Read around the world: Japan

Im Jahr 2016 reisten wir für drei unvergessliche Wochen durch Japan – ein Land, das uns immer wieder überrascht und manchmal auch vor Herausforderungen gestellt hat. Taxifahren war zum Beispiel jedes Mal ein kleines Abenteuer. Aus irgendeinem Grund schien es, als wären sämtliche Taxifahrer mindestens 80 Jahre alt. Sie trugen stets makellose weiße Handschuhe, und die Autos waren mit weißen Häkeldeckchen auf den Sitzen dekoriert. Schon das Einsteigen war besonders, da die Türen automatisch öffneten – ein Detail, das uns jedes Mal aufs Neue verblüffte.

Was die Navigation anging, wurde es allerdings kurios: Statt moderner Navigationssysteme griffen die Fahrer zu Papierkarten und teilweise riesigen Lupen, um die Adressen zu finden. In Kyoto erlebten wir gleich zwei skurrile Taxifahrten hintereinander: Der erste Fahrer war so verloren, dass er uns höflich wieder aus dem Auto bat. Der zweite machte sich immerhin auf den Weg, hielt aber nach kurzer Zeit bei einer Polizeistation an, um sich den Weg zu unserem AirBnB erklären zu lassen. Dieser Mischung aus Höflichkeit, Improvisation und Entschlossenheit begegneten wir des Öfteren auf unserer Reise

Kulinarisch gesehen war Japan eine Offenbarung. Wir haben durchweg gut gegessen – von Sushi, Kobe Rind und Ramen bis hin zu weniger bekannten lokalen Spezialitäten. Allerdings mögen die Japaner ihr Essen offensichtlich sehr frisch. So frisch, dass es uns manchmal die Sprache verschlug.

Ein Erlebnis, das wir nicht so schnell vergessen werden, war in einem Restaurant, in dem am Nachbartisch ein noch lebender Fisch serviert wurde. Der Fisch war in einer speziellen Halterung fixiert und zappelte noch, während ihm bei lebendigem Leib Sushi-Stücke herausgeschnitten wurden. Wir saßen mit offenem Mund da und mussten uns wirklich zusammenreißen, nicht ohnmächtig zu werden. Es war ein Moment, der uns tief verstörte – kulturelle Unterschiede hin oder her.

Auch die Auswahl an Snacks war… eigenwillig. Das rosafarbene Zeug, das auf einem Bild oben zu sehen ist, waren vermutlich dünn geschnittene und getrocknete Quallen, die in Bars oft als kleine Häppchen auf der Theke standen. Der Geschmack? Fischig-würzig, nicht schlecht, aber definitiv gewöhnungsbedürftig.

Die Bars in Japan sind oft winzig – manche kaum größer als ein Handtuch – und haben eine unverwechselbare Atmosphäre. Besonders beeindruckt hat uns die Auswahl an hochwertigen lokalen Whiskys, die an vielen Orten serviert wurde. Einzig der ständig dudelnde Jazz, der oft recht chaotisch klang, ging mir manchmal ein bisschen auf den Zwirn. Es war, als ob die Musik das Gegenteil der japanischen Perfektion widerspiegelte, die wir in anderen Bereichen des Lebens erlebten.

Eine weitere Entdeckung, die uns faszinierte, waren die Buchläden. Egal, welche Stadt wir besuchten – Tokio, Kyoto oder Kobe – Buchhandlungen waren allgegenwärtig, und noch beeindruckender war die schiere Größe der Manga-Abteilungen. Mangas sind in Japan ein Massenphänomen, das sich durch alle Altersgruppen und sozialen Schichten zieht. Manche Manga-Bände waren so dick wie Telefonbücher, und in der U-Bahn konnte man leicht einen Blick über die Schulter der anderen Passagiere werfen, die in ihre Geschichten vertieft waren.

Allerdings waren wir überrascht, wie brutal und explizit viele der Mangas sind – sowohl was Gewalt als auch Sexualität betrifft. Manche Inhalte hätten bei uns wahrscheinlich ganze Debatten ausgelöst, in Japan gehören sie jedoch zum Alltag.

