
Anais hat mich aufs Glatteis geführt – zumindest mal auf die Schlittschuhbahn. Das war schon letzten Monat, aber ich habe erst jetzt den zweiten Band ihrer Tagebücher zu Ende gelesen und es war eine wahnsinnig intensive, intime Zeit, die ich mit Frau Nin verbracht habe. Eine absolut außergewöhnliche, spannende Frau, die einen schier unstillbaren Hunger nach Kunst, Literatur, Musik – das Leben überhaupt hatte. Für jemanden wie sie, die so dermaßen hell und lodernd brannte, ist es überraschend und erfreulich, dass sie so alt geworden ist.
Ich habe die beiden Tagebuchbände letztes Jahr auf einem Hofflohmarkt erstanden, ohne viel über Anais Nin zu wissen. Eigentlich kannte ich bis auf ein paar wundervolle Zitate, die mich neugierig gemacht hatten, nichts was sie geschrieben hat und hatte nur eine vage Idee, dass die Tagebücher als der Schlüssel überhaupt zu ihr und ihrem Werk gelten.
Es mag ungewöhnlich sein, aber ich habe beschlossen auch nichts weiter über sie nachzulesen, sondern die Tagebücher ganz unvoreingenommen auf mich wirken zu lassen. Das war eine interessante Erahrung. Es ist, als würde man zu dicht an einem Bild stehen, um es ganz erkennen zu können. Man erfährt viele Details, sieht tief hinein in Anais Nin, aber die Person als Ganzes blieb mir dadurch etwas verborgen. Ich habe das aber nicht als Verlust empfunden.
„Wenn es wahr ist, was Proust sagt, daß man glücklich ist, wenn man nicht fiebert, werde ich niemals wissen, was Glück ist. Denn ich bin besessen von einem Fieber nach Erkenntnis, Erfahrung, dem schöpferischen Akt. Ich glaube, daß ich eine unmittelbare Beziehung zum Leben habe, die schrecklich und schmerzvoll ist. Zwischen der Gegenwart und mir gibt es keine Zeitlücke, keine Distanz. Nur Unmittelbarkeit. Aber es ist auch wahr, daß ich später, wenn ich schreibe, mehr sehe, besser verstehe, entwickle und ausbaue.“
Das Tagebuch der Anais Nin scheint komplett mit ihr verwachsen zu sein. Immer wieder hat sie das Gefühl in ihrem Leben, man versuche ihr das Tagebuch zu nehmen, sie davon abzubringen weiterzuschreiben – etwas das ihr komplett unmöglich erscheint. Begonnen hat sie mit dem Tagebuch schreiben als 15-jährige, als ihr Vater die Familie verlässt und sie mit ihrer Mutter und ihrem Bruder nach New York auswandert. Gedacht als Notizbuch, um dem Vater von der Zeit ohne ihn berichten zu können, scheint Anais nie mehr im Leben aufgehört zu haben, ihre Gedanken, Gefühle, Reflexionen aufzuschreiben.
„Das Tagebuch ist das Logbuch ihrer Reise durch die Labyrinthe des ichs, ihrer Versuche, die Frau Anais zu entdecken und zu bestimmen, die wirkliche und die symbolische, die „zwischen“ Handeln und Meditation, Hingabe und Selbstschutz, Gefühl und Intellekt, Traum und Realität pendelt und manchmal daran zweifelt, die auseinanderstrebenden Elemente jemals vereinigen zu können.“
„Klasse und Besitz interessieren mich nicht. Ich respektiere nur Geist und menschliche Qualitäten, und Bedürfnisse insoweit, als ich fühig bin, sie zu erfüllen.“
„Wir sind auf dem Weg zum Mond. Das ist nicht weit. Der Mensch muß auf dem Weg in sich selbst sehr viel weiter gehen.“
Anais Nin ist eine Frau, die wirklich gelebt hat, die jeder zwischenmenschlichen Beziehung versuchte auf den Grund zu gehen, den positiven als auch den destruktiven. Sie analysierte, sezierte und das häufig mit einem verständnisvollen, liebevollen Blick. Sie sieht ihre eigenen Unzulänglichkeiten, analysiert sie, aber entschuldigt sich nicht dafür.
