The Ninth House – Leigh Bardugo

Mors irrumat omnia. Death fucks us all

Der Roman handelt von der 20-jährigen Galaxy „Alex“ Stern, einer Schulabbrecherin und einzige Überlebende eines Mordes, die Geister, sehen kann. Nach ihrem Trauma wird Alex auf mysteriöse Weise ein volles Stipendium für Yale angeboten, obwohl sie nicht über die nötigen Qualifikationen verfügt. Sie versucht, sich in ihrem neuen Leben an der Ivy League zurechtzufinden, während sie von ihrem Wohltäter beauftragt wird, die acht Häuser/Geheimgesellschaften, die dunkle Magie nutzen…

Jedes Mal wenn ich beim Lesen dachte, ok das ist jetzt aber sehr seltsam/fantastisch, dann waren das Sachen die tatsächlich in Yale so sind. Diese ganzen Geheimgesellschaften die den priviligierten Kids mit den ohnehin grandiosen Startbedingungen das Leben künftig noch ein bisschen angenehmer machen und für hilfreiche Alumni-Bündnisse sorgen, sind mir mehr als suspekt. Bardugo beschäftigt sich mit diesen Privilegien und bezieht sich im Roman auf tatsächlich stattgefundene sexuelle Übergriffe von Mitgliedern dieser Gesellschaften die im großen Stil gedeckt bzw kaum geahndet wurden. Sie zeigt die Privilegien und Machtdynamiken auf die weiße, reiche, privilegierte Jungs dazu bringt sich zu allem berechtigt zu fühlen, und denen sogar Gefühl vermittelt wird für ihre Taten auch noch Applaus zu bekommen. Missbrauch und Anspruchsdenken sind vermutlich auch erblich und hinterlassen unzählige Opfer, deren ganzes Leben dadurch beeinträchtigt wird.

“There were always excuses for why girls died”

Ninth House ist auch ein Buch über Trauma und zumindest teilweise Heilung. Ein Buch voller Dunkelheit, dass und nicht nach jedermanns Geschmack sein dürfte, denn es ist stellenweise sehr brutal. Es hat aber auch helle Seiten und zeigt was ein Mensch bewegen kann, um seine Stimme zurückzubekommen.

“Maybe all rich people asked the wrong questions. For people like Alex, it would never be what do you want. It was always just how much can you get?”

Alex Stern ist auf jeden Falle eine interessante Protagonistin, die überhaupt nicht in die Yvy League Umgebung reinpasst und die sich in keinster Weise verbiegt um in Yale reinzupassen. Rotzig, street smart und klug versucht sie dennoch aus der Chance die sich ihr bietet das Beste zu machen.

Jodie Foster ist im Übrigen Mitglied der Geheimgesellschaft „Manuscript“ in Yale – werde ich mir auf jeden Fall mal merken, gutes Small Talk Topic falls wir uns mal treffen…

Könnt ihr mit Dark Fantasy was anfangen? Habt ihr Empfehlungen?

#WomeninSciFi: New York Ghost – Ling Ma

Dieses Buch hat mich von der ersten Seite an in seinen Bann gezogen. Ling Ma erzählt in „New York Ghost“ die Geschichte von Candace Chen, einer Millennial-Frau, die viel zu viel arbeitet und einen Großteil ihres Lebens in einem Büroturm in Manhattan verbringt. Da beide Eltern kürzlich verstorben sind und sie keine andere Familie oder enge Freunde hat, hat sie kaum etwas anderes zu tun, als zur Arbeit zu gehen und mit ihrem Freund in einem Keller in Greenpoint Filme zu schauen. Candace empfindet daher wenig Emotionen, als das Shen-Fieber ausbricht, eine Seuche, die Menschen in gewaltlose Zombie-Versionen ihrer selbst verwandelt, die dazu verdammt sind, dieselben Routineaufgaben immer und immer wieder zu wiederholen, bis sie irgendwann bewusstlos werden und sterben. Die Routinen der ewigen Wiederkehr. Die Geschichte wechselt zwischen Candace‘ Leben vor dem Shen-Fieber und danach, als sie mit einer Gruppe von Überlebenden durch das apokalyptische Amerika reist, die vom machthungrigen, autoritären Bob angeführt wird.

„Ich habe immer in dem Mythos New York gelebt, mehr als in seiner Realität“

„New York Ghost“ ist unglaublich atmosphärisch. Während des Lesens fühlte ich mich klaustrophobisch, gefangen und gleichzeitig gefesselt von der Geschichte – ähnlich wie sich vermutlich viele Millennials im Neoliberalismus/Spätkapitalismus unserer Zeit fühlen. Die Rück- und Vorblenden haben hier gut funktioniert, da sie dazu dienten, Candace‘ Charakter und Hintergrundgeschichte zu vertiefen und gleichzeitig die Erzählung voranzutreiben. Innerhalb dieser dichten, fesselnden Handlung fügt Ma Kommentare über die tödlichen, verheerenden Auswirkungen des Kapitalismus ein, die für eine gute Balance zwischen dem pandemischen und dem gesellschaftspolitischen Teil des Buches sorgen. Alle Elemente dieser Geschichte – die Zombie-Apokalypse, Candaces Erwachsenwerden, das Eintauchen in das Firmenleben – kommen auf eine düstere, fesselnde und unaufhaltsame Weise zusammen.

Ma hat einen dystopischen Zombie-Roman geschrieben, der sich mit der Frage beschäftigt, warum man sich vor der Zombie-Apokalypse fürchten sollte, wenn wir alle doch bereits irgendwie Zombies sind? Ma zielt auf unsere extrem schnelllebige, materialgetriebene, im Internet existierende Gesellschaft ab, sie nimmt traditionelle Rollen genauso ins Visier wie Nostalgie und die Schönfärberei der „Vergangenheit“. Kapitalismuskritik trifft auf Zombies und Pandemie.

Eine clevere, spannende, gelegentlich zynische und gleichzeitig wichtige Lektüre, die mich dazu gebracht hat, viel darüber nachzudenken, was in meinem Leben am Wichtigsten ist. Eine Autorin, die ich definitiv im Auge behalten möchte und auf deren nächstes Buch ich schon sehr gespannt bin.

Hirngymnastik Zukunft I

Es wird mal wieder Zeit für eine Hirngymnastik und ich beschäftige mich dieses Mal ausführlich mit der Zukunft. „Future Studies“ ist ein Studiengang, mit dem ich immer mal liebäugele.

Von einem Fokus auf die Vorhersage der Zukunft hat sich die moderne Disziplin der Zukunftsforschung zu einer Erforschung alternativer Zukünfte ausgeweitet und vertieft, um die Weltanschauungen und Mythologien zu untersuchen, die möglichen, wahrscheinlichen und bevorzugten Zukünften zugrunde liegen.

Da die Welt zunehmend risikoreicher geworden ist – zumindest in der Wahrnehmung, vielleicht aber auch in der Realität – werden Zukunftsworkshops bei Führungskräften und Strategieabteilungen in Organisationen, Institutionen und Nationen auf der ganzen Welt immer beliebter. So einem Workshop war auch Auslöser meines ersten Buches dieser Hirngymnastik.

Das Buch ist Teil eines Projekts der Management-Beratung A.T Kearney. Dort verdient Walker sein Geld, wenn er keine Bücher schreibt. Zum fünfzigjährigen Jubiläum des deutschen Büros Ende 2014 versammelte die Firma führende deutsche Politiker, Unternehmer und Wissenschaftler und stellte ihnen die Frage: Wie entwickelt sich Deutschland in Europa in den nächsten 50 Jahren? „Germany 2064“ ist der Versuch, die Ergebnisse dieses intellektuellen Abenteuers einem breiten Publikum zugänglich zu machen.

Walkers Buch greift viele Themen auf: TTIP ist Realität und Deutschland steht wirtschaftlich sehr gut da. Aufgeteilt in urbane High-Tech Zonen auf der einen und auf der anderen zurück-zur-Natur „Freie Gebiete“ in Gegenden wie Mecklenburg-Vorpommern, in denen es zunehmend gesetzloser zugeht, nimmt Deutschland eine vorbildliche Rolle in Europa ein. Die Transaktionssteuer wurde eingeführt, selbstfahrende Autos sind das neue Normal und Roboter spielen überall eine zentrale Rolle. Und Walker sinniert ganz im Sinne Philip K. Dicks darüber, was eine Maschine zum Menschen macht.

„Wir spielen Gott, indem wir emphatische Wesen hervorbringen, mit denen wir Beziehungen eingehen und für die wir auch Zuneigung entwickeln können. Wir vertrauen ihnen unsere Kranken und unsere Alten an. Als deren Schöpfer tragen wir Verantwortung für sie.“

Als Krimi eher schwach, da die Figuren allesamt wirklich hölzern und leblos sind – aber als Gedankenexperimente definitiv spannend und interessant und zum Nachdenken anregend. Walker beschreibt eine Deutschland-Vision voller Optimismus. Seltsam fand ich allerdings, dass fast alle Deutschen bei ihm auch in knapp 50 Jahren Vornamen haben wie die aktuelle Boomer-Generation 😉 Aber vielleicht hat er ja recht und Namen wie Horst, Klaus, Thilo, Fred, Dieter oder Gerd sind dann wieder en vogue.

Wer sind eigentlich die Menschen, die an Verschwörungserzählungen glauben? Es gibt keinen Zusammenhang zwischen Alter, Geschlecht oder Ausbildung. Nur ein Kriterium ist den meisten Anhängern von Verschwörungserzählungen gemein: Sie haben in der Vergangenheit eine Form des Kontrollverlusts erlebt. Das kann zum Beispiel eine Trennung sein, der Verlust des Arbeitsplatzes oder ein Missbrauch, zudem sind Männer empfänglicher für solche Erzählungen als Frauen. Auch ein formal niedriger Bildungsgrad macht etwas anfälliger als ein hoher.

Es gibt Interkontinentalflüge, eine internationale Raumstation und ausgefeilte Modelle darüber, wie das Weltall aufgebaut ist. Und trotzdem sind zunehmend mehr Menschen davon überzeugt, dass die Erde flach ist. Wie kann das sein? Wie kann man Logik und Wissenschaft so derart hinter sich lassen? Menschen, die an Verschwörungsmythen glauben, werden auf jeden Fall nicht von logischen Argumenten überzeugt, ihre Annahmen gründen sich hauptsächlich auf psychologische Aspekte, auf das, was ihnen ein gutes Gefühl verschafft. Verschwörungstheorien geben unsicheren Menschen Halt und bieten Erklärungen und teilweise Entschuldigungen für die Dinge die in ihrem Leben schief gegangen sind.

Wie aktuell das Buch ist zeigen die Autorinnen, in dem sie auch auf die Mythen rund um Covid-19 präzise eingehen. Die absurden Thesen und Phänomene wie „Hygiene-Demos“ oder „Corona-Rebellen“. Dass Pandemien mit Verschwörungserzählungen einhergehen, ist kein neues Phänomen. Das gab es schon zu Zeiten der Pest oder auch der Spanischen Grippe. Covid-19 hat die Verschwörungsgläubigen in einen Rausch versetzt und die wirren Theorien verbreiten sich ähnlich rasant wie das Virus selbst.

