April Lektüre

Ein richtig guter Lesemonat liegt hinter mir – mit einem Mix aus großartigen Highlights, solider Mittelklasse und ein paar kleinen Enttäuschungen. Besonders begeistert haben mich tiefgründige Klassiker, intensive literarische Stimmen und ein besonderer Ausflug nach Nigeria im Rahmen meiner Read around the World-Challenge. Thomas Mann war mit mehreren Facetten vertreten – von Briefen bis Urlaub, und auch sonst war literarisch einiges dabei.

Geht so – Beatriz Serrano erschienen im Eichborn Verlag, übersetzt von Christiane Quandt

Beatriz Serranos „Geht so“ ist ein Roman für alle, die sich schon mal gefragt haben, ob sie selbst das Problem sind – oder ob die Welt einfach kollektiv den Verstand verloren hat. Mit viel Witz, einem herrlich trockenen Ton und einer gut dosierten Portion Selbstironie begleitet man eine Protagonistin, die irgendwo zwischen Selbsthilfe-Ratgebern, emotionaler Erschöpfung und dieser merkwürdigen Mischung aus Überforderung und Unterforderung festhängt.

Ich habe das Buch sehr gerne gelesen – vor allem, weil es genau das Lebensgefühl trifft, das viele (nicht nur Millennials!) gerade umtreibt: Die diffuse Suche nach Sinn, das müde Lächeln beim Gedanken an „Berufung“, und der stille Wunsch, einfach mal für fünf Minuten in Ruhe gelassen zu werden. Serrano schafft es, diese Stimmung nicht nur sprachlich leicht und unterhaltsam einzufangen, sondern dabei auch durchaus kluge Fragen zu stellen: Was passiert, wenn Selbstoptimierung und Arbeit zur Ersatzreligion wird? Wo liegt die Grenze zwischen Selbstfürsorge und Eskapismus?

Was ich besonders mochte, war, wie sehr man der Autorin anmerkt, dass sie ihre Figur liebevoll, aber nie unkritisch begleitet. Die Ich-Erzählerin schwankt, taumelt, reflektiert – aber sie bleibt dabei immer menschlich, nahbar und manchmal schmerzhaft ehrlich.

Ein kleiner Wermutstropfen war für mich die fehlende Tiefe im Blick auf die Arbeitswelt, wie wir sie heute erleben: Da wäre durchaus noch mehr Potenzial gewesen, die ganz konkrete Absurdität moderner Erwerbsarbeit stärker herauszuarbeiten – etwa die Logik hinter unsinnigen KPIs, die allumfassende „Shitification“ durch immer rasanter um sich greifenden Effizienzwahnsinn oder auch die emotionale Erpressung durch Sätze wie „Wir sind hier alle ein Team“. All das klingt zwar unterschwellig an, bleibt aber eher atmosphärischer Hintergrund als tatsächlich greifbares Thema. Die Perspektive bleibt individuell, psychologisch, eher im Innen als im Außen – was vollkommen legitim ist, aber vielleicht nicht das letzte Wort zum großen Thema der „inneren Kündigung“ bleibt.

Mir ist durchaus bewusst, dass es sich auch hier um ein weiteres subtiles Werkzeug aus der Trickkiste des Patriarchats handelt: Divide et impera, sorge dafür, dass sich die Frauen untereinander über ihre jeweiligen Lebensentscheidungen und deren Konsequenzen in die Haare kriegen. Sorge dafür, dass alle denken, die frischgebackene Mutter hätte Schuld daran, dass du länger im Büro bleiben musst. Statt deine berechtigte Wut gegen das Unternehmen zu richten und gegeen seine unanständig schlechte Politik in Sachen Vereinbarkeit von Familie und Beruf…

Trotzdem: Geht so ist ein kluges, sehr unterhaltsames Buch über das Lebensgefühl einer Zeit, in der alles möglich scheint – und genau das oft lähmt. Es bietet keine Lösungen, aber viele Aha-Momente. Und manchmal reicht das auch.

Kerstin Holzer – Thomas Mann macht Ferien erschienen im Kiepenheuer & Witsch Verlag

Kerstin Holzer gelingt mit Thomas Mann macht Ferien ein leises, kluges und überraschend humorvolles Porträt des Literaturnobelpreisträgers – und zeigt ihn in einem Moment, der sein Denken und Schreiben für immer verändern sollte. Ein Buch, das Nähe schafft, wo sonst Ehrfurcht herrscht.
Es gibt Literaturerlebnisse, die weit über das bloße Lesen hinausgehen – Kerstin Holzers Roman Thomas Mann macht Ferien ist für mich genau so ein Fall. Nicht nur, weil mich das Buch als literarisches Porträt überzeugt hat, sondern auch, weil ich das große Glück hatte, die Autorin persönlich bei einer Lesung im Literaturhaus München zu erleben. Der Abend war unvergesslich: Inmitten alter Schulfreundinnen und Freunde von Kerstin Holzer, bei einem Glas Wein, entstand eine besondere Atmosphäre – offen, lebendig, herzlich. Es war, als wäre man Teil einer erweiterten Schreibwerkstatt, in der nicht nur über Literatur, sondern auch über die Menschen hinter den Texten gesprochen wird.

Thomas Mann macht Ferien erzählt von einem entscheidenden Sommer im Leben des Schriftstellers – dem Jahr 1918, als Thomas Mann mit seiner Familie die Sommerfrische am Tegernsee verbringt. Es ist eine Zeit politischer und persönlicher Krisen: Der Erste Weltkrieg steht kurz vor dem Ende, die Veröffentlichung seiner Betrachtungen eines Unpolitischen – ein Bekenntnis zur Monarchie und eine klare Absage an die Demokratie – lässt sich nicht mehr aufhalten. Mann weiß, dass er sich mit seiner Haltung auf die Seite der Verlierer gestellt hat. Nicht nur im öffentlichen Diskurs, auch innerhalb seiner eigenen Familie wird es zunehmend ungemütlich: Der Bruch mit seinem Bruder Heinrich ist tief, seine liberale Schwiegermutter kann mit dem „Schwieger-Tommy“ kaum mehr etwas anfangen. Und als wäre all das nicht genug, trübt auch noch ein abgebrochener und schmerzender Schneidezahn die Sommeridylle.

Dennoch markiert dieser Sommer am Tegernsee eine entscheidende Wende im Denken Thomas Manns – eine Zeit der inneren Bewegung, in der er, langsam aber unaufhaltsam, beginnt, seine politische Haltung zu hinterfragen und sich seiner Fehleinschätzungen bewusst zu werden.

Vier Jahre später wird er sich schließlich öffentlich zur liberalen Demokratie bekennen. Doch trotz aller inneren und äußeren Spannungen: Dieser Thomas Mann ist nicht der distanzierte, weltabgewandte Literaturfürst, wie er in vielen – meist männlich dominierten – Sekundärtexten beschrieben wird. Holzer zeigt ihn als nahbaren, oft sogar humorvollen Familienvater, der zum ersten Mal in seinem Leben einen Berg besteigt, der seine Kinder zum Lachen bringt und der inmitten aller politischen Verwerfungen an seiner Novelle Herr und Hund arbeitet – einer liebevollen, fast heiteren Hommage an seinen Hund Bauschan. Die Szene, in der Mann eifersüchtig auf seinen Hund reagiert, weil dieser einen anderen Mann anschaut, ist herrlich skurril – ich habe Tränen gelacht.

Besonders reizvoll war für mich die Lektüre des Romans in Kombination mit Thomas Manns Briefen. Diese setzen bereits 1894 ein – ganz im Gegensatz zu den Tagebüchern, die erst nach dem Sommer am Tegernsee einsetzen (frühere Aufzeichnungen wurden durch einen Brand vernichtet). Die Briefe erlauben einen tiefen Einblick in Manns Unsicherheiten und seine persönliche Entwicklung. Die Parallellektüre ermöglichte es mir, die Ferien am Tegernsee nicht nur durch Holzers Perspektive, sondern auch durch Manns eigene Worte zu erleben. Ein literarisches Doppelspiel, das ich jeder und jedem nur empfehlen kann.

Wer sich bisher noch nicht an Thomas Mann herangewagt hat – vielleicht aus Respekt, vielleicht aus Furcht vor Sprachgewalt und Seitenfülle – dem sei gesagt: Man muss nicht mit Der Zauberberg oder Joseph und seine Brüder beginnen. Herr und Hund oder auch der Felix Krull bieten großartige, zugängliche Einstiege in das Werk des Nobelpreisträgers – mit viel Witz, Beobachtungsgabe und feiner Ironie.

Und Kerstin Holzers Roman? Ist die perfekte Ergänzung. Eine Einladung, Thomas Mann neu kennenzulernen – nicht nur als Denker und Dichter, sondern als Ehemann, Vater, Sommerfrischler.

Passend zur Lektüre führte mich der Zufall – oder das Schicksal der Literaturverliebten – kurz nach der Lesung selbst an den Tegernsee. Die Wanderung hinauf zum Hirschberg, vorbei an den Orten, die Thomas Mann einst selbst durchstreifte, war der ideale Abschluss dieser literarischen Reise. Mein Tipp: Nehmt das Buch mit an den See, wandert hinauf zur Hütte, übernachtet dort – und erlebt den Sonnenaufgang am Gipfel. Wer weiß, vielleicht begegnet euch dort sogar der Schatten eines großen Schriftstellers. Oder ein besonders treuer Hund.

Ich freue mich nun sehr auf Kerstin Holzers weitere Werke über Monika und Elisabeth Mann und danke dem Kiepenheuer & Witsch Verlag für das Rezensionsexemplar.

Das Seil – Anna Herzig erschienen im Septime Verlag

Auf der diesjährigen Leipziger Buchmesse hatte ich das Vergnügen, Jürgen Schütz vom Septime Verlag mal wieder zu treffen – einem österreichischen Verlag, der einen ganz besonderen Platz in meinem Herzen hat. Im Gespräch machte er mich auf „Das Seil“ aufmerksam, diese dunkle kleine Novelle von Anna Herzig, und überreichte sie mir dankenswerterweise als Rezensionsexemplar. Ich ahnte da schon: Das wird keine leichte, aber vermutlich eine lohnende Lektüre.

Das Seil erzählt die Geschichte von Franziska Großhirsch, einer erfolglosen Schriftstellerin, die mit einem Text, den sie gar nicht selbst verfasst hat, einen renommierten Literaturpreis gewinnt. Doch das Preisgeld ruft diverse Neider auf den Plan – allen voran Tante Hilde, bei der sie gemeinsam mit ihrem Cousin Martin eine alles andere als geborgene Kindheit verbracht hat –, sondern auch ihren Ex-Freund und ihre Literaturagentin. Franziska bleibt nichts anderes übrig, als sich bis zur Preisverleihung in ihrer Wohnung zu verschanzen. Das Handy liegt ausgeschaltet im Tiefkühlfach, Fenster und Türen sind abgeklebt. Aber gegen die Geister ihrer Vergangenheit hilft keine Isolation – sie drängen sich in die Gegenwart und stellen die alles entscheidende Frage: Von wem stammt eigentlich „Das Seil“?

„Zum Glück kann Franziska bei Dingen, die notwendig sind, ein ungewöhnlich starkes Durchhaltevermögen an den Tag legen. Beispielsweise beim Überleben… Franziska findet kein Wattestäbchen, das lang genug ist, um ihr die Erinnerungen, die tief verdrängt in ihrem Kopf wuchern, herauszuziehen.“

Anna Herzig schafft eine surreale, beklemmende Atmosphäre, in der Erinnerungen sich wie Nebelschwaden durch die Zimmer winden. Ihre Sprache ist knapp, poetisch, präzise – ein Sog, dem man sich kaum entziehen kann.

Herzig, geboren 1987 in Wien als Tochter eines Ägypters und einer Kanadiererin, versteht es meisterhaft, ihre Figuren zwischen Realismus und Groteske oszillieren zu lassen. Franziska ist eine widerborstige, fragile Heldin, die sich gegen alles sträubt – vor allem gegen sich selbst.

Das Seil ist eine Novelle, die sich langsam entfaltet, dabei aber nie den festen Griff um die Leserin verliert. Surreal, traurig, sarkastisch, klug – und ja, auch wunderschön verstörend.

Literatur wie ich sie mag, ich hoffe noch auf viele weitere Werke von Anna Herzig und muss mich jetzt mal auf die Suche nach ihrem Debüt „Sommernachtsreigen“ machen.

Die Mansarde – Marlen Haushofer erschienen im S. Fischer Verlag

Dieses Buch hat mich nicht überrollt – es hat mich leise eingenommen, Schicht für Schicht, wie es auch die Erzählerin mit sich selbst tut. Haushofer schafft es, mit einer unscheinbaren, fast unmerklich eindringlichen Sprache, mich dorthin zu führen, wo Literatur für mich am lebendigsten ist: in die stillen Räume des Alltags, in die Zwischenräume von Erinnerung und Gegenwart, in jene Schattenbereiche, in denen sich Identität nicht festschreiben lässt, sondern nur tastend erschlossen werden kann.

Die Erzählerin, eine namenlose Frau mittleren Alters, zieht sich in die Mansarde ihres Hauses zurück, um Vögel zu zeichnen (wie ich!) und über alte Tagebücher nachzudenken, die ihr anonym zugeschickt wurden – vielleicht von sich selbst. Es ist ein Akt der Selbsterforschung, der mich zutiefst bewegt hat. Wie eine Archäologin ihrer eigenen Existenz gräbt sie sich durch die Sedimente ihrer Vergangenheit: die Ehe mit dem distanzierten Hubert, das Schweigen zwischen ihr und ihrer Tochter Ilse, die Abwesenheit des Sohnes Ferdinand, und nicht zuletzt die seltsame Zeit ihrer „Taubheit“, eines körperlichen wie seelischen Rückzugs.

„Ohne diese von ihm geschaffene Freundlichkeit erscheint ihm vielleicht das Leben unterträglich. Er schmiert den Alltag mit Öl, damit sein Kreischen und Kratzen ihn nicht verletzten kann.“

Was mich besonders fasziniert hat, ist die fast unheimliche Ruhe, mit der all das erzählt wird. Es gibt keinen dramatischen Ton, keine großen Ausbrüche. Und doch ist alles von innerer Dringlichkeit durchzogen.

Im Vergleich zu Die Wand ist dieses Buch vielleicht weniger bekannt, aber für mich nicht weniger bedeutend. Wo Die Wand eine radikale äußere Isolation beschreibt, ist Die Mansarde eine stille, innere Emigration. Beide Bücher kreisen um weibliche Selbstbehauptung im Spannungsfeld von Anpassung und Rückzug, aber auf ganz unterschiedliche Weise. Und beide zeugen von Haushofers unglaublichem Gespür für Zwischentöne, für das Unsagbare, das sich nur über Umwege mitteilen lässt.

Dass Haushofer in der deutschsprachigen Literatur immer noch ein Schattendasein fristet, erscheint mir zunehmend unverständlich. Sie ist keine „kleine“ Autorin, wie sie oft bezeichnet wird – sie ist eine präzise Beobachterin, eine stille Revolutionärin des Erzählens, die mit jedem Satz eine tiefe Wahrheit über das Menschsein berührt.

Die Mansarde ist ein Meisterwerk – leise, aber voller Echo.

Kairos – Jenny Erpenbeck erschienen im Penguin Verlag

Kairos ist für mich ohne Zweifel eines der literarischen Highlights dieses Jahres – vielleicht sogar darüber hinaus. Jenny Erpenbecks Sprache hat mich einmal mehr vollkommen in den Bann gezogen: klar, unbarmherzig, poetisch – und dabei immer präzise, immer auf den Punkt. Aber es war nicht nur die Sprache, die mich so tief bewegt hat. Es war auch – und vielleicht vor allem – meine eigene Biografie, die mir dieses Buch so nahegebracht hat.

Ich habe als Kind viele Ferien in der DDR verbracht. Meine Verwandten lebten dort, und obwohl ich nicht dort aufgewachsen bin, hatte ich früh einen sehr direkten Bezug zur Lebensrealität in diesem Land. Die DDR war absolut kein Paradies – das war mir selbst als Kind irgendwie bewusst –, aber es gab dort Dinge, die ich sehr geliebt habe: den Zusammenhalt unter den Menschen, das Gefühl von Gemeinschaft, die Bedeutung, die Literatur und Kunst dort hatten. Man saß einfach zusammen auf der Straße, hat geredet, sich gegenseitig zugehört. Man hat geteilt was man hatte und was man hat ergattern können. Vor allem: Kultur war nicht elitär – sie war da, für alle, mitten im Leben.

In Kairos habe ich mich wiedergefunden. Katharina, die Protagonistin, ist nur ein paar Jahre älter als ich, und ihr inneres Ringen, ihre Desorientierung im Übergang von der DDR in die westliche Welt, ihre Suche nach einem Halt – all das hat mich tief berührt. Ich habe selbst das Ende der DDR bewusst miterlebt, und ich erinnere mich gut an dieses Gefühl, dass da eine große, vielleicht einmalige Chance ungenutzt geblieben ist. Es hätte ein wirklich neues Deutschland entstehen können – eines, das das Beste aus beiden Systemen vereint. Aber es wurde stattdessen einfach übergestülpt, ausgelöscht, verdrängt. Die Straßen umbenannt, die Denkmäler eingerissen, ganze Identitäten entwertet. Wer erinnert sich noch an den Verfassungsentwurf für die DDR den Intellektuelle 1989/90 entwarfen? Da hätte man gemeinsam drauf aufbauen können.

Die Entwurzelung, die Erpenbeck so eindringlich beschreibt, kenne ich – wenn auch aus der Beobachterrolle – nur zu gut.

„Was vertraut war, ist im Verschwinden begriffen. Das gute, wie das üble Vertraute. Und auch das Mangelhafte, das Katharina lieb ist, vielleicht, weil es der Wahrheit am nächsten kommt. Stattdessen wird die Perfektion bald ihren Einzug halten – und auslöschen oder sich einverleiben, was ihr nicht standhalten kann: von den selbstgenähten Klamotten bis zu den maroden Häusern des Prenzlauer Bergs, vom lückenhaften Straßenpflaster bis zu den Worten für Dinge, die dann keiner mehr braucht. Die glatten, makellosen Oberflächen werden die Gedanken an alles, was vergänglich ist, ins Vergessen schieben. Das Brot wird anders schmecken, in den Straßen werden fremde Menschen an fremden Geschäften vorübergehen, in fremden Autos vorfahren, mit fremdem Geld in der Tasche. Die Stadtviertel, in denen Katharina bisher zu Haus war, werden nie wieder so ruhig und so leer sein, wie sie sie ihr ganzes Leben gekannt hat.“

Die Beziehung zwischen Hans und Katharina hat mich in ihrer Komplexität und Dunkelheit gleichermaßen fasziniert wie verstört. Was als große Liebe beginnt, entpuppt sich als Machtspiel, als Beziehung voller Kontrolle, Abhängigkeit, Schmerz. Dass das Private und das Politische bei Erpenbeck untrennbar verwoben sind, ist kein Zufall. Hans‘ Grausamkeit, seine Ideologie, seine Unnachgiebigkeit spiegeln das System wider, das im Zerfall begriffen ist. Und Katharinas Versuch, sich zu lösen, sich zu befreien, ist mehr als nur eine persönliche Emanzipation – es ist auch die einer ganzen Generation.

