Was wir scheinen – Hildegard Keller

Man könnte wohl sagen, dass die lebendige Menschlichkeit eines Menschen in dem Maße abnimmt, in dem er auf das Denken verzichtet.
Hannah Arendt

Hildegard E Keller verwebt Leben und Werk dieser bahnbrechenden Philosophin des 20. Jahrhunderts zu einem eleganten, spannenden Roman voller historischer und philosophischer Einsichten.

Schon in Hannah Arendts Kritik an Augustinus sowie in ihrem biographischen Essay über Rahel Varnhagen spürt man Arendts Interesse am Menschen, am Erzählen von Leben und dem Wunsch, die Dinge ungeschönt zu betrachten. Auch ihre Perspektive auf Judentum, Antisemitismus und die „Banalität des Bösen“ zeugt von ihrer Begeisterung für die Beobachtung sozialer Phänomene und politischer Ereignisse im Kontext ihres persönlichen Lebens.

Kellers ausgiebige Recherche basierend auf der Korrespondenz mit ihrem langjährigen Geliebten Martin Heidegger, ihrem Ehemann Heinrich Blücher, ihren Freunden Mary McCarthy, Karl Jaspers, Walter Benjamin, oder mit Schriftsteller-Kolleginnen wie Ingeborg Bachmann, ihren Tagebüchern sowie ihren philosophischen bzw. politischen Schriften zeichnen Hannah Arendts prägende Jahre nach und beleuchten besonders intensiv ihr letztes Lebensjahr, das noch immer geprägt ist von der folgenschweren Publikation ihres Berichtes über den Eichmann-Prozess. Eine Kontroverse gegen sie und ihr Buch, die sie selbst öffentlich »Kampagne« und in privaten Briefen »Mobilisierung des Mobs« nannte. Aus dem grellen Licht einer Öffentlichkeit, die sie teils mit Hass, teils mit Euphorie überschüttete, ohne sich in der von ihr erhofften sachlichen Weise mit ihrem Buch auseinanderzusetzen, kam sie bis zu ihrem Tod nicht mehr heraus.

Kellers Roman ist eine behutsame Studie über die Entwicklung der Gedanken einer deutschen jüdischen Frau im Laufe eines Lebens. Bevor sie zu einer Kommentatorin des Totalitarismus des 20. Jahrhunderts wurde, war Arendt eine Frau, die sozusagen über Jaspers und St. Augustinus zu Heidegger kam. Am zentralsten im Roman ist für mich ihr unglaubliches Interesse am Leben, an ihren Mitmenschen, ganz gleich wen sie vor sich hat.

„Sie trat auf den Vorplatz der Casa Barbatè, ging über die Gleise, dann die paar Schritte zum Kirchturm. Hoch oben, im offenen Dachstuhl, sirrten die Schwalben und drehten ihre Runden um das Glockenrad. So was Schönes, dachte sie, davon kann ich nie genug bekommen. Das ist ja das Einzige, was wir fürchten, wenn wir uns vor dem Ende bangen. Nicht den Tod, sondern diese Welt zu verlieren.“

Der Leser trifft auf Hannah Arendt im Sommer 1975, als sie gerade mit dem Zug in das Schweizer Dorf Tegna unterwegs ist, um dort Urlaub zu machen. In den insgesamt 27 Kapiteln reisen wir ihr Zeit und Welt und begleiten sie auf ihren wichtigsten Stationen zwischen Mai 1941 und August 1975. Man lernt Arendt von einer ganz anderen Seite kennen, eine Kämpferin gegen den Totalitarismus, die ihr Leben lang für ihre Überzeugungen kämpfte, alles immer ganz verstehen wollte und sich dann für nichts und niemanden daran hindern, ließ ihre Überzeugung so auf Papier zu bringen.

Hannah Arendt hat sich stets als politische Theoretikerin und weniger als Philosophin gesehen. Das hat meines Erachtens weniger mit übergroßer Bescheidenheit zu tun, als mit der Überzeugung, dass Arendt die Philosophie als der Politik abgewandt erlebt hat und sie sich nur ein Leben vorstellen konnte, in dem der Mensch geradezu gezwungen ist sich mit der Politik zu beschäftigen und Einfluß zu nehmen. Ein berührender, intensiver Roman den ich sehr gerne gelesen habe.