„Während Verschwörungserzählungen in ihren Erklärungen oft deutlich komplizierter sind als der tatsächliche Ablauf eines Ereignisses, reduzieren diese Erzählungen zugleich die Komplexität auf der Ebene der Verantwortlichkeiten beziehungsweise der Gründe, warum etwas so und nicht anders passiert ist“

„Dadurch, dass ein Mensch an etwas glaubt, das gängigen Erklärungsmustern widerspricht, kann er auch sein Bedürfnis danach befriedigen, sich einzigartig zu fühlen und sich von der Masse abzuheben“

„Insbesondere in rechtsextremen Kreisen“, betonen die Autorinnen, „wurden Erklärungsansätze für die Coronakrise mit antisemitischen Ideologien angereichert“. Die Holocaustleugnung stellt nach wie vor eine zentrale Verschwörungstheorie in der extremen Rechten dar. Was aber nicht bedeutet, dass linke Kreise gegen Verschwörungstheorien gefeit sind, wie sie am Beispiel der Blockupy-Bewegung belegen. Sie waren auch unterwegs auf einer Esoterik-Messe in einer Freimaurerloge in Berlin-Wilmersdorf und stellen die 1997 in Zentralrussland gegründete Anastasia-Siedlerbewegung vor, eine ganz besondere Spezies im Sumpf der braunen Verschwörungsideologien, die sich später auch im deutschsprachigen Raum ausbreitete.

Katharina Nocun und Pia Lamberty haben einen sehr guten, umfassenden Überblick entworfen, über das Phänomen der Verschwörung und seine Entwicklung, Empfehlenswert!

Der ambitionierte Titel dieses Buches legt die Messlatte für den Autor Patrick Dixon hoch. Der Arzt und ehemalige Krebsspezialist gründete die internationale Aids-Agentur ACET, die Programme in 18 Ländern unterhält. Er ist zudem Gründer von Global Change Ltd, einem Unternehmen für Wachstumsstrategien und -prognosen, und zählt Giganten wie Google, Microsoft oder auch die eine oder andere Weltbank zu seinen Kunden.

Er hat also durchaus das Rüstzeug, um Prognosen für die Zukunft zu wagen, die von Technologie, Demografie, zu Politik, Gesundheitswesen und sozialem Wandel reichen. Von dem was aktuell als Innovationen in der IT Branche gefeiert wird, hält er wenig. Die Verbindung zwischen unseren Gehirnen und Geräten ist viel zu schwerfällig und langsam. Unsere Lese- und Tippgeschwindigkeiten sind sogar gesunken und erst,, wenn es hirngesteuerte Displays gibt oder auch Steuerungen durch Gesten wird es zu einem wirklichen Wachstum unserer Hirnschnittstellen kommen.

Menschen sind dann selbst Teil des so genannten „Internets der Dinge“, ein Trend, der seiner Ansicht nach noch weiter zunehmen wird. Geräte zur Radiofrequenz-Identifikation (RFID) werden von Menschen unter die Haut gespritzt, um Zugang zu sicheren Einrichtungen zu erhalten, während tragbare Geräte zur Überwachung von Gesundheitsindikatoren, „Wearables“, weite Verbreitung finden werden.

Diese Entwicklungen haben aber auch Schattenseiten. Hacking wird eine zunehmend größere Bedrohung werden. Was passiert, fragt Dixon, wenn sich ein Terrorist in 100.000 fahrerlose Autos hackt, während sie auf der Straße sind? Ein durchschnittliches autonomes Fahrzeug enthält bereits jetzt 60 Prozessoren und 10 Millionen Zeilen Softwarecode. Der Schaden den ein solcher Angriff auslösen würde, wäre unvorstellbar groß.

Die Bedrohung durch einen Cyber-Krieg zieht sich durch das ganze Buch. Abgesehen von terroristischen und kriminellen Angriffen könnte es auch zu riesigem Chaos kommen, durch gezielte Angriff auf das Bankwesen, in der Telekommunikation, Energiewirtschaft und auf andere Versorgungseinrichtungen.

Auf der einen Seite wird der medizinische Fortschritt den Menschen eine höhere Lebenserwartung bringen, wobei Dixon sich mit einer möglichen Lebenserwartung von 140 Jahren für die heute Geborenen meines Erachtens ganz schön aus dem Fenster lehnt. Auf der anderen Seite wird das Klonen von Menschen technisch machbar sein und große ethische Bedenken aufwerfen. Wir sind bereits kurz davor, ausgestorbene Tiere zu klonen, indem wir Gene in gefrorenem Gewebe verwenden. Ein an Krebs sterbendes Kind könnte „wiederhergestellt“ werden, so dass die Eltern einen eineiigen Zwilling zur Welt bringen können.

„Scientists have also created a goat with genes from a spider, so that spider web proteins are excreted into the milk. These proteins can be extracted to create a kind of textile fibre which is highly elastic and alsmost as strong as Kevlar“

Paradoxerweise ruiniert der Wohlstand aber auch unsere Gesundheit. Eines von drei Kindern, die heute in New York geboren werden, wird aufgrund von Übergewicht im Laufe seiner Kindheit an Diabetes erkranken, so Dixon. Da im Jahr 2030 etwa 50 Prozent der Weltbevölkerung stark übergewichtig sein werden, wird eine neue Lebensmittelindustrie entstehen, die Anti-Food verkauft – Lebensmittel, die aus Molekülen bestehen, die der Körper nicht verdauen kann und die den Körper durchlaufen, so dass die Menschen essen können, ohne tatsächlich Nährstoffe und Kalorien zu sich zu nehmen.

Dixon beendet das Buch mit einem Kapitel über Werte und Ethik. All die großartige neue Technologie bedeutet gar nichts, wenn die Menschen den Sinn im Leben verlieren. Wenn die Menschen Zeit und Geld haben, wird diese Sinnsuche zunehmen und großen Einfluss auf Unternehmen und die Gesellschaft haben.

Glück ist nicht an ein hohes Einkommen gebunden – Menschen mit mittlerem Einkommen, die gute Freunde, einen liebevollen Partner, einen Beruf oder ein Hobby haben, das ihnen Spaß macht, werden weiterhin am zufriedensten sein. Interessanterweise sind die glücklichsten Menschen und die, die am Optimistischsten in die Zukunft blicken, aktuell diejenigen, die in Afrika leben.

Ein interessanter Blick in die Zukunft, stellenweise ging mir die Selbstbeweihräucherung des Autors und seine religiös-konservative Sicht auf die Welt etwas auf die Nerven.

Ich bin kein großer Krimi-Fan, ab und an habe ich aber mal Lust darauf, aber eher selten. Wenn, dann darf es gerne ab und zu ein Wissenschaftskrimi sein und vor ein paar Jahren hatte mich „Blackout“ von Marc Elsberg sehr begeistern können. Daher möchte ich den ersten Teil meiner Hirngymnastik „Zukunft“ gerne mit einem Techno-Thriller beenden bei dem der gläserne Mensch im Zentrum des Geschehens steht.

„Daten sind das Gold der Zukunft

„Die Menschen lebten ganz gut ohne Privatsphäre, bis sie ein raffinierter Anwalt vor 100 Jahren erfand. – Er erfand sie nicht, sie wurde bloß damals in die Gesetze aufgenommen. Gesetze kommen und gehen, die Privatsphäre wohl auch

London. Bei einer Verfolgungsjagd wird ein Junge erschossen. Sein Tod führt die Journalistin Cynthia Bonsant zu der gefeierten Internetplattform Freemee. Diese sammelt und analysiert Daten – und verspricht dadurch ihren Millionen Nutzern ein besseres Leben und mehr Erfolg. Nur einer warnt vor Freemee und vor der Macht, die der Online-Newcomer einigen wenigen verleihen könnte: ZERO, der meistgesuchte Online-Aktivist der Welt. Als Cynthia anfängt, genauer zu recherchieren, wird sie selbst zur Gejagten. Doch in einer Welt voller Kameras, Datenbrillen und Smartphones kann man sich nicht verstecken …

Spannend, erschreckend und immens informativ – Marc Elsberg bleibt eine gute Adresse für rasante wissenschaftliche speculative fiction.

Das war der erste Schwung Bücher für die Hirngymnastik „Zukunft“ – ich hoffe ihr habt Lust auch beim zweiten Teil der Hirngymnastik dabei zu sein.

Nichts Tun – Jenny Odell

Der Titel ist vielleicht ein bisschen irreführend, denn bei „Nichts tun“ handelt sich auf gar keinen Fall um eine Anleitung zum Digital Detox oder dem Ausstieg aus den sozialen Medien (dazu eignet sich Cal Newports Digital Minimalism oder Catherine Price‘ How to Break Up With Your Phone ganz gut). Stattdessen ist dies ein umfassend recherchiertes Buch über: das Selbst, Aufmerksamkeit, Bioregionalismus, was es bedeutet, sich zu verweigern und über die Auswirkungen des Kapitalismus auf diese Faktoren.

Der Großteil dieses Buches handelt von den Dingen, die wir nicht wirklich tun können, wenn unsere Aufmerksamkeit permanent in den sozialen Medien oder mit dem Scrollen durch Nachrichten an unsere Telefone gebunden ist. Im Grunde nehmen uns die sozialen Medien und der Dauerbeschuss an Nachrichten die Fähigkeit, zu reflektieren und umfassend über das nachzudenken, was unter dem Radar der Status-Updates und Schlagzeilen tatsächlich passiert. Darüber hinaus werden unsere Beziehungen zu anderen Menschen, zur Zeit und zur Umwelt um uns herum erodiert. wir versuchen, unsere Ideen in 280-Zeichen-Tweets zu pressen, stets bemüht, niemanden zu beleidigen und möglichst viele „Likes“ zu bekommen. Was passiert, wenn wir Menschen als Marken und Unternehmen als Menschen betrachten?

Odell fordert uns zunächst auf, die Idee der „Nützlichkeit“ zu überdenken und unsere Tendenz, Zeit und Aufmerksamkeit als Ware zu betrachten, in Frage zu stellen – etwas, das in der Gig-Economy zumeist als selbstverständlich erachtet wird. Sie verwendet das Beispiel eines alten Mammutbaums in Oakland, der für den menschlichen Verzehr nutzlos ist und ironischerweise ist es seine „Nutzlosigkeit“, die ihn davor bewahrt, gefällt zu werden, was ihn zum einzigen Baum seiner Generation macht, der überlebt. Sie nennen ihn sogar „Old Survivor“.

Teile des Buches waren für mich etwas unzugänglich – insbesondere ihre Beschreibungen diverser Kunstausstellungen waren etwas langatmig. Sehr spannend fand ich aber, wie sie sowohl Diversität und Klasse in die Betrachtung des Widerstands gegen die Aufmerksamkeitsökonomie einbezieht. Odells Referenzen im Buch sind erfreulich vielfältig; ja, sie bezieht sich viel auf Thoreau, aber sie bezieht auch Texte von Audre Lorde, der Arbeiterbewegung und der Umweltbewegung mit ein. All das setzt sie in einen historischen Kontext, sozusagen als Gegensatz zu der ständigen Gegenwartsbezogenheit der sozialen Medien.

„Nicht nur, dass es unbefriedigend ist, in permanenter Zerstreuung zu leben, oder dass ein Leben ohne zielgerichtetes Denken und Handeln armselig ist. Wenn es wahr ist, dass die kollektive Tatkraft das individuelle Aufmerksamkeitsvermögen spietelt und zudem auf diesem beruhen, dann scheint Zerstreuung, in einer Zeit, in der es zu handeln gilt, eine Sache auf Leben und Tod zu sein. Ein soziales Gefüge, das nicht in der Lage ist, sich auf sich selbst zu konzentrieren oder mit sich zu kommunizieren, ist wie eine Person, die weder denken noch handeln kann“

Und während andere Bücher zum gleichen Thema dazu neigen, die Vereinnahmung unserer Aufmerksamkeit und die Tyrannei der Algorithmen als ausgemachte Sache zu behandeln und damit das Digital Detox als ausweglose Lösung zu beschreiben, schafft es Odell, ganz sachlich zu bleiben, jede Sensationslüsternheit zu vermeiden und zeigt eigene Wege, mit der Aufmerksamkeitsökonomie umzugehen.

