Träumereien bleibt der Ton zurückhaltend, manchmal fast spröde.

Der Text ist keine klassische Autobiografie, sondern eher eine Skizze, ein Erinnerungsfragment. Wer sich für Bölls Werk oder für die Atmosphäre der Vorkriegszeit interessiert, wird hier fündig. Große Erzählbögen oder emotionale Tiefe darf man nicht erwarten – dafür punktet das Buch mit stiller Selbstironie und einem feinen Gespür für Sprache und gesellschaftliche Zwischentöne.

Kein Must-read, aber ein kleiner Einblick in die frühen Jahre eines etwas in Vergessenheit geratenen Autors, – besonders für alle, die selbst immer „irgendwas mit Büchern“ machen (wollten).

Arturos Insel – Elsa Morante erschienen im Verlag Klaus Wagenbach, übersetzt von Susanne Hurni-Maehler

Die Rezension zu diesem ganz besonderen Roman könnt ihr hier beim Italien Stopp der literarischen Weltreise nachlesen.

Still Life – Sarah Winman auf deutsch unter dem Titel „Das Fenster zur Welt“ bei Klett Cotta erschienen, übersetzt von Elina Baumbach

Ich habe Still Life auf der Zugfahrt von Neapel nach München gelesen – und während der Zug durch die Toskana rollte und Florenz am Fenster vorbeizog, fühlte es sich an, als würde sich die Landschaft direkt mit dem Buch verbinden. Nicht nur, weil ein Großteil der Handlung in Florenz spielt, sondern auch weil der Ton des Romans so viel von dem trägt, was man mit dieser Gegend verbindet: Wärme, Geschichte, Schönheit – aber auch Brüche und Neuanfänge.

Die Geschichte beginnt 1944 in einem kleinen italienischen Dorf, als der junge britische Soldat Ulysses Temper auf Evelyn Skinner trifft, eine ältere, kluge Kunsthistorikerin, die Italien liebt und gerade auf der Suche nach verschollenen Kunstwerken ist. Ihre Begegnung ist kurz, aber bedeutungsvoll – und zieht sich wie ein unsichtbarer Faden durch die Jahrzehnte, die folgen.

The responsibility of privilege must always be to raise others up.

Im Mittelpunkt steht Ulysses, der zurück in London versucht, in ein normales Leben zurückzufinden – und schließlich, gemeinsam mit einer bunt zusammengewürfelten Gruppe von Freund*innen, in Florenz ein neues Zuhause findet. Das Buch erzählt nicht in klassischer Dramaturgie, sondern in kleinen Episoden, Momentaufnahmen, in denen sich das Leben ganz leise entfaltet. Es gibt Verluste, Veränderungen, Umwege – aber alles in einem Ton, der nie resigniert, sondern immer den Blick nach vorn richtet.

Winmans Sprache ist zugänglich, dabei poetisch und oft sehr treffend. Sie beschreibt ihre Figuren mit viel Empathie, ohne sie zu idealisieren. Besonders schön ist, wie beiläufig und selbstverständlich queere Identitäten im Roman vorkommen. Es wird nichts erklärt, nichts betont – sie sind einfach Teil dieser Gemeinschaft, die sich jenseits traditioneller Familienstrukturen gefunden hat.

Still Life ist ein Roman über Freundschaft, über Lebensentscheidungen, über die Bedeutung von Kunst, Geschichte – und über das, was bleibt, wenn alles andere sich verändert. Er stellt keine großen Fragen laut in den Raum, aber beantwortet viele kleine, fast beiläufig: Wie leben wir mit anderen? Wo fühlen wir uns zugehörig? Und was macht ein gutes Leben aus?

Evelyn Skinner ist eine Figur, die ich nicht mehr vergessen werde. Sie erinnert mich sehr an Dulcie in „The Offing“

The Fraud – Zadie Smith auf deutsch unter dem Titel „Betrug“ im Kiepenheuer & Witsch Verlag erschienen, übersetzt von Tanja Handels

Zadie Smith gehört seit White Teeth zu meinen literarischen Favoritinnen – umso größer war die Vorfreude auf The Fraud. Leider blieb sie unerfüllt.