Ein Highlight der Reise war eine mehrtägige Wanderung im Hinterland von Kyoto. Die üppige Natur, die uralten Wälder und die ruhige Atmosphäre entlang der Wege boten einen faszinierenden Kontrast zu den pulsierenden Städten. Übernachtet haben wir in traditionellen Ryokans, den japanischen Herbergen, die einen tiefen Einblick in die Kultur des Landes geben. Der Aufenthalt in einem Ryokan folgt einem festen Ritual: Nach der Ankunft nimmt man ein heißes Bad in einem Onsen, legt anschließend den bereitgelegten Yukata (eine Art leichter Kimono) an und genießt das Abendessen zusammen mit anderen Gästen. Dabei sitzt man auf den klassischen niedrigen Tatami-Matten, die zunächst ungewohnt, aber erstaunlich bequem sind. Die Mahlzeiten, ein Kunstwerk aus regionalen Spezialitäten, waren durchweg köstlich – bis auf das rohe Pferdefleisch, auf das wir rückblickend gerne verzichtet hätten. 😉

Was uns besonders überraschte, war die Tatsache, dass selbst in einer kosmopolitischen Stadt wie Tokio nur wenige Menschen Englisch sprechen. Außerhalb der Hauptstadt war es fast unmöglich, sich verbal zu verständigen. Und doch klappte alles erstaunlich gut, denn in Japan scheint alles darauf ausgelegt zu sein, intuitiv verstanden zu werden. Das U-Bahn-Netz in Tokio ist beispielsweise so gut durchdacht, dass man sich mit etwas Orientierungssinn selbst ohne Sprachkenntnisse zurechtfindet. Auch die Plastikmodelle der Gerichte vor den Restaurants waren ein wahrer Segen: Man wusste immer, was man bestellte – zumindest, wie es aussehen würde!

Ein unerwartetes kulturelles Hindernis stellten Tätowierungen dar. In Japan sind sie nach wie vor stark stigmatisiert, da sie traditionell mit der Yakuza (japanische Mafia) assoziiert werden. Viele Onsen verweigern daher den Zutritt, wenn man sichtbare Tätowierungen trägt. Auch wenn es nachvollziehbar ist, dass diese Regel tief in der Geschichte verwurzelt ist, fanden wir es dennoch etwas befremdlich, dass keinerlei Unterschiede zwischen harmlosen Touristen und Mitgliedern der Unterwelt gemacht werden. Aber gut – andere Länder, andere Sitten.

Eine Sache, die uns nachhaltig beeindruckt hat, war der unglaubliche Perfektionismus, der in so vielen Aspekten des japanischen Alltags sichtbar wird. Der Shinkansen, der Hochgeschwindigkeitszug, fährt buchstäblich auf die Sekunde genau ab und bringt einen in Windeseile von Tokio nach Kyoto. Dabei ist er nicht nur effizient, sondern auch durchdacht: Die Sitze lassen sich drehen, sodass man stets in Fahrtrichtung sitzt, und der Service an Bord ist makellos. Auch der Umgang mit Müll war bemerkenswert: Die Menschen nehmen ihren Abfall überall selbstverständlich mit nach Hause oder händigen ihn auf dem Bahnsteig dem warttenden Personal aus.

Japan fasziniert durch seine Gegensätze: die pulsierende Hektik in Tokio und die meditative Ruhe eines Ryokans; die futuristische Technologie des Shinkansen und die zeitlose Tradition der Teezeremonie. Es ist ein Land, das uns nicht nur zum Staunen brachte, sondern auch eine Lektion darin lehrte, wie harmonisch Gegensätze miteinander koexistieren können.

Japan besteht aus insgesamt 6.852 Inseln, von denen die vier größten – Honshu, Hokkaido, Kyushu und Shikoku – etwa 97% der Gesamtfläche ausmachen. Eine Besonderheit Japans ist seine Gebirgslandschaft: Rund 75% der Landesfläche sind von Bergen oder Wäldern bedeckt. Der höchste Gipfel, der ikonische Mount Fuji, ragt 3.776 Meter in die Höhe und wird von Einheimischen und Besuchern gleichermaßen verehrt.

