Schon das Finden des Buches hatte etwas magisches an sich. Während eines Kochkurses in Luang Prabang stellte ich fest, dass im Haus gegenüber ein furchtbar spannend aussehender Second-Hand-Bookshop war und ewig hing an dem Tag das „Closed“ Schild über der Tür. Und irgendwann zwischen dem Laap und dem grünen Papaya-Salat war das Schild weg, die Tür auf und ich nicht mehr am Wok zu halten.
Der Bookshop war eigentlich eher ein großes Wohnzimmer, in dem überwiegend Rucksackreisende neue Lektüre kaufen oder tauschen konnten und ich fand es ganz bezaubernd dort. Und inmitten all der zu erwartenden Strandlektüren fand ich „The Ocean at the end of the Lane“ – zack, das musste mit. Frisch erschienen und super gut erhalten und bei Neil Gaiman kann man eigentlich wenig falsch machen. Die schreibende Hälfte des Kreativ-Ehepaars Gaiman/Amanda Palmer ist eigentlich fast immer ein Garant für hochklassige, phantasievolle spannende Unterhaltung.
Das Buch hat eine ganz tolle traumartige Atmosphäre und man weiß ganz oft nicht, was real ist und was nicht. Es geht um einen Mann in seinen Vierzigern, der ins Haus seiner Kindheit zurückkehrt, um an einer Beerdigung teilzunehmen. Es zieht ihn fast magisch zu einer Farm am Ende der Straße, in der er als siebenjähriger Junge sehr viel Zeit verbracht hat. Dort traf er zum ersten Mal auf Lettie, ein unvergessliches, unglaubliches kleines Mädchen das sich mit ihm anfreundet. Mit ihr, ihrer Mutter und Großmutter erlebt er unglaubliche Abenteuer.
Er setzt sich an den Teich (von dem Lettie und ihre Großmutter stets behaupteten, es sei ein Ozean und kein Teich) und die Erinnerungen von damals stürmen auf ihn ein. Wir erleben die Geschichte noch einmal mit ihm, sehen sie durch seine Augen als kleiner Junge. Wie echt sind diese Erinnerungen? Was ist dran an den Monstern und den magischen Abenteuern unserer Kindheit? Sind wir die aufgeklärten, wenn wir als Erwachsene müde lächelnd die phantastischen Abenteuer als eben Phantasie abtun? Oder sind eigentlich wir die Ignoranten und Phantasten die einfach abtun was sie nicht vernünftig finden und nicht glauben was sie nicht beweisen können?
Vor 40 Jahren hat der Untermieter der Familie des kleinen Jungen in einem gestohlenen Wagen Selbstmord begangen auf der Farm am Ende der Straße. Diese Tat hat eine ganze Reihe unheimlicher dunkler Begebenheiten in Gang gesetzt, die den kleinen Jungen ängstigen und die er nicht verstehen kann. Lettie beschützt und hilft ihm und gemeinsam kämpfen sie gegen das Böse.
Man sagt das so oft, etwas noch nie dagewesenes, so etwas habe ich noch nie gelesen – aber Gaiman schafft in meinen Augen tatsächlich etwas sehr seltenes: Diese einzigartige Kombination aus dunklem Grusel und wunderbar hellen Sommerferien-Momenten.
Ich habe ein paar Artikel gelesen, die sich mit der Frage beschäftigt haben, ob Gaiman in dem Buch seine Scientology-Vergangenheit aufarbeitet und wie weit er sich tatsächlich von dem Verein distanziert hat. Ich glaube ihm da jetzt erst einmal, auch wenn sein Vater eine richtig wichtige Rolle spielte und auch zwei seiner Schwestern noch immer Mitglied bei Scientology sind.
Aber das Buch hat er für seine Frau Amanda geschrieben „Who wanted to know“ und es ist eine wunderbare Literatur gewordene Liebeserklärung.
Ich habe das Buch geliebt. Gaiman hat nahezu perfekt das Prinzip „Kindheit“ beschrieben in meinen Augen. Genau so hat es sich manchmal angefühlt. Wie gern hätte ich das Buch mit sieben gelesen und dann heute einfach nochmal. Als ich sieben war, war ich nämlich auch ein oft ganz schön einsamer Bücherwurm, der das meiste um sich rum nicht wirklich verstanden hat. Wie gern hätte ich diese wundervolle merkwürdig verrückte Familie am Ende der Straße kennengelernt und auf ihrer tollen Farm jede Menge Abenteuer erlebt. OK – ich hätte mir wahrscheinlich nachts des öfteren ziemlich in die Büx gemacht, aber morgens wäre ich garantiert wieder zurück gewesen at „the ocean at the end of the lane“.
Ein nostalgischer Phantasy-Roman, ein Stephen King meets Astrid Lindgren Buch, das ich auf jeden Fall in einem heißen Sommer an einem See noch einmal lesen möchte. So fühlen sich Sommerferien an. Neben „Neverwhere“ mein liebstes Buch von ihm bisher.
„Grown-ups don’t look like grown-ups on the inside either. Outside, they’re big and thoughtless and they always know what they’re doing. Inside, they look just like they always have. Like they did when they were your age. Truth is, there aren’t any grown-ups. Not one, in the whole wide world.”
„I lived in books more than I lived anywhere else“ (yes very very very true !)
Eine weitere tolle Rezension könnt ihr bei deep read finden!
Lest und lasst Euch verzaubern!
Das Buch ist auf deutsch unter dem Titel „Der Ozean am Ende der Straße im Eichborn Verlag erschienen.
Oh, da ist ja die verschollene Rezension aus dem Laos-Urlaub! 🙂 Vielen, vielen Dank auch, liebe Sabine, dass du ausgerechnet meine Rezension verlinkt hast!
Als Kind hätte ich mir bei dem Buch auch gehörig „in die Büx“ gemacht. Aber ich denke, wirklich jeder hätte sich in seiner Kindheit so eine Hemsworth-Farm in der Nachbarschaft gewünscht … ich habe übrigens nie beim Lesen daran gezweifelt, dass all die magischen Dinge wirklich passiert sind und nicht der Phantasie des Erzählers entsprungen sind – ich will es einfach glauben 😉
Liebe Sabine,
die elastischen Wirklichkeiten im „Ozean am Ende der Straße“
fand ich auch sehr ansprechend.
Darf ich Dich mit nachfolgendem Besprechungslink zu einem Lesebesuch auf mein Buchbesprechungs-Blog einladen?
https://leselebenszeichen.wordpress.com/2015/01/14/der-ozean-am-ende-der-strase/
Das „Graveyard-Buch“ von Neil Gaiman hat mir allerdings besser gefallen – die Besprechung dazu findest Du unter dem Querverweis bei der Besprechung des Ozeans.
Nachtaktive Grüße 😉
Ulrike von Leselebenszeichen
Liebe Grüße zurück – freue mich deinen Blog jetzt entdeckt zu haben, gefällt mir gut bei dir 🙂