Ich habe Kairos nicht gelesen, ich habe es durchlebt. Es hat alte Fragen in mir aufgeworfen und neue Gedanken angestoßen. Es hat mich wütend gemacht und traurig. Aber vor allem hat es mir gezeigt, wie Literatur Brücken schlagen kann – zwischen Epochen, zwischen Systemen, zwischen Menschen. Und genau deshalb ist dieses Buch für mich so besonders.

In all deinen Farben – Bolu Babalola erschienen im Eisele Verlag übersetzt von Ursula C Sturm

Diese Liebesgeschichten und Nacherzählungen nigerianischer und europäischer Sagen habe ich im Rahmen meiner literarischen Weltreise zum Stopp in Nigeria gelesen. Erhalten habe ich das Buch auf der Leipziger Buchmesse von der Verlegerin des wunderbaren Eisele Verlages, der ganz in meiner Nachbarschaft sitzt.

Meinen Eindruck zum Buch sowie ganz viel über Nigeria selbst könnt ihr hier lesen.

Der Liebhaber meines Mannes / My Policeman – Bethan Roberts erschienen im Kunstmann Verlag übersetzt von Astrid Gravert

Ich habe Der Liebhaber meines Mannes mit drei Sternen bewertet – nicht, weil es ein schlechtes Buch wäre, im Gegenteil: Es liest sich angenehm, teilweise sogar sehr schön. Aber irgendetwas hat mich emotional nicht ganz erreicht, obwohl die Geschichte tragisch, berührend und gut konstruiert ist.

Bethan Roberts erzählt hier eine Dreiecksgeschichte, die sich lose an E. M. Forsters Leben und seiner Beziehung zu dem verheirateten Polizisten Bob Buckingham orientiert. Diese historische Vorlage fand ich besonders spannend – gerade weil sie zeigt, wie Liebe, Schuld und gesellschaftliche Zwänge sich über Jahrzehnte in ein Leben einschreiben können.

Im Zentrum stehen Marion, Tom und Patrick. Marion, ein einfaches Mädchen mit großen Gefühlen, verliebt sich in den gut aussehenden Tom – der wiederum von Patrick, einem kultivierten, schwulen Museumsleiter, begehrt wird. Was sich zunächst wie ein klassisches Liebesdrama entwickelt, wird nach und nach zu einem beklemmenden Kammerspiel über Sehnsucht, Selbstverleugnung und das tragische Scheitern an den eigenen Bedürfnissen.

Roberts schreibt sinnlich und atmosphärisch stark. Die 50er Jahre sind lebendig, es riecht nach Lavendel, Bohnerwachs, nach Pfefferminz und Schweiß. Man merkt, dass sie sich in die Zeit hineingefühlt hat. Und es gibt viele starke Momente – kleine Gesten, Blicke, Schweigen, das mehr sagt als jedes Gespräch. Besonders Marions Perspektive hat mich berührt – sie schildert ihr Leben, ihre Liebe, ihre Täuschung in einer Art Beichte, viele Jahre später. Dabei wirkt ihre Stimme glaubhaft, manchmal bitter, manchmal zerbrechlich. Dass Patrick ebenfalls zu Wort kommt – durch Tagebucheinträge – erweitert die Geschichte. Die beiden Perspektiven stehen fast nebeneinander, ohne sich ganz zu verbinden.

„For a policeman, you’re very romantic.’
‘For an artist, you’re very afraid,’ he said.”

Was mich zwischendurch etwas gestört hat: Tom bleibt erstaunlich blass. Als Leser*in versteht man kaum, was ihn wirklich bewegt. Er wird zum Projektionsobjekt für Marion und Patrick, bleibt aber selbst schwer fassbar. Vielleicht ist genau das gewollt – aber es hat mir den Zugang erschwert. In der Verfilmung war Tom etwas besser für mich zu greifen.

Was bleibt, ist das Bild einer verlorenen Generation, gefangen in gesellschaftlichen Konventionen, in der Liebe nicht frei gelebt werden durfte. Es ist bedrückend, wie viel zerstört wurde – und wie wenig Trost letztlich bleibt. Kein Happy End, kein kathartischer Moment. Eher ein leiser Rückblick auf verpasste Chancen.

Mädchen, Frau, Etc – Bernardine Evaristo erschienen im Klett-Cotta Verlag übersetzt von Tanja Handels

Ich habe Mädchen, Frau etc. als Hörspiel in der ARD Audiothek gehört – und kann das wirklich jederm nur wärmstens empfehlen. Schon nach wenigen Minuten war ich komplett eingetaucht in dieses außergewöhnliche Mosaik aus Stimmen, Geschichten und Leben. Die verschiedenen Sprecher*innen verleihen den Figuren so viel Tiefe und Lebendigkeit, dass ich beim Hören das Gefühl hatte, nicht nur dabei zu sein, sondern mittendrin. Es war, als hätte ich ein paar Tage mit diesen Frauen in London gelebt, gelacht, gestritten – und vor allem mitgelitten.

Evaristo erzählt die Geschichten von zwölf sehr unterschiedlichen Menschen, vor allem Schwarzen Frauen, aber auch queeren und nicht-binären Figuren, die auf den ersten Blick kaum etwas gemeinsam haben – und sich doch immer wieder kreuzen, berühren oder beeinflussen. Jede Figur bekommt ihren eigenen Raum, ihre eigene Stimme. Was sie verbindet, ist der Versuch, in einer oft rassistischen und patriarchalen Gesellschaft ihren Platz zu finden – mit all den Konflikten, Widersprüchen und Fragen, die das mit sich bringt.

„be a person with knowledge not just opinions“

Besonders beeindruckt hat mich, wie vielschichtig und menschlich diese Figuren gezeichnet sind. Sie sind weder Heldinnen noch Opfer, sondern alles dazwischen – widersprüchlich, manchmal unbequem, aber immer echt. Themen wie Identität, Feminismus, Herkunft, Zugehörigkeit oder politische Korrektheit werden hier nicht plakativ abgehandelt, sondern als Teil ganz alltäglicher Lebensrealitäten erzählt.

Auch formal ist das Buch ungewöhnlich: Evaristo verzichtet auf klassische Interpunktion und schafft so einen ganz eigenen Rhythmus – in der Hörspielfassung wird das durch die Sprechweise wunderbar transportiert. Es klingt fast poetisch, manchmal wie ein Gedicht, das sich entfaltet.

Am Ende bleibt kein abgeschlossenes Fazit, sondern ein Gefühl von Vielfalt, Verbundenheit und der Ahnung, dass es nicht die eine Geschichte Schwarzer Frauen gibt, sondern viele – und jede verdient es, erzählt zu werden. Mädchen, Frau etc. ist ein vielstimmiger, kluger, berührender Roman über das Leben, das Kämpfen und das Lieben. I love it!

Lebenslieder – Dana Schwarz-Hadereck erschienen im Adakia Verlag

Lebenslieder von Dana Schwarz-Hadereck, erschienen im Adakia Verlag, ist ein sehr persönlicher Gedichtband, in dem die Autorin eigene Texte mit feinsinnigen Illustrationen begleitet. Auch wenn mich die Gedichte inhaltlich und sprachlich nicht ganz erreicht haben, spürt man doch das Herzblut und die Authentizität, mit der dieses Buch entstanden ist. Eine liebevoll gestaltete Veröffentlichung, die sicherlich ihre Leser*innen finden wird.

Ich danke dem Adakia Verlag für das Rezensionsexemplar.

Respekt, wenn ihr bis hierhin durchgehalten habt. War schon eine Menge diesen Monat, das ist der eine positive Nebeneffekt vom „Nicht schlafen/durchschlafen“ – man bekommt eine Menge Literatur gelesen und gehört.

Was waren Eure Highlights im April?

Oktober Lektüre

Der Oktober brachte eine interessante Mischung an Leseerlebnissen mit sich. Von einem echten 5-Sterne-Highlight über solide 4-Sterne-Bücher bis hin zu einem 3-Sterne-Werk war alles dabei. Ich freue mich, euch einige dieser besonderen Titel vorzustellen und bin gespannt, wie euer Lesemonat verlaufen ist! Gab es für euch absolute Highlights oder vielleicht auch Enttäuschungen? Und welche meiner Empfehlungen kennt ihr schon oder machen euch neugierig? Eure Rückmeldungen sind wie immer herzlich willkommen!

Rebecca F. Kuang – Yellowface im Eichborn Verlag erschienen, übersetzt von Jasmin Humburg
★★★★☆

„Yellowface“ von R. F. Kuang hat mich tatsächlich ganz schön gefesselt – für mich ein echter Pageturner. Der Roman dreht sich um June Hayward, eine erfolglose Autorin, die das Manuskript ihrer verstorbenen Kollegin Athena Liu stiehlt und es unter ihrem eigenen Namen veröffentlicht. June war stets mega neidisch auf den Erfolg ihrer College Freundin Athena in deren Schatten sie stand. Schon am Anfang war klar, dass Junes Karriere nach diesem Coup zunächst steil bergauf gehen würde – und ihr Fall umso tiefer. Das war richtig nervenaufreibend obwohl ich die Protagonistin nicht wirklich sympathisch fand. Aber gerade die moralischen Grauzonen machten das Buch so spannend.

Besonders faszinierend fand ich, wie tief man hinter die Kulissen der Verlagsbranche blicken konnte. Kuang zeigt schonungslos, wie gnadenlos und oft auch scheinheilig dieser Markt ist, wo Marketing, Macht und Identität eng verknüpft sind. Von toxischen Gatekeepern über die Frage nach kultureller Aneignung bis hin zur Rolle von Social Media – das Buch liefert eine spannende Analyse, die unter die Haut geht und einem eine Menge zum Nachdenken mitgibt. Ich habe dabei richtig viel über die oft verborgenen Strukturen und Dynamiken gelernt, die über Erfolg oder Scheitern eines Buches entscheiden.

Der Literaturbetrieb sucht sich einen Gewinner oder eine Gewinnerin aus – attraktiv genug, cool und jung und, mal ehrlich, wir denken es doch alle, also sprechen wir es doch auch aus, „divers“ genug – und überschüttet diese Person mit Geld und Unterstützung.

Rebecca F. Kuang ist wirklich eine beeindruckende junge Autorin. Schon ihr Roman Babel war großartig. Man hat das Gefühl was Kuang anpackt wird zu Gold. Sie hat einen beeindruckenden akademischen Hintergrund und ich hab keine Ahnung wie sie es schafft mit 28 Jahren in Cambridge und Yale zu studiert zu haben, jetzt ihren PhD zu machen und nebenher noch 5 Bücher zu schreiben. Wow 😮

Wenn ich überlege was ich mit 28 so gemacht habe – ähm ja 😉 Ich hatte das Glück, beim Eichborn Verlag eine signierte Ausgabe zu gewinnen, freu mich noch immer sehr darüber. Ich liebe signierte Bücher 😊

RF Kuang ist eine Autorin die ich definitiv im Auge behalten werde und ich bin echt gespannt was noch alles kommt!

Tonio Schachinger – Echtzeitalter erschienen im Rowohlt Verlag
★★★☆☆

Tonio Schachingers „Echtzeitalter“, der Roman, der 2023 den Deutschen Buchpreis erhielt, hat mich zwiespältig zurückgelassen. Grundsätzlich fand ich die Coming-of-Age-Geschichte spannend, und auch den humorvollen, teils bissigen Stil, mit dem Schachinger das Leben seines jugendlichen Protagonisten an einer Wiener Eliteschule beschreibt, durchaus unterhaltsam. Die Wahl des Theresianums als fiktive Kulisse ist eine gute Grundlage, um das Spannungsfeld zwischen den Erwartungen der Gesellschaft und den inneren Welten Jugendlicher darzustellen. Der 1992 in Wien geborene Autor greift dabei gekonnt auf die Tradition des Schulromans zurück – eine Linie, die an Klassiker wie Musils „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“ oder Hesses „Unterm Rad“ anknüpft. Und ja, es gibt viel zu erkennen in Schachingers Schilderungen: Gesellschaftskritik, eine ironische Distanz zur Wiener Tradition und einiges an literarischem Witz.

Denn der Dolinar hält, ebenso wie Palffys Eltern und die meisten sich als konservativ beschreibenden Menschen, das Bekanntwerden einer Verfehlung immer für schlimmer als die Verfehlung selbst.

Würden Till und seine Klassenkollegen Antonio Gramsci lesen statt Adalbert Stifter, dann wüssten sie, dass Hegemonie immer auf Konsens basiert, dass all die Sachen, die uns wie Erleichterungen unseres Elends vorkommen – die Spiele, die Freizeit -, in Wahrheit dieses Elend erst ermöglichen. Weil es uns erpressbar macht, an etwas zu hängen; weil die Erleichterungen vom Elend uns das Elend erst ertragen lassen.

Und doch hatte ich Schwierigkeiten, eine echte Bindung zu den Figuren aufzubauen. Der Protagonist bleibt für mich seltsam fremd, und auch die Nebenfiguren blieben oft skizzenhaft und nicht wirklich nahbar. Das liegt vielleicht daran, dass das Thema Computerspiele eine so zentrale Rolle spielt – ein Bereich, mit dem ich persönlich wenig verbinde. Schachingers Protagonist entzieht sich dem klassischen Schulalltag, indem er sich in die Welt der Games flüchtet, und das ist für ihn nicht nur Hobby, sondern eine fast identitätsstiftende Leidenschaft, die auch hilft, den Tod des Vaters zu verarbeiten. Dieser Aspekt der Geschichte hat sicher eine eigene Faszination und bringt eine neue, unkonventionelle Perspektive in die literarische Darstellung jugendlicher Selbstfindung. Dennoch habe ich mich oft eher als distanzierter Beobachter gefühlt denn als wirklich involvierter Leser.

Obwohl ich „Echtzeitalter“ durchaus als lesenswert empfinde und es auch seine unterhaltsamen wie tiefsinnigeren Momente hat, halte ich es persönlich nicht unbedingt für preiswürdig. Rückblickend auf das Literaturjahr und die anderen Werke der Shortlist hätte ich wohl eine andere Wahl getroffen.

Die Juryentscheidung wirkt, wie bereits manche Kritiker angemerkt haben, fast ein wenig willkürlich – und das nicht nur wegen der Vorhersehbarkeit des Themas „Computerspiele und Jugendkultur“.

Ich danke @kitty_cat_84 für das wunderbare Foto – es war einfach unerlässlich bei dem Roman ein paar Reclamhefte im Hintergrund zu haben.

Anne Michaels – Wintergewölbe erschienen im Berlin Verlag, übersetzt von Nora Matocza
★★★☆☆

Als ich nach vielen Jahren Anne Michaels‘ Wintergewölbe in die Hände bekam, war ich sehr darauf gespannt. Ihr Roman „Fugitive Pieces – Fluchtstücke“ ist eines meiner Lieblingsbücher, das ich mehrmals gelesen habe. Besonders fasziniert haben mich im Wintergewölbe die Passagen über den Bau des Assuan-Staudamms in Ägypten – eine beeindruckende und melancholische Reflexion über den Verlust von Heimat und Geschichte. Michaels verbindet das Schicksal der durch den Staudamm vertriebenen Nubier auf poetische Weise mit dem Bau des Sankt-Lorenz-Seewegs in Kanada. Ihre Beschreibungen sind so detailreich und lebendig, dass man spürt, wie tiefgreifend diese Eingriffe in das Leben der Menschen sind.

Ich glaube wir Menschen haben nur alle in unserem Leben nur ein, zwei philosophische oder politische Grundgedanken, haben nur ein, zwei Ordnungsprinzipien in unserem gesamten Leben, und alles Übrige kommt von dort …

Die Atmosphäre des Romans ist typisch Michaels: melancholisch und poetisch, was mir sehr gefallen hat. Ihre Sprache ist von großer Schönheit. Doch trotz dieser Momente der sprachlichen Brillanz und der bewegenden Thematik erreicht Wintergewölbe für mich bei Weitem nicht das emotionale Niveau von Fugitive Pieces. In Wintergewölbe geht es mehr um das Argument als um die Geschichte – wie eine Kritikerin so treffend sagte: „Michaels konstruiert eine Brücke zwischen zwei sehr unterschiedlichen Männern.“ Doch genau diese Konstruktion bleibt mir zu distanziert, zu abstrakt. Die Figuren sind in weiten Teilen mit sich selbst beschäftigt, und obwohl Jean, die zentrale Figur, durch ihre stillen Beobachtungen und ihren Schmerz tief berührt, bleibt die emotionale Verbindung für mich im Vergleich zu Michaels‘ früherem Buch doch blasser.

Der Roman fühlt sich an manchen Stellen wie ein lehrreiches Stück Geschichte an, und während die Passagen rund um die technischen und architektonischen Meisterleistungen spannend sind, vermisst man oft die intime Nähe zu den Figuren. Das Buch, so lyrisch es auch ist, lässt die Leser*in letztlich eher kalt, besonders im Vergleich zu Fugitive Pieces. Dennoch ist Michaels’ Blick auf Verlust und Erinnerung klar und packend, auch wenn dieser Roman nicht die gleiche emotionale Wucht erreicht.

Ich bin auf jeden Fall sehr auf ihren neuesten Roman „Held“ gespannt, der aktuell auf der Booker Shortlist steht.

Welches ist euer Lieblingsroman von Ms Michaels?

Daniel Kehlmann – Tyll erschienen im Rowohlt Verlag
★★★☆☆

„Tyll“ von Daniel Kehlmann hatte mich eigentlich durchaus angesprochen – die Idee, einen Gaukler als Wegbegleiter durch den Dreißigjährigen Krieg zu erleben, schien faszinierend. Tyll ist angelehnt an die historische Figur Till Eulenspiegel, und Kehlmann lässt ihn in seinem Buch als schillernde, rätselhafte Figur durchs zerrissene Land ziehen, voller List, scharfsinniger Streiche und Grausamkeit. Die Episoden, die Kehlmann miteinander verknüpft – Tyll als Narr eines exilierten Königspaares, die Begegnungen mit erfundenen und historischen Persönlichkeiten – zeichnen ein fast kaleidoskopartiges Bild dieser düsteren Zeit.

Dabei fand ich beeindruckend, wie gekonnt Kehlmann Fiktion und Realität miteinander vermischt. Die Erzählweise bleibt immer unterhaltsam, oft poetisch und verzichtet darauf, Leid und Elend zu explizit zu schildern, was dem/der Leser*in einen gewissen Abstand erlaubt. Trotz dieser Leichtigkeit, die Kehlmann den Schrecken gegenüberstellt, fiel es mir schwer, einen richtigen Zugang zu Tyll zu finden.

