Lektüre Januar 2023

Nachdem der Dezember so durchwachsen war, freue ich mich um so mehr, dass der Januar wieder ein richtig guter Lesemonat war. Lange Weihnachtsferien, diverse Zugfahrten und durchgelesene Nächte haben zu geführt, dass ich richtig dicke Brummer durchbekommen habe und da war der eine oder andere echte Diamant dabei.

Los gehts:

Babel, Or the Necessity of Violence: An Arcane History of the Oxford Translators’ Revolution – R. F. Kuang auf deutsch im Eichborn Verlag erschienen, übersetzt von Heide Franck und Alexandra Jordan

Ich wusste nicht viel über dieses Buch, außer dass es um 1800 in Oxford spielt und das Übersetzer*innen/Linguist*innen die Held*innen sind, was mich sofort fasziniert hat. Babel war ganz und gar nicht das, was ich erwartet hatte. Es hat einen Hauch magischen Realismus und beschäftigt sich mit den Problemen und Auswirkungen von Kolonialismus, Rassismus und damit einhergehende Ungerechtigkeiten, wobei der Schwerpunkt auf der akademischen Welt liegt.

Ich bin natürlich ein großer Fan von Dark Academia, sowohl was Ästhetik angeht, als auch alles was mit Literatur zu tun hat, aber es lässt sich nicht leugnen, dass es diesem Genre massiv an Diversität mangelt. RF Kuang stellt uns in Babel eine Gruppe ausländischer Student*innen vor unterschiedlichster Herkunft die im 19. Jahrhundert an einer der prestigeträchtigsten Universitäten Englands studieren, und das ist einfach genial.

That’s just what translation is, I think. That’s all speaking is. Listening to the other and trying to see past your own biases to glimpse what they’re trying to say. Showing yourself to the world, and hoping someone else understands.

Babel hat fast alles aufgeboten was ich in einem Buch liebe: die Lust auf Wissen, das Studium alter Sprachen und der Philosophie, Diskussionen über Konzepte, die mir tagelang nicht aus dem Kopf gingen, und die gemütliche alte Bibliotheken mit Kaminen voller Bücher. Aber R.F. Kuang seziert auch die akademische Welt und bringt ihre Schwächen ans Licht.

Was mich wirklich beeindruckt hat, war Kuangs Idee die Kunst des Silver-Working, die magischen Silberbarren, die das Fundament des Reichtums und Fortschritts in England sind und die durch das Vergleichen und Übersetzen von Wörtern aus dem Englischen und anderen Sprachen entstehen.

Es war mein erstes Buch von R.F. Kuang und diese junge Frau hat mich einfach komplett umgehauen. Es ist ihr vierter Roman. Sie ist 26, hat in Oxford und Yale studiert, einen Master in Contemporary Chinese Studies und macht jetzt ihren Doktor in East Asian Languages and Literatures

Was hab ich mit 26 eigentlich gemacht?

Anyway – lest BABEL und wahrscheinlich habt ihr dann auch noch mal mehr Hochachtung vor Übersetzerinnen und Linguist*innen. Die sind nämlich neben den Bibliothekarinnen die eigentlichen Herrscher*innen der Welt – so!

Sea of Tranquility – Emily St. John Mandel auf deutsch erschienen unter dem Titel Das Meer der endlosen Ruhe im Ullstein Verlag übersetzt von Bernhard Robben

Simulationstheorie, Untersuchung von Anomalien in der Zeit, Mondkolonien, Zeitreisen. Ein Brite aus der Vergangenheit, der einfach nur sein Leben lebt, eine Frau, die im Jahr 2020 lebt und Antworten und manchmal auch Rache will, und eine Autorin, die in der Zukunft lebt, auf Lesereise ist in eine Pandemie gerät und dann eigentlich nur noch nach Hause möchte.

Ich fand es spannend die Parallelität der Leben von der fiktiven Autorin Olive und der Autorin Emily St. Mandel zu beobachten.

Mandel ist für mich die Königin der alternativen Zeitlinien und Figuren, die sich irgendwie überschneiden und gegenseitig beeinflussen.

𝙸𝚏 𝚝𝚑𝚎𝚛𝚎’𝚜 𝚙𝚕𝚎𝚊𝚜𝚞𝚛𝚎 𝚒𝚗 𝚊𝚌𝚝𝚒𝚘𝚗, 𝚝𝚑𝚎𝚛𝚎’𝚜 𝚙𝚎𝚊𝚌𝚎 𝚒𝚗 𝚜𝚝𝚒𝚕𝚕𝚗𝚎𝚜𝚜.

Was würdest du tun, wenn du dich inmitten einer Zeitverfälschung wiederfindest, einer Art unerklärlicher Umnachtung, bei der Momente in der Zeit sich gegenseitig korrumpieren können?

Vier Menschen aus verschiedenen Zeitzonen spürten dieselbe Anomalie und ihre Schicksale kreuzten sich im selben Moment, als Alan Sami im Jahr 2200 im Luftschiffhafen von Oklahoma City Geige spielt, der dreizehnjährige Vincent in den Wäldern von Caiette im Norden der Insel Vancouver Anfang der 2000er Jahre den Wald mit ihrer Kamera filmt, während Edwin St. John St. Andrew 1812 seine langen Schritte in denselben Wald unternimmt und die berühmte Science-Fiction-Autorin Olive Llewellyn auf der Plattform des Luftschiffhafens in derselben Zeitlinie wie Alan Sami die bezaubernden Noten spielt.

Beide Menschen spüren die Musik und den Wald, die Hintergrundstimmen der Plattform und die unterschiedlichen Qualitäten ihrer eigenen Zeitzonen. Aber wie kann das möglich sein? Was ist der Grund für diese Anomalie?

Ich mochte „The Glass Hotel“ war aber nicht blown away, Mandels Meta-Fiktion Ansatz ist aber so spannend, dass ich jedes ihre Bücher wohl mehrfach lesen werde, nur um die ganzen Querverweise und wieder auftauchenden Figuren angemessen verfolgen zu können.

𝙰 𝚕𝚒𝚏𝚎 𝚕𝚒𝚟𝚎𝚍 𝚒𝚗 𝚊 𝚜𝚒𝚖𝚞𝚕𝚊𝚝𝚒𝚘𝚗 𝚒𝚜 𝚜𝚝𝚒𝚕𝚕 𝚊 𝚕𝚒𝚏𝚎.

Mit Babel und Sea of Tranquility habe ich schon im Januar große Anwärter für meine Bücher des Jahres – das kann doch so weitergehen. Und ich kann schon verraten, auch die restlichen Bücher die ich Januar gelesen habe, waren ausnahmslos richtig gut.

Der Name der Rose – Umberto Eco übersetzt aus dem italienischen von Burkhart Kroeber erschienen im Hanser Verlag

Ich habe den Namen mit 16 gelesen, als der Bibliothekar meiner heimatlichen klitzekleinen Leihbücherei mir den Roman in die Hand drückte, den er für mich auf Seite gelegt hatte und es war sogar eine nigelnagelneue Ausgabe! Ich nahm es mit in die Sommerferien und ich glaube dieses Buch hat damals den Grundstein dafür gelegt, dass ich eine echte Leserin wurde, die sich das Lesefieber aus der Kindheit ins Erwachsenenalter rüber retten konnte.

Daher war ich schon auch ganz schön nervös, das Buch jetzt nach so vielen Jahren noch einmal zu lesen. Die Verfilmung hatte ich dazwischen schon zwei oder dreimal gesehen, das Buch allerdings nie wieder. Solche Wiederentdeckungen können ja auch gehörig schief gehen.

Eco hat einen Roman geschrieben, den man als historische Fiktion, Mysterium, Theologie und Philosophie, Metafiktion, Psychologie und vieles mehr bezeichnen kann und der von allen Seiten gelobt wird. Er nimmt Sherlock Holmes und Watson und macht sie zu Mönchen in einer Abtei aus dem Jahr 1300, in der es an jeder Ecke Mord und theologische Debatten gibt. Die beiden Haupthandlungen, der Mordfall und die religiösen Debatten, verweben sich mühelos miteinander, wobei sich die Spannungen gegenseitig verstärken und die Handlung immer dichter wird.

In omnibus requiem quaesivi, et nusquam inveni nisi in angulo cum libro

Dies ist jedoch kein einfacher, von der Handlung getriebener Thriller. Eco bringt einen dicken Wälzer mittelalterlicher und christlicher Geschichte auf den Tisch, der wie ein Historienroman wirkt und den Leser sowohl unterrichtet als auch unterhält. Dies hat viele Vergleiche mit Werken wie Dan Browns Da Vince Code hervorgerufen, doch Eco übertrifft Brown in fast jeder Kategorie.

Dieses Buch verdient es wirklich, als „Literatur“ bezeichnet zu werden, denn es ist viel mehr als eine Geschichte und Forschung, die in eine Handlung geworfen wird. Die Sprache seiner Figuren ist glaubwürdig, und was mich am meisten beeindruckt hat, ist wie gekonnt er die theologischen Auseinandersetzungen zwischen den Bewohnern der Abtei schilderte. Anhand dieser Figuren, von denen viele reale Personen waren, schildert er glaubhafte und oft feurige, facettenreiche Diskussionen über eine Reihe von Themen wie Ketzer, Armutsgelübde und die Auslegung des Evangeliums. Eco verfügte über umfassendes Wissen zum Thema mittelalterliche Studien – er war Professor für Semiotik – die in diesem Roman eine entscheidende Rolle spielt. Williams Methode der Deduktion beruht auf seiner Fähigkeit, in der Welt um ihn herum „die Zeichen zu lesen“. Er stellt sorgfältig Syllogismen auf um seine Theorien darzulegen.

Der vielleicht spannendste Aspekt dieses Romans war, dass es ein Buch über Bücher ist. Der ganze Roman dreht sich um verschiedene Texte, wie Aristoteles und die Offenbarung, aber er besteht aus anderen Büchern. Er macht den Leser sogar darauf aufmerksam, wenn William Adson erklärt, wie man den Inhalt eines Buches durch die Lektüre anderer Bücher herausfinden kann. Er reiht Anspielungen auf andere mittelalterliche Texte und auch auf einen von Ecos liebsten Autoren aneinander: Jorge Luis Borges. Dieser Roman ist voll von Anspielungen auf Borges‘ Werke, es gibt sogar einen blinden Bibliothekar namens Jorge von Burgos.