Der Roman spielt im viktorianischen London und verwebt reale historische Ereignisse mit fiktiven Figuren, allen voran die Schriftstellerin Eliza Touchet. Es geht um Wahrheit und Täuschung, um Klasse, Rassismus, Literatur und Kolonialismus – Themen, die zweifellos relevant sind. Doch Smith versucht, all das auf einmal zu erzählen, und genau darin liegt das Problem.

Man spürt die immense Recherche, das kluge Fundament – aber statt zu fokussieren, wollte Smith offenbar alles unterbringen. The Fraud wirkt dadurch überfrachtet, wie ein Gericht mit lauter guten Zutaten, das am Ende trotzdem nicht schmeckt. Die Figuren blieben für mich seltsam blass, der Erzählfluss stockte immer wieder, und auch im Bookclub wurde das Buch eher durchgekämpft als genossen.

Ambitioniert, aber unbefriedigend. Wer Smiths erzählerisches Können wirklich erleben will, greift besser zu „White Teeth“

Liebes Arschlosch – Virginie Despentes erschienen im Kiepenheuer & Witsch Verlag, übersetzt von Ina Kronenberger und Tatjana Michaelis

Liebes Arschloch ist ein literarischer Schlagabtausch, der sich liest wie ein wütender Briefwechsel unserer Gegenwart.

In E-Mails zwischen einem abgehalfterten Schauspieler und einer feministischen Autorin verhandelt Despentes Themen wie Cancel Culture, Macht, Sexismus, #MeToo und digitale Empörungskultur. Was dabei herauskommt, ist alles andere als schwarz-weiß: Beide Figuren sind kantig, verletzlich, widersprüchlich – und gerade deshalb glaubwürdig.

Despentes bleibt ihrem Stil treu: direkt, roh, laut, aber manchmal auch überraschend zärtlich. Ihr gelingt das Kunststück, Widerspruch auszuhalten und Ambivalenz nicht nur zu zeigen, sondern auszuhalten. Ein kluges, streitbares Buch voller Reibung – unbequem, provokant, pointiert aber absolut notwendig. Kein Roman zum Wohlfühlen, sondern zum Mitdenken und Aushalten.

Das war der Juni – krass schon wieder ein halbes Jahr um. Was war euer Juni Highlight und habt ihr von den vorgestellten Büchern schon was gelesen? Falls ja, wie ist eure Meinung oder konnte ich euch auf eines der Bücher Lust machen? Freue mich von euch zu hören.

April Lektüre

Ein richtig guter Lesemonat liegt hinter mir – mit einem Mix aus großartigen Highlights, solider Mittelklasse und ein paar kleinen Enttäuschungen. Besonders begeistert haben mich tiefgründige Klassiker, intensive literarische Stimmen und ein besonderer Ausflug nach Nigeria im Rahmen meiner Read around the World-Challenge. Thomas Mann war mit mehreren Facetten vertreten – von Briefen bis Urlaub, und auch sonst war literarisch einiges dabei.

Geht so – Beatriz Serrano erschienen im Eichborn Verlag, übersetzt von Christiane Quandt

Beatriz Serranos „Geht so“ ist ein Roman für alle, die sich schon mal gefragt haben, ob sie selbst das Problem sind – oder ob die Welt einfach kollektiv den Verstand verloren hat. Mit viel Witz, einem herrlich trockenen Ton und einer gut dosierten Portion Selbstironie begleitet man eine Protagonistin, die irgendwo zwischen Selbsthilfe-Ratgebern, emotionaler Erschöpfung und dieser merkwürdigen Mischung aus Überforderung und Unterforderung festhängt.

Ich habe das Buch sehr gerne gelesen – vor allem, weil es genau das Lebensgefühl trifft, das viele (nicht nur Millennials!) gerade umtreibt: Die diffuse Suche nach Sinn, das müde Lächeln beim Gedanken an „Berufung“, und der stille Wunsch, einfach mal für fünf Minuten in Ruhe gelassen zu werden. Serrano schafft es, diese Stimmung nicht nur sprachlich leicht und unterhaltsam einzufangen, sondern dabei auch durchaus kluge Fragen zu stellen: Was passiert, wenn Selbstoptimierung und Arbeit zur Ersatzreligion wird? Wo liegt die Grenze zwischen Selbstfürsorge und Eskapismus?

