Literatur-Blog für alle, die keine Angst vor heftigen Mischungen haben. Paul Auster, Margaret Atwood, Haruki Murakami treffen auf Simone de Beauvoir, Batman und Orphan Black. Dosenbier auf Oper und St. Pauli auf Crispr, Philosophie, Science und Sci-Fi.
Gesehen: Bevor ich es vergesse in den Kammerspielen München nach dem Roman von Anne Pauly von und mit Wiebke Puls. Das war Schauspiel der Extraklasse. Ganz kleine Längen in der Mitte, insgesamt absolut sehenswert.
Am anderen Ende der Brücke (2002) von Hu Mei mit Nina Proll und Wang Zhiwen. Der Film basiert auf der wahren Lebensgeschichte einer Österreicherin. Gerne gesehen.
Gelacht: über die Werbung der Möbelaufzug Firma Böcker Agilo und We Are Not Fascists, and If You Call Us Fascists, We Will Arrest You
Geschockt: nein
Gewünscht: diese Tassen und dass sie bitte bitte endlich aufhören zu bohren im Haus
Geplant: wieder laufen und boxen gehen
Gefunden: Bücher
Gekauft: nix
Gedacht: The longer I live, the more deeply I learn that love — whether we call it friendship or family or romance — is the work of mirroring and magnifying each other’s light. //James Baldwin
Ein richtig guter Lesemonat liegt hinter mir – mit einem Mix aus großartigen Highlights, solider Mittelklasse und ein paar kleinen Enttäuschungen. Besonders begeistert haben mich tiefgründige Klassiker, intensive literarische Stimmen und ein besonderer Ausflug nach Nigeria im Rahmen meiner Read around the World-Challenge. Thomas Mann war mit mehreren Facetten vertreten – von Briefen bis Urlaub, und auch sonst war literarisch einiges dabei.
Geht so – Beatriz Serrano erschienen im Eichborn Verlag, übersetzt von Christiane Quandt
Beatriz Serranos „Geht so“ ist ein Roman für alle, die sich schon mal gefragt haben, ob sie selbst das Problem sind – oder ob die Welt einfach kollektiv den Verstand verloren hat. Mit viel Witz, einem herrlich trockenen Ton und einer gut dosierten Portion Selbstironie begleitet man eine Protagonistin, die irgendwo zwischen Selbsthilfe-Ratgebern, emotionaler Erschöpfung und dieser merkwürdigen Mischung aus Überforderung und Unterforderung festhängt.
Ich habe das Buch sehr gerne gelesen – vor allem, weil es genau das Lebensgefühl trifft, das viele (nicht nur Millennials!) gerade umtreibt: Die diffuse Suche nach Sinn, das müde Lächeln beim Gedanken an „Berufung“, und der stille Wunsch, einfach mal für fünf Minuten in Ruhe gelassen zu werden. Serrano schafft es, diese Stimmung nicht nur sprachlich leicht und unterhaltsam einzufangen, sondern dabei auch durchaus kluge Fragen zu stellen: Was passiert, wenn Selbstoptimierung und Arbeit zur Ersatzreligion wird? Wo liegt die Grenze zwischen Selbstfürsorge und Eskapismus?
Was ich besonders mochte, war, wie sehr man der Autorin anmerkt, dass sie ihre Figur liebevoll, aber nie unkritisch begleitet. Die Ich-Erzählerin schwankt, taumelt, reflektiert – aber sie bleibt dabei immer menschlich, nahbar und manchmal schmerzhaft ehrlich.
Ein kleiner Wermutstropfen war für mich die fehlende Tiefe im Blick auf die Arbeitswelt, wie wir sie heute erleben: Da wäre durchaus noch mehr Potenzial gewesen, die ganz konkrete Absurdität moderner Erwerbsarbeit stärker herauszuarbeiten – etwa die Logik hinter unsinnigen KPIs, die allumfassende „Shitification“ durch immer rasanter um sich greifenden Effizienzwahnsinn oder auch die emotionale Erpressung durch Sätze wie „Wir sind hier alle ein Team“. All das klingt zwar unterschwellig an, bleibt aber eher atmosphärischer Hintergrund als tatsächlich greifbares Thema. Die Perspektive bleibt individuell, psychologisch, eher im Innen als im Außen – was vollkommen legitim ist, aber vielleicht nicht das letzte Wort zum großen Thema der „inneren Kündigung“ bleibt.