„Alles außer Freiheit, äußerster Freiheit, ist Tod.“
„Man kann nicht besitzen, ohne zu lieben“.
„Kein Wunder, daß ich sein Leben betrachte und weiß, daß ich nie so leben könnte, denn mein Leben ist von Gedanken gebremst und von der Notwendigkeit, zu verstehen, was ich lebe.“

Der erste Band scheint zu ihren Lebzeiten nicht veröffentlicht worden zu sein, denn ihr Ehemann, Hugh Parker Guiler, ist hier präsent, in den folgenden Bänden hatte er sich jegliche Erwähnung verbeten. Es passieren keine großen außergewöhnlichen Dinge in ihrem Tagebuch. Sie beschreibt hauptsächlich die Bohemian Kreise, in denen sie sich bewegt, die Termine mit ihrem Psychotherapeuten und die literarischen Figuren, mit denen sie zu tun hatte. Inspiriert hat sie nach eigener Aussage D. H. Lawrence und Djuna Barnes.
„Literatur ist Übertreibung, Dramatisierung, und wer mit ihr aufwächst (wie ich), gerät leicht in Gefahr, sich an einen unmöglichen Rhythmus zu gewöhnen. Man versucht dann, sich täglich in Dostojewskische Stimmung hochzupeitschen.“
„Man liebt immer den Menschen, der einen versteht.“
„Ich frage mich oft, ob nicht June von uns allen die Aufrichtigste war; man konnte sie so leicht durchschauen.“
Nin’s Stil ist stets elegant, poetisch und sehr ausdrucksstark. Insbesondere wenn sie zwischenmenschliche Beziehungen beschreibt, liest sich das ganz wundervoll. Der interessanteste und lebendigste Teil ist sicherlich im zweiten Tagebuch Band (1931 – 1934) ihre leidenschaftliche Beziehung mit Henry und June Miller. Was für eine Intensität, ein Vulkan an Gefühlen und die Elementarteile für das Beste, was Henry Miller je schreiben sollte.
Das Material aus dieser Dreiecksbeziehung findet sich auch in dem Film „Henry and June“ wieder, den ich vor Jahren mal gesehen habe und unbedingt noch einmal anschauen mag, jetzt wo ich die Protagonisten so viel besser kenne.
„Der wirklich Treulose ist jener, der nur einen Teil von dir liebt und den Rest zurückweist.“
Ich habe unzählige wundervolle kleine Satz-Schätze aus ihren Tagebüchern herausgeschrieben. Was für eine weltoffene, charismatische kluge Frau. Ich hätte sie wahnsinnig gerne einmal kennengelernt.
„Ich bin es so leid, für andere Schönheit auszusuchen“
„Dafür bin ich etwas verrückter als Sie, und ich bin nicht immer ganz dort, wo ich zu sein scheine.“
„Er hegt keine Bewunderung für jene, die durch Verzicht, fleischliche Gleichgültigkeit oder reine Stumpfheit Vollkommenheit erreichen“.
„Er fehlt mir wenn er nicht da ist, und ich kann ihn weniger leiden, wenn er hier ist.“
„Ich werde nur leer, wenn ich mit anderen Leuten zusammen bin, ihre Leere spüre, mich an ihrer eingemauerten Intelligenz, an ihrer steinigen Apathie stoße. Alleine fließe ich über, bin ich reich, bin ich lebendig, werde ich nie austrocknen, bis ich sterbe.“
Ich glaube, nie zuvor in der Geschichte hat eine Frau so detailliert ihr Innenleben, ihre Träume und Hoffnungen unter die Lupe genommen und ich bin sehr froh, dass ich teilhaben durfte.