Die schwarze Rose – Dirk Schümer erschienen im Zsolnay Verlag erschienen

Wenn es schon sowas wie eine Art Fortsetzung von Der Name der Rose gibt und damit eine Chance noch ein wenig länger Zeit in William von Baskervilles Gesellschaft zu verbringen, dann führt kein Weg an der schwarzen Rose vorbei.

Pünktlich zum 40. Geburtstag von Ecos Jahrhundertroman erschien Dirk Schümers Buch und um es gleich vorweg zu sagen, es macht Spaß und ich habe es sehr gerne gelesen.

Als Ketzer denunziert, muss sich im Jahr 1328 der berühmte deutsche Prediger Eckhart von Hochheim am Hof des Papstes in Avignon der Inquisition stellen. In Begleitung seines Novizen Wittekind wird Meister Eckhart Zeuge eines blutigen Raubüberfalls. Als Wittekind selbst angegriffen wird, ahnen die beiden, dass sie in einen Finanzbetrug von europäischem Ausmaß hineingezogen werden. Im Schatten des Papstpalasts ist auch der geheimnisvolle Franziskaner William von Baskerville den Tätern auf der Spur.

Dort, wo Umberto Ecos „Der Name der Rose“ aufhört, setzt Dirk Schümers packender historischer Roman an. Wir erleben eine finstere Metropole der Religion, in der nur ein Credo gilt: Gold.

So wie Francesco seinen Lehrer Ciceo auswendig lernte, so hatte auch ich meinen eigenen Patron gefunden:
Tota vita discendum est mori. Leben ist sterben zu lernen.
Das meinte Seneca: über allem stehen, Schmerz und Sehnsucht ignorieren, den Abschied immer schon hinter sich haben.
Wer kann über dem stehen, der über dem Schicksal steht!
Über dem Schicksal zu stehen, darum hatte ich mich seit Jahren mit aller Kraft bemüht.

Ein simpler Eingriff – Yael Inokai erschienen im Hanser Verlag

Ein elegantes schmales Büchlein das ruhig und sachlich ohne ein Wort zu viel vom Horror des historischen Umgangs mit der weiblichen Psyche berichtet. Es ist aber auch eine Geschichte über Selbstbestimmung und Eigenverantwortung.

Meret ist Krankenschwester. Die Klinik ist ihr Zuhause, ihre Uniform trägt sie mit Stolz, schließlich kennt die Menschen in ihrem Leiden niemand so gut wie sie. Bis eines Tages ein neuartiger Eingriff entwickelt wird, der vor allem Frauen von psychischen Leiden befreien soll. Die Nachwirkungen des Eingriffs können schmerzhaft sein, aber danach fängt die Heilung an. Daran hält Meret fest, auch wenn ihr langsam erste Zweifel kommen.

Ich dachte in diesem Moment, dass sie eine große Freiheit besaß. Egal, wo sie hinging, sie konnte sich einfach setzen. Sie fragte sich nie, ob dieser oder jener Platz für sie bestimmt war.

Was den Eingriff anbelangte, waren auch die Schwestern auf unserer Station geteilter Meinung. Wenn sie denn überhaupt eine hatten. Manche waren gut darin geworden, sich jede Meinung abzugewöhnen. Die Vorgaben und Regeln fingen einen immer auf. Meinungen konnten das nicht

Gegliedert ist das Buch in drei Abschnitte, benannt nach den drei Protagonist*innen des Buchs: Meret, Marianne und Sarah. Marianne ist die Patientin, deren fehlgeschlagene Operation erste Zweifel in Meret weckt. Sarah ist Merets Mitbewohnerin, in die sie sich von der ersten Begegnung an verliebt, die ihr neue Blickwinkel aufzeigt und mit der sie von einer besseren Zukunft zu träumen wagt und Merets eigene Beobachtungen.

Hatte meine alte Zimmernachbarin dafür geliebt, dass sie die unsichtbare Trennlinie zwischen unseren Betten nie übertrat, dass ihr Vergnügen so wenig bedeutete, dass ihr Herz in all den Jahren nur zweimal zu Bruch ging. Nicht wie bei den anderen, wo es ohne Unterlass brach, ein störanfälliges Organ, immer nur gerade so zusammengeflickt, bevor der Nächste es wieder auseinanderriss.

Harry Potter and the Order of the Phoenix – J. K. Rowling auf deutsch unter dem Titel Harry Potter und der Ordes des Phönix im Carlsen Verlag übersetzt von Klaus Fritz

Harry Potter ist wütend darüber, dass er den Sommer über im Haus der Dursleys zurückgelassen wurde, denn er vermutet, dass Voldemort eine Armee zusammenstellt, dass er selbst angegriffen werden könnte und dass seine so genannten Freunde ihn im Dunkeln lassen. Als er schließlich von Leibwächtern der Zauberer gerettet wird, erfährt er, dass Dumbledore den Orden des Phönix neu formiert – einen Geheimbund, der vor Jahren gegründet wurde, um Voldemort zu bekämpfen. Doch das Zaubereiministerium ist gegen den Orden, und das Zaubererblatt Daily Prophet verbreitet Lügen, und Harry fürchtet, dass er diesen epischen Kampf gegen das Böse vielleicht allein aufnehmen muss.

Meine Heldin ist natürlich insbesondere Hermione – wie gerne wäre ich sie, so klug, so belesen und mutig. Aber von Buch zu Buch merke ich, Hermione hat noch unerwartet große Konkurrenz mit Blick auf Lieblings-Figur bekommen. Professor McGonagall ich liebe die alte Schottin und im Buch vor allem diesen Dialog:

“Is it true that you shouted at Professor Umbridge?“
„Yes.“
„You called her a liar?“
„Yes.“
„You told her He Who Must Not Be Named is back?“
„Yes.“
„Have a biscuit, Potter.”

Idol in Flammen – Rin Usami erschienen im Kiepenheuer & Witsch Verlag, übersetzt von Luise Steggewentz

Der Roman, der die japanische Verlagswelt in Brand gesetzt hat: Ein preisgekrönter Bestseller aus Japan von einer 21-jährigen Autorin, die zum Shootingstar der japanischen Literatur avanciert: Rin Usami. Ein Roman der sich auf brillante Weise mit toxischem Fandom, sozialen Medien und Desillusionierung beschäftigt.

Akari ist eine Highschool-Schülerin, die von „oshi“ Masaki Ueno, einem Mitglied der beliebten J-Pop-Gruppe Maza Maza, besessen ist. Sie schreibt einen Blog, der ihm gewidmet ist, und verbringt Stunden damit durchs Internet zu scrollen, süchtig nach Informationen über ihn und sein Leben. Verzweifelt versucht Akari, ihn zu analysieren und zu verstehen, und hofft, die Welt irgendwann mit seinen Augen zu sehen. Es ist eine Hingabe, die ans Religiöse grenzt: Masaki ist ihr Retter, ihr Rückgrat, jemand, von dem sie glaubt, dass sie ohne ihn nicht überleben kann – auch wenn sie ihn nie wirklich getroffen hat.

Als Gerüchte auftauchen, dass ihr Idol einen weiblichen Fan angegriffen hat, explodieren die sozialen Medien. Akari fängt sofort an, alles zu sichten, was sie über den Skandal finden kann, und teilt jedes Detail auf ihrem Blog und zieht damit zahlreiche Leser an, die begierig auf ihre Updates warten.

Aber die strukturierte und gut informierte Person, die Akari online präsentiert, ist ganz anders als der sozial unbeholfene, unkonzentrierte Teenager, die sie im wirklichen Leben ist. Als sich Masakis Situation zuspitzt, drohen seine Probleme auch ihr Leben zu zerstören. Anstatt einen Weg zu finden, sich zu befreien, um sich selbst zu retten, wird Akari immer fanatischer…

Da ist was für dich gekommen, Fräulein Akari Yamashita, sagt meine Schwester und reicht mir ein Paket, ds zehnmal dieselbe CD enthält, die ich in meinem Zimmer vorsichtig auspacke, um die Wahlscheine herauszunehmen. Neue Singles von Mazamaza kommen immer zusammen mit einem Wahlschein, und eine Single kostet zweitausend Yen. Fünf CDs habe ich schon, also kann ich jetzt insgesamt fünfzehn Stimmen bei der Beliebtheitswahl der Bandmitglieder abgeben.

Eine Geschichte über Ruhm, Trennung, Besessenheit und Desillusionierung von einer Autorin, die kaum älter ist als ihre Protagonistin. Idol in Flammen nimmt die Fan-Kultur, die Geldmacherei der J-Pop-Idol-Industrie, die verführerische Macht der sozialen Medien und die gewaltige emotionale Leere, die sich auftut, wenn ein Idol in Ungnade fällt unter die Lupe.

Ein Roman wie ein brennender Benzinkanister, der mit 200 km/h über die Autobahn rast. Atemlos in einem Rutsch durchgelesen. Krass.

The Wonder – Emma Donoghue auf deutsch erschienen unter dem Titel „Das Wunder“ erschienen im Goldmann Verlag, übersetzt von Thomas Mohr

Die irischen Midlands, 1859. Die englische Krankenschwester Lib Wright wird in ein kleines Dorf gerufen, um zu beobachten, was manche für eine medizinische Anomalie oder ein Wunder halten – ein Mädchen, das monatelang ohne Nahrung überlebt haben soll. Touristen strömen zu der Hütte der elfjährigen Anna O’Donnell, und ein Journalist ist gekommen, um über die Sensation zu berichten. The Wonder“ ist eine Geschichte über zwei Fremde, die das Leben des anderen verändern, ein psychologischer Thriller und eine Geschichte über Liebe im Kampf gegen das Böse.

How could the child bear not just the hunger, but the boredom? The rest of humankind used meals to divide the day, Lib realized – as a reward, as entertainment, the chiming of an inner clock. For Anna, during this watch, each day had to pass like one endless moment.