Als Lösungsideen präsentiert die Autorin unter anderem Bioregionalismus, weniger Konsum, mehr Dezentralisierung als Konzepte für eine bessere Welt. Ich glaube aber, solange die Menschen den Grad und die unfassbare kaltschnäuzige Raffinesse der Medien- und Nachrichtenmanipulation nicht erkennen, werden diese Ideen und Ideale chancenlos sein gegen die glitzernde, glamouröse Gamification und den Konsumterror.

Beim Lesen hatte ich das Gefühl, einen angenehmen Spaziergang mit einer klugen und überhaupt nicht überheblichen Freundin zu machen. Odells Ideen wirken rational und gar nicht revolutionär, haben aber eine große Tragweite, wenn es darum geht, unseren Fokus auf unsere Beziehungen und unser Umfeld zu lenken, anstatt sich permanent im Hamsterrad zu drehen und uns nur wohl zu fühlen, wenn wir uns optimieren und im Produktivitätsrausch versinken. Manchmal hätte ich mir ein bisschen mehr Pep gewünscht, da mäanderte es für meinen Geschmack ein bisschen zu sehr, aber Odell schafft eine kluge Verbindung von Kunst, Ökologie, Soziologie und Wissenschaft auf nachdenkliche und manchmal überraschende Weise. Ein Buch, das mir große Lust auf rotweingetränkte Diskussionen mit Freunden gemacht hat.

Ich danke dem Beck Verlag für das Rezensionsexemplar.

Hirngymnastik Chemie

Chemie ist ein unglaublich faszinierendes Studiengebiet. Weil sie für unsere Welt so grundlegend ist, spielt die Chemie im Leben eines jeden Menschen eine Rolle und berührt fast jeden Aspekt unserer Existenz in irgendeiner Weise. Die Chemie wird oft als die zentrale Wissenschaft bezeichnet (wobei das wahrscheinlich fast jede Wissenschaft von sich behauptet), weil sie Physik und Mathematik, Biologie und Medizin sowie die Erd- und Umweltwissenschaften miteinander verbindet.

Die Chemie hilft, die Welt um uns herum zu verstehen. Warum verfärben sich Blätter im Herbst? Warum sind Pflanzen grün? Wie wird Käse hergestellt? Was ist in Seife enthalten und wie wird sie gereinigt? All dies sind Fragen, die mit Hilfe der Chemie beantwortet werden können.

Grundkenntnisse in Chemie helfen auch, Produktetiketten zu lesen und zu verstehen. Funktioniert ein Produkt wie beworben oder ist es ein Betrug? Wer versteht, wie Chemie funktioniert, ist in der Lage, ver-nünftige Erwartungen von reiner Fiktion zu trennen.

Chemie ist außerdem das Herzstück des Kochens. Wer die chemischen Reaktionen versteht, die beim Aufgehen von Backwaren, beim Neutralisieren von Säure oder beim Eindicken von Saucen ablaufen, hat gute Chancen, ein besserer Koch werden.

Ein guter Grund, dieser spannenden Naturwissenschaft mal ein wenig in die Reagenzgläser zu schauen – willkommen zur Hirngymnastik Chemie:

Was eignet sich besser zum Einstieg, als ein Buch über die 50 wichtigsten chemischen Elemente im Periodensystem? Das Periodensystem war bei mir im Übrigen Auslöser für die erste Brille, die ich auch wirklich aufgesetzt habe. Ich saß soweit von dem Ding weg, das sich partout die Ordnungszahlen nicht erkennen ließen. Es musste also eine Brille her und zack klappte es auch mit der Chemie 🙂

Die Elemente in 30 Sekunden vermitteln die chemischen Grundkenntnisse zu den wichtigsten 50 Elementen. Jedem Element ist eine Doppelseite gewidmet, jede mit einer klaren Beschreibung, den wichtigsten Eckdaten und einer Illustration. Der Band ordnet sie in den Rahmen der übrigen 68 Elemente des Periodensystems ein und beschreibt deren Wechselbeziehungen. Biographien von Chemikern, die unser Wissen bereicherten und damit die Geheimnisse des Lebens weiter entschlüsselten, ergänzen die Darstellung. Die Illustrationen veranschaulichen die Unterschiede und Übereinstimmungen zwischen den einzelnen Elementen.

Die Reihe ist nicht nur optisch ein Leckerbissen, sie gibt auch wirklich in kürzester Zeit einen ersten Überblick über ein Thema und ermöglicht dem Leser dann bei Bedarf abzutauchen. Ich habe noch einige weitere Themen aus der Reihe auf dem Radar.

Herausgeber Eric Scerri ist Chemiker und Wissenschaftstheoretiker, der vor allem zur Geschichte und Systematik des Periodensystems publiziert. Er ist Gründer und Chefredakteur der internationalen Zeitschrift Fundation of Chemistry.

Im 19. Jahrhundert strömten die New Yorker in Scharen in Sammlungen seltsamer und grotesker Kuriositäten, die als „Kuriositätenkabinette“ bezeichnet wurden. Jetzt soll in Manhattan an der Stelle eines der alten Kabinette ein moderner Wohnturm entstehen. Doch als die Ausgräber in einen Keller einbrechen, entdecken sie eine Leichenkammer des Grauens: die Überreste von über dreißig Menschen, die vor über 130 Jahren von einem unbekannten Serienmörder ermordet und auf grausame Weise zerstückelt wurden.

In der Folge beginnen FBI-Sonderagent Pendergast und die Museumsarchäologin Nora Kelly mit einer Untersuchung, die einen mysteriösen Arzt zutage fördert, der einst durch die Stadt streifte und medizinische Experimente an lebenden Menschen durchführte. Doch gerade als Nora und Pendergast beginnen, die Hinweise auf die jahrhundertealten Morde zu entschlüsseln, bricht um sie herum eine neue Welle von Mord und chirurgischer Verstümmelung aus und New York City wird von Terror überflutet.

Der Krimi ist in der Zeit Wissenschafts-Krimireihe herausgebracht worden und enthält eine Chemie-Analyse des Buches. Im Roman geht es um einen Serienkiller, der auf der Suche nach der Geheimformel für das ewige Leben ist. Seit der Mensch denken kann, versucht er seine Sterblichkeit zu überwinden und ein Elixier zu finden, dass den Tod in seine Schranken weist.

Noch immer ist rätselhaft, was im Organismus dafür sorgt, dass das Leben zum Tode führt. Viele Fachleute sind aber überzeugt, dass die Dauer menschlichen Lebens verlängert werden kann und künftig auch wird. „Altern ist keine gottgegebene Unausweichlichkeit, man kann es kontrollieren und ändern“ behauptet der amerikanische Genetiker Michael Rose, ein Pionier der modernen Altersforschung.

In metabolischen Prozessen, und auch in den Gen-Netzwerken, haben die Forscher erste Triebkräfte des Alters aufgespürt. Bereits durch die Ausschaltung einzelner Gene für Wachstum und Energiestoffwechsel können die Genetiker dem natürlichen Tod Einhalt gebieten.

Das einfachste Zaubermittel zur Lebensverlängerung heißt Hungern. Kalorische Restriktion hilft Fliegen, Mäusen und Würmern, dem Tod zu trotzen. Die Ursache ist vermutlich, dass dabei der Energiestoffwechsel heruntergefahren wird. Dadurch enstehen weniger aggressive Stoffwechselprodukte im Körper – der sogenannte oxidative Stress im Organismus nimmt ab.

Aber ist es wirklich erstrebenswert, 100 Jahre zu hungern, um 100 Jahre alt zu werden?
Da genetische Manipulationen des menschlichen Erbgutes, mit denen altersfördernde Gene blockiert werden könnten, derzeit weder sicher durchgeführt werden können, noch erwünscht sind, ruhen die Hoffnungen der Altersforscher vor allem auf der Pharmazie. Grausige Verfahren wie das des Killers in Formula sind indessen nicht zu befürchten.

Ein spannender Krimi, der nicht nur chemische Einblicke gewährt, sondern auch gut unter der Rubrik Forensik hätte laufen können. Allerdings nichts für Zartbesaitete.

Perfekt hätte in diese Hirngymnastik natürlich Primo Levis „Das periodische System“ gepasst – das habe ich allerdings bereits gelesen und auch schon hier besprochen. Wer Lust hat, die Grande Dame der Chemie, Marie Curie, näher kennenzulernen, den verweise ich auf diesen Artikel hier in der Rubrik „Women in Science“.

Ansonsten habe ich erstaunlich wenige Nicht-Fachbücher zu dieser Hirngymnastik gefunden, falls ihr also noch weitere Tipps habt – jederzeit gerne.

Ich hoffe, ich konnte euch etwas Lust auf Chemie machen – wie war es bei euch in der Schule? Mochtet ihr das Fach, beschäftigt ihr euch heute noch hin und wieder damit oder macht ihr lieber einen großen Bogen um Reagenzgläser, Kolbenbrenner und Periodensystem?

Findungen – Maria Popova

“Geschichte ist jedoch nicht das Geschehene, sondern das, was die Schiffbrüche von Urteil und Zufall überlebt.

Maria Popova hat mit Brainpickings einen meiner liebsten Blogs geschaffen, dem ich seit vielen Jahren folge und dem ich unglaublich viele Lektüretipps, Ideen und spannende Einsichten verdanke. Sie schafft es schon seit Jahren von einem Blog leben zu können, der sich mit Wissenschaft, Literatur, Philosophie, Feminismus, Poesie, Astronomie und vielem anderen beschäftigt.

Das Buch beginnt mit Johannes Kepler und mit dem Einfluß, den er mit seiner Persönlichkeit und seinem beruflichen Leben auf eine ganze Litanei an Menschen in der Astronomie und der Kunst seither genommen hat. Alles ist miteinander verbunden. Gedanken und Ideen durchdringen Raum und Zeit, landen irgendwo, inspirieren und die Kombination ganz unterschiedlicher Ideen führt immer wieder zu neuen und weiteren Entdeckungen.

“Leben verflechten sich mit anderen Leben, und aus diesem Wandteppich ergeben sich Hinweise zu Antworten auf Fragen, die die Essenz des Lebens betreffen: Was sind die Bausteine des Charakters, der Zufriedenheit, der nachhaltigen Errungenschaften?

„Figuring“ ist ein multidisziplinärer Begriff. Er steht für die Verbindung von unterschiedlichen wissenschaftlichen Domänen, den Künsten und menschliches Erkenntnisvermögen. Es gibt sogar ein Institute for Figuring in den USA, das sich zum Ziel gesetzt hat, den Menschen mit der ästhetischen und poetischen Dimension von Naturwissenschaft und Mathematik in Verbindung zu bringen. Und Kepler ist eine der großen Inspirationen für dieses Vorgehen, da er einer der führenden „Figurer“ in der Geschichte war.