Verachtet, gefürchtet, ausgegrenzt. Offen ansprechen, gar berühren durfte man sie nicht. Sie selbst lebten vom Tod, von der Folter und in der ständigen Angst von einem Delinquenten verflucht zu werden. Ihren Kindern und Kindeskindern stand kein anderer Beruf mehr offen, einmal Henker, immer Henker …“

Vielleicht liegt es an der Schelmenfigur selbst, die mir zu distanziert und unnahbar blieb. Auch wenn Kehlmanns Buch komplex und kunstvoll komponiert ist, habe ich mich als Leserin oft nur als Beobachterin gefühlt und weniger als emotional Beteiligte. Vielleicht liegt es daran, dass der Schelmenroman per se nicht mein bevorzugtes Genre ist. Trotzdem bereue ich das Lesen keineswegs – es war faszinierend, wie Kehlmann den Dreißigjährigen Krieg auf diese Art belebt und erzählt. Nur wirkliche Begeisterung wollte sich für mich einfach nicht einstellen.

Habt ihr es gelesen? Wie fandet ihr Tyll?

Jörg Bong – Die Flamme der Freiheit erschienen im Kiepenheuer & Witsch Verlag
★★★★★

Jörg Bongs „Die Flamme der Freiheit“ ist ein Buch, das sich wie ein Denkmal für die lange Zeit vergessenen deutschen Freiheitskämpferinnen und Freiheitskämpfer der Revolution von 1848/49 liest – eine Geschichte, die im heutigen Bewusstsein oft im Schatten steht, obwohl sie einen zentralen Ursprung unserer demokratischen Tradition darstellt. Bongs Darstellung packt die Leser, sie bringt die Szenen der Revolution und die Menschen, die dafür gekämpft haben, lebendig nahe. Dabei hat das Buch für mich persönlich eine fast magische Anziehungskraft entfaltet: Ich habe beinahe jeden zweiten Satz markiert und mich in ein Recherche-Fieber versetzt gefunden, das mich Seite um Seite tiefer in die Geschichte hineinriss.

Goethes und Schillers dringlicher Rat an die Deutschen zu ihrer Zukunft widerstrebt Gagern im Innersten: Am besten sollten sie, empfehlen die beiden, die Entwicklungsstufe der Nation überspringen und gleich kosmopolitisch werden, Weltbürger, Goethes letzte große Idee

Die Freiheitskämpfer*innen die in Bongs Erzählung so lebendig werden, kämpfen für eine Demokratie, die damals noch in weiter Ferne lag – und es ist erschreckend zu lesen, wie ähnlich die Bedrohung der Demokratie heute in vielerlei Hinsicht ist. Die Bilder, die Bong beschreibt, erinnern an eine Zeit, in der die Menschen gegen den autoritären Preußenstaat aufstanden, sich gegen Repression, Ungerechtigkeit und für Freiheitsrechte stellten. Bongs Protagonisten scheitern bekanntlich letztlich mit ihrem Anliegen, doch die Entschlossenheit und das Durchhaltevermögen dieser Frauen und Männer können nicht genug gewürdigt werden. So eindringlich wie in „Die Flamme der Freiheit“ wurde dieses Kapitel der deutschen Geschichte selten erzählt – und wenn je eine Mahnung zur Verteidigung demokratischer Werte nötig war, dann ist sie in Bongs Werk eindrucksvoll eingeflochten.

Die Hauptakteure in Bongs Buch wie zB der Rheinländer Carl Schurz sind teilweise in den USA viel bekannter als bei uns. Die „48er“ hatten dort einen unglaublich guten Ruf. Schurz zB der gescheiterten Revolution flieht er vor der preußischen Obrigkeit in die USA, kämpfte im amerikanischen Bürgerkrieg auf der Seite der Nordstaaten gegen die Sklaverei und bringt es bis zum US-Innenminister. Es ist bedauerlich, dass die 48er in Deutschland so wenig bekannt ist, obwohl sie doch so bedeutend für unsere Demokratie sind und wir ihnen soviel zu verdanken haben.

Das Ehepaar Georg und Emma Herwegh war ein außergewöhnliches Duo innerhalb der revolutionären Bewegungen der Jahre 1848/49. Georg Herwegh, bekannt als „Der eiserne Dichter der Revolution“, begeisterte viele Menschen mit seinen scharfsinnigen, freiheitsliebenden Gedichten. Emma Herwegh, seine Frau, ging jedoch über das bloße Unterstützen hinaus und entwickelte sich selbst zu einer mutigen, aktiv handelnden Figur der Revolution. Sie war nicht nur Begleiterin ihres Mannes, sondern übernahm eigenständig Verantwortung und engagierte sich leidenschaftlich für die Freiheitsideale ihrer Zeit. Mit außergewöhnlicher Entschlossenheit half sie bei der Organisation der sogenannten „Deutschen Demokratischen Legion“, die unter der Führung ihres Mannes im badisch-pfälzischen Aufstand gegen die reaktionären Mächte kämpfte. Emma wurde zur Symbolfigur für viele revolutionär gesinnte Frauen, weil sie sich den ihr zugeschriebenen, traditionellen Rollen widersetzte und eine aktive politische Rolle einnahm. Ihre Tapferkeit und Standfestigkeit verliehen der Bewegung eine zusätzliche moralische Kraft, und ihre Beteiligung stellte ein frühes Beispiel für den Kampf um Gleichberechtigung und weibliche Selbstbestimmung dar.

Doch Emma sieht messerscharf, was sich anbahnt: der historische Kampf zwischen Demokratie und Nationalismus. Sie formuliert ihren Satz von den „beiden Elementen“ die nun zu einem epochalen Showdown antreten: die neue demokratische Freiheit gegen den neuen „scheußlichsten Absolutismus“ des Nationalen.

Die Revolution von 1848/49 war eine Möglichkeit, die leider verpasst wurde, wie der Historiker Thomas Nipperdey es einmal beschrieb – eine Möglichkeit, der deutschen Geschichte eine friedlichere Wendung zu geben, die vielleicht spätere Katastrophen hätte verhindern können. „Die Flamme der Freiheit“ von Jörg Bong ist in diesem Sinne weit mehr als eine historische Schilderung: Es ist ein Mahnmal und eine Aufforderung, für die Demokratie zu kämpfen, auch wenn der Erfolg nicht gewiss ist. Ein Meisterwerk, das hoffentlich seinen Weg zu vielen Leser finden wird und die Erinnerung an eine bedeutsame Zeit aufrecht erhält.

Mit seiner greifbaren Darstellung und der Detailtreue, die sich selbst kleinsten Aspekten widmet, versetzt Bong die Leser*innen direkt in die Mitte der revolutionären Geschehnisse – sei es bei der Beisetzung der Märzgefallenen oder bei den Barrikadenkämpfen, wo der preußische König Friedrich Wilhelm IV. unter Demütigungen letztlich nachgeben muss, nur um sich insgeheim grausame Rache zu schwören. Die Auseinander-setzungen um die Demokratie waren kein bloßes Streben nach Reformen; es waren die harten Kämpfe der deutschen Revolution, die in einer Zeit stattfanden, in der von Demokratie kaum ernsthaft zu träumen war.

Bong verzichtet auf Belehrungen und verurteilt die historischen Figuren nicht aus der Sicht der Gegenwart, sondern versucht, deren Handeln in der jeweiligen Zeit verständlich zu machen. Dabei bleibt er den historischen Figuren nahe, fängt die Atmosphäre ihrer Zeit ein und entfaltet die Tragik ihrer Geschichte: eine Tragödie des Scheiterns und des ungenutzten Potentials für eine demokratischere deutsche Geschichte, eine, die uns bis heute in Trauer zurücklässt.

Ich war zutiefst schockiert was für ein grausames Arschloch der spätere Kaiser Wilhelm I war. Sorry das kann mich nicht feiner ausdrücken. Wie er in die protestierenden Menschenmassen reingeschossen hat, Unruhe absichtlich gestiftet hat, um den Rebellen Dreck in die Schuhe schieben zu können um dann pro Forma einen Grund für sein rücksichtsloses Abschlachten hat – ohne Worte.
Wir sollten die Demokratie auf keinen Fall für etwas Selbstverständliches halten und sie schützen und aktiv sein, um sie widerstandsfähig zu machen und gegen ihre Gegner zu schützen.

Nguyễn Phan Quế Mai – Der Gesang der Berge, Insel Verlag, übersetzt von Claudia Feldmann
★★★★☆

Meine literarische Weltreise hat mich noch einmal nach Vietnam zurückgeführt, diesmal mit Nguyen Phan Que Mais Roman „Der Gesang der Berge.“ Noch beeindruckt von Cecile Pins Wandering Souls, wollte ich tiefer in die vietnamesische Geschichte eintauchen. Das Buch hat mich von der ersten Seite an mitgerissen, nicht zuletzt durch die zentrale Rolle der Großmutter Dieu Lan, die mich an meine eigene Großmutter erinnerte, bei der ich aufgewachsen bin. Geschichten, in denen Großmütter eine tragende Rolle spielen, ziehen mich immer ganz besonders an, und Dieu Lan ist eine dieser unvergesslichen Figuren. Ihre Stärke, ihr Durchhaltevermögen und ihre bedingungslose Liebe zu ihrer Enkelin Huong haben mich tief berührt.

Die Handlung entfaltet sich über mehrere Jahrzehnte vietnamesischer Geschichte – ein Bild voll Schmerz, Verlust und Hoffnung. Durch die abwechselnden Erzählperspektiven von Dieu Lan und Huong hat man das Gefühl, man sei direkt dabei, als die Familie die Schrecken der Landreform, die Zerstörungen des Krieges und die bedrückenden Jahre der Teilung Vietnams durchlebt. Die Erzählungen von Bombenangriffen, Flucht und den traumatischen Folgen von Agent Orange lassen das unermessliche Leid der vietnamesischen Bevölkerung greifbar werden. Dennoch ist es der Mut, den Dieu Lan ihrer Enkelin weitergibt, der mich am meisten bewegt hat – ein starker, unzerstörbarer Familienkern, der trotzig die Zerstörung des Krieges überlebt.

Je mehr ich las, desto größer wurde meine Angst vor Kriegen. Kriege haben die Macht, liebenswerte und kultivierte Menschen in Ungeheuer zu verwandeln

Die Großmutter erinnert Huong daran, wie die Machthaber die Macht beanspruchen, Geschichte umzuschreiben – ein düsteres Bild, das die Zeit der Landreform und der kommunistischen Herrschaft in Nordvietnam prägte. In einer Welt voller Schmerz und Verlust verkörpert Dieu Lan für mich das Bild einer Überlebenden, die an Hoffnung festhält auch wenn die Gegenwart mehr als düster ist und der es gelingt, Huong eine Zukunft zu schenken.

Nguyen Phan Que Mai erinnert daran, dass selbst in den dunkelsten Zeiten Menschen wie Dieu Lan Hoffnung und Menschlichkeit bewahren.

Margot Douaihy – Verbrannte Gnade, erschienen im Blumenbar Verlag, übersetzt von Eva Kemper
★★★☆☆

Margot Douaihys Verbrannte Gnade hat mich auf unerwartete Weise begeistert. Der Krimi führt uns in das schwüle, drückende New Orleans, das durch Douaihys poetischen Stil fast wie eine weitere Figur erscheint. Sister Holiday, die lesbische, kettenrauchende, tätowierte Nonne mit einer Punk-Vergangenheit, ist alles andere als gewöhnlich – sie ist gebrochen, komplex und auf eine ganz eigene Art gläubig. Ihre innere Zerrissenheit und ihr Kampf, trotz ihrer rauen Fassade, ihren Glauben zu bewahren, machen sie zu einer faszinierenden Protagonistin.

Der Kriminalfall selbst, bei dem es um eine Reihe von mysteriösen Bränden an einer katholischen Schule geht, war für mich ehrlich gesagt etwas weniger fesselnd. Die eigentliche Stärke des Romans liegt in der düsteren Atmosphäre und den Charakteren. Die Hitze von New Orleans ist fast greifbar, und Douaihy beschreibt sie so intensiv, dass man das Gefühl hat, selbst in dieser dampfenden Stadt zu stehen, wo alles ein bisschen verfallen wirkt. Diese Kulisse verstärkt das Gefühl, dass jeder Charakter in irgendeiner Form vor der eigenen Vergangenheit oder den eigenen Dämonen flieht.

God never judged me as harshly as I judged myself.

Douaihy, ursprünglich aus Scranton, Pennsylvania, bringt eine raue, fast schon „Rust Belt“-Ästhetik in ihre Darstellung von New Orleans ein, was der Stadt einen spannenden, einzigartigen Anstrich gibt. Ihre Erfahrung als Lyrikerin zeigt sich in den detailreichen, stimmungsvollen Beschreibungen und der eher langsamen Entfaltung der Geschichte. Das Tempo ist manchmal fast hypnotisch, doch gerade das unterstreicht die erdrückende Hitze und die psychischen Kämpfe der Figuren.

Sister Holiday ist weit mehr als nur eine Nonne, die Detektivin spielt. Sie ist auf einer eigenen Reise der Selbstfindung und Sühne, die für mich spannender war als der Kriminalfall selbst. Definitiv eine Figur die mir noch lange im Gedächtnis bleibt und ich hätte auf jeden Fall Lust sie auch bei ihrem nächsten Fall zu begleiten.

Khaled Hosseini – And the Mountains echoed auf deutsch unter dem Titel „Traumsammler“ im S. Fischer Verlag erschien, übersetzt von Henning Ahrens.
★★★☆☆

Afghanistan war die zweite Station auf meiner literarischen Reise um die Welt und die ausführliche Besprechung zum Buch und Informationen über Afghanistan könnt ihr hier nachlesen.

So – geschafft! Freu mich von euch zu hören. Welche habt ihr auch gelesen und was waren eure Lese Highlights im Oktober?

Februar by the Book

Der Februar war wieder ein ausgesprochen guter Lesemonat. Ohnehin scheint 2024 ein herausragendes Literaturjahr für mich zu sein, ich habe schon so viele 5-Sterne Bücher gelesen in diesem Jahr, wie gefühlt im ganzen letzten Jahr zusammen. Auch diesen Monat war kein richtiger Fehlgriff dabei, ich stelle sie euch wieder kurz alphabetisch vor.

Radicals chasing utopio – Jamie Bartlett auf deutsch unter dem Titel „Radicals: Wie Außenseiter die Welt verändern wollen und weshalb wir ihnen zuhören sollten“ im Plassen Verlag erschienen.

In „Radicals“ nimmt Jamie Bartlett, einer der weltweit führenden Denker zu radikaler Politik und Technologie, die Leser mit in die fremdartigen und aufregenden Welten der Innovatoren, Disruptoren, Idealisten und Extremisten, die der Auffassung sind, dass im Kern der modernen Gesellschaft etwas falsch ist – und glauben, dass wir es besser können. Bartlett stellt einige der wichtigsten Bewegungen unserer Zeit vor: Techno-Futuristen, die Unsterblichkeit anstreben; extrem rechte Gruppen, die Grenzen schließen wollen; militante Umweltaktivisten, die den Planeten mit allen notwendigen Mitteln retten wollen; psychedelische Pioniere, die die Gesellschaft mithilfe starker Halluzinogene heilen wollen. Der Erfolg demokratischer Gesellschaften hängt von unserer Fähigkeit ab, den radikalen Bewegungen in unserer Mitte zuzuhören – und in manchen Fällen von ihnen zu lernen. Ihre Ansichten mögen extrem sein, aber in der Verfolgung ihrer Utopien stellen diese Gruppen infrage, was möglich ist, und nehmen die künftige Welt vorweg.

Auch wenn mir der Einblick in verschiedene radikale Gruppen gefiel, hatte ich das Gefühl, dass Bartlett die Erzählung oft zu sehr lenkte, anstatt die Leute und die Gruppen für sich selbst sprechen zu lassen. Habe es dennoch gerne gelesen, allerdings habe ich irgendwie vergessen ein Foto vom Buch zu machen, bevor ich es in den offenen Bücherschrank zurückgestellt habe, woher ich es auch hatte.

Alte Baukunst und neue Architektur – Günther Fischer erschienen im Birkhäuser Verlag

Seit ich vor einigen Jahren eine Architektur Stadtführung durch Chicago gemacht habe, gehe ich mit ganz anderen Augen durch die Städte und bin sehr fasziniert von Architektur, Stadtplanung, Design und Baukunst.

In diesem hochwertigen mit großartigen Bildern ausgestatteten Band schafft der Autor es auf nur 280 Seiten eine knappe, präzise Entwicklungsgeschichte der Architektur hinzulegen, die mich wirklich beeindruckt hat. Eine bestechende Gesamtschau, die auf das Wesentliche konzentriert und von der Baukunst der Antike bis zur erste Phase des Neubeginns in der Renaissance, von der Entfaltung der modernen Architektur bis hin zur Gegenwart und ihrer zukünftigen Entwicklung erzählt. Fischer zeigt auch die Schwierigkeiten und Irrwege großer Architekten auf, beleuchtet den einstigen Zeitgeist und die damit verbundenen Konflikte.

Das System der alten Baukunst konnte nicht weiterbestehen, weil im 19. Jahrhundert nicht nur ein begrenzter historischer Abschnitt zu Ende ging, sondern eine ganze weltgeschichtliche Epoche. Man lässt die Neuzeit ja immer mit der Renaissance beginnen, und es gibt viele gute Gründe dafür – Gutenberg, Kolumbus, Galilei etc -, aber Kaisertum und Feudalismus stürzten erst mit der Französischen Revolution und mussten ihre Macht erst gegen Mitte des 19. Jahrhunderts endgültig an das Bürgertum abgeben.

Ein sehr schönes Werk für alle die Spaß an Architektur und die Geschichte der Baukunst haben.
Wahrscheinlich nix für Experten, aber ein sehr schönes, hochwertiges Buch, das man – wahrscheinlich immer wieder – gerne in die Hand nimmt.
Einziger Kritikpunkt – Frauen kommen so gut wie überhaupt nicht vor. Hätte ja immerhin ein paar gegeben.

Fremd – Michel Friedmann erschienen im Berlin Verlag

Michel Friedmann war bisher ein Mensch für mich, der nicht übermäßig symphatisch auf mich wirkte, weil er auf mich wie ein geschleckter FDP Politiker wirkte. Vor einiger Zeit las ich ein Interview mit ihm und fand ihn da so ungemein klug, besonnen und interessant, dass mir meine dämlichen Vorurteile echt peinlich waren.

Vor Kurzem hatte ich im Literaturhaus in München die Gelegenheit ihn am Holocaust-Gedanktag im Gespräch mit Lena Gorelik und Dana Vowinckel zu erleben, wo er unter anderem auch aus seinem Buch „Fremd“ vorlas.

Mich hat der Text sehr berührt, ich habe mir das Buch gekauft und signieren lassen und habe es in einem Rutsch durchgelesen. Ein Buch das mir sehr nahe gegangen ist.

Ein Kind, voller Furcht, kommt nach Deutschland – ins Land der Mörder, die die Familien seiner Eltern ausgelöscht haben. Hier soll es Wurzeln schlagen, ein Leben aufbauen.

Das Kind staatenloser Eltern tut, was es kann. Es will Kind sein. Es will träumen. Es will leben. Doch was es auch erlebt, sind Judenhass, Rassismus und Ausgrenzung – und eine traumatisierte Kleinfamilie, die es mit Angst und Fürsorge zu ersticken droht.