Mit einer Bevölkerung von etwa 126 Millionen Menschen (Stand 2023) ist Japan das 11. bevölkerungsreichste Land der Welt. Die Bevölkerungsdichte liegt bei etwa 333 Einwohnern pro Quadratkilometer, was deutlich über der Dichte Deutschlands liegt, die bei etwa 232 Einwohnern pro Quadratkilometer liegt. Japan ist allerdings auch von einem demografischen Wandel geprägt: Die Bevölkerung schrumpft und altert rapide, was Herausforderungen für die Wirtschaft und das soziale Gefüge des Landes mit sich bringt.

Japan blickt auf eine über 2.000-jährige Geschichte zurück, die von Kaiserdynastien, Samurai-Traditionen und einer außergewöhnlichen Mischung aus Isolation und Offenheit geprägt ist. Im 19. Jahrhundert gelang Japan mit der Meiji-Restauration ein beispielloser Modernisierungssprung, der das Land zu einer der führenden Industrienationen der Welt machte.

Traditionen spielen trotz des technologischen Fortschritts eine zentrale Rolle. Rituale wie die Teezeremonie oder das Hanami (Betrachten der Kirschblüte) sind tief in der japanischen Kultur verwurzelt. Auch die japanische Religion, eine Mischung aus Shintoismus und Buddhismus, prägt den Alltag vieler Japaner.

Japan gehört zu den größten Volkswirtschaften der Welt und ist insbesondere für seine Technologie- und Automobilindustrie bekannt. Marken wie Toyota, Sony und Nintendo haben das Land zu einem Synonym für Innovation gemacht. Trotz dieser Modernität bewahrt Japan eine starke Verbindung zu seinen handwerklichen Traditionen, sei es in der Herstellung von Katana-Schwertern, Keramik oder Seide.

Trotz seiner dichten Besiedlung hat Japan atemberaubende Naturlandschaften zu bieten. Neben dem Mount Fuji sind die heißen Quellen (Onsen), die Wälder von Yakushima und die malerischen Dörfer in den japanischen Alpen besonders sehenswert. Japan ist auch ein Land der Extreme: Es liegt am sogenannten Pazifischen Feuerring und ist regelmäßig von Erdbeben, Vulkanausbrüchen und Tsunamis betroffen.

Japan ist ein Land der Gegensätze und Harmonie: Moderne Megastädte wie Tokio und Osaka stehen im Kontrast zu den stillen Schreinen und Tempeln, während die Hightech-Wirtschaft durch tiefe Traditionen ergänzt wird. Mit seiner reichen Kultur, faszinierenden Geschichte und beeindruckenden Natur ist Japan nicht nur ein beliebtes Reiseziel, sondern auch ein Land, das in vielerlei Hinsicht einzigartig ist.

Hier noch ein paar Fakten:

  • Fläche: Japan (377.975 km²) ist etwas größer als Deutschland (357.022 km²).
  • Bevölkerung: Japan hat etwa 125 Millionen Einwohner, während Deutschland rund 84 Millionen zählt.
  • Bevölkerungsdichte: Japan (334 Personen/km²) ist dichter besiedelt als Deutschland (233 Personen/km²).
  • Wirtschaft: Japan ist die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt (nach den USA und China), während Deutschland auf Platz 4 folgt.

Die japanische Literaturszene ist vielfältig und reich an Stimmen, die weltweit Anerkennung finden. Ich lese wahnsinnig gerne Literatur aus Japan und sie ist auch weit verbreitet in deutschen Buchläden. Ich würde sagen Literatur aus Japan erlebt einen wahnsinnigen Boom (neben Südkorea) und Autor*innen wie Haruki Murakami, Banana Yoshimoto, Yogo Ogawa, Syaka Murate, Fuminori Nakamura um nur ein paar zu nennen, sind auch aus der deutschen Literaturlandschaft nicht mehr wegzudenken. Literatur hat in Japan einen hohen Stellenwert; Buchhandlungen und Lesekultur sind tief in der Gesellschaft verankert, und Autoren genießen großes Ansehen, insbesondere für ihre Fähigkeit, die menschliche Erfahrung in poetischer Klarheit darzustellen.

Da ich ein Buch vorstellen wollte, das ich bisher noch nicht gelesen habe, entschied ich mich für Butter von Asako Yuzuki.