Habe „The Wonder“ als Hörbuch gehört und es sehr gemocht. Es passte sehr gut in die Jahreszeit und ich habe meine Isar-Spaziergänge gerne verlängert, um noch ein wenig weiter hören zu können, was es mit Anna und ihrer seltsamen Hunger-Geschichte auf sich hat. Das Buch ist bereits verfilmt worden mit Florence Pugh in der Hauptrolle und obwohl ich die Schauspielerin sehr sehr schätze, die Geschichte klasse fand, der Film großartige Bilder hat – ich bin nicht wirklich mit dem Film warm geworden. Hier ist das Buch wirklich um Längen besser meiner Meinung nach.

Das war es jetzt aber – eine reiche großartige Ausbeute hatte ich da im Januar und natürlich bin ich wieder sehr neugierig auf eure Reaktionen. Welche dieser Bücher habt ihr auch gelesen? Seid ihr anderer Ansicht als ich bei dem einen oder anderen? Auf welche konnte ich euch besonders neugierig machen?

Ich wünsche euch einen guten Februar und freue mich, wenn ihr dann wieder an meiner Lektüre teilhabt. Soviel kann ich schon verraten – es geht literarisch und auch in echt nach Paris. Jusque là!

Lektüre Februar 2022

Ein bisschen später als geplant, aber die weltpolitische Lage hat auch mich im doomscrolling (verdammnisblättern? bzw obsessive Konsumieren von schlechten Nachrichten) erstarren lassen und dem Lesen und Schreiben keinen Raum gelassen. Aber ein bisschen Struktur hilft in vielen Lagen, daher hier meine Lektüre aus dem Februar. Es war ein sehr guter und schöner Lesemonat, da wird im März deutlich weniger hinzukommen.

Hier geht’s lang – Mit Büchern von Frauen durchs Leben von Elke Heidenreich, Eisele Verlag

Es waren Bücher von Frauen, die Elke Heidenreich geprägt haben, von frühester Jugend an. Später machte sie das Reden und Schreiben über Bücher zu ihrem Beruf.

Als ich Anfang des Jahres hier verriet, dass ich ein Projekt plane, dann meinte ich dieses damit. Mich auch meiner Lebensbücher zu erinnern und darüber zu schreiben. Ich danke meiner lieben Freundin Barbara in Berlin sehr, mir das Buch nicht nur ans Herz gelegt sondern auch geliehen zu haben. Habe es sehr gerne gelesen und sobald mein Hirn wieder etwas ruhiger ist, beginne ich mal meine eigene Lesebiographie zu erforschen und aufzuschreiben.

… denn Literatur hat immer auch eine unterwandernde Wirkung, sie trägt uns davon aus unserer Umgebung, und mit dem Weg zurück kann es heikel werden

… und die Sonne schien in meinem Kopf und rettete mich vor Armut, Enge, Kleinkariertheit und den üblichen Nöten und Komplexen einer Heranwachsenden.

Maria Stuart – Stefan Zweig erschienen im Fischer Verlag

Sie war Königin von Schottland und Frankreich und hatte Anspruch auf den Thron von England – doch Elizabeth I. ließ Maria Stuart (1542–1587) jahrelang inhaftieren und schließlich hinrichten, um ihre Macht zu wahren. Das Leben der Maria Stuart war geprägt von Intrigen, Verschwörungen und politischen Ränkespielen, denen sie am Ende zum Opfer fiel. Stefan Zweig zeichnet ein Porträt einer Frau, deren Leben bis heute Anlass zu Spekulationen, Verklärung und Mystifizierung gibt.

Stefan Zweig ist einer meiner liebsten Autoren und auch diese Roman-Biografie habe ich sehr gerne gelesen. Gelegentlich merkt man natürlich schon aus welcher Zeit Zweig stammt und wie das seinen Blick auf Frauen geprägt hat, aber eine wirklich lohnende Lektüre, durch die ich immens viel über die schottisch-englische Geschichte und zwei ausgesprochen faszinierende Persönlichkeiten gelernt habe.

Doch eine Natur wie die ihrige kann, wenn auch noch so tief enttäuscht, nicht ohne Vertrauen leben; immer wieder sucht sie nach einem sicheren Menschen, auf den sie sich unbedingt verlassen kann. Lieber wird sie jemanden wählen, der niederem Range entstammt, der nicht die Ansehnlichkeit eines Moray und Maitland besitzt, aber dafür die Tugend, die ihr notwendiger ist an diesem schottischen Hofe, die kostbarste aller Dienergaben: unbedingte Treue und Verläßlichkeit.

The City & The City von China Miéville auf deutsch erschienen unter dem Titel „Die Stadt & Die Stadt“ bei Bastei Lübbe. Übersetzt von Eva Bauche-Eppers

Zwei Städte – geeint und doch entzweit. Die Bewohner werden erzogen, einander nicht zu sehen. Das unerlaubte Betreten der jeweils andere Stadt zieht schwerste Strafen nach sich.

Ganz warm werden Mr. Miéville und ich irgendwie nicht. Ist mein dritter Versuch, die Prämissen sind immer spannend, seine Romane stecken voller spannender Ideen, aber ich komme nie richtig in die Bücher rein, sie haben auch nicht die richtige Atmosphäre für mich. Definitiv ein gutes Buch, ein spannender Autor, nur eben nicht für mich.

“Is it more childish and foolish to insist that there is a conspiracy or that there is not?” 

Der Verdacht (The Push)- Ashley Audrain erschienen bei Penguin Random House. Übersetzt von Ulrike Wasel, Klaus Timmermann

Violet ist ein Wunschkind, und Blythe möchte die liebevolle Mutter sein, die ihr selbst so sehr fehlte. Doch als man ihr das Neugeborene in den Arm legt, fühlt sich alles falsch an. Da ist nur Ablehnung, und je älter das Mädchen wird, desto mehr wächst die Angst vor Violet und ihrem feindseligen Verhalten, das sich Blythe nicht erklären kann. Alles nur Einbildung? Oder ist das Mädchen tatsächlich absichtsvoll böse? Fox, der seine Tochter von ganzem Herzen liebt, beobachtet seine Frau mit wachsendem Misstrauen. 

Ein Buch das nur schwer auszuhalten ist, emotional alles andere als leichte Kost ist und das mir noch immer nach geht.

Ich erinnerte mich daran, warum wir Violet eigentlich bekommen haben: Du wolltest eine Familie, und ich wollte dich glücklich machen. Aber ich wollte außerdem all meine Zweifel widerlegen. Ich wollte auch meine Mutter widerlegen.

Wenn Männer mir die Welt erklären (Men explain things to me) von Rebecca Solnit erschienen im btb Verlag. Übersetzt von Kathrin Razum und Bettina Münch

Ein Mann, der mit seinem Wissen prahlt, in der Annahme, dass seine Gesprächspartnerin ohnehin keine Ahnung hat – jede Frau hat diese Situation schon einmal erlebt. Rebecca Solnit untersucht die Mechanismen von Sexismus. Sie deckt Missstände auf, die meist gar nicht als solche erkannt werden, weil Übergriffe auf Frauen akzeptiert sind, als normal gelten.

Rebecca Solnit ist eine Autorin die ich sehr schätze. Sie ist klug, warmherzig und hat ein wahninniges Gespür für die Themen unserer Zeit. Dieses Buch hat das Zeug dazu ein Klassiker zu werden. Sie schafft es auf ein paar Seiten, die Geschlechterdebatte auf den Punkt zu bringen.

Every woman knows what I’m talking about. It’s the presumption that makes it hard, at times, for any woman in any field; that keeps women from speaking up and from being heard when they dare; that crushes young women into silence by indicating, the way harassment on the street does, that this is not their world. It trains us in self-doubt and self-limitation just as it exercises men’s unsupported overconfidence.

Vier Tage währt die Nacht von Dorothea S. Baltenstein erschienen im Eichborn Verlag

Dorothea S. Baltenstein ist das Pseudonym von vier Schülerinnen und ihrem Lehrer die im Rahmen eines Unterrichtsprojektes, dem sogenannten Projekt Pegasus, zwischen September 1995 und Mai 1998 das Manuskript für den gleichnamigen Roman entwickelten.

Schottland, im Jahre des Herrn 1817. Jonathan Lloyd erhält von seinem alten Freund Sir Mortimer Pope eine Einladung nach Boroughmore Castle. Ein literarischer Wettstreit ist geplant; man will sich treffen wie einst die Shelleys sich mit Lord Byron in der Schweiz trafen, wo Mary Shelley die Inspiration zu Frankenstein hatte. Aber bereits in der ersten Nacht stürzt die Zugbrücke des Schlosses ein, was ein Todesopfer fordert.

Ein Roman den ich direkt nach Erscheinen gekauft und gelesen habe, denn meine Liebe zu allem Gothic / Dark Academia etc begleitet mich schon ein Leben lang. Ich habe es damals sehr gerne gelesen, war etwas besorgt, wie es wohl gealtert sein mag, aber auch es macht auch in dunklen Wintertagen im Jahr 2022 noch genauso viel Spaß sich in diese dunkel-romantische Schauergeschichte zu versenken.

Während ich am späten Nachmittag des 27. November des Jahres 1817 in einer Kutsche saß, die holpernd über steinige Straßen fuhr, und hoffte, noch vor einbrechender Nacht mein Ziel zu erreichen, breitete sich in mir bereits ein Gefühl der Unsicherheit aus – vielleicht war auch ein wenig Furcht dabei.

Krabat von Otfried Preußler erschienen bei der Büchergilde Gutenberg

Neugier lockt Krabat zur Mühle am Koselbruch, vor der alle warnen. Dort soll es nicht mit rechten Dingen zugehen. Ein leichtes und schönes Leben wird Krabat hier versprochen. Doch der Preis dafür ist hoch. Und aus der Verstrickung mit dem Bösen kann ihn nur die bedingungslose Liebe eines Mädchens retten.

Auch so ein Herzensbuch, das ich gerne alle paar Jahre lese und jedes Mal entdecke ich etwas Neues darin.

Es gibt eine Art von Zauberei, die man mühsam erlernen muß: Das ist die, wie sie im Koraktor steht, Zeichen für Zeichen und Formel um Formel. Und dann gibt es eine, die wächst einem aus der Tiefe des Herzens zu: aus der Sorge um jemanden, den man lieb hat. Ich weiß, daß das schwer zu begreifen ist – aber du solltest darauf vertrauen, Krabat.