Mit zehn Jahren
im verdunkelten Wohnzimmer in Paris:
Bücher,
Bücher, meine Wunderwelt.
Meine Traumwelt.
Meine Fluchtwelt.
Lesen: mein Schutzraum
vor einer feindlichen Welt.
Bis heute.

Mit großem Gespür für Zwischentöne und einer kunstvoll verdichteten Sprache zeichnet Friedman das verstörende Bild der Adoleszenz in einer als fremd und gefährlich empfundenen Welt. Das berührende Kaleidoskop eines existenziellen Gefühls, das seziert werden muss, damit es die Seele nicht auffrisst.

Wifedom: Mrs Orwell’s Invisible Life – Anna Funder bislang nicht auf deutsch erschienen

Meine Hörbuch-„Lektüre“ diesen Monat war „Wifedom“ von Anna Funder. Und dieses Buch ist mehr als nur eine Biografie über die erste Frau von George Orwell, Eileen O’Shaughnessy. Die australische Autorin und ehemalige Menschenrechtsanwältin bringt in diesem genreübergreifenden Werk ihre eigenen Erfahrungen und Herausforderungen als Frau und Ehepartnerin ein, während sie gleichzeitig das Leben und die Rolle von Eileen O’Shaughnessy im Kontext von George Orwells Schaffen beleuchtet.

Das Buch entstand aus Funders Verägerung darüber wie wenig über die Orwells Frauen in seinem Leben geschrieben wurde in seinen Biografien, insbesondere über das nahezu komplette Fehlen von Eileen O’Shaughnessy, seiner ersten Frau, die ihn zB in den spanischen Bürgerkrieg begleitete und im Alter von 39 Jahren während einer Operation verstarb.

Die Autorin wirft einen Blick auf das „Wifedom“, das durch ihre eigene Lebenserfahrung gefärbt ist. Das Buch, das für den Gordon Burn Prize nominiert wurde, ist nicht nur eine Biografie, sondern auch eine tief empfundene Erinnerung an Funders eigene Auseinandersetzung mit den Herausforderungen und Erwartungen, die mit dem Status der Ehefrau einhergehen.

Funders Frustration wächst, je mehr sie über Orwell erfährt, der eigentlich einer ihrer Lieblingsautoren ist. Doch es schmerzt sie zu lesen, wie sehr zB die Mitarbeit n O’Shaughnessy an Orwells Roman 1948 ignoriert wurde oder auch ihre wichtige Arbeit im spanischen Bürgerkrieg. Wie so viele von uns muss sie für sich einen Weg finden mit den dunkleren Seiten geliebter Künstler*innen umzugehen. Dabei taucht Funder tief in die Briefe ein, die O’Shaughnessy an ihre Freundin Norah Symes schrieb. Die Autorin geht dabei mutig – und mit Kontroversen behaftet – vor, indem sie die Briefe erweitert, um ein detaillierteres Bild vom gemeinsamen Leben des Paares zu zeichnen.

Die Lesung von Jane Slavin, die die Briefe von O’Shaughnessy liest, vermittelt das Bild einer charismatischen Frau, die sich in schwierigen Umständen nicht so sehr unterdrückt zeigt, sondern vielmehr mutig das Beste aus ihrer Situation macht. In einem ihrer Briefe, der zu Beginn ihrer Ehe geschrieben wurde, offenbart O’Shaughnessy, wie sie und Orwell so viel stritten, dass sie dachte: „Ich würde Zeit sparen und einfach einen Brief an alle schreiben, wenn der Mord oder die Trennung vollzogen ist.“

Anna Funder verwebt gekonnt ihre eigene Stimme mit der von Eileen O’Shaughnessy, um eine einzigartige Perspektive auf das Leben von George Orwell zu bieten. Der Leser bekommt nicht nur Einblicke in die oft übersehene Rolle von Frauen hinter berühmten Männern, sondern auch in die tiefen Herausforderungen und Triumphe, die mit der Partnerschaft und „Wifedom“ verbunden sind. Funder zeigt, dass Eileen O’Shaughnessy nicht nur die Frau an Orwells Seite war, sondern eine eigenständige Persönlichkeit mit eigenen Träumen und Kämpfen.

Patriarchy is a fiction in which all the main characters are male and the world is seen from their point of view. Women are supporting cast – or caste. It is a story we all live in, so powerful that it has replaced reality with itself. We can see no other narrative for our lives, no roles outside of it, because there is no outside of it. In this fiction, the vanishing trick has two main purposes. The first is to make what she does disappear (so he can appear to have done it all, alone). The second is to make what he does to a woman disappear (so he can be innocent). This trick is the dark, doublethinking heart of patriarchy.

Das Buch regt dazu an, über die unsichtbare Arbeit von Frauen nachzudenken, die nicht nur als Unterstützung, sondern als aktive Gestalterinnen des Lebens und Schaffens ihrer Partner fungierten. In „Wifedom“ schafft Anna Funder eine beeindruckende Synthese aus Biografie, Memoiren und Reflexion über das Wesen der Ehe und Partnerschaft.

Ich habe es sehr gerne gehört und kann es nur empfehlen!

Sturm und Stille – Jochen Missfeld erschienen im Rowohlt Verlag

Das Buch habe ich euch schon in meinem Beitrag „Husum by the Book“ vorgestellt. Schaut da gerne noch mal vorbei.

Stoner – John Williams unter dem gleichnamigen Titel auf deutsch erschienen im dtv Verlag, übersetzt von Bernhard Robben

John Williams‘ „Stoner“ ist ein literarisches Meisterwerk, das die stille, berührende Lebensreise eines Mannes namens William Stoner verfolgt. Veröffentlicht im Jahr 1965, erfuhr das Buch erst Jahre später eine Renaissance und wird nun als eines der übersehenen Juwelen der amerikanischen Literatur betrachtet. Der Roman ist ein intimes Porträt eines einfachen Mannes, der durch sein Leben navigiert und dabei die Höhen und Tiefen der Liebe, der Bildung und der beruflichen Ambitionen erlebt.

Die Handlung beginnt im späten 19. Jahrhundert und begleitet Stoner durch sein gesamtes Leben. Der Roman beginnt mit Stoners Entscheidung, Landwirtschaft zu studieren, obwohl sein Vater sich das anders vorgestellt hatte. Schnell wird klar, dass Stoners Begeisterung für die Literatur seine wahre Leidenschaft ist. Dieser innere Konflikt zwischen den Erwartungen der Familie und seinen eigenen Leidenschaften ist ein wiederkehrendes Thema im Roman.

Der Leser wird Zeuge von Stoners Erfahrungen an der University of Missouri, wo er Literatur studiert und schließlich auch lehrt. Williams schafft es meisterhaft, Stoners innere Welt darzustellen und wie er mit den Herausforderungen des akademischen Lebens, der Liebe und der Familiengründung umgeht. Die Charakterentwicklung ist subtil, aber jeder Schritt, den Stoner macht, trägt zur Verfeinerung seiner Persönlichkeit bei.

Ein faszinierender Aspekt des Romans ist die Weise, wie Williams die Details des Alltagslebens in den Text einwebt. Ob es sich um Stoners Beziehung zu seiner Frau Edith handelt, die von Anfang an von Spannungen geprägt ist, oder um die Herausforderungen, die mit der Arbeit an einer Universität einhergehen – der Autor schafft es, alltägliche Momente in bewegende Erzählungen zu verwandeln.

Die Charaktere in „Stoner“ sind komplex und tiefgründig. Edith, Stoners Frau, ist eine besonders faszinierende Figur, die mit ihren eigenen inneren Dämonen zu kämpfen hat. Die Darstellung von Ehe und Familie in „Stoner“ ist realistisch und zeigt, dass das Leben oft von Kompromissen und Opfern geprägt ist.

„Stoner“ von John Williams ist ein zeitloser Roman, der die Essenz der menschlichen Existenz einfängt. Es ist ein Buch über das Leben, die Liebe, die Arbeit und die Suche nach Bedeutung. Die Einfachheit der Handlung und die Tiefe der Charaktere machen es zu einem Werk, das den Leser dazu bringt, über die eigenen Lebensentscheidungen nachzudenken. Es ist eine Ode an die Stille, die im Alltäglichen lauert, und ein Denkmal für das gewöhnliche Leben, das außergewöhnlich wird, wenn man genauer hinschaut.

Sometimes, immersed in his books, there would come to him the awareness of all that he did not know, of all that he had not read; and the serenity for which he labored was shattered as he realized the little time he had in life to read so much, to learn what he had to know.”

Ich denke ihr merkt, wie gut er mir gefallen hat. Dennoch habe ich nur 4 Sterne vergeben, denn ein bißchen mehr Aufbegehren oder Gestaltungswille hätte ich mir dann doch vielleicht gewünscht. Außerdem fände ich es super interessant ein Buch zu lesen das aus Edith’s Sicht geschrieben ist.

Zurecht ein Klassiker! Kennt ihr den Roman? Mochtet ihr ihn? Habe ansonsten noch Augustus von John Williams gelesen, das war in meinen Augen vielleicht sogar noch besser als Stoner. Ein großartiger Autor und ich freue mich, dass mir noch zwei weitere Romane von ihm bleiben, die ich entdecken kann.

In Memoriam – Alice Winn auf deutsch unter dem Titel „Durch das große Feuer“ im Eisele Verlag erschienen, übersetzt von Ursula Wulfekamp und Benjamin Mildner

Alice Winns Debütroman „In Memoriam“ hat mich tief berührt und beeindruckt – es ist eine wunderschöne, wenn auch zutiefst traurigen Liebesgeschichte zwischen zwei jungen Männern im Schatten des Ersten Weltkriegs.

Die Handlung entfaltet sich im idyllischen Preshute, einer Schule, die zwar fiktiv ist, aber angelehnt an das berühmte Marlborough College, dass man ihre Atmosphäre förmlich riechen kann. Inmitten der Unschuld des Jahres 1914 spielen die Jungen Krieg im Wald, beflügelt von epischer Poesie und griechischen Sagen. Henry Gaunt ist ein junger Mann, der nicht nur mit seiner physischen Größe, sondern auch mit unterdrückten Gefühlen für seinen besten Freund Sidney Ellwood zu kämpfen hat.

Sidney, charmant und mit einem Hang zur Poesie und lyrischen Zitaten, erwidert zwar Gaunts Gefühle, doch die Unfähigkeit der beiden, ihre „Abnormalitäten“ einander zu gestehen, setzt eine emotionale Reise in Gang, die aus unbeschwerten Schultagen in die Grausamkeiten des 1. Weltkrieges führt. Das Schicksal zwingt Gaunt und Ellwood dazu, sich nicht nur mit ihrer Liebe, sondern auch mit den brutalen Realitäten des Krieges auseinanderzusetzen.

Was diesen Roman so herausragend macht, ist nicht nur die tiefgehende Charakterentwicklung, sondern auch Winns beeindruckende Fähigkeit, die Grausamkeiten des Krieges schonungslos darzustellen und dabei dennoch so wunderbar zu schreiben. Von den Debatten im Preshutian bis zu den blutigen Schlachten von Loos und der Somme, der Leser wird mitgerissen in Welt die urplötzlich nur noch aus unendlichem Horror besteht. Egal wie viele Kriegsromane oder -filme ich in meinem Leben schon gelesen oder gesehen habe, dieses Buch hat mich zutiefst schockiert.
Die Listen und Listen voller Namen junger Männer zwischen 17 und 25 – an einem Tag sind allein 60.000 englische Soldaten gefallen! Was für eine Grausamkeit und der Hohn wenn man bedenkt, dass das der Krieg sein wollte, der den Krieg für immer besiegen sollte.

“I’m sorry. This is not what I intended to say. What I meant to say is this: You’ll write more poems. They are not lost. You are the poetry.”

Der Titel ist angelehnt an an ein Gedicht von Tennysons Gedicht und verweist auch auf die Todesanzeigen-Spalte der Preshutian Schulzeitung. Hier, am Ende des Romans, wird der Tribut an die Toten zu einem eindringlichen Moment, der die Sinnlosigkeit des Krieges zeigt und die vielen vielen Leben, die durch ihn zerstört wurden.

„In Memoriam“ ist eine Hommage an die Liebe in Zeiten des Krieges, eine Geschichte, die sowohl fasziniert als auch zutiefst bewegt. Ein absolutes Meisterwerk, das noch lange nachklingt und einen tiefen Eindruck hinterlässt. Was für ein Debüt! Freue mich jetzt schon auf Alice Winns nächstes Buch.

Morgen, Morgen und wieder Morgen – Gabrielle Zevin erschienen im Eichborn Verlag, übersetzt von Sonia Bonné

Das ist eines der Bücher, bei denen man, wenn man gefragt wird, worum es in dem Buch eigentlich geht, etwas ratlos ist. Denn wie der Klappentext schon sagt, im Wesentlichen geht es um zwei gute Freunde, die zusammen ein Videospiel machen. Aber das Buch ist tatsächlich so viel mehr. Aber bevor ich darauf eingehe, worum es nun wirklich sonst noch in diesem wirklich großartigen Buch geht, möchte ich nochmal vorausschicken, wie sehr ich das Buch anfangs gar nicht lesen wollte.

Ich war nie ein Gamer und dachte ich würde mit dem Buch daher nix anfangen können. Hier ging es aber um so viel mehr als nur um Videospiele und um so viel mehr als eine normale Freundschaft. Warum das so ist finde ich gar nicht so einfach in Worte zu fassen. Es hat für mich einfach so viel auf den Punkt gebracht, so viel kluge nuancierte Einblicke gewährt in das, was Freundschaft ausmacht, auf das Leben und die Erfahrungen die Menschen im Laufe ihres Lebens machen – das hat mich wirklich schwer beeindruckt. Gabrielle Zevin verinnerlicht für mich das berühmte „show don’t tell“

Erzählt wird hauptsächlich die Geschichte von Sam und Sadie, doch auch Marx spielt eine große Rolle. Die beiden lernen sich als Kinder im Krankenhaus kennen, wo Sam als Patient und Sadie als Besucherin ihrer schwer kranken Schwester regelmäßig miteinander am Computer spielen. Nach Jahren treffen sie sich zufällig wieder, teilen noch immer die Liebe zum Computer spielen und entwickeln gemeinsam mit großer Unterstützung von Marx einige sehr erfolgreiche Computerspiele.

“What is a game?“ Marx said. „It’s tomorrow, and tomorrow, and tomorrow. It’s the possibility of infinite rebirth, infinite redemption. The idea that if you keep playing, you could win. No loss is permanent, because nothing is permanent, ever.”

Wir verfolgen die Entwicklung, Freundschaft, Entfremdung von Sam und Sadie durch Rückblicke in ihre Kindheit und über die nächsten 30 Jahre ihrer Beziehungen untereinander. Diese sind auch immer wieder durch Missverständnisse und Streiterei unterbrochen, die einem das Gefühl vermitteln diese Probleme sind Hindernisse wie sie in Computerspielen vorkommen.

Man muss definitiv kein Gamer sein, um dieses Buch zu lieben, aber ich kann mir fast nicht vorstellen, dass man dieses Buch lesen kann ohne Marx zu lieben!

So und jetzt ihr! Welches dieser Bücher habt ihr auch gelesen, wollt ihr lesen? Welche mochtet ihr? Welche nicht? Freue mich sehr von euch zu hören.

Lektüre Januar 2023

Nachdem der Dezember so durchwachsen war, freue ich mich um so mehr, dass der Januar wieder ein richtig guter Lesemonat war. Lange Weihnachtsferien, diverse Zugfahrten und durchgelesene Nächte haben zu geführt, dass ich richtig dicke Brummer durchbekommen habe und da war der eine oder andere echte Diamant dabei.

Los gehts:

Babel, Or the Necessity of Violence: An Arcane History of the Oxford Translators’ Revolution – R. F. Kuang auf deutsch im Eichborn Verlag erschienen, übersetzt von Heide Franck und Alexandra Jordan

Ich wusste nicht viel über dieses Buch, außer dass es um 1800 in Oxford spielt und das Übersetzer*innen/Linguist*innen die Held*innen sind, was mich sofort fasziniert hat. Babel war ganz und gar nicht das, was ich erwartet hatte. Es hat einen Hauch magischen Realismus und beschäftigt sich mit den Problemen und Auswirkungen von Kolonialismus, Rassismus und damit einhergehende Ungerechtigkeiten, wobei der Schwerpunkt auf der akademischen Welt liegt.

Ich bin natürlich ein großer Fan von Dark Academia, sowohl was Ästhetik angeht, als auch alles was mit Literatur zu tun hat, aber es lässt sich nicht leugnen, dass es diesem Genre massiv an Diversität mangelt. RF Kuang stellt uns in Babel eine Gruppe ausländischer Student*innen vor unterschiedlichster Herkunft die im 19. Jahrhundert an einer der prestigeträchtigsten Universitäten Englands studieren, und das ist einfach genial.

That’s just what translation is, I think. That’s all speaking is. Listening to the other and trying to see past your own biases to glimpse what they’re trying to say. Showing yourself to the world, and hoping someone else understands.

Babel hat fast alles aufgeboten was ich in einem Buch liebe: die Lust auf Wissen, das Studium alter Sprachen und der Philosophie, Diskussionen über Konzepte, die mir tagelang nicht aus dem Kopf gingen, und die gemütliche alte Bibliotheken mit Kaminen voller Bücher. Aber R.F. Kuang seziert auch die akademische Welt und bringt ihre Schwächen ans Licht.

Was mich wirklich beeindruckt hat, war Kuangs Idee die Kunst des Silver-Working, die magischen Silberbarren, die das Fundament des Reichtums und Fortschritts in England sind und die durch das Vergleichen und Übersetzen von Wörtern aus dem Englischen und anderen Sprachen entstehen.

Es war mein erstes Buch von R.F. Kuang und diese junge Frau hat mich einfach komplett umgehauen. Es ist ihr vierter Roman. Sie ist 26, hat in Oxford und Yale studiert, einen Master in Contemporary Chinese Studies und macht jetzt ihren Doktor in East Asian Languages and Literatures

Was hab ich mit 26 eigentlich gemacht?

Anyway – lest BABEL und wahrscheinlich habt ihr dann auch noch mal mehr Hochachtung vor Übersetzerinnen und Linguist*innen. Die sind nämlich neben den Bibliothekarinnen die eigentlichen Herrscher*innen der Welt – so!

Sea of Tranquility – Emily St. John Mandel auf deutsch erschienen unter dem Titel Das Meer der endlosen Ruhe im Ullstein Verlag übersetzt von Bernhard Robben

Simulationstheorie, Untersuchung von Anomalien in der Zeit, Mondkolonien, Zeitreisen. Ein Brite aus der Vergangenheit, der einfach nur sein Leben lebt, eine Frau, die im Jahr 2020 lebt und Antworten und manchmal auch Rache will, und eine Autorin, die in der Zukunft lebt, auf Lesereise ist in eine Pandemie gerät und dann eigentlich nur noch nach Hause möchte.

Ich fand es spannend die Parallelität der Leben von der fiktiven Autorin Olive und der Autorin Emily St. Mandel zu beobachten.

Mandel ist für mich die Königin der alternativen Zeitlinien und Figuren, die sich irgendwie überschneiden und gegenseitig beeinflussen.