Butter – Asako Yuzki erschienen im Blumenbar Verlag, übersetzt von Ursula Gräfe

Ich habe Butter von Asako Yuzuki fast in einem Rutsch gelesen – was irgendwie passend ist, wenn man bedenkt, wie sehr Essen und Genuss im Mittelpunkt dieses Romans stehen. Die Geschichte kombiniert Elemente eines Krimis mit tiefgehender Sozialkritik und ich bewundere jeden, der es schafft diesen Roman zu lesen ohne permanent hungrig zu sei. Ich mußte sogar die Lektüre unterbrechen um mir Reis mit Butter zu kochen.

Die Handlung dreht sich um Rika Machida, eine ehrgeizige Journalistin, die sich an einem spektakulären Fall die Zähne ausbeißt: die mysteriöse Manako Kajii, die mehrere Männer umgebracht haben soll. Kajii ist eine faszinierende Figur – talentierte Köchin, Femme fatale und zugleich Ziel von unerbittlicher medialer Hetze wegen ihres Aussehens und ihrer Lebensweise.

Was mich besonders an Butter beeindruckt hat, ist, wie Yuzuki den Fokus auf die Themen Misogynie, Körperbild und gesellschaftliche Erwartungen richtet. Während Rika Kajii immer wieder im Gefängnis besucht, verschwimmen die Grenzen zwischen Recherche und persönlicher Obsession. Die Gespräche der beiden Frauen sind mal provokativ, mal tiefsinnig, und sie zeigen, wie Essgewohnheiten und Selbstwahrnehmung oft von Kindheitstraumata und gesellschaftlichen Zwängen geprägt sind.

Essen war ein zutiefst persönliches und egoistisches Verlangen. Gourmets waren im Prinzip Suchende. Sie waren Tag für Tag mit ihren Bedürfnissen beschäftigt und auf Entdeckungsreise. Je aufwändiger sie kochten, desto besser gelang es ihnen, die Außenwelt auszuschließen und eine innere Festung zu errichten. Mit Klingen und Flammen rückten sie den Zutaten zu Leibe, um sie nach ihrem Willen zu formen.

Die Parallelen zwischen Rika und Kajii fand ich dabei spannend, aber auch beklemmend. Während Rika immer tiefer in die Welt von Kajii eintaucht, wird sie selbst zur Zielscheibe ähnlicher Kritik: Ihr wachsender Appetit und die Gewichtszunahme werden von ihrem Umfeld kommentiert und abgewertet – ein Spiegel dessen, was Kajii erlebt hat. Das macht die Geschichte nicht nur persönlich, sondern auch universell, denn es geht um viel mehr als einen Mordfall: Es geht darum, wie Frauen in Japan (und weltweit) zwischen widersprüchlichen Erwartungen zerrieben werden. Ich konnte es gar nicht fassen, dass die Protagonistin mehrfach als unfassbar fett betitelt wird und dabei kaum 60kg auf die Waage bringt.

Asako Yuzuki, geboren 1981 in Tokio, ist eine recht bekannte japanische Autorin, die sich durch ihre scharfsinnigen gesellschaftlichen Analysen einen Namen gemacht hat. Bevor sie ihre Karriere als Schriftstellerin begann, arbeitete sie selbst als Journalistin, was man in Butter spürt: Die Recherche, die Tiefe und die Präzision in ihrer Darstellung von Medien und Gesellschaft wirken authentisch und fundiert. Butter wurde in Japan zu einem Bestseller und zeigt, wie Yuzuki mit feministischen Themen auf leise, aber eindringliche Weise umgeht.

Mir hat der Roman gefallen, er hätte aber gut und gerne 1/3 kürzer sein können, er war stellenweise etwas repetitiv.

Mein Filmtipp für Japan dürfte wenig überraschend sein für alle, die mich ein bißchen kennen, denn ich habe diesen Film schon massig empfohlen und hochgelobt: „Perfect Days“ von Wim Wenders – einer meiner absoluten Lieblingsfilme 2024:

Perfect Days von Wim Wenders ist ein ruhiges, poetisches Porträt eines introvertierten Toilettenreinigers in Tokio, der durch die kleinen Momente des Alltags und seine Liebe zu Büchern und Musik die Schönheit des Lebens feiert.