Mir ist durchaus bewusst, dass es sich auch hier um ein weiteres subtiles Werkzeug aus der Trickkiste des Patriarchats handelt: Divide et impera, sorge dafür, dass sich die Frauen untereinander über ihre jeweiligen Lebensentscheidungen und deren Konsequenzen in die Haare kriegen. Sorge dafür, dass alle denken, die frischgebackene Mutter hätte Schuld daran, dass du länger im Büro bleiben musst. Statt deine berechtigte Wut gegen das Unternehmen zu richten und gegeen seine unanständig schlechte Politik in Sachen Vereinbarkeit von Familie und Beruf…
Trotzdem: Geht so ist ein kluges, sehr unterhaltsames Buch über das Lebensgefühl einer Zeit, in der alles möglich scheint – und genau das oft lähmt. Es bietet keine Lösungen, aber viele Aha-Momente. Und manchmal reicht das auch.
Kerstin Holzer gelingt mit Thomas Mann macht Ferien ein leises, kluges und überraschend humorvolles Porträt des Literaturnobelpreisträgers – und zeigt ihn in einem Moment, der sein Denken und Schreiben für immer verändern sollte. Ein Buch, das Nähe schafft, wo sonst Ehrfurcht herrscht. Es gibt Literaturerlebnisse, die weit über das bloße Lesen hinausgehen – Kerstin Holzers Roman Thomas Mann macht Ferien ist für mich genau so ein Fall. Nicht nur, weil mich das Buch als literarisches Porträt überzeugt hat, sondern auch, weil ich das große Glück hatte, die Autorin persönlich bei einer Lesung im Literaturhaus München zu erleben. Der Abend war unvergesslich: Inmitten alter Schulfreundinnen und Freunde von Kerstin Holzer, bei einem Glas Wein, entstand eine besondere Atmosphäre – offen, lebendig, herzlich. Es war, als wäre man Teil einer erweiterten Schreibwerkstatt, in der nicht nur über Literatur, sondern auch über die Menschen hinter den Texten gesprochen wird.
Thomas Mann macht Ferien erzählt von einem entscheidenden Sommer im Leben des Schriftstellers – dem Jahr 1918, als Thomas Mann mit seiner Familie die Sommerfrische am Tegernsee verbringt. Es ist eine Zeit politischer und persönlicher Krisen: Der Erste Weltkrieg steht kurz vor dem Ende, die Veröffentlichung seiner Betrachtungen eines Unpolitischen – ein Bekenntnis zur Monarchie und eine klare Absage an die Demokratie – lässt sich nicht mehr aufhalten. Mann weiß, dass er sich mit seiner Haltung auf die Seite der Verlierer gestellt hat. Nicht nur im öffentlichen Diskurs, auch innerhalb seiner eigenen Familie wird es zunehmend ungemütlich: Der Bruch mit seinem Bruder Heinrich ist tief, seine liberale Schwiegermutter kann mit dem „Schwieger-Tommy“ kaum mehr etwas anfangen. Und als wäre all das nicht genug, trübt auch noch ein abgebrochener und schmerzender Schneidezahn die Sommeridylle.
Dennoch markiert dieser Sommer am Tegernsee eine entscheidende Wende im Denken Thomas Manns – eine Zeit der inneren Bewegung, in der er, langsam aber unaufhaltsam, beginnt, seine politische Haltung zu hinterfragen und sich seiner Fehleinschätzungen bewusst zu werden.
Vier Jahre später wird er sich schließlich öffentlich zur liberalen Demokratie bekennen. Doch trotz aller inneren und äußeren Spannungen: Dieser Thomas Mann ist nicht der distanzierte, weltabgewandte Literaturfürst, wie er in vielen – meist männlich dominierten – Sekundärtexten beschrieben wird. Holzer zeigt ihn als nahbaren, oft sogar humorvollen Familienvater, der zum ersten Mal in seinem Leben einen Berg besteigt, der seine Kinder zum Lachen bringt und der inmitten aller politischen Verwerfungen an seiner Novelle Herr und Hund arbeitet – einer liebevollen, fast heiteren Hommage an seinen Hund Bauschan. Die Szene, in der Mann eifersüchtig auf seinen Hund reagiert, weil dieser einen anderen Mann anschaut, ist herrlich skurril – ich habe Tränen gelacht.
Besonders reizvoll war für mich die Lektüre des Romans in Kombination mit Thomas Manns Briefen. Diese setzen bereits 1894 ein – ganz im Gegensatz zu den Tagebüchern, die erst nach dem Sommer am Tegernsee einsetzen (frühere Aufzeichnungen wurden durch einen Brand vernichtet). Die Briefe erlauben einen tiefen Einblick in Manns Unsicherheiten und seine persönliche Entwicklung. Die Parallellektüre ermöglichte es mir, die Ferien am Tegernsee nicht nur durch Holzers Perspektive, sondern auch durch Manns eigene Worte zu erleben. Ein literarisches Doppelspiel, das ich jeder und jedem nur empfehlen kann.