𝙸𝚏 𝚝𝚑𝚎𝚛𝚎’𝚜 𝚙𝚕𝚎𝚊𝚜𝚞𝚛𝚎 𝚒𝚗 𝚊𝚌𝚝𝚒𝚘𝚗, 𝚝𝚑𝚎𝚛𝚎’𝚜 𝚙𝚎𝚊𝚌𝚎 𝚒𝚗 𝚜𝚝𝚒𝚕𝚕𝚗𝚎𝚜𝚜.

Was würdest du tun, wenn du dich inmitten einer Zeitverfälschung wiederfindest, einer Art unerklärlicher Umnachtung, bei der Momente in der Zeit sich gegenseitig korrumpieren können?

Vier Menschen aus verschiedenen Zeitzonen spürten dieselbe Anomalie und ihre Schicksale kreuzten sich im selben Moment, als Alan Sami im Jahr 2200 im Luftschiffhafen von Oklahoma City Geige spielt, der dreizehnjährige Vincent in den Wäldern von Caiette im Norden der Insel Vancouver Anfang der 2000er Jahre den Wald mit ihrer Kamera filmt, während Edwin St. John St. Andrew 1812 seine langen Schritte in denselben Wald unternimmt und die berühmte Science-Fiction-Autorin Olive Llewellyn auf der Plattform des Luftschiffhafens in derselben Zeitlinie wie Alan Sami die bezaubernden Noten spielt.

Beide Menschen spüren die Musik und den Wald, die Hintergrundstimmen der Plattform und die unterschiedlichen Qualitäten ihrer eigenen Zeitzonen. Aber wie kann das möglich sein? Was ist der Grund für diese Anomalie?

Ich mochte „The Glass Hotel“ war aber nicht blown away, Mandels Meta-Fiktion Ansatz ist aber so spannend, dass ich jedes ihre Bücher wohl mehrfach lesen werde, nur um die ganzen Querverweise und wieder auftauchenden Figuren angemessen verfolgen zu können.

𝙰 𝚕𝚒𝚏𝚎 𝚕𝚒𝚟𝚎𝚍 𝚒𝚗 𝚊 𝚜𝚒𝚖𝚞𝚕𝚊𝚝𝚒𝚘𝚗 𝚒𝚜 𝚜𝚝𝚒𝚕𝚕 𝚊 𝚕𝚒𝚏𝚎.

Mit Babel und Sea of Tranquility habe ich schon im Januar große Anwärter für meine Bücher des Jahres – das kann doch so weitergehen. Und ich kann schon verraten, auch die restlichen Bücher die ich Januar gelesen habe, waren ausnahmslos richtig gut.

Der Name der Rose – Umberto Eco übersetzt aus dem italienischen von Burkhart Kroeber erschienen im Hanser Verlag

Ich habe den Namen mit 16 gelesen, als der Bibliothekar meiner heimatlichen klitzekleinen Leihbücherei mir den Roman in die Hand drückte, den er für mich auf Seite gelegt hatte und es war sogar eine nigelnagelneue Ausgabe! Ich nahm es mit in die Sommerferien und ich glaube dieses Buch hat damals den Grundstein dafür gelegt, dass ich eine echte Leserin wurde, die sich das Lesefieber aus der Kindheit ins Erwachsenenalter rüber retten konnte.

Daher war ich schon auch ganz schön nervös, das Buch jetzt nach so vielen Jahren noch einmal zu lesen. Die Verfilmung hatte ich dazwischen schon zwei oder dreimal gesehen, das Buch allerdings nie wieder. Solche Wiederentdeckungen können ja auch gehörig schief gehen.

Eco hat einen Roman geschrieben, den man als historische Fiktion, Mysterium, Theologie und Philosophie, Metafiktion, Psychologie und vieles mehr bezeichnen kann und der von allen Seiten gelobt wird. Er nimmt Sherlock Holmes und Watson und macht sie zu Mönchen in einer Abtei aus dem Jahr 1300, in der es an jeder Ecke Mord und theologische Debatten gibt. Die beiden Haupthandlungen, der Mordfall und die religiösen Debatten, verweben sich mühelos miteinander, wobei sich die Spannungen gegenseitig verstärken und die Handlung immer dichter wird.

In omnibus requiem quaesivi, et nusquam inveni nisi in angulo cum libro

Dies ist jedoch kein einfacher, von der Handlung getriebener Thriller. Eco bringt einen dicken Wälzer mittelalterlicher und christlicher Geschichte auf den Tisch, der wie ein Historienroman wirkt und den Leser sowohl unterrichtet als auch unterhält. Dies hat viele Vergleiche mit Werken wie Dan Browns Da Vince Code hervorgerufen, doch Eco übertrifft Brown in fast jeder Kategorie.

Dieses Buch verdient es wirklich, als „Literatur“ bezeichnet zu werden, denn es ist viel mehr als eine Geschichte und Forschung, die in eine Handlung geworfen wird. Die Sprache seiner Figuren ist glaubwürdig, und was mich am meisten beeindruckt hat, ist wie gekonnt er die theologischen Auseinandersetzungen zwischen den Bewohnern der Abtei schilderte. Anhand dieser Figuren, von denen viele reale Personen waren, schildert er glaubhafte und oft feurige, facettenreiche Diskussionen über eine Reihe von Themen wie Ketzer, Armutsgelübde und die Auslegung des Evangeliums. Eco verfügte über umfassendes Wissen zum Thema mittelalterliche Studien – er war Professor für Semiotik – die in diesem Roman eine entscheidende Rolle spielt. Williams Methode der Deduktion beruht auf seiner Fähigkeit, in der Welt um ihn herum „die Zeichen zu lesen“. Er stellt sorgfältig Syllogismen auf um seine Theorien darzulegen.

Der vielleicht spannendste Aspekt dieses Romans war, dass es ein Buch über Bücher ist. Der ganze Roman dreht sich um verschiedene Texte, wie Aristoteles und die Offenbarung, aber er besteht aus anderen Büchern. Er macht den Leser sogar darauf aufmerksam, wenn William Adson erklärt, wie man den Inhalt eines Buches durch die Lektüre anderer Bücher herausfinden kann. Er reiht Anspielungen auf andere mittelalterliche Texte und auch auf einen von Ecos liebsten Autoren aneinander: Jorge Luis Borges. Dieser Roman ist voll von Anspielungen auf Borges‘ Werke, es gibt sogar einen blinden Bibliothekar namens Jorge von Burgos.

Die schwarze Rose – Dirk Schümer erschienen im Zsolnay Verlag erschienen

Wenn es schon sowas wie eine Art Fortsetzung von Der Name der Rose gibt und damit eine Chance noch ein wenig länger Zeit in William von Baskervilles Gesellschaft zu verbringen, dann führt kein Weg an der schwarzen Rose vorbei.

Pünktlich zum 40. Geburtstag von Ecos Jahrhundertroman erschien Dirk Schümers Buch und um es gleich vorweg zu sagen, es macht Spaß und ich habe es sehr gerne gelesen.

Als Ketzer denunziert, muss sich im Jahr 1328 der berühmte deutsche Prediger Eckhart von Hochheim am Hof des Papstes in Avignon der Inquisition stellen. In Begleitung seines Novizen Wittekind wird Meister Eckhart Zeuge eines blutigen Raubüberfalls. Als Wittekind selbst angegriffen wird, ahnen die beiden, dass sie in einen Finanzbetrug von europäischem Ausmaß hineingezogen werden. Im Schatten des Papstpalasts ist auch der geheimnisvolle Franziskaner William von Baskerville den Tätern auf der Spur.

Dort, wo Umberto Ecos „Der Name der Rose“ aufhört, setzt Dirk Schümers packender historischer Roman an. Wir erleben eine finstere Metropole der Religion, in der nur ein Credo gilt: Gold.

So wie Francesco seinen Lehrer Ciceo auswendig lernte, so hatte auch ich meinen eigenen Patron gefunden:
Tota vita discendum est mori. Leben ist sterben zu lernen.
Das meinte Seneca: über allem stehen, Schmerz und Sehnsucht ignorieren, den Abschied immer schon hinter sich haben.
Wer kann über dem stehen, der über dem Schicksal steht!
Über dem Schicksal zu stehen, darum hatte ich mich seit Jahren mit aller Kraft bemüht.

Ein simpler Eingriff – Yael Inokai erschienen im Hanser Verlag

Ein elegantes schmales Büchlein das ruhig und sachlich ohne ein Wort zu viel vom Horror des historischen Umgangs mit der weiblichen Psyche berichtet. Es ist aber auch eine Geschichte über Selbstbestimmung und Eigenverantwortung.

Meret ist Krankenschwester. Die Klinik ist ihr Zuhause, ihre Uniform trägt sie mit Stolz, schließlich kennt die Menschen in ihrem Leiden niemand so gut wie sie. Bis eines Tages ein neuartiger Eingriff entwickelt wird, der vor allem Frauen von psychischen Leiden befreien soll. Die Nachwirkungen des Eingriffs können schmerzhaft sein, aber danach fängt die Heilung an. Daran hält Meret fest, auch wenn ihr langsam erste Zweifel kommen.

Ich dachte in diesem Moment, dass sie eine große Freiheit besaß. Egal, wo sie hinging, sie konnte sich einfach setzen. Sie fragte sich nie, ob dieser oder jener Platz für sie bestimmt war.

Was den Eingriff anbelangte, waren auch die Schwestern auf unserer Station geteilter Meinung. Wenn sie denn überhaupt eine hatten. Manche waren gut darin geworden, sich jede Meinung abzugewöhnen. Die Vorgaben und Regeln fingen einen immer auf. Meinungen konnten das nicht

Gegliedert ist das Buch in drei Abschnitte, benannt nach den drei Protagonist*innen des Buchs: Meret, Marianne und Sarah. Marianne ist die Patientin, deren fehlgeschlagene Operation erste Zweifel in Meret weckt. Sarah ist Merets Mitbewohnerin, in die sie sich von der ersten Begegnung an verliebt, die ihr neue Blickwinkel aufzeigt und mit der sie von einer besseren Zukunft zu träumen wagt und Merets eigene Beobachtungen.

Hatte meine alte Zimmernachbarin dafür geliebt, dass sie die unsichtbare Trennlinie zwischen unseren Betten nie übertrat, dass ihr Vergnügen so wenig bedeutete, dass ihr Herz in all den Jahren nur zweimal zu Bruch ging. Nicht wie bei den anderen, wo es ohne Unterlass brach, ein störanfälliges Organ, immer nur gerade so zusammengeflickt, bevor der Nächste es wieder auseinanderriss.

Harry Potter and the Order of the Phoenix – J. K. Rowling auf deutsch unter dem Titel Harry Potter und der Ordes des Phönix im Carlsen Verlag übersetzt von Klaus Fritz

Harry Potter ist wütend darüber, dass er den Sommer über im Haus der Dursleys zurückgelassen wurde, denn er vermutet, dass Voldemort eine Armee zusammenstellt, dass er selbst angegriffen werden könnte und dass seine so genannten Freunde ihn im Dunkeln lassen. Als er schließlich von Leibwächtern der Zauberer gerettet wird, erfährt er, dass Dumbledore den Orden des Phönix neu formiert – einen Geheimbund, der vor Jahren gegründet wurde, um Voldemort zu bekämpfen. Doch das Zaubereiministerium ist gegen den Orden, und das Zaubererblatt Daily Prophet verbreitet Lügen, und Harry fürchtet, dass er diesen epischen Kampf gegen das Böse vielleicht allein aufnehmen muss.

Meine Heldin ist natürlich insbesondere Hermione – wie gerne wäre ich sie, so klug, so belesen und mutig. Aber von Buch zu Buch merke ich, Hermione hat noch unerwartet große Konkurrenz mit Blick auf Lieblings-Figur bekommen. Professor McGonagall ich liebe die alte Schottin und im Buch vor allem diesen Dialog:

“Is it true that you shouted at Professor Umbridge?“
„Yes.“
„You called her a liar?“
„Yes.“
„You told her He Who Must Not Be Named is back?“
„Yes.“
„Have a biscuit, Potter.”

Idol in Flammen – Rin Usami erschienen im Kiepenheuer & Witsch Verlag, übersetzt von Luise Steggewentz

Der Roman, der die japanische Verlagswelt in Brand gesetzt hat: Ein preisgekrönter Bestseller aus Japan von einer 21-jährigen Autorin, die zum Shootingstar der japanischen Literatur avanciert: Rin Usami. Ein Roman der sich auf brillante Weise mit toxischem Fandom, sozialen Medien und Desillusionierung beschäftigt.

Akari ist eine Highschool-Schülerin, die von „oshi“ Masaki Ueno, einem Mitglied der beliebten J-Pop-Gruppe Maza Maza, besessen ist. Sie schreibt einen Blog, der ihm gewidmet ist, und verbringt Stunden damit durchs Internet zu scrollen, süchtig nach Informationen über ihn und sein Leben. Verzweifelt versucht Akari, ihn zu analysieren und zu verstehen, und hofft, die Welt irgendwann mit seinen Augen zu sehen. Es ist eine Hingabe, die ans Religiöse grenzt: Masaki ist ihr Retter, ihr Rückgrat, jemand, von dem sie glaubt, dass sie ohne ihn nicht überleben kann – auch wenn sie ihn nie wirklich getroffen hat.

Als Gerüchte auftauchen, dass ihr Idol einen weiblichen Fan angegriffen hat, explodieren die sozialen Medien. Akari fängt sofort an, alles zu sichten, was sie über den Skandal finden kann, und teilt jedes Detail auf ihrem Blog und zieht damit zahlreiche Leser an, die begierig auf ihre Updates warten.

Aber die strukturierte und gut informierte Person, die Akari online präsentiert, ist ganz anders als der sozial unbeholfene, unkonzentrierte Teenager, die sie im wirklichen Leben ist. Als sich Masakis Situation zuspitzt, drohen seine Probleme auch ihr Leben zu zerstören. Anstatt einen Weg zu finden, sich zu befreien, um sich selbst zu retten, wird Akari immer fanatischer…

Da ist was für dich gekommen, Fräulein Akari Yamashita, sagt meine Schwester und reicht mir ein Paket, ds zehnmal dieselbe CD enthält, die ich in meinem Zimmer vorsichtig auspacke, um die Wahlscheine herauszunehmen. Neue Singles von Mazamaza kommen immer zusammen mit einem Wahlschein, und eine Single kostet zweitausend Yen. Fünf CDs habe ich schon, also kann ich jetzt insgesamt fünfzehn Stimmen bei der Beliebtheitswahl der Bandmitglieder abgeben.

Eine Geschichte über Ruhm, Trennung, Besessenheit und Desillusionierung von einer Autorin, die kaum älter ist als ihre Protagonistin. Idol in Flammen nimmt die Fan-Kultur, die Geldmacherei der J-Pop-Idol-Industrie, die verführerische Macht der sozialen Medien und die gewaltige emotionale Leere, die sich auftut, wenn ein Idol in Ungnade fällt unter die Lupe.

Ein Roman wie ein brennender Benzinkanister, der mit 200 km/h über die Autobahn rast. Atemlos in einem Rutsch durchgelesen. Krass.

The Wonder – Emma Donoghue auf deutsch erschienen unter dem Titel „Das Wunder“ erschienen im Goldmann Verlag, übersetzt von Thomas Mohr

Die irischen Midlands, 1859. Die englische Krankenschwester Lib Wright wird in ein kleines Dorf gerufen, um zu beobachten, was manche für eine medizinische Anomalie oder ein Wunder halten – ein Mädchen, das monatelang ohne Nahrung überlebt haben soll. Touristen strömen zu der Hütte der elfjährigen Anna O’Donnell, und ein Journalist ist gekommen, um über die Sensation zu berichten. The Wonder“ ist eine Geschichte über zwei Fremde, die das Leben des anderen verändern, ein psychologischer Thriller und eine Geschichte über Liebe im Kampf gegen das Böse.

How could the child bear not just the hunger, but the boredom? The rest of humankind used meals to divide the day, Lib realized – as a reward, as entertainment, the chiming of an inner clock. For Anna, during this watch, each day had to pass like one endless moment.

Habe „The Wonder“ als Hörbuch gehört und es sehr gemocht. Es passte sehr gut in die Jahreszeit und ich habe meine Isar-Spaziergänge gerne verlängert, um noch ein wenig weiter hören zu können, was es mit Anna und ihrer seltsamen Hunger-Geschichte auf sich hat. Das Buch ist bereits verfilmt worden mit Florence Pugh in der Hauptrolle und obwohl ich die Schauspielerin sehr sehr schätze, die Geschichte klasse fand, der Film großartige Bilder hat – ich bin nicht wirklich mit dem Film warm geworden. Hier ist das Buch wirklich um Längen besser meiner Meinung nach.

Das war es jetzt aber – eine reiche großartige Ausbeute hatte ich da im Januar und natürlich bin ich wieder sehr neugierig auf eure Reaktionen. Welche dieser Bücher habt ihr auch gelesen? Seid ihr anderer Ansicht als ich bei dem einen oder anderen? Auf welche konnte ich euch besonders neugierig machen?

Ich wünsche euch einen guten Februar und freue mich, wenn ihr dann wieder an meiner Lektüre teilhabt. Soviel kann ich schon verraten – es geht literarisch und auch in echt nach Paris. Jusque là!

Lektüre Februar 2022

Ein bisschen später als geplant, aber die weltpolitische Lage hat auch mich im doomscrolling (verdammnisblättern? bzw obsessive Konsumieren von schlechten Nachrichten) erstarren lassen und dem Lesen und Schreiben keinen Raum gelassen. Aber ein bisschen Struktur hilft in vielen Lagen, daher hier meine Lektüre aus dem Februar. Es war ein sehr guter und schöner Lesemonat, da wird im März deutlich weniger hinzukommen.

Hier geht’s lang – Mit Büchern von Frauen durchs Leben von Elke Heidenreich, Eisele Verlag

Es waren Bücher von Frauen, die Elke Heidenreich geprägt haben, von frühester Jugend an. Später machte sie das Reden und Schreiben über Bücher zu ihrem Beruf.

Als ich Anfang des Jahres hier verriet, dass ich ein Projekt plane, dann meinte ich dieses damit. Mich auch meiner Lebensbücher zu erinnern und darüber zu schreiben. Ich danke meiner lieben Freundin Barbara in Berlin sehr, mir das Buch nicht nur ans Herz gelegt sondern auch geliehen zu haben. Habe es sehr gerne gelesen und sobald mein Hirn wieder etwas ruhiger ist, beginne ich mal meine eigene Lesebiographie zu erforschen und aufzuschreiben.

… denn Literatur hat immer auch eine unterwandernde Wirkung, sie trägt uns davon aus unserer Umgebung, und mit dem Weg zurück kann es heikel werden

… und die Sonne schien in meinem Kopf und rettete mich vor Armut, Enge, Kleinkariertheit und den üblichen Nöten und Komplexen einer Heranwachsenden.