Bibliomanie von Gustave Flaubert erschienen im Insel Verlag. Übersetzt von Erwin Rieger.

Der Buchhändler und Antiquar Giacomo lebt zurückgezogen in einer stillen Gasse in Barcelona. Seine Liebe gilt allein den Büchern. Er berauscht sich am Geruch ihres Papiers, dem Einband, der Vergoldung der Lettern und der Druckerschwärze. Sein Traum: der Aufbau einer eigenen Bibliothek. Bei dem Erwerb bibliophiler Schätze steht ihm allerdings sein Rivale Baptisto im Weg, der Buchhändler vom Königsplatz. Allmählich steigert sich Giacomos Leidenschaft zum verbrecherischen Wahn …

Einen einzigen Gedanken hatte er, eine einzige Liebe, eine einzige Leidenschaft: die Bücher! Und diese Liebe, diese Leidenschaft verbrannten sein Inneres, verdarben sein Leben, verschlangen sein Dasein.

The Offing von Benjamin Meyers erschienen auf deutsch unter dem Titel Offene See im Dumont Verlag. Übersetzt von Ulrike Wasel, Klaus Timmermann

Der junge Robert weiß schon früh, dass er wie alle Männer seiner Familie Bergarbeiter sein wird. Dabei ist ihm Enge ein Graus. Er liebt Natur und Bewegung, sehnt sich nach der Weite des Meeres. Daher beschließt er kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, sich zum Ort seiner Sehnsucht, der offenen See, aufzumachen. Fast am Ziel angekommen, lernt er eine ältere Frau kennen, die ihn auf eine Tasse Tee in ihr leicht heruntergekommenes Cottage einlädt. Eine Frau wie Dulcie hat er noch nie getroffen: unverheiratet, allein lebend, unkonventionell, mit sehr klaren und für ihn unerhörten Ansichten zu Ehe, Familie und Religion. Aus dem Nachmittag wird ein längerer Aufenthalt, und Robert lernt eine ihm vollkommen unbekannte Welt kennen. 

Das wurde ganz überraschend für mich ein richtiges Herzensbuch. Jede:r von uns braucht eine Dulcie im Leben. Ein Buch das ich ganz besonders in diesen dunklen Zeiten empfehlen kann. Es macht die Welt ein kleines bisschen besser.

There is poetry in silence but most of us don’t stop to hear it. They must talk, talk, talk, but say nothing because they are afraid of hearing their own heartbeat.

Let poetry and music and wine and romance guide the way. Let liberty prevail.

Welche Bücher davon kennt ihr oder habt ihr vielleicht Lust bekommen auf das Eine oder das Andere? Ich freue mich über Rückmeldung – lasst mal hören…

Was wir scheinen – Hildegard Keller

Man könnte wohl sagen, dass die lebendige Menschlichkeit eines Menschen in dem Maße abnimmt, in dem er auf das Denken verzichtet.
Hannah Arendt

Hildegard E Keller verwebt Leben und Werk dieser bahnbrechenden Philosophin des 20. Jahrhunderts zu einem eleganten, spannenden Roman voller historischer und philosophischer Einsichten.

Schon in Hannah Arendts Kritik an Augustinus sowie in ihrem biographischen Essay über Rahel Varnhagen spürt man Arendts Interesse am Menschen, am Erzählen von Leben und dem Wunsch, die Dinge ungeschönt zu betrachten. Auch ihre Perspektive auf Judentum, Antisemitismus und die „Banalität des Bösen“ zeugt von ihrer Begeisterung für die Beobachtung sozialer Phänomene und politischer Ereignisse im Kontext ihres persönlichen Lebens.

Kellers ausgiebige Recherche basierend auf der Korrespondenz mit ihrem langjährigen Geliebten Martin Heidegger, ihrem Ehemann Heinrich Blücher, ihren Freunden Mary McCarthy, Karl Jaspers, Walter Benjamin, oder mit Schriftsteller-Kolleginnen wie Ingeborg Bachmann, ihren Tagebüchern sowie ihren philosophischen bzw. politischen Schriften zeichnen Hannah Arendts prägende Jahre nach und beleuchten besonders intensiv ihr letztes Lebensjahr, das noch immer geprägt ist von der folgenschweren Publikation ihres Berichtes über den Eichmann-Prozess. Eine Kontroverse gegen sie und ihr Buch, die sie selbst öffentlich »Kampagne« und in privaten Briefen »Mobilisierung des Mobs« nannte. Aus dem grellen Licht einer Öffentlichkeit, die sie teils mit Hass, teils mit Euphorie überschüttete, ohne sich in der von ihr erhofften sachlichen Weise mit ihrem Buch auseinanderzusetzen, kam sie bis zu ihrem Tod nicht mehr heraus.

Kellers Roman ist eine behutsame Studie über die Entwicklung der Gedanken einer deutschen jüdischen Frau im Laufe eines Lebens. Bevor sie zu einer Kommentatorin des Totalitarismus des 20. Jahrhunderts wurde, war Arendt eine Frau, die sozusagen über Jaspers und St. Augustinus zu Heidegger kam. Am zentralsten im Roman ist für mich ihr unglaubliches Interesse am Leben, an ihren Mitmenschen, ganz gleich wen sie vor sich hat.

„Sie trat auf den Vorplatz der Casa Barbatè, ging über die Gleise, dann die paar Schritte zum Kirchturm. Hoch oben, im offenen Dachstuhl, sirrten die Schwalben und drehten ihre Runden um das Glockenrad. So was Schönes, dachte sie, davon kann ich nie genug bekommen. Das ist ja das Einzige, was wir fürchten, wenn wir uns vor dem Ende bangen. Nicht den Tod, sondern diese Welt zu verlieren.“

Der Leser trifft auf Hannah Arendt im Sommer 1975, als sie gerade mit dem Zug in das Schweizer Dorf Tegna unterwegs ist, um dort Urlaub zu machen. In den insgesamt 27 Kapiteln reisen wir ihr Zeit und Welt und begleiten sie auf ihren wichtigsten Stationen zwischen Mai 1941 und August 1975. Man lernt Arendt von einer ganz anderen Seite kennen, eine Kämpferin gegen den Totalitarismus, die ihr Leben lang für ihre Überzeugungen kämpfte, alles immer ganz verstehen wollte und sich dann für nichts und niemanden daran hindern, ließ ihre Überzeugung so auf Papier zu bringen.

Hannah Arendt hat sich stets als politische Theoretikerin und weniger als Philosophin gesehen. Das hat meines Erachtens weniger mit übergroßer Bescheidenheit zu tun, als mit der Überzeugung, dass Arendt die Philosophie als der Politik abgewandt erlebt hat und sie sich nur ein Leben vorstellen konnte, in dem der Mensch geradezu gezwungen ist sich mit der Politik zu beschäftigen und Einfluß zu nehmen. Ein berührender, intensiver Roman den ich sehr gerne gelesen habe.

„Arme Wirklichkeit, die abhängig ist von Menschen, die an sie glauben und sie bezeugen.
Das hatte sie in ihrem Rahel-Buch geschrieben. Seither war die Wirklichkeit noch viel ärmer geworden. Unwillkommene Fakten und Argumente wurden immer vehementer geleugnet. Nur wusste sie seit der Kampagne gegen sie und ihr Eichmann-Buch auch, mit welcher Wucht alles zurückkehren konnte.“

Ich danke dem Eichborn-Verlag für das Rezensionsexemplar sowie für den schönen Zoom-Abend mit der Autorin, der zurecht große Lust auf den Roman machte. Ich hoffe Frau Keller ist bald wieder in Schreibstimmung, ich könnte mir noch so manche in Romanform erscheinende Biografie von ihr vorstellen.

Wer jetzt noch mehr Lust auf Hannah Arendt hat, der findet hier einen Beitrag zum Buch aus der Reihe „The Last Interview“ und hier einen Beitrag zu ihrem Essay „Die Freiheit, frei zu sein„. Immer wieder ans Herz legen möchte ich allen die es noch nicht kennen, oder als Einladung es nochmal anzusehen, ihr berühmtes Interview mit Günter Gaus aus dem Jahr 1964:

Hirngymnastik Klassische Musik

Ein Jahr voller Wunder – Clemency Burton-Hill

Ich glaube, ich habe nicht viel mit der Krimi-Autorin Donna Leon gemeinsam, außer wahrscheinlich unsere immense Vorliebe für klassische Musik aus der Barock-Zeit und der (nicht ganz ernst gemeinten) Ansicht, die eigentliche Oper endet für uns mit Mozart.

Neben den Barockopern von Händel, Monteverdi, Gluck oder Vivaldi mag ich insbesondere geistliche Musik, was mir wieder zeigt, dass man, um großartige Musik oder auch Architektur (Kirchen) schätzen zu können, nicht unbedingt religiös sein muss.

Die heutige Hirngymnastik befasst sich mit Literatur, in der klassische Musik eine zentrale Rolle spielt.

Die europäische Musik unterscheidet sich sehr von vielen anderen außereuropäischen klassischen Musikformen – durch ihr Notationssystem, das etwa seit dem 11. Jahrhundert in Gebrauch ist. Katholische Mönche entwickelten die ersten Formen moderner europäischer Musiknotation, um die Liturgie in der gesamten Weltkirche zu vereinheitlichen.

Im Gegensatz zu den meisten volkstümlichen Stilen ist die klassische Musik für die Entwicklung hoch entwickelter Formen der Instrumentalmusik wie Symphonie, Konzert, Fuge, Sonate und gemischter vokaler und instrumentaler Stile wie Oper, Kantate und Messe bekannt.