„Arme Wirklichkeit, die abhängig ist von Menschen, die an sie glauben und sie bezeugen.
Das hatte sie in ihrem Rahel-Buch geschrieben. Seither war die Wirklichkeit noch viel ärmer geworden. Unwillkommene Fakten und Argumente wurden immer vehementer geleugnet. Nur wusste sie seit der Kampagne gegen sie und ihr Eichmann-Buch auch, mit welcher Wucht alles zurückkehren konnte.“

Ich danke dem Eichborn-Verlag für das Rezensionsexemplar sowie für den schönen Zoom-Abend mit der Autorin, der zurecht große Lust auf den Roman machte. Ich hoffe Frau Keller ist bald wieder in Schreibstimmung, ich könnte mir noch so manche in Romanform erscheinende Biografie von ihr vorstellen.

Wer jetzt noch mehr Lust auf Hannah Arendt hat, der findet hier einen Beitrag zum Buch aus der Reihe „The Last Interview“ und hier einen Beitrag zu ihrem Essay „Die Freiheit, frei zu sein„. Immer wieder ans Herz legen möchte ich allen die es noch nicht kennen, oder als Einladung es nochmal anzusehen, ihr berühmtes Interview mit Günter Gaus aus dem Jahr 1964:

Meine Woche

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Gesehen: „Jaws“ (1975) von Steven Spielberg, mit Roy Schneider und Richard Dreyfuss. Sehr spannend und großartig – die Klamotten! Keine Ahnung warum ich den bisher nie gesehen hatte.

The Amazing Spiderman“ (2012) von Marc Webb mit Andrew Garfield und Emma Stone. Ich liebe Spidy – mir hat er gefallen insbesondere wenn er der Tante Eier auf dem Heimweg von der Superhero-Arbeit mitbringt.

„Beyond Stranger Things“ (2017) Interviews mit den Darstellern in Episoden mit verschiedenem Fokus. Für Fans unverzichtbar.

Gehört: „Sweet Dreams“ und „Running back to the edge of the world“- Marilyn Manson, „Wanna Sip“ – Fever Ray, „Nuraghe“ – The Cosmic Dead, „Infinity Studies“ – Tim Six, „Symphony for a Breach“ – Sea Trials, „You stand in a valley between dunes“ – April Larson, „My Blissing“ – Björk

Gelesen: diesen Artikel im New Yorker „The Tech Industry’s Gender Discrimination Problem“, diesen im Guardian „How Techies became the new Bankers“, Umberto Ecos Artikel über ungelesene Bücher, 20 erfolgreiche Frauen die man kennen sollte und kann Technologie zum Staatsfundament werden?

Getan: es war Workshop Week. Bootcamp und ein Führungskräfte Training an der TU München durchgeführt, Marilyn Manson gehört (aber kaum was gesehen), eine Reise nach Budapest gebucht und einen lustigen Abend mit Michelle verbracht

Geplant: Freunde treffen und zum Perfume Genius und Diary of Dreams Konzert gehen

Gegessen: Tarte mit karamellisierten Zwiebeln, roter Beete und Ziegenkäse

Getrunken: Rotwein

Gelacht: Did you know that 2-3 glasses of wine per day reduce your risk of giving a shit

Geärgert: ich hasse das Zenith aus tiefster Seele – man sieht nie von irgendwo etwas und die Akkustik ist Mist. Ich werde eine Petition zum Abriss starten 😉

Gefreut: wir sind auch die Stühle noch losgeworden und das die Workshops so gut gelaufen sind und soviel Spaß gemacht haben

Geklickt: auf diesen TED Talk „Architecture that repairs itself“ von Rachel Armstrong und auf diesen von Elizabeth Lesser: „Take „the Other“ to lunch, auf dieses Video zu Biomimicri und auf dieses Interview mit Elif Shafak

Gekauft: nix

Gewünscht: diese Star Wars Eiswürfel-Formen, dieses Regal, dieses Haus

Gefunden: „Herzzeit – Der Briefwechsel von Ingeborg Bachmann und Paul Celan“ im offenen Bücherschrank

Gestaunt: über die Tianjin Binhai Bibliothek

Ingeborg Bachmanns Wien – Joseph McVeigh

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Ein Buch, das sich speziell mit Ingeborg Bachmanns Zeit in Wien beschäftigt, setzt vermutlich eigentlich voraus, das man sich mit der Person I.B. auskennt und sich diesen Jahren ausgiebiger widmen möchte. Das war bei mir nicht der Fall. Ich kenne bislang nur die Gedichte von ihr und einige Fragmente ihres Lebens waren mir geläufig, eine Kennerin bin ich bei Weitem nicht und dennoch hat mir dieses Buch sehr gefallen. Es ist definitiv kein Werk für reine Hardcore-Fans, sondern eines, das durchaus neugierig macht diese große Persönlichkeit der Nachkriegsliteratur näher kennenzulernen.