Wer sich bisher noch nicht an Thomas Mann herangewagt hat – vielleicht aus Respekt, vielleicht aus Furcht vor Sprachgewalt und Seitenfülle – dem sei gesagt: Man muss nicht mit Der Zauberberg oder Joseph und seine Brüder beginnen. Herr und Hund oder auch der Felix Krull bieten großartige, zugängliche Einstiege in das Werk des Nobelpreisträgers – mit viel Witz, Beobachtungsgabe und feiner Ironie.
Und Kerstin Holzers Roman? Ist die perfekte Ergänzung. Eine Einladung, Thomas Mann neu kennenzulernen – nicht nur als Denker und Dichter, sondern als Ehemann, Vater, Sommerfrischler.
Passend zur Lektüre führte mich der Zufall – oder das Schicksal der Literaturverliebten – kurz nach der Lesung selbst an den Tegernsee. Die Wanderung hinauf zum Hirschberg, vorbei an den Orten, die Thomas Mann einst selbst durchstreifte, war der ideale Abschluss dieser literarischen Reise. Mein Tipp: Nehmt das Buch mit an den See, wandert hinauf zur Hütte, übernachtet dort – und erlebt den Sonnenaufgang am Gipfel. Wer weiß, vielleicht begegnet euch dort sogar der Schatten eines großen Schriftstellers. Oder ein besonders treuer Hund.
Ich freue mich nun sehr auf Kerstin Holzers weitere Werke über Monika und Elisabeth Mann und danke dem Kiepenheuer & Witsch Verlag für das Rezensionsexemplar.
Auf der diesjährigen Leipziger Buchmesse hatte ich das Vergnügen, Jürgen Schütz vom Septime Verlag mal wieder zu treffen – einem österreichischen Verlag, der einen ganz besonderen Platz in meinem Herzen hat. Im Gespräch machte er mich auf „Das Seil“ aufmerksam, diese dunkle kleine Novelle von Anna Herzig, und überreichte sie mir dankenswerterweise als Rezensionsexemplar. Ich ahnte da schon: Das wird keine leichte, aber vermutlich eine lohnende Lektüre.
Das Seil erzählt die Geschichte von Franziska Großhirsch, einer erfolglosen Schriftstellerin, die mit einem Text, den sie gar nicht selbst verfasst hat, einen renommierten Literaturpreis gewinnt. Doch das Preisgeld ruft diverse Neider auf den Plan – allen voran Tante Hilde, bei der sie gemeinsam mit ihrem Cousin Martin eine alles andere als geborgene Kindheit verbracht hat –, sondern auch ihren Ex-Freund und ihre Literaturagentin. Franziska bleibt nichts anderes übrig, als sich bis zur Preisverleihung in ihrer Wohnung zu verschanzen. Das Handy liegt ausgeschaltet im Tiefkühlfach, Fenster und Türen sind abgeklebt. Aber gegen die Geister ihrer Vergangenheit hilft keine Isolation – sie drängen sich in die Gegenwart und stellen die alles entscheidende Frage: Von wem stammt eigentlich „Das Seil“?
„Zum Glück kann Franziska bei Dingen, die notwendig sind, ein ungewöhnlich starkes Durchhaltevermögen an den Tag legen. Beispielsweise beim Überleben… Franziska findet kein Wattestäbchen, das lang genug ist, um ihr die Erinnerungen, die tief verdrängt in ihrem Kopf wuchern, herauszuziehen.“
Anna Herzig schafft eine surreale, beklemmende Atmosphäre, in der Erinnerungen sich wie Nebelschwaden durch die Zimmer winden. Ihre Sprache ist knapp, poetisch, präzise – ein Sog, dem man sich kaum entziehen kann.
Herzig, geboren 1987 in Wien als Tochter eines Ägypters und einer Kanadiererin, versteht es meisterhaft, ihre Figuren zwischen Realismus und Groteske oszillieren zu lassen. Franziska ist eine widerborstige, fragile Heldin, die sich gegen alles sträubt – vor allem gegen sich selbst.
Das Seil ist eine Novelle, die sich langsam entfaltet, dabei aber nie den festen Griff um die Leserin verliert. Surreal, traurig, sarkastisch, klug – und ja, auch wunderschön verstörend.
Literatur wie ich sie mag, ich hoffe noch auf viele weitere Werke von Anna Herzig und muss mich jetzt mal auf die Suche nach ihrem Debüt „Sommernachtsreigen“ machen.
Die Mansarde – Marlen Haushofer erschienen im S. Fischer Verlag
Dieses Buch hat mich nicht überrollt – es hat mich leise eingenommen, Schicht für Schicht, wie es auch die Erzählerin mit sich selbst tut. Haushofer schafft es, mit einer unscheinbaren, fast unmerklich eindringlichen Sprache, mich dorthin zu führen, wo Literatur für mich am lebendigsten ist: in die stillen Räume des Alltags, in die Zwischenräume von Erinnerung und Gegenwart, in jene Schattenbereiche, in denen sich Identität nicht festschreiben lässt, sondern nur tastend erschlossen werden kann.