Was ich besonders mochte, war, wie sehr man der Autorin anmerkt, dass sie ihre Figur liebevoll, aber nie unkritisch begleitet. Die Ich-Erzählerin schwankt, taumelt, reflektiert – aber sie bleibt dabei immer menschlich, nahbar und manchmal schmerzhaft ehrlich.

Ein kleiner Wermutstropfen war für mich die fehlende Tiefe im Blick auf die Arbeitswelt, wie wir sie heute erleben: Da wäre durchaus noch mehr Potenzial gewesen, die ganz konkrete Absurdität moderner Erwerbsarbeit stärker herauszuarbeiten – etwa die Logik hinter unsinnigen KPIs, die allumfassende „Shitification“ durch immer rasanter um sich greifenden Effizienzwahnsinn oder auch die emotionale Erpressung durch Sätze wie „Wir sind hier alle ein Team“. All das klingt zwar unterschwellig an, bleibt aber eher atmosphärischer Hintergrund als tatsächlich greifbares Thema. Die Perspektive bleibt individuell, psychologisch, eher im Innen als im Außen – was vollkommen legitim ist, aber vielleicht nicht das letzte Wort zum großen Thema der „inneren Kündigung“ bleibt.

Mir ist durchaus bewusst, dass es sich auch hier um ein weiteres subtiles Werkzeug aus der Trickkiste des Patriarchats handelt: Divide et impera, sorge dafür, dass sich die Frauen untereinander über ihre jeweiligen Lebensentscheidungen und deren Konsequenzen in die Haare kriegen. Sorge dafür, dass alle denken, die frischgebackene Mutter hätte Schuld daran, dass du länger im Büro bleiben musst. Statt deine berechtigte Wut gegen das Unternehmen zu richten und gegeen seine unanständig schlechte Politik in Sachen Vereinbarkeit von Familie und Beruf…

Trotzdem: Geht so ist ein kluges, sehr unterhaltsames Buch über das Lebensgefühl einer Zeit, in der alles möglich scheint – und genau das oft lähmt. Es bietet keine Lösungen, aber viele Aha-Momente. Und manchmal reicht das auch.

Kerstin Holzer – Thomas Mann macht Ferien erschienen im Kiepenheuer & Witsch Verlag

Kerstin Holzer gelingt mit Thomas Mann macht Ferien ein leises, kluges und überraschend humorvolles Porträt des Literaturnobelpreisträgers – und zeigt ihn in einem Moment, der sein Denken und Schreiben für immer verändern sollte. Ein Buch, das Nähe schafft, wo sonst Ehrfurcht herrscht.
Es gibt Literaturerlebnisse, die weit über das bloße Lesen hinausgehen – Kerstin Holzers Roman Thomas Mann macht Ferien ist für mich genau so ein Fall. Nicht nur, weil mich das Buch als literarisches Porträt überzeugt hat, sondern auch, weil ich das große Glück hatte, die Autorin persönlich bei einer Lesung im Literaturhaus München zu erleben. Der Abend war unvergesslich: Inmitten alter Schulfreundinnen und Freunde von Kerstin Holzer, bei einem Glas Wein, entstand eine besondere Atmosphäre – offen, lebendig, herzlich. Es war, als wäre man Teil einer erweiterten Schreibwerkstatt, in der nicht nur über Literatur, sondern auch über die Menschen hinter den Texten gesprochen wird.

Thomas Mann macht Ferien erzählt von einem entscheidenden Sommer im Leben des Schriftstellers – dem Jahr 1918, als Thomas Mann mit seiner Familie die Sommerfrische am Tegernsee verbringt. Es ist eine Zeit politischer und persönlicher Krisen: Der Erste Weltkrieg steht kurz vor dem Ende, die Veröffentlichung seiner Betrachtungen eines Unpolitischen – ein Bekenntnis zur Monarchie und eine klare Absage an die Demokratie – lässt sich nicht mehr aufhalten. Mann weiß, dass er sich mit seiner Haltung auf die Seite der Verlierer gestellt hat. Nicht nur im öffentlichen Diskurs, auch innerhalb seiner eigenen Familie wird es zunehmend ungemütlich: Der Bruch mit seinem Bruder Heinrich ist tief, seine liberale Schwiegermutter kann mit dem „Schwieger-Tommy“ kaum mehr etwas anfangen. Und als wäre all das nicht genug, trübt auch noch ein abgebrochener und schmerzender Schneidezahn die Sommeridylle.