“Nichts, was über die ersten mathematischen Formeln hinausgeht, kann als gegeben betrachtet werden. Stellen Sie alles Übrige in Frage” 

Für Popova ist Kepler sowas wie der Ur-Vater in ihrem Buch. Ein Mann, dessen facettenreiches Leben eine Verflechtung aus Naturwissenschaft, Ästhetik und Theologie war. Von ihm aus leitet sie uns an eine ganze Reihe historischer Charaktäre weiter, die ebenfalls disziplinübergreifend tätig waren, die Grenzen überschritten haben auf der Suche nach Warheit, Schönheit und der Suche nach dem wahren und richtigen Leben.

Für dieses disziplinübergreifende Sein könnte man sich keinen besseren Paten vorstellen als Kepler. Er schrieb eine Abhandlung über Schneeflocken, verfasste eine Stereometrie der Weinfässer, berechnete die Umlaufbahn von Planeten und gab 5 Bücher zur Harmonik der Welt heraus. Seine berühmteste Entdeckung war, dass die Planeten in Elipsen um die Sonne wandern, wobei er mal eben ein 2000 Jahre altes astronomisches Dogma über den Haufen warf und damit den Weg für Newtons Law of Gravity ebnete.

Auch wenn Kepler auch nicht annähernd so berühmt ist wie Newton oder Kopernikus, so ist er doch auf Augenhöhe mit ihnen und er ist einfach eine sehr spannende Persönlichkeit, insbesondere durch seine Mischung aus mathematischer Strenge und ästhetischer Verspieltheit. Er verteidigte seine Mutter, die von der Kirche der Hexerei angeklagt wurde und die er nach langem und qualvollem Prozess am Ende zum Freispruch verhilft. Kepler erkennt auch, dass seine Mutter als Frau nie die Möglichkeit hatte, selbst eine Gelehrte zu werden, sondern ihnen hilflos ausgeliefert war. Das veranlasste Kepler zu einer sehr modernen Erkenntnis:

“Die unterschiedlichen Schicksale der Geschlechter, deutet Kepler an, werden nicht vom Himmel bestimmt, sondern von der irdischen Konstruktion des Geschlechts als kultureller Funktion.”

Nach dem Einstieg mit Kepler fokussiert sich Popova weitestgehend auf weibliche Geschichten und man begegnet hier ein paar sehr interessanten Frauen – alle unerschrockene Denkerinnen – die immense Hindernisse überwinden mussten um astronomische Entdeckungen machen zu können, zu schreiben, zu malen oder die Umweltbewegung zu gründen.

Besonders spannend fand ich die Astronominnen Maria Mitchell und Caroline Herschel, die Mathematikerin Mary Somerville, die Autorin/Kritikerin Margaret Fuller, die Bildhauerin Harriet Hosmer, die Dichterin Emily Dickinson und die Biologin/Umweltaktivistin Rachel Carson. Frauen, die allesamt die Verkörperung von Francois Poullain de la Barres Aussage sind „der Verstand hat kein Geschlecht.“

„Figuring“ ist ein komplex geknüpftes Netz, in dem die Leben dieser Frauen und einem guten Dutzend weiterer wissenschaftlicher und literarischer Figuren über Jahrhunderte und Kontinente hinweg miteinander verbunden sind. Verbunden durch unerwartete Verkettungen  wie gemeinsame Freunde, „Serendipity“ (das wunderbare Wort kann man einfach nicht wirklich übersetzen finde ich), durch Zusammenkünfte, Briefe, Freund- und Liebschaften. Beim Lesen hat man das Gefühl, dass Popovas Hirn durch die immensen Berge an Literatur, die sie liest, mit speziellen Filtern ausgestattet ist, das solche Verbindungen aufspürt:

“Die Welt ist durch geheime Knoten verbunden.” (Athanasius Kircher)

Aber vor allen Dingen gelingt es Popova, diese Menschen greifbar zu machen, man lebt, leidet, liebt mit ihnen und sie alle Leben changierend zwischen Zufall und Entscheidung.

Kreative Arbeit geht aus dem Prozess der Zusammensetzung existierender Gedanken- und Bildfragmente zu neuen Kombinationen hervor.

Gelegentlich bin ich in den Verlinkungen und Verbindungen etwas verloren gegangen, dann hatte ich manchmal das Gefühl beim Lesen Brotkrumen legen zu müssen, damit ich mich von den verwobenen Abschweifungen wieder zum Hauptteil des Kapitels zurückfinde.

Aber es kann ab und an ja auch ganz schön sein sich zu verirren. Man macht überraschende Entdeckungen und am Ende findet man meist wieder zurück. In „Figuring“ treffen wir auf brilliante Menschen mit spannenden Gehirnen – die meisten davon gehören Frauen und die überwiegende Anzahl der Figuren im Buch ist queer und sie alle bestehen darauf, das Leben bis zum Letzten auszukosten und sich von nichts und niemandem aufhalten zu lassen.

Einen der schönsten Sätze sagt die Astronomin Maria Mitchell zu ihren Studenten:

“Lassen Sie das Sternenlicht in ihr Leben sickern und sie werden sich nie mehr über Kleinigkeiten ärgern“

Kepler hätte dem sicherlich zugestimmt.

Große Empfehlung und eine großartige Schatzkiste insbesondere für meine #WomeninScience Reihe

Ich danke dem Diogenes Verlag für das Rezensionsexemplar.

Hirngymnastik Klassische Musik

Ein Jahr voller Wunder – Clemency Burton-Hill

Ich glaube, ich habe nicht viel mit der Krimi-Autorin Donna Leon gemeinsam, außer wahrscheinlich unsere immense Vorliebe für klassische Musik aus der Barock-Zeit und der (nicht ganz ernst gemeinten) Ansicht, die eigentliche Oper endet für uns mit Mozart.

Neben den Barockopern von Händel, Monteverdi, Gluck oder Vivaldi mag ich insbesondere geistliche Musik, was mir wieder zeigt, dass man, um großartige Musik oder auch Architektur (Kirchen) schätzen zu können, nicht unbedingt religiös sein muss.

Die heutige Hirngymnastik befasst sich mit Literatur, in der klassische Musik eine zentrale Rolle spielt.

Die europäische Musik unterscheidet sich sehr von vielen anderen außereuropäischen klassischen Musikformen – durch ihr Notationssystem, das etwa seit dem 11. Jahrhundert in Gebrauch ist. Katholische Mönche entwickelten die ersten Formen moderner europäischer Musiknotation, um die Liturgie in der gesamten Weltkirche zu vereinheitlichen.

Im Gegensatz zu den meisten volkstümlichen Stilen ist die klassische Musik für die Entwicklung hoch entwickelter Formen der Instrumentalmusik wie Symphonie, Konzert, Fuge, Sonate und gemischter vokaler und instrumentaler Stile wie Oper, Kantate und Messe bekannt.

Eines der schönsten Bücher, die ich dieses Jahr gelesen habe ist eines, das mich gelegentlich auch in ganz andere Epochen der klassischen Musik geführt hat und auch wenn das Jahr noch nicht ganz um ist, es ist ganz eindeutig mein Lieblingsbuch dieses Jahr:

Clemency Burton-Hill ist unglaublich enthusiastisch, nicht im Entferntesten versnobt und hat mir riesige Lust gemacht, jeden Morgen das Stück des Tages zu hören. Sie redet über Stücke, die sie in der U-Bahn, bei der Hausarbeit oder auch mal ganz ehrfürchtig in einem Konzertsaal hört. Alle wichtigen Komponisten sind hier und an 366 Tagen (ja, inklusive des extra Tages – also perfekt für das Schaltjahr 2020) stellt sie erfreulich viele Frauen, Nicht-Europäer/Amerikaner und Komponisten vor, die noch leben und arbeiten – viele von ihnen unter 50.

Ein Buch wie dieses wäre vor dem Streaming vielleicht gar nicht möglich gewesen, aber durch das Streaming ist es leicht, sich durch alle 366 Stücke zu hören (meistens an dem dafür vorgesehenen Tag, aber ab und an auch mal ein paar am Stück, wenn ich etwas hinterherhinkte ). Dadurch lernte ich so unglaublich viele neue Stücke/Komponisten kennen und schätzen.

Natürlich hat mir nicht jedes Stück gefallen, aber wer klassische Musik mag, spürt richtig, wie sich der eigene Horizont erweitert. Ein wunderbares Buch und das perfekte Geschenk für eigentlich fast alle Menschen.

Weiter geht es mit dem Genre der Oper. Das rote Opernbuch im Hintergrund habe ich als Kind von Verwandten aus der DDR geschickt bekommen und es hat mich seitdem überall hinbegleitet, wo auch immer ich gewohnt habe. Es ist ein guter erster Anlaufpunkt, wenn man sich über den Inhalt und den Hintergrund einer Oper informieren möchte.

Heute geht das natürlich auch sehr gut mit Wikipedia, dennoch kann ich jedem, der vielleicht auch gerade erst anfängt, sich mit Opern zu beschäftigen, empfehlen, sich ein solches Opernbuch anzuschaffen und/oder auch das Who’s Who in der Oper, ein hilfreiches Handbuch das einem noch mal mehr Einblick in die wichtigsten Figuren gibt, die immer wieder in Opern auftauchen.

Robert Levines „Weep, Shudder and Die“ ist ein sehr kompakter Guide, der noch mal interessante Einblicke in die Welt der Opernliebhaber in den USA gibt, die Auswahl der Komponisten und die Kürze der Opernbeschreibungen waren mir aber eine Spur zu oberflächlich. Es fehlte Händel (!!!).

Etwas umfassender möchte ich euch diesen Roman vorstellen:

Opernroman – Petra Morsbach

Wunderbarer Roman über das Treiben an einem fiktiven Opernhaus in einer fiktiven Stadt. Morsbach wirft einen messerscharfen Blick hinter die Kulissen. Man spürt, dass Petra Morsbach die Bühnen der Welt von innen heraus kennt, denn nur als Insider erlangt man diese Detailschärfe und kann so lebendig und humorvoll über diesen Mikrokosmos schreiben.

Hochs und Tiefs gehören zum künstlerischen Alltag in der Oper. Hinter den Kulissen ist das Geschehen aber fast genauso dramatisch wie auf der Bühne. Einige opfern ihr Leben für die Kunst, während andere recht skrupellos über Leichen gehen um Karriere zu machen. Die Menschen leben hier intensiver, leiden aber auch mehr als anderswo. Die Oper ist ein Ort der Extreme.

In diesem bislang einzigen Nicht-Brunetti Roman von Donna Leon geht es unter anderem um den italienischen Geistlichen, Diplomaten und Komponisten Agostino Steffani (1654 – 1728). Er lebte über zwanzig Jahre in München, was ihn noch einmal interessanter für mich machte.

Das Buch entstand in Kooperatin mit Cecilia Bartoli, einer Opernsängerin, die Ms Leon vor etwa zwanzig Jahren einmal interviewte und die seitdem ihr Opern-Buddie ist. Bartoli nahm eine CD mit Werken von Agostini auf und nur für die CD alleine hat sich der Kauf dieses wunderschönen Buches gelohnt. Der Krimi selbst spielte für mich eher eine untergeordnete Rolle, unterhalten habe ich mich aber auf jeden Fall sehr gut gefühlt.

Caterina Pellegrini ist gebürtige Venezianerin und wie so viele von ihnen musste sie ihre Heimat verlassen, um ihre Karriere fortzusetzen. Mit einem Doktortitel in „Barockoper“ aus Wien landet sie in Manchester. Als Caterina von einer Stelle in ihrer Heimat erfährt, ergreift sie die Gelegenheit beim Schopf und zieht zurück.