Maria Stuart – Stefan Zweig erschienen im Fischer Verlag

Sie war Königin von Schottland und Frankreich und hatte Anspruch auf den Thron von England – doch Elizabeth I. ließ Maria Stuart (1542–1587) jahrelang inhaftieren und schließlich hinrichten, um ihre Macht zu wahren. Das Leben der Maria Stuart war geprägt von Intrigen, Verschwörungen und politischen Ränkespielen, denen sie am Ende zum Opfer fiel. Stefan Zweig zeichnet ein Porträt einer Frau, deren Leben bis heute Anlass zu Spekulationen, Verklärung und Mystifizierung gibt.

Stefan Zweig ist einer meiner liebsten Autoren und auch diese Roman-Biografie habe ich sehr gerne gelesen. Gelegentlich merkt man natürlich schon aus welcher Zeit Zweig stammt und wie das seinen Blick auf Frauen geprägt hat, aber eine wirklich lohnende Lektüre, durch die ich immens viel über die schottisch-englische Geschichte und zwei ausgesprochen faszinierende Persönlichkeiten gelernt habe.

Doch eine Natur wie die ihrige kann, wenn auch noch so tief enttäuscht, nicht ohne Vertrauen leben; immer wieder sucht sie nach einem sicheren Menschen, auf den sie sich unbedingt verlassen kann. Lieber wird sie jemanden wählen, der niederem Range entstammt, der nicht die Ansehnlichkeit eines Moray und Maitland besitzt, aber dafür die Tugend, die ihr notwendiger ist an diesem schottischen Hofe, die kostbarste aller Dienergaben: unbedingte Treue und Verläßlichkeit.

The City & The City von China Miéville auf deutsch erschienen unter dem Titel „Die Stadt & Die Stadt“ bei Bastei Lübbe. Übersetzt von Eva Bauche-Eppers

Zwei Städte – geeint und doch entzweit. Die Bewohner werden erzogen, einander nicht zu sehen. Das unerlaubte Betreten der jeweils andere Stadt zieht schwerste Strafen nach sich.

Ganz warm werden Mr. Miéville und ich irgendwie nicht. Ist mein dritter Versuch, die Prämissen sind immer spannend, seine Romane stecken voller spannender Ideen, aber ich komme nie richtig in die Bücher rein, sie haben auch nicht die richtige Atmosphäre für mich. Definitiv ein gutes Buch, ein spannender Autor, nur eben nicht für mich.

“Is it more childish and foolish to insist that there is a conspiracy or that there is not?” 

Der Verdacht (The Push)- Ashley Audrain erschienen bei Penguin Random House. Übersetzt von Ulrike Wasel, Klaus Timmermann

Violet ist ein Wunschkind, und Blythe möchte die liebevolle Mutter sein, die ihr selbst so sehr fehlte. Doch als man ihr das Neugeborene in den Arm legt, fühlt sich alles falsch an. Da ist nur Ablehnung, und je älter das Mädchen wird, desto mehr wächst die Angst vor Violet und ihrem feindseligen Verhalten, das sich Blythe nicht erklären kann. Alles nur Einbildung? Oder ist das Mädchen tatsächlich absichtsvoll böse? Fox, der seine Tochter von ganzem Herzen liebt, beobachtet seine Frau mit wachsendem Misstrauen. 

Ein Buch das nur schwer auszuhalten ist, emotional alles andere als leichte Kost ist und das mir noch immer nach geht.

Ich erinnerte mich daran, warum wir Violet eigentlich bekommen haben: Du wolltest eine Familie, und ich wollte dich glücklich machen. Aber ich wollte außerdem all meine Zweifel widerlegen. Ich wollte auch meine Mutter widerlegen.

Wenn Männer mir die Welt erklären (Men explain things to me) von Rebecca Solnit erschienen im btb Verlag. Übersetzt von Kathrin Razum und Bettina Münch

Ein Mann, der mit seinem Wissen prahlt, in der Annahme, dass seine Gesprächspartnerin ohnehin keine Ahnung hat – jede Frau hat diese Situation schon einmal erlebt. Rebecca Solnit untersucht die Mechanismen von Sexismus. Sie deckt Missstände auf, die meist gar nicht als solche erkannt werden, weil Übergriffe auf Frauen akzeptiert sind, als normal gelten.

Rebecca Solnit ist eine Autorin die ich sehr schätze. Sie ist klug, warmherzig und hat ein wahninniges Gespür für die Themen unserer Zeit. Dieses Buch hat das Zeug dazu ein Klassiker zu werden. Sie schafft es auf ein paar Seiten, die Geschlechterdebatte auf den Punkt zu bringen.

Every woman knows what I’m talking about. It’s the presumption that makes it hard, at times, for any woman in any field; that keeps women from speaking up and from being heard when they dare; that crushes young women into silence by indicating, the way harassment on the street does, that this is not their world. It trains us in self-doubt and self-limitation just as it exercises men’s unsupported overconfidence.

Vier Tage währt die Nacht von Dorothea S. Baltenstein erschienen im Eichborn Verlag

Dorothea S. Baltenstein ist das Pseudonym von vier Schülerinnen und ihrem Lehrer die im Rahmen eines Unterrichtsprojektes, dem sogenannten Projekt Pegasus, zwischen September 1995 und Mai 1998 das Manuskript für den gleichnamigen Roman entwickelten.

Schottland, im Jahre des Herrn 1817. Jonathan Lloyd erhält von seinem alten Freund Sir Mortimer Pope eine Einladung nach Boroughmore Castle. Ein literarischer Wettstreit ist geplant; man will sich treffen wie einst die Shelleys sich mit Lord Byron in der Schweiz trafen, wo Mary Shelley die Inspiration zu Frankenstein hatte. Aber bereits in der ersten Nacht stürzt die Zugbrücke des Schlosses ein, was ein Todesopfer fordert.

Ein Roman den ich direkt nach Erscheinen gekauft und gelesen habe, denn meine Liebe zu allem Gothic / Dark Academia etc begleitet mich schon ein Leben lang. Ich habe es damals sehr gerne gelesen, war etwas besorgt, wie es wohl gealtert sein mag, aber auch es macht auch in dunklen Wintertagen im Jahr 2022 noch genauso viel Spaß sich in diese dunkel-romantische Schauergeschichte zu versenken.

Während ich am späten Nachmittag des 27. November des Jahres 1817 in einer Kutsche saß, die holpernd über steinige Straßen fuhr, und hoffte, noch vor einbrechender Nacht mein Ziel zu erreichen, breitete sich in mir bereits ein Gefühl der Unsicherheit aus – vielleicht war auch ein wenig Furcht dabei.

Krabat von Otfried Preußler erschienen bei der Büchergilde Gutenberg

Neugier lockt Krabat zur Mühle am Koselbruch, vor der alle warnen. Dort soll es nicht mit rechten Dingen zugehen. Ein leichtes und schönes Leben wird Krabat hier versprochen. Doch der Preis dafür ist hoch. Und aus der Verstrickung mit dem Bösen kann ihn nur die bedingungslose Liebe eines Mädchens retten.

Auch so ein Herzensbuch, das ich gerne alle paar Jahre lese und jedes Mal entdecke ich etwas Neues darin.

Es gibt eine Art von Zauberei, die man mühsam erlernen muß: Das ist die, wie sie im Koraktor steht, Zeichen für Zeichen und Formel um Formel. Und dann gibt es eine, die wächst einem aus der Tiefe des Herzens zu: aus der Sorge um jemanden, den man lieb hat. Ich weiß, daß das schwer zu begreifen ist – aber du solltest darauf vertrauen, Krabat.

Bibliomanie von Gustave Flaubert erschienen im Insel Verlag. Übersetzt von Erwin Rieger.

Der Buchhändler und Antiquar Giacomo lebt zurückgezogen in einer stillen Gasse in Barcelona. Seine Liebe gilt allein den Büchern. Er berauscht sich am Geruch ihres Papiers, dem Einband, der Vergoldung der Lettern und der Druckerschwärze. Sein Traum: der Aufbau einer eigenen Bibliothek. Bei dem Erwerb bibliophiler Schätze steht ihm allerdings sein Rivale Baptisto im Weg, der Buchhändler vom Königsplatz. Allmählich steigert sich Giacomos Leidenschaft zum verbrecherischen Wahn …

Einen einzigen Gedanken hatte er, eine einzige Liebe, eine einzige Leidenschaft: die Bücher! Und diese Liebe, diese Leidenschaft verbrannten sein Inneres, verdarben sein Leben, verschlangen sein Dasein.

The Offing von Benjamin Meyers erschienen auf deutsch unter dem Titel Offene See im Dumont Verlag. Übersetzt von Ulrike Wasel, Klaus Timmermann

Der junge Robert weiß schon früh, dass er wie alle Männer seiner Familie Bergarbeiter sein wird. Dabei ist ihm Enge ein Graus. Er liebt Natur und Bewegung, sehnt sich nach der Weite des Meeres. Daher beschließt er kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, sich zum Ort seiner Sehnsucht, der offenen See, aufzumachen. Fast am Ziel angekommen, lernt er eine ältere Frau kennen, die ihn auf eine Tasse Tee in ihr leicht heruntergekommenes Cottage einlädt. Eine Frau wie Dulcie hat er noch nie getroffen: unverheiratet, allein lebend, unkonventionell, mit sehr klaren und für ihn unerhörten Ansichten zu Ehe, Familie und Religion. Aus dem Nachmittag wird ein längerer Aufenthalt, und Robert lernt eine ihm vollkommen unbekannte Welt kennen. 

Das wurde ganz überraschend für mich ein richtiges Herzensbuch. Jede:r von uns braucht eine Dulcie im Leben. Ein Buch das ich ganz besonders in diesen dunklen Zeiten empfehlen kann. Es macht die Welt ein kleines bisschen besser.

There is poetry in silence but most of us don’t stop to hear it. They must talk, talk, talk, but say nothing because they are afraid of hearing their own heartbeat.

Let poetry and music and wine and romance guide the way. Let liberty prevail.

Welche Bücher davon kennt ihr oder habt ihr vielleicht Lust bekommen auf das Eine oder das Andere? Ich freue mich über Rückmeldung – lasst mal hören…

Was wir scheinen – Hildegard Keller

Man könnte wohl sagen, dass die lebendige Menschlichkeit eines Menschen in dem Maße abnimmt, in dem er auf das Denken verzichtet.
Hannah Arendt

Hildegard E Keller verwebt Leben und Werk dieser bahnbrechenden Philosophin des 20. Jahrhunderts zu einem eleganten, spannenden Roman voller historischer und philosophischer Einsichten.

Schon in Hannah Arendts Kritik an Augustinus sowie in ihrem biographischen Essay über Rahel Varnhagen spürt man Arendts Interesse am Menschen, am Erzählen von Leben und dem Wunsch, die Dinge ungeschönt zu betrachten. Auch ihre Perspektive auf Judentum, Antisemitismus und die „Banalität des Bösen“ zeugt von ihrer Begeisterung für die Beobachtung sozialer Phänomene und politischer Ereignisse im Kontext ihres persönlichen Lebens.

Kellers ausgiebige Recherche basierend auf der Korrespondenz mit ihrem langjährigen Geliebten Martin Heidegger, ihrem Ehemann Heinrich Blücher, ihren Freunden Mary McCarthy, Karl Jaspers, Walter Benjamin, oder mit Schriftsteller-Kolleginnen wie Ingeborg Bachmann, ihren Tagebüchern sowie ihren philosophischen bzw. politischen Schriften zeichnen Hannah Arendts prägende Jahre nach und beleuchten besonders intensiv ihr letztes Lebensjahr, das noch immer geprägt ist von der folgenschweren Publikation ihres Berichtes über den Eichmann-Prozess. Eine Kontroverse gegen sie und ihr Buch, die sie selbst öffentlich »Kampagne« und in privaten Briefen »Mobilisierung des Mobs« nannte. Aus dem grellen Licht einer Öffentlichkeit, die sie teils mit Hass, teils mit Euphorie überschüttete, ohne sich in der von ihr erhofften sachlichen Weise mit ihrem Buch auseinanderzusetzen, kam sie bis zu ihrem Tod nicht mehr heraus.

Kellers Roman ist eine behutsame Studie über die Entwicklung der Gedanken einer deutschen jüdischen Frau im Laufe eines Lebens. Bevor sie zu einer Kommentatorin des Totalitarismus des 20. Jahrhunderts wurde, war Arendt eine Frau, die sozusagen über Jaspers und St. Augustinus zu Heidegger kam. Am zentralsten im Roman ist für mich ihr unglaubliches Interesse am Leben, an ihren Mitmenschen, ganz gleich wen sie vor sich hat.

„Sie trat auf den Vorplatz der Casa Barbatè, ging über die Gleise, dann die paar Schritte zum Kirchturm. Hoch oben, im offenen Dachstuhl, sirrten die Schwalben und drehten ihre Runden um das Glockenrad. So was Schönes, dachte sie, davon kann ich nie genug bekommen. Das ist ja das Einzige, was wir fürchten, wenn wir uns vor dem Ende bangen. Nicht den Tod, sondern diese Welt zu verlieren.“

Der Leser trifft auf Hannah Arendt im Sommer 1975, als sie gerade mit dem Zug in das Schweizer Dorf Tegna unterwegs ist, um dort Urlaub zu machen. In den insgesamt 27 Kapiteln reisen wir ihr Zeit und Welt und begleiten sie auf ihren wichtigsten Stationen zwischen Mai 1941 und August 1975. Man lernt Arendt von einer ganz anderen Seite kennen, eine Kämpferin gegen den Totalitarismus, die ihr Leben lang für ihre Überzeugungen kämpfte, alles immer ganz verstehen wollte und sich dann für nichts und niemanden daran hindern, ließ ihre Überzeugung so auf Papier zu bringen.

Hannah Arendt hat sich stets als politische Theoretikerin und weniger als Philosophin gesehen. Das hat meines Erachtens weniger mit übergroßer Bescheidenheit zu tun, als mit der Überzeugung, dass Arendt die Philosophie als der Politik abgewandt erlebt hat und sie sich nur ein Leben vorstellen konnte, in dem der Mensch geradezu gezwungen ist sich mit der Politik zu beschäftigen und Einfluß zu nehmen. Ein berührender, intensiver Roman den ich sehr gerne gelesen habe.

„Arme Wirklichkeit, die abhängig ist von Menschen, die an sie glauben und sie bezeugen.
Das hatte sie in ihrem Rahel-Buch geschrieben. Seither war die Wirklichkeit noch viel ärmer geworden. Unwillkommene Fakten und Argumente wurden immer vehementer geleugnet. Nur wusste sie seit der Kampagne gegen sie und ihr Eichmann-Buch auch, mit welcher Wucht alles zurückkehren konnte.“

Ich danke dem Eichborn-Verlag für das Rezensionsexemplar sowie für den schönen Zoom-Abend mit der Autorin, der zurecht große Lust auf den Roman machte. Ich hoffe Frau Keller ist bald wieder in Schreibstimmung, ich könnte mir noch so manche in Romanform erscheinende Biografie von ihr vorstellen.

Wer jetzt noch mehr Lust auf Hannah Arendt hat, der findet hier einen Beitrag zum Buch aus der Reihe „The Last Interview“ und hier einen Beitrag zu ihrem Essay „Die Freiheit, frei zu sein„. Immer wieder ans Herz legen möchte ich allen die es noch nicht kennen, oder als Einladung es nochmal anzusehen, ihr berühmtes Interview mit Günter Gaus aus dem Jahr 1964:

Hirngymnastik Klassische Musik

Ein Jahr voller Wunder – Clemency Burton-Hill

Ich glaube, ich habe nicht viel mit der Krimi-Autorin Donna Leon gemeinsam, außer wahrscheinlich unsere immense Vorliebe für klassische Musik aus der Barock-Zeit und der (nicht ganz ernst gemeinten) Ansicht, die eigentliche Oper endet für uns mit Mozart.

Neben den Barockopern von Händel, Monteverdi, Gluck oder Vivaldi mag ich insbesondere geistliche Musik, was mir wieder zeigt, dass man, um großartige Musik oder auch Architektur (Kirchen) schätzen zu können, nicht unbedingt religiös sein muss.

Die heutige Hirngymnastik befasst sich mit Literatur, in der klassische Musik eine zentrale Rolle spielt.

Die europäische Musik unterscheidet sich sehr von vielen anderen außereuropäischen klassischen Musikformen – durch ihr Notationssystem, das etwa seit dem 11. Jahrhundert in Gebrauch ist. Katholische Mönche entwickelten die ersten Formen moderner europäischer Musiknotation, um die Liturgie in der gesamten Weltkirche zu vereinheitlichen.

Im Gegensatz zu den meisten volkstümlichen Stilen ist die klassische Musik für die Entwicklung hoch entwickelter Formen der Instrumentalmusik wie Symphonie, Konzert, Fuge, Sonate und gemischter vokaler und instrumentaler Stile wie Oper, Kantate und Messe bekannt.

Eines der schönsten Bücher, die ich dieses Jahr gelesen habe ist eines, das mich gelegentlich auch in ganz andere Epochen der klassischen Musik geführt hat und auch wenn das Jahr noch nicht ganz um ist, es ist ganz eindeutig mein Lieblingsbuch dieses Jahr:

Clemency Burton-Hill ist unglaublich enthusiastisch, nicht im Entferntesten versnobt und hat mir riesige Lust gemacht, jeden Morgen das Stück des Tages zu hören. Sie redet über Stücke, die sie in der U-Bahn, bei der Hausarbeit oder auch mal ganz ehrfürchtig in einem Konzertsaal hört. Alle wichtigen Komponisten sind hier und an 366 Tagen (ja, inklusive des extra Tages – also perfekt für das Schaltjahr 2020) stellt sie erfreulich viele Frauen, Nicht-Europäer/Amerikaner und Komponisten vor, die noch leben und arbeiten – viele von ihnen unter 50.

Ein Buch wie dieses wäre vor dem Streaming vielleicht gar nicht möglich gewesen, aber durch das Streaming ist es leicht, sich durch alle 366 Stücke zu hören (meistens an dem dafür vorgesehenen Tag, aber ab und an auch mal ein paar am Stück, wenn ich etwas hinterherhinkte ). Dadurch lernte ich so unglaublich viele neue Stücke/Komponisten kennen und schätzen.

Natürlich hat mir nicht jedes Stück gefallen, aber wer klassische Musik mag, spürt richtig, wie sich der eigene Horizont erweitert. Ein wunderbares Buch und das perfekte Geschenk für eigentlich fast alle Menschen.

Weiter geht es mit dem Genre der Oper. Das rote Opernbuch im Hintergrund habe ich als Kind von Verwandten aus der DDR geschickt bekommen und es hat mich seitdem überall hinbegleitet, wo auch immer ich gewohnt habe. Es ist ein guter erster Anlaufpunkt, wenn man sich über den Inhalt und den Hintergrund einer Oper informieren möchte.

Heute geht das natürlich auch sehr gut mit Wikipedia, dennoch kann ich jedem, der vielleicht auch gerade erst anfängt, sich mit Opern zu beschäftigen, empfehlen, sich ein solches Opernbuch anzuschaffen und/oder auch das Who’s Who in der Oper, ein hilfreiches Handbuch das einem noch mal mehr Einblick in die wichtigsten Figuren gibt, die immer wieder in Opern auftauchen.