Dennoch markiert dieser Sommer am Tegernsee eine entscheidende Wende im Denken Thomas Manns – eine Zeit der inneren Bewegung, in der er, langsam aber unaufhaltsam, beginnt, seine politische Haltung zu hinterfragen und sich seiner Fehleinschätzungen bewusst zu werden.

Vier Jahre später wird er sich schließlich öffentlich zur liberalen Demokratie bekennen. Doch trotz aller inneren und äußeren Spannungen: Dieser Thomas Mann ist nicht der distanzierte, weltabgewandte Literaturfürst, wie er in vielen – meist männlich dominierten – Sekundärtexten beschrieben wird. Holzer zeigt ihn als nahbaren, oft sogar humorvollen Familienvater, der zum ersten Mal in seinem Leben einen Berg besteigt, der seine Kinder zum Lachen bringt und der inmitten aller politischen Verwerfungen an seiner Novelle Herr und Hund arbeitet – einer liebevollen, fast heiteren Hommage an seinen Hund Bauschan. Die Szene, in der Mann eifersüchtig auf seinen Hund reagiert, weil dieser einen anderen Mann anschaut, ist herrlich skurril – ich habe Tränen gelacht.

Besonders reizvoll war für mich die Lektüre des Romans in Kombination mit Thomas Manns Briefen. Diese setzen bereits 1894 ein – ganz im Gegensatz zu den Tagebüchern, die erst nach dem Sommer am Tegernsee einsetzen (frühere Aufzeichnungen wurden durch einen Brand vernichtet). Die Briefe erlauben einen tiefen Einblick in Manns Unsicherheiten und seine persönliche Entwicklung. Die Parallellektüre ermöglichte es mir, die Ferien am Tegernsee nicht nur durch Holzers Perspektive, sondern auch durch Manns eigene Worte zu erleben. Ein literarisches Doppelspiel, das ich jeder und jedem nur empfehlen kann.

Wer sich bisher noch nicht an Thomas Mann herangewagt hat – vielleicht aus Respekt, vielleicht aus Furcht vor Sprachgewalt und Seitenfülle – dem sei gesagt: Man muss nicht mit Der Zauberberg oder Joseph und seine Brüder beginnen. Herr und Hund oder auch der Felix Krull bieten großartige, zugängliche Einstiege in das Werk des Nobelpreisträgers – mit viel Witz, Beobachtungsgabe und feiner Ironie.

Und Kerstin Holzers Roman? Ist die perfekte Ergänzung. Eine Einladung, Thomas Mann neu kennenzulernen – nicht nur als Denker und Dichter, sondern als Ehemann, Vater, Sommerfrischler.

Passend zur Lektüre führte mich der Zufall – oder das Schicksal der Literaturverliebten – kurz nach der Lesung selbst an den Tegernsee. Die Wanderung hinauf zum Hirschberg, vorbei an den Orten, die Thomas Mann einst selbst durchstreifte, war der ideale Abschluss dieser literarischen Reise. Mein Tipp: Nehmt das Buch mit an den See, wandert hinauf zur Hütte, übernachtet dort – und erlebt den Sonnenaufgang am Gipfel. Wer weiß, vielleicht begegnet euch dort sogar der Schatten eines großen Schriftstellers. Oder ein besonders treuer Hund.

Ich freue mich nun sehr auf Kerstin Holzers weitere Werke über Monika und Elisabeth Mann und danke dem Kiepenheuer & Witsch Verlag für das Rezensionsexemplar.

Das Seil – Anna Herzig erschienen im Septime Verlag

Auf der diesjährigen Leipziger Buchmesse hatte ich das Vergnügen, Jürgen Schütz vom Septime Verlag mal wieder zu treffen – einem österreichischen Verlag, der einen ganz besonderen Platz in meinem Herzen hat. Im Gespräch machte er mich auf „Das Seil“ aufmerksam, diese dunkle kleine Novelle von Anna Herzig, und überreichte sie mir dankenswerterweise als Rezensionsexemplar. Ich ahnte da schon: Das wird keine leichte, aber vermutlich eine lohnende Lektüre.