Die Stelle ist ziemlich ungewöhnlich. Nach fast drei Jahrhunderten wurden zwei verschlossene Truhen entdeckt, in denen sich vermutlich Papiere eines Barockkomponisten befanden. Mit religiösen und politischen Kreisen eng verbunden, starb der Komponist kinderlos; nun beanspruchen zwei (sehr unsympathische) Venezianer, Nachkommen seiner Cousins, jeweils das Erbe. Caterinas Aufgabe ist es, alle beigefügten Papiere zu prüfen, um so etwas wie eine testamentarische Verfügung des Komponisten zu finden. Doch als ihre Nachforschungen sie in unerwartete Richtungen führen, beginnt sie sich zu fragen, welche Geheimnisse diese Truhen wohl tatsächlich bergen.

Die Juwelen des Paradieses – ein großartiger Roman für Musikliebhaber*innen, eine fesselnde Erzählung über Intrigen, Musik, Geschichte und Gier mit großartiger Musik.

Hier könnt ihr Cecilia Bartolis Steffani-Aufnahme hören

Von Venedig aus reisen wir jetzt ins Deutschland der Bach-Zeit. Bach und Händel sind ja die großen deutschen Komponisten der Barock-Zeit und theoretisch hätten sie sich treffen können, es hat aber tatsächlich nie geklappt.

Die Suche in der häuslichen Bibliothek hat gleich zwei Bücher über Johann Sebastian Bach hervorgebracht – aber sträflicherweise keines über „meinen“ Händel, ein Zustand den ich schnellstens ändern muss.

Als die Musik in Deutschland spielte – Bruno Preisendörfer

Bruno Preisendörfer entführt uns in die Lebenswelt des Barock: Wie kleideten sich die Menschen? Wie sah das Familienleben aus? Tabak kam gerade in Mode und auch der Kaffee und damit der Siegeszug der Kaffeehäuser.

Musik wurde überall gespielt – ob in Gottesdiensten, zur Unterhaltung des Adels, der Bürger oder auf dörflichen Festen. Es war die Zeit von Johann Sebastian Bach, Georg Friedrich Händel und Georg Philipp Telemann, deren Kompositionen uns bis heute nachhaltig berühren.

Preisendörfer breitet ein Füllhorn an Fakten, Anekdoten und Wissen aus, für mich hat die Lesbarkeit manchmal etwas gelitten und mich machte dieses hektische Springen von einer Anekdote zur nächsten irgendwie etwas kirre.

Hätte mir mehr über das Leben Johann Sebastian Bachs gewünscht und etwas weniger Hektik.

Als Bach nach Dresden kam – Ralf Günther

Leider stand auch in diesem Buch nicht etwa Johann Sebastian Bach im Zentrum der Geschichte, sondern der Dresdner Konzertmeister und Direktor der französischen Hofmusik: Jean-Baptiste Volumier.

Im Jahr 1717 ist Volumier Konzertmeister der Hofkapelle August des Starken. Als ihm zu Ohren kommt, dass der skandalumwitterte französische Musiker Louis Marchand nach Dresden geholt werden soll, wird ihm angst und bange: Wird Marchand ihm den Rang streitig machen? Volumier fasst einen Plan: Ein Orgelduell, bei dem er Marchand gegen den größten lebenden deutschen Komponisten antreten lässt: Johann Sebastian Bach wird Marchand überstrahlen, da ist Volumier sicher, und nach einer Blamage wird Marchand das Weite suchen. In Weimar lernt Volumier Bachs Cousine Friedelena kennen. Die Begegnung verändert einiges. Kurz bevor das Tastenduell stattfindet, nehmen die Ereignisse einen unvorhergesehen Verlauf.

Ein unterhaltsames Buch, aber ich wollte doch etwas mehr Bach und weniger Volumier *mit den Füßen trampelt*.

Jetzt aber zwei Bücher über einen Komponisten, bei dem man tatsächlich das bekam, was auch außen drauf stand.

Wir reisen nach Österreich und widmen uns DEM Komponisten der Wiener Klassik: Wolfgang Amadeus Mozart

Mozart: Ein Leben ist eine gut recherchierte Biographie von Maynard Solomon und war 1996 Finalist für den Pulitzerpreis. Sie liest sich wie ein Roman, in dem wir Mozart durch seine frühe Kindheit in Salzburg bis zu seinen gefeierten Auftritten in den Hauptstädten Europas als Wunderkind begleiten.

Solomon folgt ihm nach Wien, wo er heiratet und als vielversprechender junger Komponist nicht nur in Wien, sondern auch in Prag und Deutschland Erfolg hat. Sein Leben überschattet eine sich stetig vertiefende Melancholie, die sich besonders ausprägte als er an seinem letzten Werk, dem Requiem, arbeitet, bevor er im Alter von 36 Jahren viel zu früh stirbt.

Mozart last Aria – Matt Rees

Matt Rees nimmt in seinem Roman das historische Rätsel des Mordes an Mozart unter die Lupe und präsentiert anhand von Fakten und Personen aus dem wirklichen Leben eine mögliche Lösung des Falles.

Zu Beginn der 1790er Jahre steht Europa vor einigen großen Problemen. In Frankreich ist die Französische Revolution im Gange. Preußen und Österreich sind Erzfeinde. Und Mozart verliert unter mysteriösen Umständen sein Leben und vermutet eine Vergiftung. Der Roman beginnt, als seine Schwester Nannerl im Sterben liegt und Mozarts Sohn das von ihr geführte Tagebuch gibt. Als Nannerl von Mozarts rätselhaftem Tod erfährt, verlässt sie ihr Dorf Salzburg und reist nach Wien, wo ihr Bruder Mozart Erfolg hatte und Zugang zu den höchsten gesellschaftlichen Kreisen erlangte. Nannerls Ziel ist einfach: herauszufinden, was mit ihrem Bruder geschehen ist.

Nur ist dem Wien, dem sie begegnet, ein anderes als das ihrer Jugend. Die Atmosphäre ist nicht mehr offen und entspannt, sondern geheimnisvoll und trügerisch. Als Nannerl beginnt, sich umzuhören, gerät sie in ein gefährliches Spiel – sie wird auf der Straße angegriffen und muss um ihr Leben fürchten.

Der Roman war eine verführerische Lektüre. Gleich zu Beginn des Buches stellt Rees dem Leser eine Liste der Charaktere und ihrer Identitäten zur Verfügung, das hilft sehr. Jedes Mal, wenn man glaubt, der Mörder sei entlarvt, schlägt Rees wieder einen Haken. Das Buch hat wirklich Spaß gemacht.

Die Mozart-Lektüre hat mir große Lust gemacht den Film Amadeus wiederzusehen, leider konnte ich ihn nirgendwo streamen, daher musste ich mich vorab erst mal mit dem Trailer begnügen:

Der letzte Roman dieser Hirngymnastik führt uns in die Welt der Kastraten.

Margriet de Moors „Der Virtuose“ hatte ich vor Jahren schon einmal gelesen und war gespannt, wie viel mir noch in Erinnerung geblieben war und wie gut es mir jetzt gefallen würde.

Dieser Roman erzählt die Geschichte eines berühmten Sängers. Der musikalisch begabte Garparo, der in furchtbare Armut hineingeboren wird lässt sich freiwillig und bereitwillig kastrieren, als er fast schon in der Pubertät ist. Danach wurde er ins Konservatorium gebracht und unzählige Stunden lang zu einem der berühmtesten Sänger Neapels ausgebildet.

Es ist die Geschichte der dramatischen Liebesgeschichte zwischen Gaspara und einer reichen Adligen.

Das Buch gibt Einblick in eine Zeit, in der Menschen – egal welcher Klasse sie angehörten völlig verrückt nach der Oper waren. Aristokraten, wie die Heldin des Romans, besuchten das Theater von San Carlo mehrmals in der Woche in ihren Logen, dort wurde gespielt und gegessen, Gespräche über Philosophie geführt und auch Liebesaffären nahmen dort ihren Lauf.

Manchmal widmeten sie sich aber auch der Musik und gingen mitunter sogar bis auf die Bühne, um die Aufführungen aus der Nähe zu sehen! Seither verstehe ich, warum Mahler darauf bestand, dass die Zuschauer ruhig sitzen und zuschauen sollten.

De Moor lässt die Welt der italienischen Musik und der neapolitanischen Aristokratie mit einer Sinnlichkeit aufleben, die einem den Atem raubt.

Der passende Film zum Buch ist natürlich Farinelli:

Zum Abschluß eine Playlist meiner liebsten klassischen Stücke:

Ich hätte gerade riesige Lust dazu. Habe mich für Ende Dezember um Tickets beworben an der Münchner Staatsoper, aber noch weiß ich nicht ob es geklappt hat. Wir werden sehen.

Ich hoffe ich konnte euch etwas Lust machen auf klassische Musik – habt ihr Lieblingskomponisten oder Stücke die ihr mir empfehlen würdet? Geht ihr gerne in die Oper?

Hirngymnastik Soziologie

Vielleicht ist man prädestiniert dafür, zur Archäologin oder Soziologin seiner Selbst zu werden, wenn man einigermaßen prekär und bildungsfern aufwächst. Von klein auf haben mich Familien fasziniert (ich wollte unbedingt bei den Waltons leben und an so einem langen Tisch zu Abend essen) und war stets fasziniert von den Bücherregalen, den Klavieren, der Weitläufigkeit der Häuser (die meine Oma putzte), im Gegensatz zu der beengten Sozialwohnung, in der ich mit meinem Bruder bei meiner Oma lebte.

Der Zusammenhang zwischen Bildung und Herkunft ist eine Frage, die mich seit Jahren endlos fasziniert. Ich habe unermüdlich die Bildungslebensläufe verschiedenster Menschen gescannt, auf der Suche nach Ähnlichkeiten.

Eine der ersten großen Erkenntnisse für mich war, dass nicht alle gebildeten Menschen unbedingt reich an Geld sind, sie aber in der Regel aus bildungsnahen Umfeldern kommen. Also Eltern haben mit „guten Berufen“, die ihre Kinder zum Lernen animieren und die zu Hause Bücher haben.

Unser Viertel war interessant durchmischt. Einige Familien aus Italien, dem ehemaligen Jugoslawien und viele sogenannte Aussiedler und Deutsche. Insbesondere unter den Deutschen fiel auf, dass viele der alten Leute (wie z.B. meine Oma) zur Gruppe „arm aber bildungs-wertschätzend“ gehörten, viele der jüngeren eher zu den Menschen, über die RTL2 Brennpunkt-Dokus macht und die Bildung eher als etwas lästiges betrachten.

Daher waren viele der Kinder, mit denen ich in der Nachbarschaft unterwegs war, eher der Brennpunkt-Gruppe zuzuordnen. Es war wohl viel Zufall und persönliches Glück (vorlesende Großeltern zum Beispiel) dabei, dass ich mich in der Schule eher zu den bildungsnahen Kindern hingezogen fühlte und somit von klein auf Lust auf Bildung hatte.

Und genau diesen Mikrokosmos finde ich so spannend. Nature vs Nurture – was liegt in den Genen, was im Umfeld und welches Umfeld prägt einen mehr, welches weniger? Was ist mir selbst, meinem IQ, meiner Familie geschuldet und was meinem Milieu?

Die Auswahl der Bücher zu dieser Hirngymnastik ist insofern auch noch mal interessant, als es (wirklich ohne dass ich das vorher wußte) drei Autor*innen sind, die ebenfalls ursprünglich aus der „Arbeiterklasse“ kommen und sich durch Bildung aus diesem Milieu entfernt haben.