Robert Levines „Weep, Shudder and Die“ ist ein sehr kompakter Guide, der noch mal interessante Einblicke in die Welt der Opernliebhaber in den USA gibt, die Auswahl der Komponisten und die Kürze der Opernbeschreibungen waren mir aber eine Spur zu oberflächlich. Es fehlte Händel (!!!).

Etwas umfassender möchte ich euch diesen Roman vorstellen:

Opernroman – Petra Morsbach

Wunderbarer Roman über das Treiben an einem fiktiven Opernhaus in einer fiktiven Stadt. Morsbach wirft einen messerscharfen Blick hinter die Kulissen. Man spürt, dass Petra Morsbach die Bühnen der Welt von innen heraus kennt, denn nur als Insider erlangt man diese Detailschärfe und kann so lebendig und humorvoll über diesen Mikrokosmos schreiben.

Hochs und Tiefs gehören zum künstlerischen Alltag in der Oper. Hinter den Kulissen ist das Geschehen aber fast genauso dramatisch wie auf der Bühne. Einige opfern ihr Leben für die Kunst, während andere recht skrupellos über Leichen gehen um Karriere zu machen. Die Menschen leben hier intensiver, leiden aber auch mehr als anderswo. Die Oper ist ein Ort der Extreme.

In diesem bislang einzigen Nicht-Brunetti Roman von Donna Leon geht es unter anderem um den italienischen Geistlichen, Diplomaten und Komponisten Agostino Steffani (1654 – 1728). Er lebte über zwanzig Jahre in München, was ihn noch einmal interessanter für mich machte.

Das Buch entstand in Kooperatin mit Cecilia Bartoli, einer Opernsängerin, die Ms Leon vor etwa zwanzig Jahren einmal interviewte und die seitdem ihr Opern-Buddie ist. Bartoli nahm eine CD mit Werken von Agostini auf und nur für die CD alleine hat sich der Kauf dieses wunderschönen Buches gelohnt. Der Krimi selbst spielte für mich eher eine untergeordnete Rolle, unterhalten habe ich mich aber auf jeden Fall sehr gut gefühlt.

Caterina Pellegrini ist gebürtige Venezianerin und wie so viele von ihnen musste sie ihre Heimat verlassen, um ihre Karriere fortzusetzen. Mit einem Doktortitel in „Barockoper“ aus Wien landet sie in Manchester. Als Caterina von einer Stelle in ihrer Heimat erfährt, ergreift sie die Gelegenheit beim Schopf und zieht zurück.

Die Stelle ist ziemlich ungewöhnlich. Nach fast drei Jahrhunderten wurden zwei verschlossene Truhen entdeckt, in denen sich vermutlich Papiere eines Barockkomponisten befanden. Mit religiösen und politischen Kreisen eng verbunden, starb der Komponist kinderlos; nun beanspruchen zwei (sehr unsympathische) Venezianer, Nachkommen seiner Cousins, jeweils das Erbe. Caterinas Aufgabe ist es, alle beigefügten Papiere zu prüfen, um so etwas wie eine testamentarische Verfügung des Komponisten zu finden. Doch als ihre Nachforschungen sie in unerwartete Richtungen führen, beginnt sie sich zu fragen, welche Geheimnisse diese Truhen wohl tatsächlich bergen.

Die Juwelen des Paradieses – ein großartiger Roman für Musikliebhaber*innen, eine fesselnde Erzählung über Intrigen, Musik, Geschichte und Gier mit großartiger Musik.

Hier könnt ihr Cecilia Bartolis Steffani-Aufnahme hören

Von Venedig aus reisen wir jetzt ins Deutschland der Bach-Zeit. Bach und Händel sind ja die großen deutschen Komponisten der Barock-Zeit und theoretisch hätten sie sich treffen können, es hat aber tatsächlich nie geklappt.

Die Suche in der häuslichen Bibliothek hat gleich zwei Bücher über Johann Sebastian Bach hervorgebracht – aber sträflicherweise keines über „meinen“ Händel, ein Zustand den ich schnellstens ändern muss.

Als die Musik in Deutschland spielte – Bruno Preisendörfer

Bruno Preisendörfer entführt uns in die Lebenswelt des Barock: Wie kleideten sich die Menschen? Wie sah das Familienleben aus? Tabak kam gerade in Mode und auch der Kaffee und damit der Siegeszug der Kaffeehäuser.

Musik wurde überall gespielt – ob in Gottesdiensten, zur Unterhaltung des Adels, der Bürger oder auf dörflichen Festen. Es war die Zeit von Johann Sebastian Bach, Georg Friedrich Händel und Georg Philipp Telemann, deren Kompositionen uns bis heute nachhaltig berühren.

Preisendörfer breitet ein Füllhorn an Fakten, Anekdoten und Wissen aus, für mich hat die Lesbarkeit manchmal etwas gelitten und mich machte dieses hektische Springen von einer Anekdote zur nächsten irgendwie etwas kirre.

Hätte mir mehr über das Leben Johann Sebastian Bachs gewünscht und etwas weniger Hektik.

Als Bach nach Dresden kam – Ralf Günther

Leider stand auch in diesem Buch nicht etwa Johann Sebastian Bach im Zentrum der Geschichte, sondern der Dresdner Konzertmeister und Direktor der französischen Hofmusik: Jean-Baptiste Volumier.

Im Jahr 1717 ist Volumier Konzertmeister der Hofkapelle August des Starken. Als ihm zu Ohren kommt, dass der skandalumwitterte französische Musiker Louis Marchand nach Dresden geholt werden soll, wird ihm angst und bange: Wird Marchand ihm den Rang streitig machen? Volumier fasst einen Plan: Ein Orgelduell, bei dem er Marchand gegen den größten lebenden deutschen Komponisten antreten lässt: Johann Sebastian Bach wird Marchand überstrahlen, da ist Volumier sicher, und nach einer Blamage wird Marchand das Weite suchen. In Weimar lernt Volumier Bachs Cousine Friedelena kennen. Die Begegnung verändert einiges. Kurz bevor das Tastenduell stattfindet, nehmen die Ereignisse einen unvorhergesehen Verlauf.

Ein unterhaltsames Buch, aber ich wollte doch etwas mehr Bach und weniger Volumier *mit den Füßen trampelt*.

Jetzt aber zwei Bücher über einen Komponisten, bei dem man tatsächlich das bekam, was auch außen drauf stand.

Wir reisen nach Österreich und widmen uns DEM Komponisten der Wiener Klassik: Wolfgang Amadeus Mozart

Mozart: Ein Leben ist eine gut recherchierte Biographie von Maynard Solomon und war 1996 Finalist für den Pulitzerpreis. Sie liest sich wie ein Roman, in dem wir Mozart durch seine frühe Kindheit in Salzburg bis zu seinen gefeierten Auftritten in den Hauptstädten Europas als Wunderkind begleiten.

Solomon folgt ihm nach Wien, wo er heiratet und als vielversprechender junger Komponist nicht nur in Wien, sondern auch in Prag und Deutschland Erfolg hat. Sein Leben überschattet eine sich stetig vertiefende Melancholie, die sich besonders ausprägte als er an seinem letzten Werk, dem Requiem, arbeitet, bevor er im Alter von 36 Jahren viel zu früh stirbt.

Mozart last Aria – Matt Rees

Matt Rees nimmt in seinem Roman das historische Rätsel des Mordes an Mozart unter die Lupe und präsentiert anhand von Fakten und Personen aus dem wirklichen Leben eine mögliche Lösung des Falles.

Zu Beginn der 1790er Jahre steht Europa vor einigen großen Problemen. In Frankreich ist die Französische Revolution im Gange. Preußen und Österreich sind Erzfeinde. Und Mozart verliert unter mysteriösen Umständen sein Leben und vermutet eine Vergiftung. Der Roman beginnt, als seine Schwester Nannerl im Sterben liegt und Mozarts Sohn das von ihr geführte Tagebuch gibt. Als Nannerl von Mozarts rätselhaftem Tod erfährt, verlässt sie ihr Dorf Salzburg und reist nach Wien, wo ihr Bruder Mozart Erfolg hatte und Zugang zu den höchsten gesellschaftlichen Kreisen erlangte. Nannerls Ziel ist einfach: herauszufinden, was mit ihrem Bruder geschehen ist.

Nur ist dem Wien, dem sie begegnet, ein anderes als das ihrer Jugend. Die Atmosphäre ist nicht mehr offen und entspannt, sondern geheimnisvoll und trügerisch. Als Nannerl beginnt, sich umzuhören, gerät sie in ein gefährliches Spiel – sie wird auf der Straße angegriffen und muss um ihr Leben fürchten.

Der Roman war eine verführerische Lektüre. Gleich zu Beginn des Buches stellt Rees dem Leser eine Liste der Charaktere und ihrer Identitäten zur Verfügung, das hilft sehr. Jedes Mal, wenn man glaubt, der Mörder sei entlarvt, schlägt Rees wieder einen Haken. Das Buch hat wirklich Spaß gemacht.

Die Mozart-Lektüre hat mir große Lust gemacht den Film Amadeus wiederzusehen, leider konnte ich ihn nirgendwo streamen, daher musste ich mich vorab erst mal mit dem Trailer begnügen:

Der letzte Roman dieser Hirngymnastik führt uns in die Welt der Kastraten.

Margriet de Moors „Der Virtuose“ hatte ich vor Jahren schon einmal gelesen und war gespannt, wie viel mir noch in Erinnerung geblieben war und wie gut es mir jetzt gefallen würde.

Dieser Roman erzählt die Geschichte eines berühmten Sängers. Der musikalisch begabte Garparo, der in furchtbare Armut hineingeboren wird lässt sich freiwillig und bereitwillig kastrieren, als er fast schon in der Pubertät ist. Danach wurde er ins Konservatorium gebracht und unzählige Stunden lang zu einem der berühmtesten Sänger Neapels ausgebildet.

Es ist die Geschichte der dramatischen Liebesgeschichte zwischen Gaspara und einer reichen Adligen.

Das Buch gibt Einblick in eine Zeit, in der Menschen – egal welcher Klasse sie angehörten völlig verrückt nach der Oper waren. Aristokraten, wie die Heldin des Romans, besuchten das Theater von San Carlo mehrmals in der Woche in ihren Logen, dort wurde gespielt und gegessen, Gespräche über Philosophie geführt und auch Liebesaffären nahmen dort ihren Lauf.

Manchmal widmeten sie sich aber auch der Musik und gingen mitunter sogar bis auf die Bühne, um die Aufführungen aus der Nähe zu sehen! Seither verstehe ich, warum Mahler darauf bestand, dass die Zuschauer ruhig sitzen und zuschauen sollten.

De Moor lässt die Welt der italienischen Musik und der neapolitanischen Aristokratie mit einer Sinnlichkeit aufleben, die einem den Atem raubt.

Der passende Film zum Buch ist natürlich Farinelli:

Zum Abschluß eine Playlist meiner liebsten klassischen Stücke:

Ich hätte gerade riesige Lust dazu. Habe mich für Ende Dezember um Tickets beworben an der Münchner Staatsoper, aber noch weiß ich nicht ob es geklappt hat. Wir werden sehen.

Ich hoffe ich konnte euch etwas Lust machen auf klassische Musik – habt ihr Lieblingskomponisten oder Stücke die ihr mir empfehlen würdet? Geht ihr gerne in die Oper?

Große gemischte Tüte

Zu warm für lange Rezensionen. Hier in Kürze 5 Empfehlungen für schwüle Sommernächte:

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Süd-Afrika 1901. Sarah van der Watt und ihr sechsjähriger Sohn Fred werden während des Burenkrieges aus ihrem Haus in ein Internierungslager verschleppt, wo die höflichen britischen Angreifer ihnen versichern, sie seien in Sicherheit dort.

2014. Der sechzehnjährige Willem ist ein Außenseiter. In der Hoffnung, dass er endlich der Sohn wird, den sich seine Mutter und ihr Freund wünschen, zwingen sie ihn, ins New Dawn Safari Training Camp zu gehen, wo man stolz darauf ist, aus Jungs Männern zu machen. Sie versprechen ihm, er werde dort in Sicherheit sein.

“Above all this the stars shine. Willem pauses for a moment and feels the world turn as he struggles to pick out the Southern Cross among the interstellar static, He’s never seen a sky so big or so bright. It’s dizzying and he spins slowly to take it all in…” 

You will be safe hier ist ein eindringlicher Roman, der zwei südafrikanische Geschichten miteinander verbindet. Ein Roman um das Vermächtnis von Gewalt und unseren Willen zu überleben. Ein Buch das unter die Haut geht.

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Machines Like Me spielt in einer alternativen Vergangenheit in den 1980er Jahren in London. Charlie treibt antriebslos durch sein Leben, verdient ein paar Kröten mit Online-Börsenhandel und ist in seine Nachbarin Miranda verliebt, die ein schreckliches Geheimnis hütet. Als Charlie Geld erbt, kauft er sich einen Adam, einen der ersten künstlichen Menschen. Mit Mirandas Hilfe co-designt er Adams Persönlichkeit.

“The future kept arriving. Our bright new toys began to rust before we could get them home, and life went on much as before.” 

Dieser nahezu perfekte Mensch ist schön, stark, klug und es entspinnt sich sehr bald ein subversive Dreiecksbeziehung. Die drei werden mit einem tiefgehenden moralischen Dilemma konfrontiert – McEwans beliebter Modus Operandi.

McEwan hat wieder einen unglaublich intelligenten, unterhaltsamen und anregenden Roman geschrieben, der sich mit den grundsätzlichen Fragen beschäftigt: Was macht uns zu Menschen? Unsere äußerlichen Handlungen oder unser innerstes Sein? Kann eine Maschine das menschliche Herz verstehen? Wieviel Rechte hat ein künstliches Leben?

“We create a machine with intelligence and self-awareness and push it out into our imperfect world. Devised along generally rational lines, well disposed to others, such a mind soon finds itself in a hurricane of contradictions. We’ve lived with them and the list wearies us. Millions dying of diseases we know how to cure. Millions living in poverty when there’s enough to go around. We degrade the biosphere when we know it’s our only home. We threaten each other with nuclear weapons when we know where it could lead. We love living things but we permit a mass extinction of species. And all the rest – genocide, torture, enslavement, domestic murder, child abuse, school shootings, rape and scores of daily outrages.” 

Ein provokanter, spannender Roman, der uns davor warnt, Geister zu rufen, die wir dann nicht loswerden bzw. nicht mehr kontrollieren können…

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Als Cora Seabornes brillianter, aber auch dominanter Ehemann stirbt, beginnt ein neues Leben für sie. Sie lässt ihre unglückliche Ehe hinter sich und hat endlich Gelegenheit, ihrer außergewöhnlichen Intelligenz und Neugier den Raum zu geben, den sie braucht.

Zusammen mit ihrer Freundin und ihrem wahrscheinlich autistischen Sohn Francis verlässt sie London für einen Besuch an der Küste Essex, wo sie – ihrem Vorbild Mary Anning gleich – einem wissenschaftlichen Geheimnis auf der Spur ist.

Sie trifft bei ihren Nachforschungen auf den Pfarrer William Ransom, der ebenfalls mit dem Geheimnis um die „Essex Serpent“ beschäftigt ist. Cora ist eine begeisterte Naturforscherin mit wenig Sinn für Übersinnliches oder Religion und so sehr William und sie sich als Freunde schätzen, immer wieder geraten sie aufgrund ihrer unterschiedlichen Weltanschauungen aneinander.

The Essex Serpent ist eine großartige Gothic Novel im besten Sinne. Die Geschichte mag im späten 19. Jahrhundert spielen, die Themen finden sich aber ganz genau so im 21. Jahrhundert wieder. Glaube und Aberglaube treffen auf Wissenschaften und Fakten und auch die unterschiedlichen Formen der Liebe sowie moralische Limitierungen sowohl in der Liebe als auch in der Medizin.

“We both speak of illuminating the world, but we have different sources of light” 

Besonders gefiel mir, wie differenziert Perry mit den verschiedenen Formen der Liebe umgeht. Den schmalen Grat erfasst, wo Freundschaften sich verwandeln in andere Formen von Beziehungen, nicht immer klar benennbar, sondern changierend und abwechslungsreich.

“The windows in her room were open and light was fading on the wall. She said, ‘There may be blood,’ and he said, ‘Better that way – better’; and it was Cora’s mouth he kissed, and Cora’s hand she placed where she wanted it most. Each was only second best: they wore each other like hand-me-down coats.”

Großes Lesevergnügen.

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Loyalty Island in Washington State wird vom Meer beherrscht. Jeden Herbst fahren die Schiffe der Loyalty Islander hoch zur Bering See, um den Winter über Königskrabben zu fangen. Das ist die Industrie, die die Stadt und seine Geschäfte am Leben erhält, auch wenn stets der drohende Tod auf See über ihnen hängt. Für Cal, dessen Vater Kapitän eines der Boote ist, haben das Meer und Alaska etwas ähnlich mystisches wie die Piratengeschichten, die sein Vater ihm als Kind erzählte – aber er sieht auch, wie sehr das Meer verantwortlich dafür ist, dass die Ehe seiner Eltern alles andere als glücklich verläuft. Sowohl wenn sein Vater auf See ist, als auch, wenn er für ein paar Monate wieder zu Hause ist.

„Loyalty Island – das war der Gestank von Hering, Lackfarbe und fauligem Seetang an Anlegestellen und auf Stränden. Der Geruch von Kiefernnadeln, die sich am Boden braun verfärbten. Das Rumpeln von Außenbordern, von Windböen und Eismaschinen, das Heulen hydraulischer Winschen. Es war graues Dämmerlicht, das morgens und abends kam und ging – wie Ebbe und Flut.

Es war eine Aura der Einsamkeit.“

Die Familie Gaunt ist die mächtigste und einflußreichste auf der Insel. Ihnen gehört seit Generationen die Fangflotte auf Loyalty Island und sie sind der größte Arbeitgeber der Insel. Als John Gaunt plötzlich stirbt und sein entfremdeter Sohn Richard alles erbt, gerät das Leben auf der Insel außer Balance. Richard scheint wild entschlossen alles an die Japaner zu verkaufen und somit den Bewohnern der Insel ihre Lebens- und Arbeitsgrundlage zu entziehen. Als Cal entdeckt, dass sein Vater möglicherweise drastische Schritte unternommen hat, um ihre gewohnte Lebensweise zu bewahren, steht er vor einer schwierigen Wahl…

Ein wunderbarer Roman über Väter und Söhne, das Ende der Kindheit,  Verantwortung, Loyalität und über die Frage, was Menschen zu unmoralischem Handeln treib. Ein Buch, das definitiv seinen eigenen Soundtrack verdient:

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Gordon Comstock verachtet den Materialismus und die Oberflächligkeit der Mittelklasse, ihre Anbetung des Geldes und ihr Streben nach langweiliger muffiger Seriosiät. Er will ganz nach seinen Idealen leben und kündigt seine gut bezahlte Stelle als Werbetexter und gibt sich ganz seinem Leben in Armut und anderen edelmütigen Aktivitäten hin.