Das Seil erzählt die Geschichte von Franziska Großhirsch, einer erfolglosen Schriftstellerin, die mit einem Text, den sie gar nicht selbst verfasst hat, einen renommierten Literaturpreis gewinnt. Doch das Preisgeld ruft diverse Neider auf den Plan – allen voran Tante Hilde, bei der sie gemeinsam mit ihrem Cousin Martin eine alles andere als geborgene Kindheit verbracht hat –, sondern auch ihren Ex-Freund und ihre Literaturagentin. Franziska bleibt nichts anderes übrig, als sich bis zur Preisverleihung in ihrer Wohnung zu verschanzen. Das Handy liegt ausgeschaltet im Tiefkühlfach, Fenster und Türen sind abgeklebt. Aber gegen die Geister ihrer Vergangenheit hilft keine Isolation – sie drängen sich in die Gegenwart und stellen die alles entscheidende Frage: Von wem stammt eigentlich „Das Seil“?

„Zum Glück kann Franziska bei Dingen, die notwendig sind, ein ungewöhnlich starkes Durchhaltevermögen an den Tag legen. Beispielsweise beim Überleben… Franziska findet kein Wattestäbchen, das lang genug ist, um ihr die Erinnerungen, die tief verdrängt in ihrem Kopf wuchern, herauszuziehen.“

Anna Herzig schafft eine surreale, beklemmende Atmosphäre, in der Erinnerungen sich wie Nebelschwaden durch die Zimmer winden. Ihre Sprache ist knapp, poetisch, präzise – ein Sog, dem man sich kaum entziehen kann.

Herzig, geboren 1987 in Wien als Tochter eines Ägypters und einer Kanadiererin, versteht es meisterhaft, ihre Figuren zwischen Realismus und Groteske oszillieren zu lassen. Franziska ist eine widerborstige, fragile Heldin, die sich gegen alles sträubt – vor allem gegen sich selbst.

Das Seil ist eine Novelle, die sich langsam entfaltet, dabei aber nie den festen Griff um die Leserin verliert. Surreal, traurig, sarkastisch, klug – und ja, auch wunderschön verstörend.

Literatur wie ich sie mag, ich hoffe noch auf viele weitere Werke von Anna Herzig und muss mich jetzt mal auf die Suche nach ihrem Debüt „Sommernachtsreigen“ machen.

Die Mansarde – Marlen Haushofer erschienen im S. Fischer Verlag

Dieses Buch hat mich nicht überrollt – es hat mich leise eingenommen, Schicht für Schicht, wie es auch die Erzählerin mit sich selbst tut. Haushofer schafft es, mit einer unscheinbaren, fast unmerklich eindringlichen Sprache, mich dorthin zu führen, wo Literatur für mich am lebendigsten ist: in die stillen Räume des Alltags, in die Zwischenräume von Erinnerung und Gegenwart, in jene Schattenbereiche, in denen sich Identität nicht festschreiben lässt, sondern nur tastend erschlossen werden kann.

Die Erzählerin, eine namenlose Frau mittleren Alters, zieht sich in die Mansarde ihres Hauses zurück, um Vögel zu zeichnen (wie ich!) und über alte Tagebücher nachzudenken, die ihr anonym zugeschickt wurden – vielleicht von sich selbst. Es ist ein Akt der Selbsterforschung, der mich zutiefst bewegt hat. Wie eine Archäologin ihrer eigenen Existenz gräbt sie sich durch die Sedimente ihrer Vergangenheit: die Ehe mit dem distanzierten Hubert, das Schweigen zwischen ihr und ihrer Tochter Ilse, die Abwesenheit des Sohnes Ferdinand, und nicht zuletzt die seltsame Zeit ihrer „Taubheit“, eines körperlichen wie seelischen Rückzugs.

„Ohne diese von ihm geschaffene Freundlichkeit erscheint ihm vielleicht das Leben unterträglich. Er schmiert den Alltag mit Öl, damit sein Kreischen und Kratzen ihn nicht verletzten kann.“

Was mich besonders fasziniert hat, ist die fast unheimliche Ruhe, mit der all das erzählt wird. Es gibt keinen dramatischen Ton, keine großen Ausbrüche. Und doch ist alles von innerer Dringlichkeit durchzogen.