Musikalisch kann es für mich nur eine Band aus Japan geben: MONO – eine ikonische Post-Rock-Band bekannt für ihre epischen, emotionalen Klanglandschaften. Seit ihrer Gründung im Jahr 1999 haben sie zahlreiche Alben veröffentlicht und ich hatte auch schon das Glück sie live zu erleben. Alben wie Hymn to the Immortal Wind (2009), eine Mischung aus orchestralen Arrangements und intensiven Gitarrenwänden, und You Are There (2006), ein Meisterwerk voller melancholischer Schönheit, gehören zu ihren wichtigsten Werken. Ihre Musik ist introspektiv, dramatisch und zeitlos – ein Erlebnis, das unter die Haut geht.

Habt ihr jetzt vielleicht Lust bekommen, euch noch mal auf die anderen Stationen der Weltreise zu begeben? Dann bitte hier entlang:

Großen Applaus für alle, die bis hier hin durchgehalten haben. Ich hoffe euch hat der Ausflug nach Japan Spaß gemacht – ich habe auf jeden Fall riesige Lust mal wieder hinzufahren. Eines meiner aufregensten Reiseerlebnisse bisher.

Möchtet ihr noch ein bißchen in Japan bleiben? Hier sind weitere japanische Bücher die ich hier rezensiert habe: Tatsuki Fujimoto – Goodbye Eri, Waka Hirako – My broken Mariko, Yasushi Inoue – Der Tod des Teemeisters, Natsu Miyashita – Der Klang der Wälder, Lucy Fricke – Takeshis Haut, Haruki Murakami – Mr. Aufziehvogel, Erste Person Singular, Von Beruf Schriftsteller, Sayaka Murata – Convenience Store Woman, Fuminori Nakamura – The Thief, Die Maske, Sosuke Natsukawa – The cat who saved books, Yoko Ogawa – The Memory Police, Marion Poschmann – Die Kieferninseln, Franka Potente – Zehn, Natsume Soseki – Der Bergmann, Rin Usami – Idol Burning, Edmund de Waal – Der Hase mit den Bernsteinaugen, Banana Yoshimoto – NP, Ein seltsamer Ort

Seid ihr schon mal nach Japan gereist? Wie hat es euch gefallen? Welche japanischen Autor*innen / Bands / Filme könnt ihr empfehlen? Ich freue mich sehr von euch zu hören.

Der nächste Stopp ist etwa 8000km entfernt – kommt ihr wieder mit?

Big in Japan

Zwei Jahre ist es mittlerweile her, dass wir in Japan waren und wahrscheinlich war es der kürzlich beendete neue Roman von Murakami, der wieder heftiges Japan-Fernweh auslöste, es musste also dringend etwas gegen die Sehnsucht unternommen werden. Einfach nur japanisch essen gehen war auf keinen Fall genug, ich plante daher eine intensive Japan-Literaturwoche, um mir ein bisschen von der Stimmung des Landes nach Hause zu holen.

Das Glück ist eine Festung

Fuminoris Roman beschäftigt sich mit einer ganzen Bandbreite dunkler Themen von Mord über Krieg, Terrorismus und Identitätsdiebstahl. Auch sein zweiter auf deutsch erschienener Roman ist das, was man einen Krimi-Noir nennen würde. Dunkel und urban schleicht er sich ganz langsam in die Nervengänge und wenn man etwa in der Mitte des Buches angelangt ist, kann man es partout nicht mehr aus der Hand legen.

Als Kind wird Fumihiro Kuki von seinem Vater erzählt, dass dieser ihn allein zu dem Zweck gezeugt hat, um ihn als Krebsgeschwür in die Welt zu entlassen. Die Welt hat es nicht besser verdient und sein Vater wünscht sich, dass Fumihiro soviel Zerstörung und Unheil anrichtet, wie er nur kann. Das möchte er der Welt als Erbschaft hinterlassen.