Eines der schönsten Bücher, die ich dieses Jahr gelesen habe ist eines, das mich gelegentlich auch in ganz andere Epochen der klassischen Musik geführt hat und auch wenn das Jahr noch nicht ganz um ist, es ist ganz eindeutig mein Lieblingsbuch dieses Jahr:

Clemency Burton-Hill ist unglaublich enthusiastisch, nicht im Entferntesten versnobt und hat mir riesige Lust gemacht, jeden Morgen das Stück des Tages zu hören. Sie redet über Stücke, die sie in der U-Bahn, bei der Hausarbeit oder auch mal ganz ehrfürchtig in einem Konzertsaal hört. Alle wichtigen Komponisten sind hier und an 366 Tagen (ja, inklusive des extra Tages – also perfekt für das Schaltjahr 2020) stellt sie erfreulich viele Frauen, Nicht-Europäer/Amerikaner und Komponisten vor, die noch leben und arbeiten – viele von ihnen unter 50.

Ein Buch wie dieses wäre vor dem Streaming vielleicht gar nicht möglich gewesen, aber durch das Streaming ist es leicht, sich durch alle 366 Stücke zu hören (meistens an dem dafür vorgesehenen Tag, aber ab und an auch mal ein paar am Stück, wenn ich etwas hinterherhinkte ). Dadurch lernte ich so unglaublich viele neue Stücke/Komponisten kennen und schätzen.

Natürlich hat mir nicht jedes Stück gefallen, aber wer klassische Musik mag, spürt richtig, wie sich der eigene Horizont erweitert. Ein wunderbares Buch und das perfekte Geschenk für eigentlich fast alle Menschen.

Weiter geht es mit dem Genre der Oper. Das rote Opernbuch im Hintergrund habe ich als Kind von Verwandten aus der DDR geschickt bekommen und es hat mich seitdem überall hinbegleitet, wo auch immer ich gewohnt habe. Es ist ein guter erster Anlaufpunkt, wenn man sich über den Inhalt und den Hintergrund einer Oper informieren möchte.

Heute geht das natürlich auch sehr gut mit Wikipedia, dennoch kann ich jedem, der vielleicht auch gerade erst anfängt, sich mit Opern zu beschäftigen, empfehlen, sich ein solches Opernbuch anzuschaffen und/oder auch das Who’s Who in der Oper, ein hilfreiches Handbuch das einem noch mal mehr Einblick in die wichtigsten Figuren gibt, die immer wieder in Opern auftauchen.

Robert Levines „Weep, Shudder and Die“ ist ein sehr kompakter Guide, der noch mal interessante Einblicke in die Welt der Opernliebhaber in den USA gibt, die Auswahl der Komponisten und die Kürze der Opernbeschreibungen waren mir aber eine Spur zu oberflächlich. Es fehlte Händel (!!!).

Etwas umfassender möchte ich euch diesen Roman vorstellen:

Opernroman – Petra Morsbach

Wunderbarer Roman über das Treiben an einem fiktiven Opernhaus in einer fiktiven Stadt. Morsbach wirft einen messerscharfen Blick hinter die Kulissen. Man spürt, dass Petra Morsbach die Bühnen der Welt von innen heraus kennt, denn nur als Insider erlangt man diese Detailschärfe und kann so lebendig und humorvoll über diesen Mikrokosmos schreiben.

Hochs und Tiefs gehören zum künstlerischen Alltag in der Oper. Hinter den Kulissen ist das Geschehen aber fast genauso dramatisch wie auf der Bühne. Einige opfern ihr Leben für die Kunst, während andere recht skrupellos über Leichen gehen um Karriere zu machen. Die Menschen leben hier intensiver, leiden aber auch mehr als anderswo. Die Oper ist ein Ort der Extreme.

In diesem bislang einzigen Nicht-Brunetti Roman von Donna Leon geht es unter anderem um den italienischen Geistlichen, Diplomaten und Komponisten Agostino Steffani (1654 – 1728). Er lebte über zwanzig Jahre in München, was ihn noch einmal interessanter für mich machte.

Das Buch entstand in Kooperatin mit Cecilia Bartoli, einer Opernsängerin, die Ms Leon vor etwa zwanzig Jahren einmal interviewte und die seitdem ihr Opern-Buddie ist. Bartoli nahm eine CD mit Werken von Agostini auf und nur für die CD alleine hat sich der Kauf dieses wunderschönen Buches gelohnt. Der Krimi selbst spielte für mich eher eine untergeordnete Rolle, unterhalten habe ich mich aber auf jeden Fall sehr gut gefühlt.

Caterina Pellegrini ist gebürtige Venezianerin und wie so viele von ihnen musste sie ihre Heimat verlassen, um ihre Karriere fortzusetzen. Mit einem Doktortitel in „Barockoper“ aus Wien landet sie in Manchester. Als Caterina von einer Stelle in ihrer Heimat erfährt, ergreift sie die Gelegenheit beim Schopf und zieht zurück.

Die Stelle ist ziemlich ungewöhnlich. Nach fast drei Jahrhunderten wurden zwei verschlossene Truhen entdeckt, in denen sich vermutlich Papiere eines Barockkomponisten befanden. Mit religiösen und politischen Kreisen eng verbunden, starb der Komponist kinderlos; nun beanspruchen zwei (sehr unsympathische) Venezianer, Nachkommen seiner Cousins, jeweils das Erbe. Caterinas Aufgabe ist es, alle beigefügten Papiere zu prüfen, um so etwas wie eine testamentarische Verfügung des Komponisten zu finden. Doch als ihre Nachforschungen sie in unerwartete Richtungen führen, beginnt sie sich zu fragen, welche Geheimnisse diese Truhen wohl tatsächlich bergen.

Die Juwelen des Paradieses – ein großartiger Roman für Musikliebhaber*innen, eine fesselnde Erzählung über Intrigen, Musik, Geschichte und Gier mit großartiger Musik.

Hier könnt ihr Cecilia Bartolis Steffani-Aufnahme hören

Von Venedig aus reisen wir jetzt ins Deutschland der Bach-Zeit. Bach und Händel sind ja die großen deutschen Komponisten der Barock-Zeit und theoretisch hätten sie sich treffen können, es hat aber tatsächlich nie geklappt.

Die Suche in der häuslichen Bibliothek hat gleich zwei Bücher über Johann Sebastian Bach hervorgebracht – aber sträflicherweise keines über „meinen“ Händel, ein Zustand den ich schnellstens ändern muss.

Als die Musik in Deutschland spielte – Bruno Preisendörfer

Bruno Preisendörfer entführt uns in die Lebenswelt des Barock: Wie kleideten sich die Menschen? Wie sah das Familienleben aus? Tabak kam gerade in Mode und auch der Kaffee und damit der Siegeszug der Kaffeehäuser.

Musik wurde überall gespielt – ob in Gottesdiensten, zur Unterhaltung des Adels, der Bürger oder auf dörflichen Festen. Es war die Zeit von Johann Sebastian Bach, Georg Friedrich Händel und Georg Philipp Telemann, deren Kompositionen uns bis heute nachhaltig berühren.

Preisendörfer breitet ein Füllhorn an Fakten, Anekdoten und Wissen aus, für mich hat die Lesbarkeit manchmal etwas gelitten und mich machte dieses hektische Springen von einer Anekdote zur nächsten irgendwie etwas kirre.

Hätte mir mehr über das Leben Johann Sebastian Bachs gewünscht und etwas weniger Hektik.

Als Bach nach Dresden kam – Ralf Günther

Leider stand auch in diesem Buch nicht etwa Johann Sebastian Bach im Zentrum der Geschichte, sondern der Dresdner Konzertmeister und Direktor der französischen Hofmusik: Jean-Baptiste Volumier.

Im Jahr 1717 ist Volumier Konzertmeister der Hofkapelle August des Starken. Als ihm zu Ohren kommt, dass der skandalumwitterte französische Musiker Louis Marchand nach Dresden geholt werden soll, wird ihm angst und bange: Wird Marchand ihm den Rang streitig machen? Volumier fasst einen Plan: Ein Orgelduell, bei dem er Marchand gegen den größten lebenden deutschen Komponisten antreten lässt: Johann Sebastian Bach wird Marchand überstrahlen, da ist Volumier sicher, und nach einer Blamage wird Marchand das Weite suchen. In Weimar lernt Volumier Bachs Cousine Friedelena kennen. Die Begegnung verändert einiges. Kurz bevor das Tastenduell stattfindet, nehmen die Ereignisse einen unvorhergesehen Verlauf.

Ein unterhaltsames Buch, aber ich wollte doch etwas mehr Bach und weniger Volumier *mit den Füßen trampelt*.

Jetzt aber zwei Bücher über einen Komponisten, bei dem man tatsächlich das bekam, was auch außen drauf stand.

Wir reisen nach Österreich und widmen uns DEM Komponisten der Wiener Klassik: Wolfgang Amadeus Mozart

Mozart: Ein Leben ist eine gut recherchierte Biographie von Maynard Solomon und war 1996 Finalist für den Pulitzerpreis. Sie liest sich wie ein Roman, in dem wir Mozart durch seine frühe Kindheit in Salzburg bis zu seinen gefeierten Auftritten in den Hauptstädten Europas als Wunderkind begleiten.

Solomon folgt ihm nach Wien, wo er heiratet und als vielversprechender junger Komponist nicht nur in Wien, sondern auch in Prag und Deutschland Erfolg hat. Sein Leben überschattet eine sich stetig vertiefende Melancholie, die sich besonders ausprägte als er an seinem letzten Werk, dem Requiem, arbeitet, bevor er im Alter von 36 Jahren viel zu früh stirbt.

Mozart last Aria – Matt Rees

Matt Rees nimmt in seinem Roman das historische Rätsel des Mordes an Mozart unter die Lupe und präsentiert anhand von Fakten und Personen aus dem wirklichen Leben eine mögliche Lösung des Falles.

Zu Beginn der 1790er Jahre steht Europa vor einigen großen Problemen. In Frankreich ist die Französische Revolution im Gange. Preußen und Österreich sind Erzfeinde. Und Mozart verliert unter mysteriösen Umständen sein Leben und vermutet eine Vergiftung. Der Roman beginnt, als seine Schwester Nannerl im Sterben liegt und Mozarts Sohn das von ihr geführte Tagebuch gibt. Als Nannerl von Mozarts rätselhaftem Tod erfährt, verlässt sie ihr Dorf Salzburg und reist nach Wien, wo ihr Bruder Mozart Erfolg hatte und Zugang zu den höchsten gesellschaftlichen Kreisen erlangte. Nannerls Ziel ist einfach: herauszufinden, was mit ihrem Bruder geschehen ist.