Im Vergleich zu Die Wand ist dieses Buch vielleicht weniger bekannt, aber für mich nicht weniger bedeutend. Wo Die Wand eine radikale äußere Isolation beschreibt, ist Die Mansarde eine stille, innere Emigration. Beide Bücher kreisen um weibliche Selbstbehauptung im Spannungsfeld von Anpassung und Rückzug, aber auf ganz unterschiedliche Weise. Und beide zeugen von Haushofers unglaublichem Gespür für Zwischentöne, für das Unsagbare, das sich nur über Umwege mitteilen lässt.

Dass Haushofer in der deutschsprachigen Literatur immer noch ein Schattendasein fristet, erscheint mir zunehmend unverständlich. Sie ist keine „kleine“ Autorin, wie sie oft bezeichnet wird – sie ist eine präzise Beobachterin, eine stille Revolutionärin des Erzählens, die mit jedem Satz eine tiefe Wahrheit über das Menschsein berührt.

Die Mansarde ist ein Meisterwerk – leise, aber voller Echo.

Kairos – Jenny Erpenbeck erschienen im Penguin Verlag

Kairos ist für mich ohne Zweifel eines der literarischen Highlights dieses Jahres – vielleicht sogar darüber hinaus. Jenny Erpenbecks Sprache hat mich einmal mehr vollkommen in den Bann gezogen: klar, unbarmherzig, poetisch – und dabei immer präzise, immer auf den Punkt. Aber es war nicht nur die Sprache, die mich so tief bewegt hat. Es war auch – und vielleicht vor allem – meine eigene Biografie, die mir dieses Buch so nahegebracht hat.

Ich habe als Kind viele Ferien in der DDR verbracht. Meine Verwandten lebten dort, und obwohl ich nicht dort aufgewachsen bin, hatte ich früh einen sehr direkten Bezug zur Lebensrealität in diesem Land. Die DDR war absolut kein Paradies – das war mir selbst als Kind irgendwie bewusst –, aber es gab dort Dinge, die ich sehr geliebt habe: den Zusammenhalt unter den Menschen, das Gefühl von Gemeinschaft, die Bedeutung, die Literatur und Kunst dort hatten. Man saß einfach zusammen auf der Straße, hat geredet, sich gegenseitig zugehört. Man hat geteilt was man hatte und was man hat ergattern können. Vor allem: Kultur war nicht elitär – sie war da, für alle, mitten im Leben.

In Kairos habe ich mich wiedergefunden. Katharina, die Protagonistin, ist nur ein paar Jahre älter als ich, und ihr inneres Ringen, ihre Desorientierung im Übergang von der DDR in die westliche Welt, ihre Suche nach einem Halt – all das hat mich tief berührt. Ich habe selbst das Ende der DDR bewusst miterlebt, und ich erinnere mich gut an dieses Gefühl, dass da eine große, vielleicht einmalige Chance ungenutzt geblieben ist. Es hätte ein wirklich neues Deutschland entstehen können – eines, das das Beste aus beiden Systemen vereint. Aber es wurde stattdessen einfach übergestülpt, ausgelöscht, verdrängt. Die Straßen umbenannt, die Denkmäler eingerissen, ganze Identitäten entwertet. Wer erinnert sich noch an den Verfassungsentwurf für die DDR den Intellektuelle 1989/90 entwarfen? Da hätte man gemeinsam drauf aufbauen können.

Die Entwurzelung, die Erpenbeck so eindringlich beschreibt, kenne ich – wenn auch aus der Beobachterrolle – nur zu gut.

„Was vertraut war, ist im Verschwinden begriffen. Das gute, wie das üble Vertraute. Und auch das Mangelhafte, das Katharina lieb ist, vielleicht, weil es der Wahrheit am nächsten kommt. Stattdessen wird die Perfektion bald ihren Einzug halten – und auslöschen oder sich einverleiben, was ihr nicht standhalten kann: von den selbstgenähten Klamotten bis zu den maroden Häusern des Prenzlauer Bergs, vom lückenhaften Straßenpflaster bis zu den Worten für Dinge, die dann keiner mehr braucht. Die glatten, makellosen Oberflächen werden die Gedanken an alles, was vergänglich ist, ins Vergessen schieben. Das Brot wird anders schmecken, in den Straßen werden fremde Menschen an fremden Geschäften vorübergehen, in fremden Autos vorfahren, mit fremdem Geld in der Tasche. Die Stadtviertel, in denen Katharina bisher zu Haus war, werden nie wieder so ruhig und so leer sein, wie sie sie ihr ganzes Leben gekannt hat.“