Fumihiro rebelliert gegen diesen Plan. Als sein Vater ein kleines Mädchen, Kaori, adoptiert,  verliebt sich Fuminori in sie. Von Anfang an ist klar, das sein Vater das Mädchen nicht aus reiner Gutherzigkeit adoptiert hat. Fuminori versucht alles, um Kaori vor seinem zutiefst bösartigen Vater zu beschützen…

Die Sprache ist wunderschön und erzeugt eine einzigartige Atmosphäre, die zwar düster, aber dennoch voller Schönheit ist. Man fiebert mit Fumihiro und fühlt mit ihm, dem einzigen, der in seiner kranken, verkorksten Familie versucht, das Richtige zu tun, was nicht einfach ist, wenn man in einer derartig verkorksten Umwelt aufwächst.

Krieg wird in der Geschichte sehr richtig als moderne Form des Bösen dargestellt, das als effiziente Maschine von Kapitalisten, Arbeitern und Soldaten am Laufen gehalten wird durch die unerschöpfliche Energie der ständig neu entstehende Kriegsherde. Krieg als Laboratorium der Unmenschlichkeit im ungezügelten Kapitalismus. Das ist das eigentliche Thema des Buches, das damit unweigerlich Bilder aus den beiden Weltkriegen, dem Vietnam Krieg, dem Krieg in Syrien etc., aufbeschwört.

„Merk dir, was hier passiert. Sie sagen, es sei ein ethnischer Konflikt. Aber sie lügen. Man hetzt die Menschen absichtlich gegeneinander auf, und mein Sohn hat eine Konzession für den Wiederaufbau nach dem Krieg.“

Fumihiros Bemühungen, Kaori zu schützen, bringt einiges in Bewegung und bietet und einen schonungslosen Blick in die verdrehten Köpfe von Kriegstreibern, Machthabern und Terroristen, denen völlig egal ist, womit sie Geld verdienen, hauptsache die Kohle stimmt.

Momentan scheinen die spannendsten und intelligentesten Krimis aus Japan zu kommen und Fuminori Nakamura ist ganz vorne dabei. Schon sein erster Roman „The Thief„, den ich mir während unseres Japan-Urlaubs kaufte, war richtig gut.

Ich danke dem Diogenes Verlag für das Rezensionsexemplar und freue mich schon auf seinen nächsten Roman. Eine weitere schöne Rezension könnt ihr hier bei letusreadsomebooks lesen.

 

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In der Serie „Lost“ gab es einen Protagonisten, der stets das einzige von ihm noch nicht gelesene Exemplar eines Charles Dickens Romans mit sich herumschleppt, weil er glaubte, solange er den noch nicht gelesen hat, kann ihm nix passieren. Vielleicht hatte ich unbewußt einen ähnlichen Beweggrund, warum ich den (vermeintlich wie sich herausstellte) letzten noch ungelesenen Murakami Band „Nach dem Beben“ noch immer jungfräulich im Regal stehen hatte. Bis ich irgendwann merkte, dass „Nach dem Beben“ und „Untergrundkrieg“ natürlich zwei gänzlich verschiedene Bände sind, die ich aus welchem Grund auch immer mental für eines gehalten hatte.

„Untergrundkrieg“ besitze ich derzeit noch nicht einmal, ich konnte also meine Japan-Woche erfreulicherweise um einen Murakami ergänzen, ohne wie Desmond aus Lost das letzte noch ungelesene Buch des Lieblingsautors zu opfern.

„Nach dem Beben“ sind Kurzgeschichten, die Murakami als Reaktion auf das verheerende Erdbeben in Kobe im Jahr 1995 schrieb. Er schuf sechs unglaubliche Geschichten, deren Hauptcharaktere zwar nicht selbst vom Erdbeben betroffen waren, deren Leben aber dennoch von Grund auf erschüttert und verändert werden. Ein Erdbeben, das nicht nur das Land sondern auch das Gewissen eines ganzen Landes erschütterte.

In typischer Murakami Manier ist es wieder nicht unbedingt der Plot der einzelnen Geschichten, der zentral oder sonderlich wichtig ist, sondern die Atmosphäre, die er wieder untrüglich zu schaffen weiß. In jeder einzelnen Geschichte schafft er eine eigene kleine Welt, seltsam, surreal und komplett faszinierend.

Meine liebste Geschichte war Thailand, auch wenn sie die am wenigsten surreale war. Eine kleine leise entspannende Perle von einer Story, ich wollte sofort und auf der Stelle in einem Freibad alleine früh morgens ein paar Runden drehen.