Dass der einzige wirkliche Ausweg oft nur über ganz besondere Begabung geht, hat mich oft zur Verzweiflung gebracht. Vielleicht gibt es Ausnahmen die ich noch nicht getroffen habe, aber man hört bzw. liest eigentlich nur von den Bildungsaufsteigern, die wie Bourdieu, Ernaux oder Eribon unfassbar klug sind und/oder sich über Stipendiate etc. auf Elite-Universitäten bugsiert (Tara Westover) haben.

Mich hat es zur Verzweiflung gebracht, weil ich keine Hochbegabung habe. Ich bin in der Realschule gerade mal so mitgekommen, auch – aber nicht nur – weil Lehrer von vorne rein nicht glauben, dass man irgendwas kann, wenn man aus bestimmten Wohngegenden kommt – ich hätte niemals ein Stipendium für irgendeine Uni bekommen und das ist der Punkt, wo ich merkte, es muss sich strukturell etwas ändern, damit Kinder, die jetzt in Brennpunkten aufwachsen, überhaupt eine Chance haben.

Auch dort wird es Kinder geben, die es verdient hätten, in die Bildungsaristokratie aufzusteigen, die aber so weit weg von allem sind, was mit Bildung zu tun hat, dass es nicht einmal teilweise auf ihrem Bildungshorizont auftaucht. Die keine mega Begabung für irgendwas haben, sondern ganz „normal“ intelligent sind.

Die genau so gut Englisch / Spanisch / Französisch sprechen könnten wie ihre Mitschüler, deren Eltern es sich leisten können mit ihnen in den Sommerferien ins entsprechende Land zu fahren und die dann erstaunlicherweise die Sprache so viel besser sprechen, als die, die es sich „nur“ alleine zu Hause beigebracht haben. Die genauso gut in einer Sportart sind, wie die Kinder der Eltern, die sich Sportlager leisten können oder die genauso gut oder schlecht in Mathe / Deutsch etc. sind wie die Kinder, deren Eltern sie auf Internate schicken können, wo man in speziellen kleinen Klassen aufs Abitur vorbereitet wird und das Wissen einem portionsweise zugefüttert wird.

Was mich mein Leben lang schon immens wütend macht, ist der Glaube von ganz vielen „erfolgreichen“ Menschen da draußen, dass es einzig an ihrer harten Arbeit, ihrem IQ und was weiß ich liegt, dass sie da sind, wo sie sind und sie nicht sehen wollen, dass es auch hier, wie so oft, einfach nur Privilegien sind, die sie haben und die ihnen in den meisten Fällen einfach nicht bewusst sind.

Ich habe es rausgeschafft aus meinem Mileu aus einer Brennpunkt-Kindheit durch meine Oma, die uns rausgeholt und bei sich aufgenommen hat, obwohl sie eine Mini-Rente hatte und ich bis heute nicht weiß, wie sie das geschafft hat.

Ich habe es den bildungsnahen Familien meiner Freundinnen in der Kindheit zu verdanken, mit denen ich trotz der bösen Brennpunkt-Herkunft spielen durfte und der Leihbücherei, die mein zweites Zuhause war 🙂

Aber genug von mir und meinem Rant – jetzt doch mal etwas zu den Büchern für diese Hirngymnastik – sie haben nur einfach eine Menge bei mir in Bewegung gesetzt.

„Gesellschaft als Urteil“ von Eribon ist ein großartiges Buch, es gelingt ihm an vielen Stellen Worte zu finden für Erfahrungen, die ich gut kenne, die ich aber nie so hätte benennen können:

„Wenn man als Kind seine Ferien im Landsitz der Großeltern verbringt, wenn man übers Wochenende ins Landhaus der Eltern oder Geschwister fährt, resultiert daraus ein anderer Selbstbezug, ein anderer Bezug zur Welt und zu den anderen, als wenn man eine Kindheit ohne Ferien erlebt oder man die Ferien im Ferienlager, mit den Eltern auf dem Campingplatz oder in einem Wohnmobil verbracht hat.“

„Sie verfügen nicht über das soziale Kapital der Privilegierten, sie beherrschen nicht die notwendigen Codes. Dieser Unterschied spielt in den Details des beruflichen und privaten Lebens eine wichtige Rolle. Man fühlt sich unwohl, wenn man in einem bürgerlichen Haus zu Gast ist, man weiß nicht, wie man im Restaurant mit dem Besteck umzugehen hat, man ignoriert die passenden Redeweisen in bestimmten Situationen usw.“

Das z.B. geht mir heute noch exakt so, bei den Treffen der Freunde des Literaturhauses. Die sind alle wirklich sehr symphatisch, aber wann immer ich sie treffe, fühle ich mich wie eine Außerirdische, umgeheben von all den Studienrät*innen, Professor*innen und einfach sehr vornehm und gebildeten Menschen.

„Es versteht sich von selbst, dass eine aufsteigende soziale Bahn den Aufsteiger nicht zum exakt gleichen Status oder zur exakten Position derjenigen führt, die schon lange oben sind. Füllen zwei Menschen die gleiche Position oder Profession aus, dann unterscheiden sie sich durch die Dauer ihrer Klassenzugehörigkeit. Kumuliertes ökonomisches Kapital (Eigentumswohnungen, Häuser, ererbte Güter usw.) und ein seit der Kindheit verfügbares kulturelles Kapital (mobilisierbare Beziehungen innerhalb des eigenen Milieus, der eigenen Familie und über diese hinaus) können bei einem nominell identischen Status zu großen Wertunterschieden führen. Auch die scheinbar vollständige Gleichheit wird von einer Ungleichheit der Herkunft durchzogen“.

Bei dem letzten Zitat muss ich an einen Abschnitt aus einer Biografie von Marion Gräfin Dönhoff denken. Sie beschreibt darin ihre Flucht aus Ostpreußen und wie sie auf einem Pferd ohne irgendwelches Hab und Gut die Flucht ergreift, an den endlosen Flüchtlingtrecks vorbei reitet und nachts auf der Suche nach Unterkunft für die Nacht schnurstracks aufs nächste Schloß zureitet und ganz selbstverständlich dort ans Tor klopft und die Nacht verbringt. Das hat mich endlos fasziniert, diese Selbstverständlichkeit.

Das perfide an Privilegien ist eben, das man sich ihrer nicht bewusst ist. Einfach dadurch, dass man gewisse Dinge NICHT erlebt, machen sie sich bemerkbar. Wir alle haben Privilegien und je mehr wir uns ihrer bewusst werden, desto sensibler können wir miteinander umgehen und je eher ist uns wichtig, immer mehr Menschen an diesen Privilegien teilhaben zu lassen bzw. strukturell dafür zu sorgen, dass sie eine immer kleinere Rolle spielen.

Eine große Gefahr besteht darin, dass die unterschiedlich wenig privilegierten Menschen gegeneinander ausgespielt werden.

Annie Ernaux Buch „Die Jahre“ ist ein eindringliches Zeitdokument. Sie erzählt die französische Geschichte der vergangenen Jahrzehnte anhand von privaten Fotografien, populären Medien und ihren eigenen Erinnerungen.

Damit gelingt ihr, der „Ethnologin ihrer selbst“, ein scharfsinniges Gesellschaftsporträt, in dem sie über ihre Kindheit in der Nachkriegszeit, den Algerienkrieg, ihr Schreiben, ihre Mutterschaft, die 68er, ihre Emanzipation, den Mauerfall bis hin zu ihrem eigenen Altern schreibt.

„Die Geschehnisse überstiegen unsere Vorstellungskraft – also hatte man den Kommunismus für unsterblich gehalten – und unsere Gefühle hielten nicht mit der Wirklichkeit Schritt. Man hinkte den Ereignissen hinterher und beneidete die Osteuropäer, weil sie alles unmittelbar miterlebten. Als sie dann in Westberlin die Geschäfte stürmten, blickte man konsterniert auf ihre katastrophale Bekleidung und die Tüten voller Bananen. Ihre Unerfahrenheit mit dem Konsum war rührend. Dann begann uns ihr kollektiver Hunger nach Materiellem zu ärgern, ihre fehlende Zurückhaltung, ihr mangelnder Stil. Offenbar waren sie der Freiheit, die wir für sie geschaffen hatten, der reinen, abstrakten Freiheit, nicht gewachsen. Das Mitleid, das man jahrelang für die Menschen „unter dem Joch des Kommunismus“ empfunden hatte, schlug in Missbilligung darüber um, wie sie von ihrer neu gewordenen Freiheit Gebrauch machten. Als sie noch um Wurst und Bücher angestanden hatten und es ihnen an allem gefehlt hatte, waren sie uns lieber gewesen, damals hatte man sein Überlegenheitsgefühl und das Glück der „freien Welt“ anzugehören, viel besser auskosten können.“

Was uns final nun zu Pierre Bourdieus „Die feinen Unterschiede“ bringt. Ich war sehr gespannt auf dieses Buch, das 1979 erschienen ist und noch heute selbst gebraucht 26 € kostet. Eribon schwärmt in den höchsten Tönen davon, Goodreads überschlägt sich und ich…

…. habe es einfach nicht verstanden. Ich bin sicher, es ist unfassbar klug, aber es ist kein Buch, dass man abends lesen kann, wenn man 10 Stunden gearbeitet hat. Man muss sich jeden Absatz erkämpfen und das Buch verdient es sicherlich auch so gelesen zu werden, nur habe ich dafür im Moment nicht genug Zeit, Energie und vielleicht bin ich auch einfach nicht gebildet genug für diese Lektüre.

Die Hirngymnastik Soziologie hat mir viel Spaß gemacht. Ich habe parallel auch den Kurs an der Zeit Akademie besucht und möchte noch das eine oder andere von Aladin El-Mafaalani, Judith Butler, Ulrich Beck und Kate Kirkpatrick z.B. lesen.

Ich hoffe, diese Hirngymnastik war nicht zu persönlich – ich habe beim Schreiben definitiv gemerkt, dass mich das Thema sehr bewegt und zum Nachdenken gebracht hat.

„Jede etablierte Ordnung neigt dazu, die Naturalisierung ihrer eigenen Willkür zu produzieren“ // Pierre Bourdieu

Women in Science (29) Henrietta Lacks

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Henrietta wurde am 1. August 1920 in Roanoke, Virginia, als Loretta Pleasant geboren. Irgendwie wurde über die Zeit ihr Name zu Henrietta.

Mit siebzehn heiratete Henrietta, einen jungen Mann namens Day mit dem sie fünf Kinder bekam. Das Krankenhaus John Hopkins das ganz in ihrer Nähe war, war ein Ort den Henrietta und viele andere Schwarze ihr Leben lang fürchteten, denn es hielten sich hartnäckig die Gerüchte, das sie nicht die gleiche Qualität  bekommen würden, wie Weiße und schlimmer noch, dass in dem Krankenhaus medizinische Experimente an ihnen durchgeführt wurden. Es gab auch Gerüchte, dass Chirurgen routinemäßig Hysterektomien bei schwarzen Frauen durchführten, wenn diese mit Bauch- oder Beckenschmerzen kamen ins Krankenhaus gingen.

Hätte Henrietta nicht selbst den „Knoten auf ihrer Gebärmutter“ertastet und geahnt, dass es sich dabei höchstwahrscheinlich um Krebs handelt, wäre sie wohl auch nicht ins Krankenhaus gegangen.