Die Beziehung zwischen Hans und Katharina hat mich in ihrer Komplexität und Dunkelheit gleichermaßen fasziniert wie verstört. Was als große Liebe beginnt, entpuppt sich als Machtspiel, als Beziehung voller Kontrolle, Abhängigkeit, Schmerz. Dass das Private und das Politische bei Erpenbeck untrennbar verwoben sind, ist kein Zufall. Hans‘ Grausamkeit, seine Ideologie, seine Unnachgiebigkeit spiegeln das System wider, das im Zerfall begriffen ist. Und Katharinas Versuch, sich zu lösen, sich zu befreien, ist mehr als nur eine persönliche Emanzipation – es ist auch die einer ganzen Generation.

Ich habe Kairos nicht gelesen, ich habe es durchlebt. Es hat alte Fragen in mir aufgeworfen und neue Gedanken angestoßen. Es hat mich wütend gemacht und traurig. Aber vor allem hat es mir gezeigt, wie Literatur Brücken schlagen kann – zwischen Epochen, zwischen Systemen, zwischen Menschen. Und genau deshalb ist dieses Buch für mich so besonders.

In all deinen Farben – Bolu Babalola erschienen im Eisele Verlag übersetzt von Ursula C Sturm

Diese Liebesgeschichten und Nacherzählungen nigerianischer und europäischer Sagen habe ich im Rahmen meiner literarischen Weltreise zum Stopp in Nigeria gelesen. Erhalten habe ich das Buch auf der Leipziger Buchmesse von der Verlegerin des wunderbaren Eisele Verlages, der ganz in meiner Nachbarschaft sitzt.

Meinen Eindruck zum Buch sowie ganz viel über Nigeria selbst könnt ihr hier lesen.

Der Liebhaber meines Mannes / My Policeman – Bethan Roberts erschienen im Kunstmann Verlag übersetzt von Astrid Gravert

Ich habe Der Liebhaber meines Mannes mit drei Sternen bewertet – nicht, weil es ein schlechtes Buch wäre, im Gegenteil: Es liest sich angenehm, teilweise sogar sehr schön. Aber irgendetwas hat mich emotional nicht ganz erreicht, obwohl die Geschichte tragisch, berührend und gut konstruiert ist.

Bethan Roberts erzählt hier eine Dreiecksgeschichte, die sich lose an E. M. Forsters Leben und seiner Beziehung zu dem verheirateten Polizisten Bob Buckingham orientiert. Diese historische Vorlage fand ich besonders spannend – gerade weil sie zeigt, wie Liebe, Schuld und gesellschaftliche Zwänge sich über Jahrzehnte in ein Leben einschreiben können.

Im Zentrum stehen Marion, Tom und Patrick. Marion, ein einfaches Mädchen mit großen Gefühlen, verliebt sich in den gut aussehenden Tom – der wiederum von Patrick, einem kultivierten, schwulen Museumsleiter, begehrt wird. Was sich zunächst wie ein klassisches Liebesdrama entwickelt, wird nach und nach zu einem beklemmenden Kammerspiel über Sehnsucht, Selbstverleugnung und das tragische Scheitern an den eigenen Bedürfnissen.

Roberts schreibt sinnlich und atmosphärisch stark. Die 50er Jahre sind lebendig, es riecht nach Lavendel, Bohnerwachs, nach Pfefferminz und Schweiß. Man merkt, dass sie sich in die Zeit hineingefühlt hat. Und es gibt viele starke Momente – kleine Gesten, Blicke, Schweigen, das mehr sagt als jedes Gespräch. Besonders Marions Perspektive hat mich berührt – sie schildert ihr Leben, ihre Liebe, ihre Täuschung in einer Art Beichte, viele Jahre später. Dabei wirkt ihre Stimme glaubhaft, manchmal bitter, manchmal zerbrechlich. Dass Patrick ebenfalls zu Wort kommt – durch Tagebucheinträge – erweitert die Geschichte. Die beiden Perspektiven stehen fast nebeneinander, ohne sich ganz zu verbinden.

„For a policeman, you’re very romantic.’
‘For an artist, you’re very afraid,’ he said.”