So ein Leben in Armut ist allerdings alles andere als ein Zuckerschlecken und seine permanente Geldfixiertheit (bzw. der Mangel an Geld) geht einem irgendwann auf den Keks. Es vergeht kein Absatz, in dem das Wort Geld nicht vorkommt. Ich hätte eventuell mehr Respekt für Gordon aufgebracht, wenn er in seiner edelmütigen Lebensweise in Armut nicht permanent auch seine Mitmenschen, insbesondere seine Verlobte und seine Schwester, mit ins Unglück gezerrt hätte.

“The mistake you make, don’t you see,is in thinking one can live in a corrupt society without being corrupt oneself. After all, what do you achieve by refusing to make money? You’re trying to behave as though one could stand right outside our economic system. But one can’t. One’s got to change the system, or one changes nothing. One can’t put things right in a hole-and-corner way, if you take my meaning.”

So edel seine Beweggründe sind, sich und seine Kunst (er ist Schriftsteller) nicht zu verkaufen, so wenig juckt es ihn, wie er die Menschen behandelt, die ihm nahestehen.
Ich bereue es keinesfalls, das Buch gelesen zu haben, es ist durchaus gut und hat viele gute Passagen, aber die Art, wie er mit Frauen umgeht und sein egozentrisches Verhalten haben ihn für mich zu einem der unsympathischsten Protagonisten gemacht, die ich seit langem in Büchern getroffen habe.

Down and out in Paris and London hat mir deutlich besser gefallen.

Hier noch mal die Bücher im Überblick:

  • Damian Barr – „You will be safe here“ erschienen bei Bloomsbury
  • Ian McEwan – „Machines like me“ auf deutsch unter dem Titel „Maschinen wie ich“ bei Diogenes erschienen
  • Sarah Perry – „The Essex Serpent“ auf deutsch unter dem Titel „Die Schlange von Essex“ bei Eichborn erschienen
  •  George Orwell „Keep the Aspidistra flying“ auf deutsch unter dem Titel „Die Wonnen der Aspidistra“ im Diogenes Verlag erschienen und nur noch antiquarisch erhältlich.

Meine Reisen mit Herodot – Ryszard Kapuściński

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Als der frisch graduierte Ryszard Kapuściński seiner Verlegerin mitteilte, er würde gerne einmal ins Ausland reisen, hatte er keine Ahnung, wie sehr dieser Wunsch sein Leben beeinflussen würde. Eigentlich ging es ihm um den konkreten Grenzübertritt, dieses Gefühl zu erleben, tatsächlich eine Grenze zu überschreiten. Er hatte einen kurzen Abstecher ins benachbarte sozialistische Ausland wie z.B. Prag im Kopf, seine Verlegerin schickte ihn allerdings gleich einmal um die halbe Welt: nach Indien. Damit begann seine ereignisreiche und erfolgreiche Karriere als Auslandskorrespondent und Autor diverser Bücher, dessen Name immer wieder einmal in den Topf der Anwärter auf den Literaturnobelpreis geworfen wurde.

Kapuściński verstarb, bevor das tatsächlich passieren konnte, aber zum Glück hat er uns eine Vielzahl großartiger Bücher hinterlassen. Auf seinen vielen Reisen begleiteten ihn stets die Historien von Herodot, ein Buch, das ihm seine damalige Verlegerin für seine erste Reise schenkte.

Bei dieser ersten Reise ins Ausland wird der junge Journalist einfach so ins kalte Wasser geworfen. Aus dem sozialistischen Ausland kommend, mit rudimentären Englischkenntnissen, merkt er schnell, dass einzig Sprache ihn retten kann. In Herodots Welt wurde überall Griechisch gesprochen, in Kapuścińskis Welt ist es das Englische ,ohne das man verloren ist. Ihm wird klar, dass er nur sehen und sich erinnern kann, wofür er Namen hat und je mehr Namen er für die Dinge in der Welt hat, desto reicher wird die Welt für ihn sein.

Er erzählt auch von seinen Schwierigkeiten in Indien, stets bedient zu werden, gerade für ihn, der im Sozialismus im Geiste der Gleichheit erzogen wurde und wie er lernen musste, dass er jemandem das Geld zum Überleben verweigert, wenn er sich nicht in einer Rikscha kutschieren oder einen Knopf annähen lässt.

Zurück in Polen wird er schon bald darauf wieder losgeschickt. Dieses Mal geht es nach China, wo eine kurze Phase der Offenheit seinen Aufenthalt dort ermöglicht, doch kommt es nie zu einer wirklichen Zusammenarbeit mit chinesischen Journalisten. Sein Radius wird schon bald vor Ort stark eingeschränkt und jeder seiner Schritte überwacht. Ihm wird klar, dass eine Mauer nicht nur vor Feinden draußen schützt, sie hilft auch, die zu kontrollieren, die sich innerhalb der Mauern befinden. Er merkt, wie eine solche Mauer die Menschen verändert, sie dazu bringt, alles von Mauern umringt und in schwarz-weiß/gut und schlecht aufgeteilt zu sehen.

Von China aus geht es für ihn nach Afrika, ein Kontinent, der viel stärker fragmentiert und differenzierter ist als Asien und für ihn daher etwas einfacher zu fassen. In Afrika reift Kapuściński als Journalist, er beginnt, die unter den Ereignissen liegenden Gründe zu analysieren und nicht mehr nur über die Ereignisse an sich zu berichten. Er beginnt, sich mit den Menschen in Afrika anzufreunden, er redet mit ihnen, er beobachtet, er liest und nimmt sich Herodot immer wieder als Vorbild.

Er verbindet das, was er bei Herodot liest, stets mit seiner eigenen Laufbahn. Wie führte Herodot seine Nachforschungen aus? Welche Quellen nutzte er? Wie mag er gereist sein, mit wem gesprochen und wem hat er wiederum seine Geschichten erzählt? Wer war sein Publikum? In Herodot findet er seiner Ansicht nach den ersten, der Konnektivität der Welt erfasst hat, etwas das für Kapuściński eine gradueller Lernprozess war.

Herodot ist ein Geschichtenerzähler der weiß, wie man ein Publikum unterhält und wie man eine Geschichte würzen muss. Er ist unendlich neugierig, eine Eigenschaft die Kapuściński mit ihm gemein hat.

„Er (Herodot) war vollauf beschäftigt mit seinen Reisen, den Vorbereitungen dafür, und dann mit der Auswahl und Sichtung der mitgebrachten Materialien. Denn eine Reise beginnt nicht in dem Moment, da wir uns auf den Weg machen, und sie endet nicht, wenn wir ans Ziel gelangt sind. In Wahrheit beginnt sie viel früher, und sie ist faktisch nie zu Ende, weil sich das Band unserer Erinnerungen in unserem Inneren weiterdreht, auch wenn wir angekommen sind. Es gibt so etwas wie eine Infizierung mit dem Reisebazillus, und das ist eine im Grunde unheilbare Krankheit.“

Herodot wollte verhindern, dass die menschlichen Geschehnisse im Dunkel der Zeit verloren gehen und sah seine Aufgabe darin, ein Chronist der Zeit zu sein. Auszüge aus Herodots Werk ziehen sich durch das gesamte Buch. Kapuściński erzählt die Geschichte der Griechisch-Persischen Kriegs nach und stellt seine eigenen Nachforschungen an. Er begibt sich in die Geschichten hinein, z.B. in die Geschichte der Belagerung Babylons, bei der die Männer beschlossen, jeweils alle Frauen bis auf eine pro Haushalt zu erwürgen, um Vorräte zu sparen. Er fragt sich, wie genau die Männer die Entscheidung trafen, wer entscheidet welche übrig bleibt, wer führte die Tötungen durch, töteten sie die Frauen ihrer eigenen Familien oder die der anderen? Die Frauen müssen mitbekommen haben was vor sich geht. Haben sie sich gewehrt? Haben sie versucht ihre Töchter zu schützen? Herodot berichtet einfach nur die Fakten, ohne jeglichen Kommentar, hier lernt Kapuściński weiterzugehen, nach Fragen zu suchen und Antworten zu finden in seiner Arbeit.

„Die Perser und die Franzosen wurden von derselben Leidenschaft angetrieben – erobern, erlangen, besitzen. Beide erleiden eine Niederlage, weil sie gegen das griechische Gesetz verstoßen, das Gesetz der Mäßigung: niemals zu viel zu wollen, nicht alles zu begehren.“

Kapuściński sieht Herodot und sich als Reporter die auf Begegnungen mit Menschen angewiesen sind. Zu Herodots Zeiten gab es keine andere Form der Kommunikation als der direkte Kontakt, er lebte in einer Zeit der mündlichen Weitergabe von Wissen, das sich hauptsächlich auf  die Erinnerung stützte. Er wusste wie fragil und unzuverlässig Erinnerungen sind und dennoch sammelte er das Wissen und ließ sich auch auf die Ungenauigkeiten ein.

„Alle Diktaturen bedienen sich eines solchen passiven Magmas. Damit ersparen sie sich teure Armeen bezahlter Polizisten. Sie brauchen nur auf diese Menschen zurückzugreifen, die nach etwas in ihrem Leben suchen. Ihnen das Gefühl zu geben, sie könnten sich nützlich machen, man würde auf sie zählen, sie wahrnehmen, ihnen Bedeutung beimessen.“

Das Einnehmen von unterschiedlichen Gesichtspunkten, die Wahrheit zu suchen, Quellen zu prüfen, das sind gemeinsame Werte und die Verbindungen, die Kapuscinski in seiner und Herodots Arbeit sieht.

Man könnte Kapuścińskis Buch einfach vordergründig für die Memoiren eines berühmten Reporters halten, der einigen historisch äußerst bedeutsamen Ereignissen beiwohnte.

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Aber Kapuścińskis Buch wirkt durch den Bezug auf Herodots Werk noch auf einem tieferen Level. Durch ihn zeigt der Journalist, wie wenig sich für den Einzelnen seit Herodot verändert hat, wann immer große geschichtliche Ereignisse auf ihn hereinbrechen.

„Wann immer man tote Tempel, Paläste, Städte betrachtet, stellt man sich die Frage nach dem Schicksal ihrer Erbauer. Nach ihren Schmerzen, den gebrochenen Rückgraten, den durch Steinsplitter verlorenen Augen, dem Rheumatismus. Nach ihrem unglücklichen Leben. Ihren Leiden. Und daraus ergibt sich die nächste Frage: hätten diese Wunderwerke ohne solches Leiden überhaupt entstehen können? Ohne die Peitsche der Aufseher? Ohne die Angst, die den Sklaven im Nacken saß? Ohne den Hochmut, der den Herrscher erfüllte? Wurden die großen Kunstwerke der Vergangenheit nicht gerade durch das hervorgebracht, was im Menschen negativ ist und böse? Andererseits: Sind sie nicht auch aufgrund der Überzeugung entstanden, daß das, was im Menschen negativ ist und schwach, nur durch die Anstrengung und den Willen, Schönes zu erschaffen? Und daß das einzige, was sich nie ändern wird, die Form des Schönen ist? Und das uns innewohnende Bedürfnis danach?“

Immer wieder pausiert Kapuściński, wenn er eine Geschichte über Herodot erzählt, um die Parallelen aufzuzeigen, die überall immer wieder auftauchen. Beispielsweise zum Ende des Buches hin, als der Journalist in Algier den Zusammenstoß zwischen dem toleranten Islam der Händler und Kaufleute und des fremdenfeindlichen Glaubens der Nomaden und Hirten diskutiert, nimmt er Bezug auf ähnlichen Erlebnisse des Herodot zu seiner Zeit.

„Er entschloß sich, vermutlich gegen Ende seines Lebens, ein Buch zu schreiben, da er wußte, daß er eine riesige Menge von Geschichten und Nachrichten zusammengetragen hatte, und wenn er die nicht in einem Buch festhielt, würde alles, was er bisher in seinem Gedächtnis gespeichert hatte, einfach verschwinden. Da haben wir wieder den Kampf gegen die Schwäche der Erinnerung, gegen ihre Flüchtigkeit, ihre immerwährende Tendenz, sich zu verwischen und zu verschwinden.“

„Eines zeichnet solche Individuen aus: Sie haben das unersättliche Wesen von Hohltieren, Schwämmen, die alles leicht aufsaugen und es ebenso leicht wieder abgeben. Sie behalten nichts länger für sich, und da die Natur keine Leere duldet, brauchen sie immer etwas Neues, müssen ständig etwas aufsaugen, ergänzen, vermehren, vergrößern. Herodots Denken ist nicht imstanden, bei einem Ereignis oder einem Land zu verweilen. 

Oder in einem Kapitel als Kapuściński im östlichen Mittelmeerraum unterwegs ist, liest er die Passagen, wo Herodot über die Verzweiflung eines Kriegers spricht, der ahnt, dass er kurz darauf in einem aussichtslosen Kampf fallen wird. Auch Kapuściński erlebt die Region in Unruhe, während seines Besuches und auch heute noch sterben – genauso sinnlos – nahezu jeden Tag Kämpfer in und um Syrien herum.

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„Herodot ist ein Kind seiner Kultur und der menschenfreundlichen Atmosphäre, in der sich diese entwickelt. Es ist eine Kultur der langen, gastlichen Tische, an denen Menschen an lauen Abenden gemeinsam sitzen, Käse und Oliven essen, kühlen Wein trinken und sich unterhalten. Dieser offene, von keinen Mauern begrenzte Raum am Meeresufer oder auf einem Berghang wirkt befreiend auf die menschliche Phantasie.“ 

Meine Reisen mit Herodot ist kein Buch für ungeduldige Leser und es ist eines, das es verdient, mehrfach gelesen zu werden. Ich habe auf jeden Fall Lust bekommen, mir auch einen Herodot für künftige Reisen zuzulegen.

Eine sehr schöne Besprechung des Buches findet sich auch bei Birgit von Sätze und Schätze.

The Ocean at the end of the Lane – Neil Gaiman

The Ocean at the End of the Lane

Schon das Finden des Buches hatte etwas magisches an sich. Während eines Kochkurses in Luang Prabang stellte ich fest, dass im Haus gegenüber ein furchtbar spannend aussehender Second-Hand-Bookshop war und ewig hing an dem Tag das „Closed“ Schild über der Tür. Und irgendwann zwischen dem Laap und dem grünen Papaya-Salat war das Schild weg, die Tür auf und ich nicht mehr am Wok zu halten.

Der Bookshop war eigentlich eher ein großes Wohnzimmer, in dem überwiegend Rucksackreisende neue Lektüre kaufen oder tauschen konnten und ich fand es ganz bezaubernd dort. Und inmitten all der zu erwartenden Strandlektüren fand ich „The Ocean at the end of the Lane“ – zack, das musste mit. Frisch erschienen und super gut erhalten und bei Neil Gaiman kann man eigentlich wenig falsch machen. Die schreibende Hälfte des Kreativ-Ehepaars Gaiman/Amanda Palmer ist eigentlich fast immer ein Garant für hochklassige, phantasievolle spannende Unterhaltung.

Das Buch hat eine ganz tolle traumartige Atmosphäre und man weiß ganz oft nicht, was real ist und was nicht. Es geht um einen Mann in seinen Vierzigern, der ins Haus seiner Kindheit zurückkehrt, um an einer Beerdigung teilzunehmen. Es zieht ihn fast magisch zu einer Farm am Ende der Straße, in der er als siebenjähriger Junge sehr viel Zeit verbracht hat. Dort traf er zum ersten Mal auf Lettie, ein unvergessliches, unglaubliches kleines Mädchen das sich mit ihm anfreundet. Mit ihr, ihrer Mutter und Großmutter erlebt er unglaubliche Abenteuer.

Er setzt sich an den Teich (von dem Lettie und ihre Großmutter stets behaupteten, es sei ein Ozean und kein Teich) und die Erinnerungen von damals stürmen auf ihn ein. Wir erleben die Geschichte noch einmal mit ihm, sehen sie durch seine Augen als kleiner Junge. Wie echt sind diese Erinnerungen? Was ist dran an den Monstern und den magischen Abenteuern unserer Kindheit? Sind wir die aufgeklärten, wenn wir als Erwachsene müde lächelnd die phantastischen Abenteuer als eben Phantasie abtun? Oder sind eigentlich wir die Ignoranten und Phantasten die einfach abtun was sie nicht vernünftig finden und nicht glauben was sie nicht beweisen können?

Vor 40 Jahren hat der Untermieter der Familie des kleinen Jungen in einem gestohlenen Wagen Selbstmord begangen auf der Farm am Ende der Straße. Diese Tat hat eine ganze Reihe unheimlicher dunkler Begebenheiten in Gang gesetzt, die den kleinen Jungen ängstigen und die er nicht verstehen kann. Lettie beschützt und hilft ihm und gemeinsam kämpfen sie gegen das Böse.

Man sagt das so oft, etwas noch nie dagewesenes, so etwas habe ich noch nie gelesen – aber Gaiman schafft in meinen Augen tatsächlich etwas sehr seltenes: Diese einzigartige Kombination aus dunklem Grusel und wunderbar hellen Sommerferien-Momenten.

Ich habe ein paar Artikel gelesen, die sich mit der Frage beschäftigt haben, ob Gaiman in dem Buch seine Scientology-Vergangenheit aufarbeitet und wie weit er sich tatsächlich von dem Verein distanziert hat. Ich glaube ihm da jetzt erst einmal, auch wenn sein Vater eine richtig wichtige Rolle spielte und auch zwei seiner Schwestern noch immer Mitglied bei Scientology sind.

Aber das Buch hat er für seine Frau Amanda geschrieben „Who wanted to know“ und es ist eine wunderbare Literatur gewordene Liebeserklärung.

Ich habe das Buch geliebt. Gaiman hat nahezu perfekt das Prinzip „Kindheit“ beschrieben in meinen Augen. Genau so hat es sich manchmal angefühlt. Wie gern hätte ich das Buch mit sieben gelesen und dann heute einfach nochmal. Als ich sieben war, war ich nämlich auch ein oft ganz schön einsamer Bücherwurm, der das meiste um sich rum nicht wirklich verstanden hat. Wie gern hätte ich diese wundervolle merkwürdig verrückte Familie am Ende der Straße kennengelernt und auf ihrer tollen Farm jede Menge Abenteuer erlebt. OK – ich hätte mir wahrscheinlich nachts des öfteren ziemlich in die Büx gemacht, aber morgens wäre ich garantiert wieder zurück gewesen at „the ocean at the end of the lane“.

Ein nostalgischer Phantasy-Roman, ein Stephen King meets Astrid Lindgren Buch, das ich auf jeden Fall in einem heißen Sommer an einem See noch einmal lesen möchte. So fühlen sich Sommerferien an. Neben „Neverwhere“ mein liebstes Buch von ihm bisher.

„Grown-ups don’t look like grown-ups on the inside either. Outside, they’re big and thoughtless and they always know what they’re doing. Inside, they look just like they always have. Like they did when they were your age. Truth is, there aren’t any grown-ups. Not one, in the whole wide world.”

„I lived in books more than I lived anywhere else“ (yes very very very true !)

Eine weitere tolle Rezension könnt ihr bei deep read finden!

Lest und lasst Euch verzaubern!

Das Buch ist auf deutsch unter dem Titel „Der Ozean am Ende der Straße im Eichborn Verlag erschienen.