Im Jahr 1951 entnimmt ein Chirurg am Johns Hopkins Hospital in Baltimore ein Stück Krebsgewebe aus dem Gebärmutterhals der 30-jährigen Frau. Sie hatte eine „Operationserlaubnis“ unterschrieben, die es ihm erlaubte, Radium in ihren Gebärmutterhals einzubringen, um damit ihren Krebs zu behandeln, aber niemand hatte ihr irgendetwas erklärt. Und niemand sah voraus, dass Henrietta Lacks, eine Schwarze mit kaum sechs Jahren Schulbildung und fünf Kindern, die Mutter der modernen Medizin werden würde.

Das Gewebe, das aus ihrem Gebärmutterhals entnommen wurde, wurde Dr. George Gey übergeben. Er glaubte, dass er die Ursache von Krebs – und dessen Heilung – finden könnte, wenn er eine sich ständig teilende Linie von bösartigen menschlichen Zellen finden würde, die alle aus derselben Probe stammen. Er beschriftete jedes Röhrchen mit den ersten beiden Buchstaben des Vor- und Nachnamens des unfreiwilligen Spenders: HeLa

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Im Gegensatz zu allen anderen Zellen, die sie bisher entnommen hatten, starben diese nicht ab. Gey begann, die unsterblichen Zellen an Kollegen weiterzugeben. Innerhalb von zwei Jahren gingen die HeLa-Zellen in Massenproduktion. Sie wurden kommerzialisiert und weltweit vertrieben, was für die Entwicklung von Impfstoffen und viele medizinische Fortschritte von zentraler Bedeutung war. Bis 2017 waren HeLa-Zellen in 142 Ländern untersucht worden und hatten Forschungen ermöglicht, die zu zwei Nobelpreisen, Unmengen an Patenten und wissenschaftlichen Arbeiten führten und Henriettas Rolle als Mutter der modernen Medizin begründeten.

Henrietta starb am 4. Oktober 1951. Niemand hatte Henrietta oder ihre Familie darüber informiert, dass die Zellen noch existierten. Niemand hatte die Pläne und Experimente mit den HeLa-Zellen erwähnt. Niemand hatte um Erlaubnis gebeten, sie mitzunehmen oder zu benutzen.

In den folgenden Jahrzehnten konzentrierte sich die Familie Lacks darauf, herauszufinden, was es für sie bedeutet, dass ihre Zellen am Leben sind. Henrietta Lacks Zellen haben der Wissenschaft zu unschätzbaren Erfolgen verholfen und die Familie selbst hatte ihr Leben lang so wenig Geld, dass sie sich nicht einmal eine Krankenversicherung leisten konnten.

Erst im Jahr 2009 wurde von der Autorin des Buches Rebecca Skloot, eine Stiftung ins Leben gerufen, die Henrietta Lacks Foundation. Die Aufgabe der Stiftung besteht darin, „bedürftigen Personen und ihren Familien, die wichtige Beiträge zur wissenschaftlichen Forschung geleistet haben, ohne persönlich von diesen Beiträgen zu profitieren, finanzielle Unterstützung zu gewähren, insbesondere jenen, die ohne ihr Wissen oder ihre Zustimmung in der Forschung eingesetzt werden“. Darüber hinaus gibt sie den unzähligen Menschen, die von ihren Beiträgen profitiert haben, eine Möglichkeit, ihnen ihre Wertschätzung zu zeigen. Bis heute haben Mitglieder der Familie Lacks und andere mehr als 50 finanzielle Zuwendungen in unterschiedlicher Höhe erhalten.

Rebecca Skloot hat einen Wissenschaftskrimi geschrieben, der so spannend ist, dass man sich beim Lesen immer mal wieder in Erinnerung rufen muss, dass es sich hier um tatsächliche Begebenheiten handelt. Wäre man mit Henrietta und ihren Zellen auch so umgegangen, wenn sie nicht aus einer bildungsfernen, armen, schwarzen Familie gestammt hätte?

Ein Buch das viele ethische Fragen aufwirft und mich noch lange beschäftigen wird.

Habt ihr schon von Henrietta Lacks und ihrer Rolle in der Medizin gehört?

Hirngymnastik Krieg

Those people who think they know everything are a great annoyance to those of us who do // Isaac Asimov

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Diese Hirngymnastik hat sich mit der Frage beschäftigt: Ist Krieg ein fest verankerter Teil unserer DNA? Oder ist Gewalt eine Verirrung und wir sind von Natur aus Pazifisten?

Natürlich ist diese Frage nicht neu. Gewalt ist in der Regel auch nur eine Taktik, um bestimmte Ziele zu erreichen: Nahrung, Partner, Territorium, Überleben.

Früher war die vorherrschende Weisheit, dass Gewalt unter Menschen mit der Entwicklung dauerhafter Siedlungen und der Landwirtschaft zusammenfiel. Die Landwirtschaft führte zu konzentrierten Gebieten, in denen Wohlstand geschaffen wurde, was die Entwicklung sozialer Hierarchien beschleunigte, was wiederum Raubzüge durch Jäger- und Sammlerbanden auslöste. In dieser strukturellen Interpretation der Geschichte waren die Dörfer, die Landwirtschaft und der konzentrierte Wohlstand die Hauptantriebskräfte der Kriegsführung, nicht die menschliche Lust oder die Natur.

Neunzig Prozent der Musketen, die nach der Schlacht von Gettysburg eingesammelt wurden, waren geladen, oft mit zwei oder mehr Kugeln, da die Männer jede Ausrede nutzten, um ihre Waffen nicht abzufeuern und dabei vorgaben, nachzuladen, anstatt sich in die Schlacht zu stürzen.

An Weihnachten 1914 feierten Deutsche und Briten gemeinsam, sangen sich aus ihren Schützengräben heraus Weihnachtslieder zu und trafen sich dann, um Geschenke auszutauschen, Fußball zu spielen und zu feiern. Bis zu dem Punkt, an dem die Generäle den Befehl verstärken mussten, sich nicht mit dem Feind zu verbrüdern.

Von Troja bis Waterloo und von Korea bis Vietnam haben nur wenige Armeen ohne die Hilfe von Rauschmitteln gekämpft und ich wusste zum Beispiel nicht, dass beispielsweise die deutsche Wehrmacht Methamphetamin-Pillen an Soldaten verteilte (alias Crystal Meth, eine Droge, die extreme Aggressionen hervorrufen kann), eine Droge, die auch im Vietnam Krieg eine große Rolle spielte.

Ich neige nach der Lektüre dieser Bücher eher zu dem Schluss, dass der Mensch nicht von Natur aus kriegerisch ist und dass Menschen gerade in riskanten, dramatischen Situationen über sich hinauswachsen, emphatisch und hilfsbereit sind.

Ich denke Menschen sind zu großer Gewalt fähig, aber sie haben auch Normen der Zusammenarbeit und Kooperation entwickelt. Wir sind ein Bündel von biologischen Impulsen, teils Rousseau und teils Hobbes, teils Bonobo und teils Schimpanse.

Hier eine detaillierte Besprechung der Bücher, die ich für diese Hirngymnastik gelesen habe:

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Die Söhne des Mars – Eine Geschichte des Krieges von der Steinzeit bis zur Antike ist keine herkömmliche Beschreibung der Kriegsgeschichte. Der Althistoriker will vielmehr aufzeigen, welche Umständen und Dynamiken vorherrschten, die den Krieg von einer eher selten auftretenden Absonderlichkeit in den Anfängen der Menschheitsgeschichte zu einem alltäglichen Thema werden ließen.

Er vertritt die These, dass der Mensch nicht von Natur aus ein Krieger ist, sondern vielmehr erst durch die kulturelle Evolution dazu gemacht wurde.  Seiner Ansicht nach geschah dieser Paradigmenwechsel durch das Schwert.

Im Gegensatz zu allen früheren Waffen, die der Mensch erfand, ob Steinäxte, Speere oder Pfeil und Bogen ist das Schwert die erste reine Kriegswaffe. Sie setzt eine hoch entwickelte Technologie voraus, sowie eine arbeitsteilige Gesellschaftsform. Stellenweise hat mir Eich ein bisschen zu viel über die Techniken und Feinheiten der Bronzegießerei verloren, aber das ist eine der wenigen Kritikpunkte, die ich an dem Buch habe. Schwerte waren von Anfang an Machtinstrumente und ich fand es überaus spannend zu lesen, wie Eich die wirtschaftlichen, technischen und sozialen Entwicklungen verknüpft, um ein sehr anschauliches Bild der Geschichte des Krieges zu zeichnen.

„Abgesehen von der Effizienzsteigerung militärischer Gewalt ging mit dieser erneuten Runde der Eskalation und Erschöpfung kein geschichtlicher Lernprozess im Sinne von Lessings „Erziehung des Menschengeschlechts“ einher. So ist es seitdem geblieben. Dieser negativen historischen Erfahrung steht gegenüber, dass die Triebkraft der Gewalt erst relativ spät in der Geschichte der menschlichen Spezies einsetzt“

Für Eich sind die zahlreichen Massaker der Steinzeit Belege für eine der Situation geschuldeten Aggressivität und deutet nicht auf eine inhärente Eigenschaft des Menschen hin.

Er schlägt sich in dem uralten Streit zwischen Hobbes (Homo homini lupus – Ein Wolf ist der Mensch dem Menschen) und Rousseau (der den Menschen im Naturzustand den Einklang mit der Natur suchen sieht und der erst durch die Zivilisation das Böse lernte) eher auf die Seite Rousseaus.

Diese Debatte geht auf die größeren Fragen ein: Warum kämpfen wir? Und wie verringern wir die Gewalt unter den Menschen? Die Antworten, die vielleicht noch in noch nicht ausgegrabenen archäologischen Ausgrabungen vergraben sind, können darüber entscheiden, wie wahrscheinlich Frieden in unserer Zukunft ist.

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In „Wired for War“ – The Robotics Revolution and Conflict in the 21st Century“ erforscht P. W. Singer die größte Revolution im militärischen Bereich seit der Atombombe: den Beginn der robotergestützten Kriegsführung. Wir stehen an der Schwelle zu einem massiven Wandel in der Militärtechnologie, der die Stoffe von „I Robot“ und „Terminator“ Wirklichkeit werden zu lassen droht.

Er vermischt historische Beweise mit Interviews und zeigt, wie die Technologie nicht nur die Art und Weise verändert, wie Kriege geführt werden, sondern auch die Politik, die Wirtschaft, die Gesetze und die Ethik, die den Krieg selbst umgeben.

Leider sind nach Singers Ansicht nicht nur Roboter die, die „wired for war“ sind, sondern auch die Menschen. Wie Singer zu Recht sagt sind die ursprünglichen Sünden unserer Spezies ihre Unfähigkeit, in Frieden zu leben. Der schlimmste Alptraum eines demokratisch gewählten Politikers ist allerdings ein Krieg, der viele menschliche Opfer fordern kann. Das ist nämlich auch der sicherste Weg zu einer vernichtenden Niederlage bei der nächsten Wahl. Es ist daher keine Überraschung, dass das Militär weltweit der größte Geldgeber für Roboterforschung und -entwicklung ist, wobei das US-Militär bis zu 80 Prozent der gesamten KI-Forschung in den USA finanziert. Tote Roboter hinterlassen eben keine trauernden Familien.