Die Erzählerin, eine namenlose Frau mittleren Alters, zieht sich in die Mansarde ihres Hauses zurück, um Vögel zu zeichnen (wie ich!) und über alte Tagebücher nachzudenken, die ihr anonym zugeschickt wurden – vielleicht von sich selbst. Es ist ein Akt der Selbsterforschung, der mich zutiefst bewegt hat. Wie eine Archäologin ihrer eigenen Existenz gräbt sie sich durch die Sedimente ihrer Vergangenheit: die Ehe mit dem distanzierten Hubert, das Schweigen zwischen ihr und ihrer Tochter Ilse, die Abwesenheit des Sohnes Ferdinand, und nicht zuletzt die seltsame Zeit ihrer „Taubheit“, eines körperlichen wie seelischen Rückzugs.
„Ohne diese von ihm geschaffene Freundlichkeit erscheint ihm vielleicht das Leben unterträglich. Er schmiert den Alltag mit Öl, damit sein Kreischen und Kratzen ihn nicht verletzten kann.“
Was mich besonders fasziniert hat, ist die fast unheimliche Ruhe, mit der all das erzählt wird. Es gibt keinen dramatischen Ton, keine großen Ausbrüche. Und doch ist alles von innerer Dringlichkeit durchzogen.
Im Vergleich zu Die Wand ist dieses Buch vielleicht weniger bekannt, aber für mich nicht weniger bedeutend. Wo Die Wand eine radikale äußere Isolation beschreibt, ist Die Mansarde eine stille, innere Emigration. Beide Bücher kreisen um weibliche Selbstbehauptung im Spannungsfeld von Anpassung und Rückzug, aber auf ganz unterschiedliche Weise. Und beide zeugen von Haushofers unglaublichem Gespür für Zwischentöne, für das Unsagbare, das sich nur über Umwege mitteilen lässt.
Dass Haushofer in der deutschsprachigen Literatur immer noch ein Schattendasein fristet, erscheint mir zunehmend unverständlich. Sie ist keine „kleine“ Autorin, wie sie oft bezeichnet wird – sie ist eine präzise Beobachterin, eine stille Revolutionärin des Erzählens, die mit jedem Satz eine tiefe Wahrheit über das Menschsein berührt.
Die Mansarde ist ein Meisterwerk – leise, aber voller Echo.
Kairos ist für mich ohne Zweifel eines der literarischen Highlights dieses Jahres – vielleicht sogar darüber hinaus. Jenny Erpenbecks Sprache hat mich einmal mehr vollkommen in den Bann gezogen: klar, unbarmherzig, poetisch – und dabei immer präzise, immer auf den Punkt. Aber es war nicht nur die Sprache, die mich so tief bewegt hat. Es war auch – und vielleicht vor allem – meine eigene Biografie, die mir dieses Buch so nahegebracht hat.
Ich habe als Kind viele Ferien in der DDR verbracht. Meine Verwandten lebten dort, und obwohl ich nicht dort aufgewachsen bin, hatte ich früh einen sehr direkten Bezug zur Lebensrealität in diesem Land. Die DDR war absolut kein Paradies – das war mir selbst als Kind irgendwie bewusst –, aber es gab dort Dinge, die ich sehr geliebt habe: den Zusammenhalt unter den Menschen, das Gefühl von Gemeinschaft, die Bedeutung, die Literatur und Kunst dort hatten. Man saß einfach zusammen auf der Straße, hat geredet, sich gegenseitig zugehört. Man hat geteilt was man hatte und was man hat ergattern können. Vor allem: Kultur war nicht elitär – sie war da, für alle, mitten im Leben.
In Kairos habe ich mich wiedergefunden. Katharina, die Protagonistin, ist nur ein paar Jahre älter als ich, und ihr inneres Ringen, ihre Desorientierung im Übergang von der DDR in die westliche Welt, ihre Suche nach einem Halt – all das hat mich tief berührt. Ich habe selbst das Ende der DDR bewusst miterlebt, und ich erinnere mich gut an dieses Gefühl, dass da eine große, vielleicht einmalige Chance ungenutzt geblieben ist. Es hätte ein wirklich neues Deutschland entstehen können – eines, das das Beste aus beiden Systemen vereint. Aber es wurde stattdessen einfach übergestülpt, ausgelöscht, verdrängt. Die Straßen umbenannt, die Denkmäler eingerissen, ganze Identitäten entwertet. Wer erinnert sich noch an den Verfassungsentwurf für die DDR den Intellektuelle 1989/90 entwarfen? Da hätte man gemeinsam drauf aufbauen können.