Nur ist dem Wien, dem sie begegnet, ein anderes als das ihrer Jugend. Die Atmosphäre ist nicht mehr offen und entspannt, sondern geheimnisvoll und trügerisch. Als Nannerl beginnt, sich umzuhören, gerät sie in ein gefährliches Spiel – sie wird auf der Straße angegriffen und muss um ihr Leben fürchten.

Der Roman war eine verführerische Lektüre. Gleich zu Beginn des Buches stellt Rees dem Leser eine Liste der Charaktere und ihrer Identitäten zur Verfügung, das hilft sehr. Jedes Mal, wenn man glaubt, der Mörder sei entlarvt, schlägt Rees wieder einen Haken. Das Buch hat wirklich Spaß gemacht.

Die Mozart-Lektüre hat mir große Lust gemacht den Film Amadeus wiederzusehen, leider konnte ich ihn nirgendwo streamen, daher musste ich mich vorab erst mal mit dem Trailer begnügen:

Der letzte Roman dieser Hirngymnastik führt uns in die Welt der Kastraten.

Margriet de Moors „Der Virtuose“ hatte ich vor Jahren schon einmal gelesen und war gespannt, wie viel mir noch in Erinnerung geblieben war und wie gut es mir jetzt gefallen würde.

Dieser Roman erzählt die Geschichte eines berühmten Sängers. Der musikalisch begabte Garparo, der in furchtbare Armut hineingeboren wird lässt sich freiwillig und bereitwillig kastrieren, als er fast schon in der Pubertät ist. Danach wurde er ins Konservatorium gebracht und unzählige Stunden lang zu einem der berühmtesten Sänger Neapels ausgebildet.

Es ist die Geschichte der dramatischen Liebesgeschichte zwischen Gaspara und einer reichen Adligen.

Das Buch gibt Einblick in eine Zeit, in der Menschen – egal welcher Klasse sie angehörten völlig verrückt nach der Oper waren. Aristokraten, wie die Heldin des Romans, besuchten das Theater von San Carlo mehrmals in der Woche in ihren Logen, dort wurde gespielt und gegessen, Gespräche über Philosophie geführt und auch Liebesaffären nahmen dort ihren Lauf.

Manchmal widmeten sie sich aber auch der Musik und gingen mitunter sogar bis auf die Bühne, um die Aufführungen aus der Nähe zu sehen! Seither verstehe ich, warum Mahler darauf bestand, dass die Zuschauer ruhig sitzen und zuschauen sollten.

De Moor lässt die Welt der italienischen Musik und der neapolitanischen Aristokratie mit einer Sinnlichkeit aufleben, die einem den Atem raubt.

Der passende Film zum Buch ist natürlich Farinelli:

Zum Abschluß eine Playlist meiner liebsten klassischen Stücke:

Ich hätte gerade riesige Lust dazu. Habe mich für Ende Dezember um Tickets beworben an der Münchner Staatsoper, aber noch weiß ich nicht ob es geklappt hat. Wir werden sehen.

Ich hoffe ich konnte euch etwas Lust machen auf klassische Musik – habt ihr Lieblingskomponisten oder Stücke die ihr mir empfehlen würdet? Geht ihr gerne in die Oper?

Große gemischte Tüte

Zu warm für lange Rezensionen. Hier in Kürze 5 Empfehlungen für schwüle Sommernächte:

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Süd-Afrika 1901. Sarah van der Watt und ihr sechsjähriger Sohn Fred werden während des Burenkrieges aus ihrem Haus in ein Internierungslager verschleppt, wo die höflichen britischen Angreifer ihnen versichern, sie seien in Sicherheit dort.

2014. Der sechzehnjährige Willem ist ein Außenseiter. In der Hoffnung, dass er endlich der Sohn wird, den sich seine Mutter und ihr Freund wünschen, zwingen sie ihn, ins New Dawn Safari Training Camp zu gehen, wo man stolz darauf ist, aus Jungs Männern zu machen. Sie versprechen ihm, er werde dort in Sicherheit sein.

“Above all this the stars shine. Willem pauses for a moment and feels the world turn as he struggles to pick out the Southern Cross among the interstellar static, He’s never seen a sky so big or so bright. It’s dizzying and he spins slowly to take it all in…” 

You will be safe hier ist ein eindringlicher Roman, der zwei südafrikanische Geschichten miteinander verbindet. Ein Roman um das Vermächtnis von Gewalt und unseren Willen zu überleben. Ein Buch das unter die Haut geht.

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Machines Like Me spielt in einer alternativen Vergangenheit in den 1980er Jahren in London. Charlie treibt antriebslos durch sein Leben, verdient ein paar Kröten mit Online-Börsenhandel und ist in seine Nachbarin Miranda verliebt, die ein schreckliches Geheimnis hütet. Als Charlie Geld erbt, kauft er sich einen Adam, einen der ersten künstlichen Menschen. Mit Mirandas Hilfe co-designt er Adams Persönlichkeit.

“The future kept arriving. Our bright new toys began to rust before we could get them home, and life went on much as before.” 

Dieser nahezu perfekte Mensch ist schön, stark, klug und es entspinnt sich sehr bald ein subversive Dreiecksbeziehung. Die drei werden mit einem tiefgehenden moralischen Dilemma konfrontiert – McEwans beliebter Modus Operandi.

McEwan hat wieder einen unglaublich intelligenten, unterhaltsamen und anregenden Roman geschrieben, der sich mit den grundsätzlichen Fragen beschäftigt: Was macht uns zu Menschen? Unsere äußerlichen Handlungen oder unser innerstes Sein? Kann eine Maschine das menschliche Herz verstehen? Wieviel Rechte hat ein künstliches Leben?

“We create a machine with intelligence and self-awareness and push it out into our imperfect world. Devised along generally rational lines, well disposed to others, such a mind soon finds itself in a hurricane of contradictions. We’ve lived with them and the list wearies us. Millions dying of diseases we know how to cure. Millions living in poverty when there’s enough to go around. We degrade the biosphere when we know it’s our only home. We threaten each other with nuclear weapons when we know where it could lead. We love living things but we permit a mass extinction of species. And all the rest – genocide, torture, enslavement, domestic murder, child abuse, school shootings, rape and scores of daily outrages.” 

Ein provokanter, spannender Roman, der uns davor warnt, Geister zu rufen, die wir dann nicht loswerden bzw. nicht mehr kontrollieren können…

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Als Cora Seabornes brillianter, aber auch dominanter Ehemann stirbt, beginnt ein neues Leben für sie. Sie lässt ihre unglückliche Ehe hinter sich und hat endlich Gelegenheit, ihrer außergewöhnlichen Intelligenz und Neugier den Raum zu geben, den sie braucht.

Zusammen mit ihrer Freundin und ihrem wahrscheinlich autistischen Sohn Francis verlässt sie London für einen Besuch an der Küste Essex, wo sie – ihrem Vorbild Mary Anning gleich – einem wissenschaftlichen Geheimnis auf der Spur ist.

Sie trifft bei ihren Nachforschungen auf den Pfarrer William Ransom, der ebenfalls mit dem Geheimnis um die „Essex Serpent“ beschäftigt ist. Cora ist eine begeisterte Naturforscherin mit wenig Sinn für Übersinnliches oder Religion und so sehr William und sie sich als Freunde schätzen, immer wieder geraten sie aufgrund ihrer unterschiedlichen Weltanschauungen aneinander.

The Essex Serpent ist eine großartige Gothic Novel im besten Sinne. Die Geschichte mag im späten 19. Jahrhundert spielen, die Themen finden sich aber ganz genau so im 21. Jahrhundert wieder. Glaube und Aberglaube treffen auf Wissenschaften und Fakten und auch die unterschiedlichen Formen der Liebe sowie moralische Limitierungen sowohl in der Liebe als auch in der Medizin.

“We both speak of illuminating the world, but we have different sources of light” 

Besonders gefiel mir, wie differenziert Perry mit den verschiedenen Formen der Liebe umgeht. Den schmalen Grat erfasst, wo Freundschaften sich verwandeln in andere Formen von Beziehungen, nicht immer klar benennbar, sondern changierend und abwechslungsreich.

“The windows in her room were open and light was fading on the wall. She said, ‘There may be blood,’ and he said, ‘Better that way – better’; and it was Cora’s mouth he kissed, and Cora’s hand she placed where she wanted it most. Each was only second best: they wore each other like hand-me-down coats.”

Großes Lesevergnügen.

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Loyalty Island in Washington State wird vom Meer beherrscht. Jeden Herbst fahren die Schiffe der Loyalty Islander hoch zur Bering See, um den Winter über Königskrabben zu fangen. Das ist die Industrie, die die Stadt und seine Geschäfte am Leben erhält, auch wenn stets der drohende Tod auf See über ihnen hängt. Für Cal, dessen Vater Kapitän eines der Boote ist, haben das Meer und Alaska etwas ähnlich mystisches wie die Piratengeschichten, die sein Vater ihm als Kind erzählte – aber er sieht auch, wie sehr das Meer verantwortlich dafür ist, dass die Ehe seiner Eltern alles andere als glücklich verläuft. Sowohl wenn sein Vater auf See ist, als auch, wenn er für ein paar Monate wieder zu Hause ist.

„Loyalty Island – das war der Gestank von Hering, Lackfarbe und fauligem Seetang an Anlegestellen und auf Stränden. Der Geruch von Kiefernnadeln, die sich am Boden braun verfärbten. Das Rumpeln von Außenbordern, von Windböen und Eismaschinen, das Heulen hydraulischer Winschen. Es war graues Dämmerlicht, das morgens und abends kam und ging – wie Ebbe und Flut.