Mein liebstes Zitat stammt aus der Geschichte „Frosch rettet Tokio“:

„Manche behaupten zwar, Verständnis sei nichts als die Summe unserer Missverständnisse…“

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„Der Bergmann“ ist ein gewagter experimenteller Roman und der, wie ich las, anscheinend das am wenigsten bekannte Buch des großen „Meji„-Autoren Natsume Soseki, der es im Jahr 1908 schrieb. Es ist ein absurder Roman über die unbestimmbare Natur der menschlichen Persönlichkeit, eine Art Vorahnung auf Bücher von Autoren wie Woolf, Beckett oder Joyce.

Der Roman wird als Lieblingsbuch von Haruki Murakami angepriesen und bislang bin ich gerne jeglicher Musik oder Buchempfehlung von Murakami gefolgt und habe das nie bereut (abgesehen von ein paar Jazz-Stücken, mit denen ich nichts anfangen konnte). Dieser Roman war allerdings eine Herausforderung für mich, da er fast gänzlich ohne wirkliche Story fungiert und ausschließlich im Hirn des Protagonisten spielt.

Stream-of-conciousness ist immer schwierig und bei Jocye habe ich da auch immer riesige Schwierigkeiten, komischerweise so gar nicht bei Virigina Woolf. Muss mich irgendwann noch mal damit beschäftigen, woran das liegen könnte. Natsume Sosekis „Der Bergmann“ ist allerdings wieder einer, an dem ich mir ordentlich die Zähne ausgebissen habe.

Die ersten 50 Seiten gingen durchaus gut, wäre das ganze eine Kurzgeschichte die nach 50-60 Seiten endet, ich hätte glaube ich Lobeshymnen abgelassen, aber irgendwann merkte ich beim Lesen, dass ich mehr und mehr zum störrischen Maulesel wurde, der einfach nicht mehr weiter wollte. Kein gutes Zureden, kein „es ist doch Murakamis Lieblingsbuch“ wollten helfen, selbst meine Versuche, mich mit Majus aus dem Asialaden zu bestechen, waren erfolgreich, etwa in der Mitte des Buches ging es nicht mehr weiter und ich sitze sozusagen noch immer im Bergwerk fest.

„Ich bin in letzter Zeit zur festen Überzeugung gekommen, dass es etwas wie Charakter einfach nicht gibt. Oft prahlen Schriftsteller zwar damit, sie würden diesen oder jenen Charakter beschreiben und gestalten. Und dann die Leser, die so tun, als würden sie alles verstehen, indem sie von diesem und jenem da reden. Erstere scheinen sich einen Spaß daraus zu machen, Lügen zu fabrizieren, und letztere sich daran zu ergötzen, diese Lügen zu lesen. Also mal ehrlich, etwas in sich klar Definiertes wie ein Charakter existiert schlichtweg nicht. Das, was da wirklich ist, das kann kein Schriftsteller niederschreiben, und wenn doch, kann man sich drauf verlassen, dass daraus kein Roman wird. Der reale Mensch ist seltsam undefinierbar.“

Vielleicht war es nicht der richtige Zeitpunkt, ich werde es sicherlich noch einmal versuchen, ich glaube das Buch ist wie Matcha Tee, man muss sich da langsam rantasten, es immer mal wieder versuchen. Hat irgendeiner von euch bessere Erfahrungen gemacht und kann mir Tipps geben wie ich das „Bergwerk“ knacken kann?

Ich danke auf jeden Fall dem Dumont-Verlag für das Rezensionsexemplar.

Während meiner Japan-Woche habe ich im offenen Bücherschrank noch ein obskures Buch aus den 1970er Jahren gefunden. „Bei den Weisen Japans“ von Paul Arnold eine Reise ins mystische Japan und den dortigen Geheimlehren und -sekten. Ich habe bislang nur hineingeblättert, es wirkt etwas esoterisch, erinnert mich aber aus irgendeinem Grund an den „Commendatore“ von Haruki Murakami…


Ich hoffe ich konnte euch etwas Lust auf Japan machen – bei Interesse kann ich euch meinen Reisebericht empfehlen, dann könnt ihr zumindest schon mal virtuell verreisen, die richtige Reiselektüre hättet ihr auf jeden Fall schon mal 🙂

The Thief – Fuminori Nakamura

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„Was the young man’s fate really controlled entirely but the nobleman? Or was being controlled by the nobleman the young man’s fate?“

Während unseres Urlaubs in Japan hatte ich zeitweise Panik, nicht genug Bücher dabei zu haben und obwohl Japan ein absolutes Buch-Mekka ist, musste ich nach einem Laden, der auch englischsprache Bücher führt, ganz schön Ausschau halten. Als ich dann einen fand, war der gigantisch und ich hätte mich ohne Probleme tagelang darin verirren können.