Die Entwurzelung, die Erpenbeck so eindringlich beschreibt, kenne ich – wenn auch aus der Beobachterrolle – nur zu gut.
„Was vertraut war, ist im Verschwinden begriffen. Das gute, wie das üble Vertraute. Und auch das Mangelhafte, das Katharina lieb ist, vielleicht, weil es der Wahrheit am nächsten kommt. Stattdessen wird die Perfektion bald ihren Einzug halten – und auslöschen oder sich einverleiben, was ihr nicht standhalten kann: von den selbstgenähten Klamotten bis zu den maroden Häusern des Prenzlauer Bergs, vom lückenhaften Straßenpflaster bis zu den Worten für Dinge, die dann keiner mehr braucht. Die glatten, makellosen Oberflächen werden die Gedanken an alles, was vergänglich ist, ins Vergessen schieben. Das Brot wird anders schmecken, in den Straßen werden fremde Menschen an fremden Geschäften vorübergehen, in fremden Autos vorfahren, mit fremdem Geld in der Tasche. Die Stadtviertel, in denen Katharina bisher zu Haus war, werden nie wieder so ruhig und so leer sein, wie sie sie ihr ganzes Leben gekannt hat.“
Die Beziehung zwischen Hans und Katharina hat mich in ihrer Komplexität und Dunkelheit gleichermaßen fasziniert wie verstört. Was als große Liebe beginnt, entpuppt sich als Machtspiel, als Beziehung voller Kontrolle, Abhängigkeit, Schmerz. Dass das Private und das Politische bei Erpenbeck untrennbar verwoben sind, ist kein Zufall. Hans‘ Grausamkeit, seine Ideologie, seine Unnachgiebigkeit spiegeln das System wider, das im Zerfall begriffen ist. Und Katharinas Versuch, sich zu lösen, sich zu befreien, ist mehr als nur eine persönliche Emanzipation – es ist auch die einer ganzen Generation.
Ich habe Kairos nicht gelesen, ich habe es durchlebt. Es hat alte Fragen in mir aufgeworfen und neue Gedanken angestoßen. Es hat mich wütend gemacht und traurig. Aber vor allem hat es mir gezeigt, wie Literatur Brücken schlagen kann – zwischen Epochen, zwischen Systemen, zwischen Menschen. Und genau deshalb ist dieses Buch für mich so besonders.
In all deinen Farben – Bolu Babalola erschienen im Eisele Verlag übersetzt von Ursula C Sturm
Diese Liebesgeschichten und Nacherzählungen nigerianischer und europäischer Sagen habe ich im Rahmen meiner literarischen Weltreise zum Stopp in Nigeria gelesen. Erhalten habe ich das Buch auf der Leipziger Buchmesse von der Verlegerin des wunderbaren Eisele Verlages, der ganz in meiner Nachbarschaft sitzt.
Meinen Eindruck zum Buch sowie ganz viel über Nigeria selbst könnt ihr hier lesen.
Der Liebhaber meines Mannes / My Policeman – Bethan Roberts erschienen im Kunstmann Verlag übersetzt von Astrid Gravert
Ich habe Der Liebhaber meines Mannes mit drei Sternen bewertet – nicht, weil es ein schlechtes Buch wäre, im Gegenteil: Es liest sich angenehm, teilweise sogar sehr schön. Aber irgendetwas hat mich emotional nicht ganz erreicht, obwohl die Geschichte tragisch, berührend und gut konstruiert ist.
Bethan Roberts erzählt hier eine Dreiecksgeschichte, die sich lose an E. M. Forsters Leben und seiner Beziehung zu dem verheirateten Polizisten Bob Buckingham orientiert. Diese historische Vorlage fand ich besonders spannend – gerade weil sie zeigt, wie Liebe, Schuld und gesellschaftliche Zwänge sich über Jahrzehnte in ein Leben einschreiben können.
Im Zentrum stehen Marion, Tom und Patrick. Marion, ein einfaches Mädchen mit großen Gefühlen, verliebt sich in den gut aussehenden Tom – der wiederum von Patrick, einem kultivierten, schwulen Museumsleiter, begehrt wird. Was sich zunächst wie ein klassisches Liebesdrama entwickelt, wird nach und nach zu einem beklemmenden Kammerspiel über Sehnsucht, Selbstverleugnung und das tragische Scheitern an den eigenen Bedürfnissen.