Was mich zwischendurch etwas gestört hat: Tom bleibt erstaunlich blass. Als Leser*in versteht man kaum, was ihn wirklich bewegt. Er wird zum Projektionsobjekt für Marion und Patrick, bleibt aber selbst schwer fassbar. Vielleicht ist genau das gewollt – aber es hat mir den Zugang erschwert. In der Verfilmung war Tom etwas besser für mich zu greifen.

Was bleibt, ist das Bild einer verlorenen Generation, gefangen in gesellschaftlichen Konventionen, in der Liebe nicht frei gelebt werden durfte. Es ist bedrückend, wie viel zerstört wurde – und wie wenig Trost letztlich bleibt. Kein Happy End, kein kathartischer Moment. Eher ein leiser Rückblick auf verpasste Chancen.

Mädchen, Frau, Etc – Bernardine Evaristo erschienen im Klett-Cotta Verlag übersetzt von Tanja Handels

Ich habe Mädchen, Frau etc. als Hörspiel in der ARD Audiothek gehört – und kann das wirklich jederm nur wärmstens empfehlen. Schon nach wenigen Minuten war ich komplett eingetaucht in dieses außergewöhnliche Mosaik aus Stimmen, Geschichten und Leben. Die verschiedenen Sprecher*innen verleihen den Figuren so viel Tiefe und Lebendigkeit, dass ich beim Hören das Gefühl hatte, nicht nur dabei zu sein, sondern mittendrin. Es war, als hätte ich ein paar Tage mit diesen Frauen in London gelebt, gelacht, gestritten – und vor allem mitgelitten.

Evaristo erzählt die Geschichten von zwölf sehr unterschiedlichen Menschen, vor allem Schwarzen Frauen, aber auch queeren und nicht-binären Figuren, die auf den ersten Blick kaum etwas gemeinsam haben – und sich doch immer wieder kreuzen, berühren oder beeinflussen. Jede Figur bekommt ihren eigenen Raum, ihre eigene Stimme. Was sie verbindet, ist der Versuch, in einer oft rassistischen und patriarchalen Gesellschaft ihren Platz zu finden – mit all den Konflikten, Widersprüchen und Fragen, die das mit sich bringt.

„be a person with knowledge not just opinions“

Besonders beeindruckt hat mich, wie vielschichtig und menschlich diese Figuren gezeichnet sind. Sie sind weder Heldinnen noch Opfer, sondern alles dazwischen – widersprüchlich, manchmal unbequem, aber immer echt. Themen wie Identität, Feminismus, Herkunft, Zugehörigkeit oder politische Korrektheit werden hier nicht plakativ abgehandelt, sondern als Teil ganz alltäglicher Lebensrealitäten erzählt.

Auch formal ist das Buch ungewöhnlich: Evaristo verzichtet auf klassische Interpunktion und schafft so einen ganz eigenen Rhythmus – in der Hörspielfassung wird das durch die Sprechweise wunderbar transportiert. Es klingt fast poetisch, manchmal wie ein Gedicht, das sich entfaltet.

Am Ende bleibt kein abgeschlossenes Fazit, sondern ein Gefühl von Vielfalt, Verbundenheit und der Ahnung, dass es nicht die eine Geschichte Schwarzer Frauen gibt, sondern viele – und jede verdient es, erzählt zu werden. Mädchen, Frau etc. ist ein vielstimmiger, kluger, berührender Roman über das Leben, das Kämpfen und das Lieben. I love it!

Lebenslieder – Dana Schwarz-Hadereck erschienen im Adakia Verlag

Lebenslieder von Dana Schwarz-Hadereck, erschienen im Adakia Verlag, ist ein sehr persönlicher Gedichtband, in dem die Autorin eigene Texte mit feinsinnigen Illustrationen begleitet. Auch wenn mich die Gedichte inhaltlich und sprachlich nicht ganz erreicht haben, spürt man doch das Herzblut und die Authentizität, mit der dieses Buch entstanden ist. Eine liebevoll gestaltete Veröffentlichung, die sicherlich ihre Leser*innen finden wird.

Ich danke dem Adakia Verlag für das Rezensionsexemplar.

Respekt, wenn ihr bis hierhin durchgehalten habt. War schon eine Menge diesen Monat, das ist der eine positive Nebeneffekt vom „Nicht schlafen/durchschlafen“ – man bekommt eine Menge Literatur gelesen und gehört.

Was waren Eure Highlights im April?