Ingeborg Bachmann macht sich 1946 aus Kärnten auf den Weg nach Wien, um ihren Weg in die Literatur zu finden. Sie studiert Philosophie, Germanistik und Psychologie, veröffentlicht erste Gedichte und lernt kurze Zeit später den Kritiker Hans Weigel kennen, der sie in den Kreis österreichischer Nachwuchsschriftsteller aufnimmt. Männer, die Bachmann fördern und fordern, werden oft zu ihren Geliebten. Nach einer kurzen Beziehung mit Weigel trifft sie 1948 Paul Celan in Wien, mit dem sie eine lange, komplizierte Liebe verband, aber auch Ilse Aichinger, mit der sie sich anfreundet.

Neben dem Studium arbeitet sie unter anderem auch als Model, versucht aber vor allem mit dem Schreiben Geld zu verdienen. Sie schreibt für Zeitungen, Filmkritiken, macht Übersetzungen, für das Radio und entwirft erste Roman-Manuskripte.

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Foto: visitklagenfurt

1952 wird sie durch Hans Werner Richter zum Mitglied der Gruppe 47, deren Preis sie ein Jahr später gewinnt. Die Hinwendung zur Gruppe ist ihr Schritt heraus aus dem konservativen Österreich und auch eine Befreiung von ihrem früheren Mentor Weigel. Noch im gleichen Jahr wandert sie auf Einladung ihres Freundes Hans Werner Hernze nach Italien aus. Diese frühen Wiener Jahre sind für ihre Entwicklung als Schriftstellerin entscheidend, es wird sie eine lebenslange Hass-Liebe mit Wien verbinden.

Im angloamerikanischen Raum ist Ingeborg Bachmann zwar weniger bekannt, doch wenn von ihr die Rede war, dann stets bewundernd und als eine der wichtigsten Vertreterinnen, die sich kritisch mit der Nazi-Vergangenheit auseinandergesetzt hatte, klar Position bezog und in der Kunst eine der wenigen Möglichkeiten sah, wie man die durch Kriege und Hass verursachten seelischen Leiden lindern kann.

„Selten verpasst Bachmann Frankls öffentliche Vorträge. Sein dritter Weg der Psychoanalyse, die Logotherapie und Existenzanalyse, die den Sinn des Lebens in nichtbiologischen Faktoren sucht, hatte zum Ziel „die Krankheit des Jahrhunderts, nämlich das Sinnlosigkeitsgefühl“ zu heilen. Frankls Theorie stellt die Verantwortung des Individuums in den Mittelpunkt existenzieller Sinngebung. Aus dem Entschluss des Menschen, für sein eigenes Handeln verantwortlich zu sein, ergebe sich dieser Sinn. Das Sein des Menschen sei – hier entlehnt Frankl einen Begriff aus der Existenzphilosophie Karl Jaspers – ein „entscheidendes Sein“.

Sie setzt sich intensiv mit der Schuldfrage auseinander, nicht zuletzt auch durch ihre persönliche Erfahrung einen Vater zu lieben, der als Nazi klar zu den Schuldigen gehörte.  Auch wenn ihre Resignation gelegentlich in ihren Texten spürbar ist, ist sie eine von der ich den Eindruck habe, sie würde nie aufgeben. Die anschreibt gegen die Sinnlosigkeit und aus tiefstem Herzen davon überzeugt ist, dass nur die Kunst ihre Generation retten und ihr die verloren gegangene Stimme zurückgeben kann.

McVeighs macht mit seiner Biografie große Lust, mehr von Ingeborg Bachmann zu lesen, sie weiter zu entdecken. Mir haben es insbesondere ihre Gedichte angetan, die unglaublich einfach und eloquent sind und voll dunkler Schönheit:

„Wo Deutschlands Himmel die Erde schwärzt,
sucht sein enthaupteter Engel ein Grab für den Haß
und reicht mir die Schüssel des Herzens.

Eine Handvoll Schmerz verliert sich über den Hügel.“

(aus „Früher Mittag“)

Ich danke dem Insel-Verlag für das Rezensionsexemplar.