Roberts schreibt sinnlich und atmosphärisch stark. Die 50er Jahre sind lebendig, es riecht nach Lavendel, Bohnerwachs, nach Pfefferminz und Schweiß. Man merkt, dass sie sich in die Zeit hineingefühlt hat. Und es gibt viele starke Momente – kleine Gesten, Blicke, Schweigen, das mehr sagt als jedes Gespräch. Besonders Marions Perspektive hat mich berührt – sie schildert ihr Leben, ihre Liebe, ihre Täuschung in einer Art Beichte, viele Jahre später. Dabei wirkt ihre Stimme glaubhaft, manchmal bitter, manchmal zerbrechlich. Dass Patrick ebenfalls zu Wort kommt – durch Tagebucheinträge – erweitert die Geschichte. Die beiden Perspektiven stehen fast nebeneinander, ohne sich ganz zu verbinden.
„For a policeman, you’re very romantic.’ ‘For an artist, you’re very afraid,’ he said.”
Was mich zwischendurch etwas gestört hat: Tom bleibt erstaunlich blass. Als Leser*in versteht man kaum, was ihn wirklich bewegt. Er wird zum Projektionsobjekt für Marion und Patrick, bleibt aber selbst schwer fassbar. Vielleicht ist genau das gewollt – aber es hat mir den Zugang erschwert. In der Verfilmung war Tom etwas besser für mich zu greifen.
Was bleibt, ist das Bild einer verlorenen Generation, gefangen in gesellschaftlichen Konventionen, in der Liebe nicht frei gelebt werden durfte. Es ist bedrückend, wie viel zerstört wurde – und wie wenig Trost letztlich bleibt. Kein Happy End, kein kathartischer Moment. Eher ein leiser Rückblick auf verpasste Chancen.
Mädchen, Frau, Etc – Bernardine Evaristo erschienen im Klett-Cotta Verlag übersetzt von Tanja Handels
Ich habe Mädchen, Frau etc. als Hörspiel in der ARD Audiothek gehört – und kann das wirklich jederm nur wärmstens empfehlen. Schon nach wenigen Minuten war ich komplett eingetaucht in dieses außergewöhnliche Mosaik aus Stimmen, Geschichten und Leben. Die verschiedenen Sprecher*innen verleihen den Figuren so viel Tiefe und Lebendigkeit, dass ich beim Hören das Gefühl hatte, nicht nur dabei zu sein, sondern mittendrin. Es war, als hätte ich ein paar Tage mit diesen Frauen in London gelebt, gelacht, gestritten – und vor allem mitgelitten.
Evaristo erzählt die Geschichten von zwölf sehr unterschiedlichen Menschen, vor allem Schwarzen Frauen, aber auch queeren und nicht-binären Figuren, die auf den ersten Blick kaum etwas gemeinsam haben – und sich doch immer wieder kreuzen, berühren oder beeinflussen. Jede Figur bekommt ihren eigenen Raum, ihre eigene Stimme. Was sie verbindet, ist der Versuch, in einer oft rassistischen und patriarchalen Gesellschaft ihren Platz zu finden – mit all den Konflikten, Widersprüchen und Fragen, die das mit sich bringt.
„be a person with knowledge not just opinions“
Besonders beeindruckt hat mich, wie vielschichtig und menschlich diese Figuren gezeichnet sind. Sie sind weder Heldinnen noch Opfer, sondern alles dazwischen – widersprüchlich, manchmal unbequem, aber immer echt. Themen wie Identität, Feminismus, Herkunft, Zugehörigkeit oder politische Korrektheit werden hier nicht plakativ abgehandelt, sondern als Teil ganz alltäglicher Lebensrealitäten erzählt.
Auch formal ist das Buch ungewöhnlich: Evaristo verzichtet auf klassische Interpunktion und schafft so einen ganz eigenen Rhythmus – in der Hörspielfassung wird das durch die Sprechweise wunderbar transportiert. Es klingt fast poetisch, manchmal wie ein Gedicht, das sich entfaltet.
Am Ende bleibt kein abgeschlossenes Fazit, sondern ein Gefühl von Vielfalt, Verbundenheit und der Ahnung, dass es nicht die eine Geschichte Schwarzer Frauen gibt, sondern viele – und jede verdient es, erzählt zu werden. Mädchen, Frau etc. ist ein vielstimmiger, kluger, berührender Roman über das Leben, das Kämpfen und das Lieben. I love it!
Lebenslieder – Dana Schwarz-Hadereck erschienen im Adakia Verlag
Lebenslieder von Dana Schwarz-Hadereck, erschienen im Adakia Verlag, ist ein sehr persönlicher Gedichtband, in dem die Autorin eigene Texte mit feinsinnigen Illustrationen begleitet. Auch wenn mich die Gedichte inhaltlich und sprachlich nicht ganz erreicht haben, spürt man doch das Herzblut und die Authentizität, mit der dieses Buch entstanden ist. Eine liebevoll gestaltete Veröffentlichung, die sicherlich ihre Leser*innen finden wird.
Ich danke dem Adakia Verlag für das Rezensionsexemplar.