Murakami und Yoshimoto hatte ich natürlich reichlich dabei, es musste also etwas anderes frisches japanisches her und da stolperte ich über Fuminori Nakamura, dessen Bücher mir in zahllosen japanischen Läden aufgefallen waren und den ich dort auch in englischer Ausgabe fand. Letztlich hatte ich doch genug zu lesen dabei, Nakamura flog also ungelesen mit mir zurück und da gleich nach meiner Rückkehr unsere jährliche Bücherwahl im Bookclub anstand, schlug ich Nakamura vor und er wurde auch prompt gewählt, allerdings musste ich jetzt fast ein Jahr warten, bis er endlich dran war.

Aber gleich vorneweg – das Warten hat sich gelohnt: Nakamura beschert uns mit dem Tokioer Taschendieb Nishimura einen Anti-Helden par excellence und beschäftigt sich darüberhinaus auf interessante Weise mit den Themen Schicksal und Manipulation.

In diesem Noir-Thriller hat die Unterwelt wenig von dem düsteren Glamour, der sonst häufig in der Anti-Helden Welt zu finden ist. Hier werden sowohl die Kriminellen als auch deren Opfer vom Schicksal ordentlich in die Mangel genommen. Nakamura zeichnet ein emphatisches Porträt eines einsamen Mannes, dessen Lebenswille erzwungenermaßen im letzten Moment wieder rausgekitzelt wird.

Der Dieb ist ein Künstler seines Faches und dabei ein heimlicher Robin Hood. Er stiehlt nur von den Reichen, ohne Gewalt anwenden zu müssen und schickt die gestohlenen Brieftaschen per Post zurück, nachdem er das Geld heraus genommen hat. Für den besonderen Kitzel nimmt er manchmal auch nur einen Teil des Geldes raus und steckt die Brieftasche zurück, ohne dass das Opfer merkt bestohlen worden zu sein.

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Nishimura hat seine Prinzipien und eines davon ist seine Unabhängigkeit. So wenige persönliche Bindungen wie möglich. Seine verheiratete Liebhaberin hat ihn gerade verlassen, als er auf eine junge Mutter mit ihrem Sohn trifft. Er überrascht die beiden beim Ladendiebstahl und hilft ihnen, den Detektiv loszuwerden. Der kleine Sohn ist einigermassen talentiert und zöglichlich nimmt er den Jungen unter seine Fittiche. Wenn er ihn nicht dazu bringen kann aufzuhören mit dem Stehlen, dann will er ihn zumindest vernünftig ausbilden.

„If you can’t stop the light from shining in your eyes, it’s best to head back down in the opposite direction“

Als Nishimura mit den Yakuza, der japanischen Mafia, in Kontakt kommt (meine Interpretation, die Organisation wird nicht explizit genannt) gerät er in eine Spirale der Gewalt und der Düsterkeit.

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Man erfährt meist nur Bruchstücke und der unzuverlässige Erzähler der Geschichte bleibt durch die Geschichte hindurch distanziert. Die Sprache ist kühl und einfach, die Geschichte düster, streckenweise liest es sich wie ein Filmscript und ich hoffe auch sehr auf eine Verfilmung.

Eine verstörender Einblick in eine einsame, sich teilweise selbstverleugnende Persönlichkeit. Das Buch wollte mich gar nicht mehr loslassen. Dies wird nicht mein letzter Nakumara bleiben. Ich freue mich, dass bereits 4-5 weitere Bücher von ihm übersetzt wurden.

Im deutschen ist das Buch unter dem Titel „Der Dieb“ im Diogenes Verlag erschienen.