„Every vehicle is a robot waiting to happen“

Roboter sind ideal für Rollen, die von menschlichen Soldaten als die „Drei Ds“ („Dull, Dirty or Dangerous“) bezeichnet werden. Der menschliche Pilot wird nach 10 Stunden in der Luft vor Müdigkeit, Hunger oder einem Druck in der Niere ohnmächtig? Kein Problem, ersetzen wir ihn durch einen Roboter.

Die DARPA (Defense Advanced Research Projects Agency)  arbeitet nach eigenen Aussagen an einer Drohne, die bis zu fünf Jahre lang in der Luft bleiben kann.  Technologie hat einfach nicht die gleichen Einschränkungen wie der menschliche Körper. Ein aktueller Jagdbomber kann so schnell und hart manövrieren, dass sein Pilot sofort ohnmächtig würde. Die Lösung? Roboterpiloten, die Kampfflugzeuge ohne menschlichen Einsatz „bemannen“. Das hilft auch, die Entscheidungsschleifen dramatisch zu reduzieren. Selbst der beste menschliche Kampfpilot braucht mindestens 0,3 Sekunden, um auf einen einfachen Reiz zu reagieren, und sogar doppelt so lange, um aus einer Reihe von Möglichkeiten die richtige Handlung auszuwählen. Wie viel Zeit braucht ein Roboterpilot für die gleiche Aufgabe? Weniger als eine millionstel Sekunde.

Der Mensch wird zum schwächsten Glied in jedem Verteidigungssystem. Die Zukunft wird nicht wie in Star Wars-Filmen sein, in denen Y-Wings und TIE-Kampfflugzeuge von Menschen mit minimaler Roboterunterstützung (R2D2, BB8 usw.) geflogen werden. Stattdessen wird es Roboterpiloten geben, weil Menschen gegen sie keine Chance hätten.

„Those vested in the current system, or whose talents and training might become outdated by new technologies, will fight any change that threatens to make them obsolete or out of work, or in any way harms their prestige“

Unbemannte Systeme können die schrecklichen menschlichen Kosten des Krieges mindern. „Cubicle Warriors“, die ihre Drohnen in Afghanistan oder im Irak steuern, während sie in klimatisierten Büros irgendwo in Nevada sitzen, werden wahrscheinlich nie selbst zum Kriegsopfer werden. Die geringen drohenden Verluste von Menschenleben können für Politiker sehr verführerisch sein und es ihnen künftig viel leichter machen, sich für einen Krieg zu entscheiden. In der Zukunft könnte das Dilemma, Menschenleben zu opfern, vollständig durch eine kaltherzige Wirtschaftlichkeitsberechnung über die Kosten der erforderlichen Investitionen in Roboter ersetzt werden.

„The forecast of the writers may prove to be more accurate than the forecast of the scientists“

Das Kapitel über die „Singularität“ hat mich etwas gestört, weil es einen deutlichen Mangel an Verständnis für den aktuellen Stand der Technik zeigt. Computer werden im Moment nicht schneller. Die Prozessorgeschwindigkeiten haben sich in den letzten Jahren bei etwa 3,0 GHz eingependelt, weil jede Beschleunigung und entsprechende Wärmeableitung zu einem unlösbaren Problem wird. Sogar die Geschwindigkeit von Supercomputern erreicht aus den gleichen Gründen eine Obergrenze.

Der spannenste Teil in „Wired for War“ war für mich der Teil, in dem Singer aufzeigt, wie Science-Fiction die Entwicklung der Militärtechnologie beeinflusst hat. Er vertritt den Standpunkt, dass Science-Fiction die Wissenschaftler dazu inspiriert hat, diese Dinge Wirklichkeit werden zu lassen.

Im Großen und Ganzen ist das Buch informativ, durchdacht und zugänglich und er bestärkt den Leser darin, sich kritisch über den Einsatz von Technologie und die  damit verbundenen ethischen Implikationen Gedanken zu machen.

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The wise warrior avoids the battle.

Die Kunst des Krieges ist ein altes chinesisches Militärtraktat aus der Frühlings- und Herbstzeit (etwa 771 bis 476 v. Chr.). Das Werk, das dem altchinesischen Militärstrategen Sun Tzu („Meister Sonne“, auch Sunzi geschrieben) zugeschrieben wird, besteht aus 13 Kapiteln. Jedes widmet sich einem bestimmten Aspekt der Kriegsführung und der Frage, wie sich das auf die Militärstrategie und -taktik auswirkt. Fast 1.500 Jahre lang war es der Leittext einer Anthologie, die 1080 von Kaiser Shenzong als die „Sieben Militärklassiker“ formalisiert werden sollte. Die Kunst des Krieges ist nach wie vor der einflussreichste Strategietext in der ostasiatischen Kriegsführung. Sie hat einen tiefgreifenden Einfluss sowohl auf das militärische Denken im Osten als auch im Westen, auf Geschäftstaktiken, Rechtsstrategien und darüber hinaus.

The supreme art of war is to subdue the enemy without fighting.

Die Kunst des Krieges ist nicht nur offensichtliche Lektüre für Menschen in militärischen Berufen, sondern sondern wird auch vielfach in der Wirtschaft, insbesondere für das Management empfohlen und sicherlich können viele der Lektionen des Buches auf fast jeden Bereich angewendet werden, in der es um Interaktion mit anderen geht, die einen Sieger hervorbringt. Dabei geht es nicht nur um Kriege und Wettkämpfe im klassischen Sinne, sondern zum Beispiel um Alltagssituationen, in denen Verhandlungsgeschick notwendig ist.

All warfare is based on deception.

Jede Kriegsführung basiert auf Täuschung. Ohne Täuschung hätte zum Beispiel der Zweite Weltkrieg nicht gewonnen werden können, denn während die echten Invasionstruppen an den Stränden der Normandie eintrafen, fielen dieNazi-Streitkräfte an anderer Stelle auf falsche Botschaften, eine fake Militär-Siedlung und sogar unechte Panzer rein, die aus der Luft wie echte aussahen.

So in war, the way is to avoid what is strong, and strike at what is weak.

Es gibt keinen Fall, in dem eine Nation von einem verlängerten Krieg profitiert hätte. Im Krieg geht es also darum, das Starke zu meiden und das Schwache anzugreifen.

Es gibt fünf gefährliche Fehler, die einem General unterlaufen können:
(1) Rücksichtslosigkeit, die zur Zerstörung führt;
(2) Feigheit, die zur Gefangennahme führt;
(3) ein übereiltes Temperament, das durch Beleidigungen provoziert werden kann;
(4) eine übertriebene Ehrempfindung, die empfindlich auf Scham reagiert;
(5) übertriebene Fürsorglichkeit für seine Männer

Zuletzt noch ein belletristisches Werk zu dieser Hirngymnastik:

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Sarat Chestnut, geboren in Louisiana, ist erst sechs Jahre alt, als im Jahr 2074 der Zweite Amerikanische Bürgerkrieg ausbricht. Aber selbst sie weiß, dass Öl verboten ist, dass Louisiana halb unter Wasser liegt, dass unbemannte Drohnen den Himmel füllen.

Als ihr Vater getötet wird und ihre Familie in Camp Patience für Vertriebene eingewiesen wird, beginnt sie – geprägt durch den besonderen Ort und die verrückten Zeiten in denen sie aufwächst durch den Einfluss eines mysteriösen Funktionärs zu einem tödlichen Kriegsinstrument zu werden.

Ihr Neffe, Benjamin Chestnut, der während des Krieges geboren wurde und zur „Miracolous Generation gehört“ erzählt ihre Geschichte. Heute ist er ein alter Mann, der sich mit dem dunklen Geheimnis seiner Vergangenheit, mit der Rolle seiner Familie in dem Konflikt und insbesondere mit der seiner Tante konfrontiert sieht, einer Frau, die ihm das Leben rettete und gleichzeitig unzählige andere zerstörte.

Die Protagonistin, Sarat, ist eine interessante und tragische Figur, aber es war manchmal wirklich schwer, Sympathie für sie zu empfinden. Einige ihrer Handlungen waren vorhersehbar, um nicht zu sagen fast karikaturhaft.

Hier gibt es keine hellen Töne, es ist eine Geschichte Amerikas, in der seine Vorherrschaft in der Welt mit einem großen Teil seines Landes untergegangen ist, in der ökologische Veränderungen die Wüsten in verwüstete Gebiete verwandelt haben, in der die Politik auf den Kopf gestellt wurde – überall sonst dank des Endes der Öl-Energie-Krise, und in der Seuchen und Kriege den Boden Amerikas verwüstet haben.

Es ist schwer zu sagen, was genau Omar El Akkad mit seinem Buch falsch gemacht hat, denn oberflächlich betrachtet scheint es sich um einen gut konstruierten Roman zu handeln. El Akkad verknüpft die Geschichte von Sarat mit der imaginären Vision eines zweiten amerikanischen Bürgerkriegs. Die Welt, die sich in diesem Roman aufbaut, ist immens, und Nachrichtenartikel sind wie historische Versatzstücke über die gesamte Erzählung verstreut. Aber wenn man genauer hinsieht, gibt es jede Menge klaffender Löcher.

Was ist mit dem gegenwärtigen sozialen Klima in Amerika, mit dem institutionalisierten Rassismus und der Polizeibrutalität? Wie kann El Akkad für seine Erzählung so stark auf den ersten amerikanischen Bürgerkrieg zurückgreifen und die Frage der Sklaverei und des Rassismus völlig ignorieren? Wie kann der Süden weiterhin fossile Brennstoffe nutzen, wenn der Rest des Landes dies nicht mehr tut? Wie kam es zur Annexion einer großen Region der USA durch Mexiko? Wie um alles in der Welt haben sich alle Länder des Nahen Ostens im Laufe von etwa fünfzig Jahren (?!?!) zu einer Republik zusammengeschlossen?

Dies sind nur einige der Fragen, die „American War“ für mich unbeantwortet gelassen hat. Vielleicht sind sie nicht der Punkt, aber es hat mich genervt, dass der Roman nicht einmal versucht, dem Leser einigermaßen zufriedenstellende Antworten geben zu können.

Mein zweites Problem bei diesem Buch ist, dass es langweilig und wirklich ermüdend ist. Ich konnte partout keine Verbindung zu Sarat oder irgendeine andere Figur aufbauen. Ich hatte mich sehr auf diese Dystopie gefreut, klang die Ausgangssituation doch überaus spannend. Ich hätte wahrscheinlich einige der Plotlöcher durchaus verzeihen können, wenn ich wenigstens etwas Sympatie für die Figuren hätte aufbringen können. So war ich aber einfach nur froh, als ich das Buch nach etwa 2/3 abgebrochen habe.

Hat einer von Euch den Roman gelesen und eine andere Erfahrung gemacht? Es kann auch durchaus an mir gelegen haben.

Die Thematik war viel spannender als ich dachte, aber ich bin auch froh, mich mal wieder mit anderen Themen beschäftigen zu können. Allerdings, falls jemand auf der Suche nach einem Kriegsgeneral ist, stehe ich gern zur Verfügung, denn aufgrund dieser Hirngymnastik bin ich jetzt mit Kriegstaktiken bestens vertraut. Bitte nur ernstgemeinte Zuschriften.

Hier noch mal im Überblick die Bücher aus dieser Hirngymnastik:

Armin Eich – Die Söhne des Mars erschienen im Beck Verlag
P. W. Singer – Wired for War erschienen im Penguin Verlag
Sun Tzu – The Art of War  als „Die Kunst des Krieges“ im Knaur Verlag erschienen
Omar El Akkad – American War erschien auf deutsch unter dem gleichen Titel im Fischer Verlag.