Respekt, wenn ihr bis hierhin durchgehalten habt. War schon eine Menge diesen Monat, das ist der eine positive Nebeneffekt vom „Nicht schlafen/durchschlafen“ – man bekommt eine Menge Literatur gelesen und gehört.
Draußen war nicht immer so viel Sommer, wie ich es mir gewünscht hätte, aber ich habe mir den Sommer auf jeden Fall mit einer ganzen Reihe Bücher herbeigelesen. Der August war ein guter Lesemonat mit interessanten Entdeckungen, erneuten Begegnungen und ohne Ausfälle.
Ich starte gleich mal mit einer meiner größten überraschenden Entdeckungen. Ein Buch, das mir garantiert durch die Lappen gegangen wäre, hätte mich die wunderbare Susanne vom Diogenes Verlag nicht zu einer Autorinnen-Lesung/Zoom-Runde eingeladen. Leseexemplar bestellt, aufgrund vom Klappentext erst mal gar nicht so viel erwartet und dann war ich aber – peng – komplett umgehauen, von diesem überraschenden, ungewöhnlichen, bild- und sprachgewaltigen Werk:
Ohne Fürsorge und Liebe wächst der 11-jährige Martin am Rande eines Dorfes auf. Er hat nur seinen schwarzen Hahn und wird gemieden von den Dörflern, die das Tier für den Teufel halten. Doch nutzen sie den Jungen aus, wann immer sich die Möglichkeit bietet. Martin jedoch verfügt über ein reines Herz und einen wachen Verstand, der ihn Verbrechen erkennen lässt. Als er mit ansehen muss, wie ein schwarzer Reiter, der der Legende nach jedes Jahr Kinder entführt, ein Mädchen raubt, steht für ihn fest, dass er die verschwundenen Kinder finden und dem Spuk ein Ende setzen muss. Mit dem Maler verlässt Martin sein Dorf und bricht auf zu einer Odyssee, auf der er nicht nur menschlichen Abgründen nachspürt, sondern auch seinen Fähigkeiten.
Ein Roman über die Hoffnung in einer dunklen Welt, über Mut und den Sieg der Rationalität über Aberglauben und Hass. Großartige Sprache – unvergessliche Bilder, dieses Buch wird, glaube ich, durch die Decke gehen und ich würde mich für die sympatische Autorin von Herzen freuen.
Witziger Zufall war die Verknüpfung, die in meinem Hirn passierte zwischen dem Maler in diesem Buch, der irgendwann im Mittelalter in einer Kirche ein Wandgemälde anfertigt und dem Roman „Ein Monat auf dem Land“, in dem ein junger Restaurateur in den 1920er Jahren ein Wandgemälde aus dem Mittelalter in einer Kirche freilegt. Was für ein witziger Zufall…
„Alles an ihm wirkt ruhig und bedacht. Und das macht ihn den Leuten im Dorf unbequem. Sie haben es nicht gern, dass einer zu lebendig ist oder zu ruhig.“
Ich danke dem Diogenes Verlag für das Rezensionsexemplar.
Ein wunderschöner Roman über eine besondere Freundschaft, die Ruhe auf dem Lande und den Einfluss der Vergangenheit. Die junge Sally ist von zu Hause weggelaufen und trifft auf Liss, die einen eigenen Bauernhof betreibt. Liss nimmt Sally bei sich auf und zwischen den beiden Frauen entwickelt sich eine Beziehung, die sie nicht erwartet hatten.
Vor allem die Beschreibungen der Landschaft und des Geschehens auf dem Hof schaffen eine gewisse Ruhe beim Lesen. Die Langsamkeit, mit der Liss und Sally mit ihren Händen Birnen und Trauben pflücken, Kartoffeln ausgraben und all die anderen Arbeiten verrichten, spiegelt sich auch im Schreibstil des Romans wider. In aller Ruhe. Der ruhige Bauernhof, das friedliche Dorf mit seinen Kirchenglocken, das Tal, in dem der Nebel verweilt… Die Atmosphäre der Umgebung ist wunderschön wiedergegeben.
Ein Buch, das garantiert blutdrucksenkende Wirkung hat und man es kaum abwarten kann zum Markt zu kommen, um verschiedene Birnensorten zu kaufen, die man während des Lesens verzehrt. Das perfekte Spätsommerbuch und ein Autor, von dem ich sehr gerne noch mehr lesen möchte.
Vielleicht würde Sonnenlicht so schmecken, wenn es durch das Laub alter Bäume direkt auf die Zunge fiele.
Tom Birkin wird beauftragt, ein mittelalterliches Wandgemälde in einer Kirche freizulegen und zu restaurieren, das vor über vierhundert Jahren verdeckt wurde. Als er die Kalk- und Schmutzschichten fachmännisch abblättert, findet er an den Wänden unerwartete Motive von berauschender Qualität. Auch was er über die Menschen, insbesondere über sich selbst, erfährt, ist unerwartet: Der Prozess der Restaurierung ist für ihn der Beginn einer Transformation und wunderbar erholsam.