Es war eine Aura der Einsamkeit.“

Die Familie Gaunt ist die mächtigste und einflußreichste auf der Insel. Ihnen gehört seit Generationen die Fangflotte auf Loyalty Island und sie sind der größte Arbeitgeber der Insel. Als John Gaunt plötzlich stirbt und sein entfremdeter Sohn Richard alles erbt, gerät das Leben auf der Insel außer Balance. Richard scheint wild entschlossen alles an die Japaner zu verkaufen und somit den Bewohnern der Insel ihre Lebens- und Arbeitsgrundlage zu entziehen. Als Cal entdeckt, dass sein Vater möglicherweise drastische Schritte unternommen hat, um ihre gewohnte Lebensweise zu bewahren, steht er vor einer schwierigen Wahl…

Ein wunderbarer Roman über Väter und Söhne, das Ende der Kindheit,  Verantwortung, Loyalität und über die Frage, was Menschen zu unmoralischem Handeln treib. Ein Buch, das definitiv seinen eigenen Soundtrack verdient:

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Gordon Comstock verachtet den Materialismus und die Oberflächligkeit der Mittelklasse, ihre Anbetung des Geldes und ihr Streben nach langweiliger muffiger Seriosiät. Er will ganz nach seinen Idealen leben und kündigt seine gut bezahlte Stelle als Werbetexter und gibt sich ganz seinem Leben in Armut und anderen edelmütigen Aktivitäten hin.

So ein Leben in Armut ist allerdings alles andere als ein Zuckerschlecken und seine permanente Geldfixiertheit (bzw. der Mangel an Geld) geht einem irgendwann auf den Keks. Es vergeht kein Absatz, in dem das Wort Geld nicht vorkommt. Ich hätte eventuell mehr Respekt für Gordon aufgebracht, wenn er in seiner edelmütigen Lebensweise in Armut nicht permanent auch seine Mitmenschen, insbesondere seine Verlobte und seine Schwester, mit ins Unglück gezerrt hätte.

“The mistake you make, don’t you see,is in thinking one can live in a corrupt society without being corrupt oneself. After all, what do you achieve by refusing to make money? You’re trying to behave as though one could stand right outside our economic system. But one can’t. One’s got to change the system, or one changes nothing. One can’t put things right in a hole-and-corner way, if you take my meaning.”

So edel seine Beweggründe sind, sich und seine Kunst (er ist Schriftsteller) nicht zu verkaufen, so wenig juckt es ihn, wie er die Menschen behandelt, die ihm nahestehen.
Ich bereue es keinesfalls, das Buch gelesen zu haben, es ist durchaus gut und hat viele gute Passagen, aber die Art, wie er mit Frauen umgeht und sein egozentrisches Verhalten haben ihn für mich zu einem der unsympathischsten Protagonisten gemacht, die ich seit langem in Büchern getroffen habe.

Down and out in Paris and London hat mir deutlich besser gefallen.

Hier noch mal die Bücher im Überblick:

  • Damian Barr – „You will be safe here“ erschienen bei Bloomsbury
  • Ian McEwan – „Machines like me“ auf deutsch unter dem Titel „Maschinen wie ich“ bei Diogenes erschienen
  • Sarah Perry – „The Essex Serpent“ auf deutsch unter dem Titel „Die Schlange von Essex“ bei Eichborn erschienen
  •  George Orwell „Keep the Aspidistra flying“ auf deutsch unter dem Titel „Die Wonnen der Aspidistra“ im Diogenes Verlag erschienen und nur noch antiquarisch erhältlich.

Meine Reisen mit Herodot – Ryszard Kapuściński

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Als der frisch graduierte Ryszard Kapuściński seiner Verlegerin mitteilte, er würde gerne einmal ins Ausland reisen, hatte er keine Ahnung, wie sehr dieser Wunsch sein Leben beeinflussen würde. Eigentlich ging es ihm um den konkreten Grenzübertritt, dieses Gefühl zu erleben, tatsächlich eine Grenze zu überschreiten. Er hatte einen kurzen Abstecher ins benachbarte sozialistische Ausland wie z.B. Prag im Kopf, seine Verlegerin schickte ihn allerdings gleich einmal um die halbe Welt: nach Indien. Damit begann seine ereignisreiche und erfolgreiche Karriere als Auslandskorrespondent und Autor diverser Bücher, dessen Name immer wieder einmal in den Topf der Anwärter auf den Literaturnobelpreis geworfen wurde.

Kapuściński verstarb, bevor das tatsächlich passieren konnte, aber zum Glück hat er uns eine Vielzahl großartiger Bücher hinterlassen. Auf seinen vielen Reisen begleiteten ihn stets die Historien von Herodot, ein Buch, das ihm seine damalige Verlegerin für seine erste Reise schenkte.

Bei dieser ersten Reise ins Ausland wird der junge Journalist einfach so ins kalte Wasser geworfen. Aus dem sozialistischen Ausland kommend, mit rudimentären Englischkenntnissen, merkt er schnell, dass einzig Sprache ihn retten kann. In Herodots Welt wurde überall Griechisch gesprochen, in Kapuścińskis Welt ist es das Englische ,ohne das man verloren ist. Ihm wird klar, dass er nur sehen und sich erinnern kann, wofür er Namen hat und je mehr Namen er für die Dinge in der Welt hat, desto reicher wird die Welt für ihn sein.

Er erzählt auch von seinen Schwierigkeiten in Indien, stets bedient zu werden, gerade für ihn, der im Sozialismus im Geiste der Gleichheit erzogen wurde und wie er lernen musste, dass er jemandem das Geld zum Überleben verweigert, wenn er sich nicht in einer Rikscha kutschieren oder einen Knopf annähen lässt.

Zurück in Polen wird er schon bald darauf wieder losgeschickt. Dieses Mal geht es nach China, wo eine kurze Phase der Offenheit seinen Aufenthalt dort ermöglicht, doch kommt es nie zu einer wirklichen Zusammenarbeit mit chinesischen Journalisten. Sein Radius wird schon bald vor Ort stark eingeschränkt und jeder seiner Schritte überwacht. Ihm wird klar, dass eine Mauer nicht nur vor Feinden draußen schützt, sie hilft auch, die zu kontrollieren, die sich innerhalb der Mauern befinden. Er merkt, wie eine solche Mauer die Menschen verändert, sie dazu bringt, alles von Mauern umringt und in schwarz-weiß/gut und schlecht aufgeteilt zu sehen.

Von China aus geht es für ihn nach Afrika, ein Kontinent, der viel stärker fragmentiert und differenzierter ist als Asien und für ihn daher etwas einfacher zu fassen. In Afrika reift Kapuściński als Journalist, er beginnt, die unter den Ereignissen liegenden Gründe zu analysieren und nicht mehr nur über die Ereignisse an sich zu berichten. Er beginnt, sich mit den Menschen in Afrika anzufreunden, er redet mit ihnen, er beobachtet, er liest und nimmt sich Herodot immer wieder als Vorbild.

Er verbindet das, was er bei Herodot liest, stets mit seiner eigenen Laufbahn. Wie führte Herodot seine Nachforschungen aus? Welche Quellen nutzte er? Wie mag er gereist sein, mit wem gesprochen und wem hat er wiederum seine Geschichten erzählt? Wer war sein Publikum? In Herodot findet er seiner Ansicht nach den ersten, der Konnektivität der Welt erfasst hat, etwas das für Kapuściński eine gradueller Lernprozess war.

Herodot ist ein Geschichtenerzähler der weiß, wie man ein Publikum unterhält und wie man eine Geschichte würzen muss. Er ist unendlich neugierig, eine Eigenschaft die Kapuściński mit ihm gemein hat.

„Er (Herodot) war vollauf beschäftigt mit seinen Reisen, den Vorbereitungen dafür, und dann mit der Auswahl und Sichtung der mitgebrachten Materialien. Denn eine Reise beginnt nicht in dem Moment, da wir uns auf den Weg machen, und sie endet nicht, wenn wir ans Ziel gelangt sind. In Wahrheit beginnt sie viel früher, und sie ist faktisch nie zu Ende, weil sich das Band unserer Erinnerungen in unserem Inneren weiterdreht, auch wenn wir angekommen sind. Es gibt so etwas wie eine Infizierung mit dem Reisebazillus, und das ist eine im Grunde unheilbare Krankheit.“

Herodot wollte verhindern, dass die menschlichen Geschehnisse im Dunkel der Zeit verloren gehen und sah seine Aufgabe darin, ein Chronist der Zeit zu sein. Auszüge aus Herodots Werk ziehen sich durch das gesamte Buch. Kapuściński erzählt die Geschichte der Griechisch-Persischen Kriegs nach und stellt seine eigenen Nachforschungen an. Er begibt sich in die Geschichten hinein, z.B. in die Geschichte der Belagerung Babylons, bei der die Männer beschlossen, jeweils alle Frauen bis auf eine pro Haushalt zu erwürgen, um Vorräte zu sparen. Er fragt sich, wie genau die Männer die Entscheidung trafen, wer entscheidet welche übrig bleibt, wer führte die Tötungen durch, töteten sie die Frauen ihrer eigenen Familien oder die der anderen? Die Frauen müssen mitbekommen haben was vor sich geht. Haben sie sich gewehrt? Haben sie versucht ihre Töchter zu schützen? Herodot berichtet einfach nur die Fakten, ohne jeglichen Kommentar, hier lernt Kapuściński weiterzugehen, nach Fragen zu suchen und Antworten zu finden in seiner Arbeit.

„Die Perser und die Franzosen wurden von derselben Leidenschaft angetrieben – erobern, erlangen, besitzen. Beide erleiden eine Niederlage, weil sie gegen das griechische Gesetz verstoßen, das Gesetz der Mäßigung: niemals zu viel zu wollen, nicht alles zu begehren.“

Kapuściński sieht Herodot und sich als Reporter die auf Begegnungen mit Menschen angewiesen sind. Zu Herodots Zeiten gab es keine andere Form der Kommunikation als der direkte Kontakt, er lebte in einer Zeit der mündlichen Weitergabe von Wissen, das sich hauptsächlich auf  die Erinnerung stützte. Er wusste wie fragil und unzuverlässig Erinnerungen sind und dennoch sammelte er das Wissen und ließ sich auch auf die Ungenauigkeiten ein.

„Alle Diktaturen bedienen sich eines solchen passiven Magmas. Damit ersparen sie sich teure Armeen bezahlter Polizisten. Sie brauchen nur auf diese Menschen zurückzugreifen, die nach etwas in ihrem Leben suchen. Ihnen das Gefühl zu geben, sie könnten sich nützlich machen, man würde auf sie zählen, sie wahrnehmen, ihnen Bedeutung beimessen.“

Das Einnehmen von unterschiedlichen Gesichtspunkten, die Wahrheit zu suchen, Quellen zu prüfen, das sind gemeinsame Werte und die Verbindungen, die Kapuscinski in seiner und Herodots Arbeit sieht.

Man könnte Kapuścińskis Buch einfach vordergründig für die Memoiren eines berühmten Reporters halten, der einigen historisch äußerst bedeutsamen Ereignissen beiwohnte.

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Aber Kapuścińskis Buch wirkt durch den Bezug auf Herodots Werk noch auf einem tieferen Level. Durch ihn zeigt der Journalist, wie wenig sich für den Einzelnen seit Herodot verändert hat, wann immer große geschichtliche Ereignisse auf ihn hereinbrechen.

„Wann immer man tote Tempel, Paläste, Städte betrachtet, stellt man sich die Frage nach dem Schicksal ihrer Erbauer. Nach ihren Schmerzen, den gebrochenen Rückgraten, den durch Steinsplitter verlorenen Augen, dem Rheumatismus. Nach ihrem unglücklichen Leben. Ihren Leiden. Und daraus ergibt sich die nächste Frage: hätten diese Wunderwerke ohne solches Leiden überhaupt entstehen können? Ohne die Peitsche der Aufseher? Ohne die Angst, die den Sklaven im Nacken saß? Ohne den Hochmut, der den Herrscher erfüllte? Wurden die großen Kunstwerke der Vergangenheit nicht gerade durch das hervorgebracht, was im Menschen negativ ist und böse? Andererseits: Sind sie nicht auch aufgrund der Überzeugung entstanden, daß das, was im Menschen negativ ist und schwach, nur durch die Anstrengung und den Willen, Schönes zu erschaffen? Und daß das einzige, was sich nie ändern wird, die Form des Schönen ist? Und das uns innewohnende Bedürfnis danach?“

Immer wieder pausiert Kapuściński, wenn er eine Geschichte über Herodot erzählt, um die Parallelen aufzuzeigen, die überall immer wieder auftauchen. Beispielsweise zum Ende des Buches hin, als der Journalist in Algier den Zusammenstoß zwischen dem toleranten Islam der Händler und Kaufleute und des fremdenfeindlichen Glaubens der Nomaden und Hirten diskutiert, nimmt er Bezug auf ähnlichen Erlebnisse des Herodot zu seiner Zeit.

„Er entschloß sich, vermutlich gegen Ende seines Lebens, ein Buch zu schreiben, da er wußte, daß er eine riesige Menge von Geschichten und Nachrichten zusammengetragen hatte, und wenn er die nicht in einem Buch festhielt, würde alles, was er bisher in seinem Gedächtnis gespeichert hatte, einfach verschwinden. Da haben wir wieder den Kampf gegen die Schwäche der Erinnerung, gegen ihre Flüchtigkeit, ihre immerwährende Tendenz, sich zu verwischen und zu verschwinden.“

„Eines zeichnet solche Individuen aus: Sie haben das unersättliche Wesen von Hohltieren, Schwämmen, die alles leicht aufsaugen und es ebenso leicht wieder abgeben. Sie behalten nichts länger für sich, und da die Natur keine Leere duldet, brauchen sie immer etwas Neues, müssen ständig etwas aufsaugen, ergänzen, vermehren, vergrößern. Herodots Denken ist nicht imstanden, bei einem Ereignis oder einem Land zu verweilen. 

Oder in einem Kapitel als Kapuściński im östlichen Mittelmeerraum unterwegs ist, liest er die Passagen, wo Herodot über die Verzweiflung eines Kriegers spricht, der ahnt, dass er kurz darauf in einem aussichtslosen Kampf fallen wird. Auch Kapuściński erlebt die Region in Unruhe, während seines Besuches und auch heute noch sterben – genauso sinnlos – nahezu jeden Tag Kämpfer in und um Syrien herum.

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„Herodot ist ein Kind seiner Kultur und der menschenfreundlichen Atmosphäre, in der sich diese entwickelt. Es ist eine Kultur der langen, gastlichen Tische, an denen Menschen an lauen Abenden gemeinsam sitzen, Käse und Oliven essen, kühlen Wein trinken und sich unterhalten. Dieser offene, von keinen Mauern begrenzte Raum am Meeresufer oder auf einem Berghang wirkt befreiend auf die menschliche Phantasie.“ 

Meine Reisen mit Herodot ist kein Buch für ungeduldige Leser und es ist eines, das es verdient, mehrfach gelesen zu werden. Ich habe auf jeden Fall Lust bekommen, mir auch einen Herodot für künftige Reisen zuzulegen.

Eine sehr schöne Besprechung des Buches findet sich auch bei Birgit von Sätze und Schätze.

The Ocean at the end of the Lane – Neil Gaiman

The Ocean at the End of the Lane

Schon das Finden des Buches hatte etwas magisches an sich. Während eines Kochkurses in Luang Prabang stellte ich fest, dass im Haus gegenüber ein furchtbar spannend aussehender Second-Hand-Bookshop war und ewig hing an dem Tag das „Closed“ Schild über der Tür. Und irgendwann zwischen dem Laap und dem grünen Papaya-Salat war das Schild weg, die Tür auf und ich nicht mehr am Wok zu halten.

Der Bookshop war eigentlich eher ein großes Wohnzimmer, in dem überwiegend Rucksackreisende neue Lektüre kaufen oder tauschen konnten und ich fand es ganz bezaubernd dort. Und inmitten all der zu erwartenden Strandlektüren fand ich „The Ocean at the end of the Lane“ – zack, das musste mit. Frisch erschienen und super gut erhalten und bei Neil Gaiman kann man eigentlich wenig falsch machen. Die schreibende Hälfte des Kreativ-Ehepaars Gaiman/Amanda Palmer ist eigentlich fast immer ein Garant für hochklassige, phantasievolle spannende Unterhaltung.

Das Buch hat eine ganz tolle traumartige Atmosphäre und man weiß ganz oft nicht, was real ist und was nicht. Es geht um einen Mann in seinen Vierzigern, der ins Haus seiner Kindheit zurückkehrt, um an einer Beerdigung teilzunehmen. Es zieht ihn fast magisch zu einer Farm am Ende der Straße, in der er als siebenjähriger Junge sehr viel Zeit verbracht hat. Dort traf er zum ersten Mal auf Lettie, ein unvergessliches, unglaubliches kleines Mädchen das sich mit ihm anfreundet. Mit ihr, ihrer Mutter und Großmutter erlebt er unglaubliche Abenteuer.

Er setzt sich an den Teich (von dem Lettie und ihre Großmutter stets behaupteten, es sei ein Ozean und kein Teich) und die Erinnerungen von damals stürmen auf ihn ein. Wir erleben die Geschichte noch einmal mit ihm, sehen sie durch seine Augen als kleiner Junge. Wie echt sind diese Erinnerungen? Was ist dran an den Monstern und den magischen Abenteuern unserer Kindheit? Sind wir die aufgeklärten, wenn wir als Erwachsene müde lächelnd die phantastischen Abenteuer als eben Phantasie abtun? Oder sind eigentlich wir die Ignoranten und Phantasten die einfach abtun was sie nicht vernünftig finden und nicht glauben was sie nicht beweisen können?

Vor 40 Jahren hat der Untermieter der Familie des kleinen Jungen in einem gestohlenen Wagen Selbstmord begangen auf der Farm am Ende der Straße. Diese Tat hat eine ganze Reihe unheimlicher dunkler Begebenheiten in Gang gesetzt, die den kleinen Jungen ängstigen und die er nicht verstehen kann. Lettie beschützt und hilft ihm und gemeinsam kämpfen sie gegen das Böse.

Man sagt das so oft, etwas noch nie dagewesenes, so etwas habe ich noch nie gelesen – aber Gaiman schafft in meinen Augen tatsächlich etwas sehr seltenes: Diese einzigartige Kombination aus dunklem Grusel und wunderbar hellen Sommerferien-Momenten.

Ich habe ein paar Artikel gelesen, die sich mit der Frage beschäftigt haben, ob Gaiman in dem Buch seine Scientology-Vergangenheit aufarbeitet und wie weit er sich tatsächlich von dem Verein distanziert hat. Ich glaube ihm da jetzt erst einmal, auch wenn sein Vater eine richtig wichtige Rolle spielte und auch zwei seiner Schwestern noch immer Mitglied bei Scientology sind.

Aber das Buch hat er für seine Frau Amanda geschrieben „Who wanted to know“ und es ist eine wunderbare Literatur gewordene Liebeserklärung.

Ich habe das Buch geliebt. Gaiman hat nahezu perfekt das Prinzip „Kindheit“ beschrieben in meinen Augen. Genau so hat es sich manchmal angefühlt. Wie gern hätte ich das Buch mit sieben gelesen und dann heute einfach nochmal. Als ich sieben war, war ich nämlich auch ein oft ganz schön einsamer Bücherwurm, der das meiste um sich rum nicht wirklich verstanden hat. Wie gern hätte ich diese wundervolle merkwürdig verrückte Familie am Ende der Straße kennengelernt und auf ihrer tollen Farm jede Menge Abenteuer erlebt. OK – ich hätte mir wahrscheinlich nachts des öfteren ziemlich in die Büx gemacht, aber morgens wäre ich garantiert wieder zurück gewesen at „the ocean at the end of the lane“.

Ein nostalgischer Phantasy-Roman, ein Stephen King meets Astrid Lindgren Buch, das ich auf jeden Fall in einem heißen Sommer an einem See noch einmal lesen möchte. So fühlen sich Sommerferien an. Neben „Neverwhere“ mein liebstes Buch von ihm bisher.

„Grown-ups don’t look like grown-ups on the inside either. Outside, they’re big and thoughtless and they always know what they’re doing. Inside, they look just like they always have. Like they did when they were your age. Truth is, there aren’t any grown-ups. Not one, in the whole wide world.”

„I lived in books more than I lived anywhere else“ (yes very very very true !)

Eine weitere tolle Rezension könnt ihr bei deep read finden!

Lest und lasst Euch verzaubern!

Das Buch ist auf deutsch unter dem Titel „Der Ozean am Ende der Straße im Eichborn Verlag erschienen.