Und Erholung hat er bitter nötig. Der 1. Weltkrieg hat ihn an Leib und Seele zerstört, er kehrt entfremdet in sein altes ziviles Leben zurück. Während seine Gefühle in der heutigen Zeit auf eine posttraumatische Belastungsstörung zurückgeführt werden können, hatte Birkin 1920 kein Ventil für seine Gefühle. Seine Frau Vinny hatte ihn wegen eines anderen Mannes verlassen, desillusioniert vom Leben als ungewollter Single in London nimmt Birkin den Restaurantions-Job in einem kleinen Dörfchen namens Oxgodby an.
J.L. Carr schafft es auf elegante Weise, eine große Bandbreite und Tiefe auf nur 102 Seiten zu vereinen: Geheimnisse, Liebe, Tragödie, Humor, soziologische Analysen, verlorene Chancen, Freundschaft, Kunst und allgemeine Schönheit. Es ist eine nuancierte Mischung, die geschickt ein paar dunkle Untertöne in eine ländliche Idylle einwebt.
Ja, es wird ein einziger Monat beschrieben, mit wenig Plot und es passiert auch nicht viel, aber Birkin verlässt Oxgodby verwandelt, verändert und auch verbessert und ich hatte das Gefühl tatsächlich auch. Ein Buch, das einen ein kleines bisschen besser macht.
Ein wunderbarer leiser Roman, der ganz große Lust auf Sommerabende in der englischen Countryside macht.
Das mag ein bisschen nach Larifari klingen, aber genau darum geht es: Wenn man sehen oder sich ausmalen kann, was für ein Kommen und Gehen an einem Ort vom ersten Tageslicht bis zur Abenddämmerung geherrscht hat, wie die Menschen vor den Bildern niederkauerten und andächtig nickend Brüste und Köpfe mit Fingern berührten, die gerade noch mit schmutzigen Kochtöpfen hantiert hatten, wie sie mit ihren ungewaschenen Gesichtern zu dem einzigen Gemälde hinaufstarrten, das sie ihr Leben lang zu Gesicht bekommen würden – nun, dann legt man sich noch ein bisschen mehr ins Zeug, dann macht man sich nicht nur mit alkoholischer Salzsäurelösung, sondern auch mit Gefühl ans Werk.
Als Iris zur Beerdigung ihrer Großmutter nach Hause zurückkehrt, stellt sie erstaunt fest, dass diese ihr das Haus vererbt hat, obwohl ihre Mutter und ihre beiden Schwestern noch leben. Während sie in dem Haus wohnt und versucht zu entscheiden, ob sie es behalten will, wird sie von den Erinnerungen an die Sommer, die sie dort verbracht hat, überrollt.
Eine Geschichte über das Erinnern und das Vergessen, denn vor ihrem Tod litt ihre Großmutter an Alzheimer. Ein trauriger und ergreifender Blick auf eine Frau, die sich jeden Tag ein bisschen mehr verliert.
Schillernd und magisch sind die Erinnerungen an die Sommerferien bei der Großmutter, geheimnisvoll die Geschichten der Tanten. Katharina Hagena erzählt von den Frauen einer Familie, mischt die Schicksale dreier Generationen.
Ein genussvoller kluger Roman der nach Sommer duftet und Lust auf Äpfel, Johannisbeeren und Marmeladekochen macht und mich sehr an lange warme Sommertage mit meiner Oma erinnert hat.
Wer wie ich ohne Vater aufwächst, muß erst durch Beobachtung lernen, was das eigentlich ist, so ein Vater. Als Kind studierte ich neugierig, aber mit sicherem Abstand die Väter in den Familien meiner Freundinnen. Insgeheim fand ich sie interessant, aber auch ein wenig unheimlich.
Da, wo bei anderen der Vater einfach angewachsen ist, stehe ich stets aufs Neue vor einem fremden Geräteteil, von dem man nicht weiß, wo es in meinem Apparat hingehört. Es fällt bei jeder Erschütterung von mir ab. Im Grunde brauche ich es nicht.
Mely Kiyak schreibt darüber was Frausein bedeutet, sie erzählt von den Gesprächen über Weisheit und Nichtwissen, die sie als Mädchen mit dem Vater führte. Von den Cousinen, die vom Begehren erzählten. Vom Aufwachsen zwischen Ländern und Klassen, zwischen „Herkunftsgepäck“ und Neugier auf unbekannte Erfahrungen. Vom Alleinsein, von Selbsterkundung, von Familie. Was ist Weiblichkeit, wenn man den öffentlichen Blick überwindet und zurückbleibt mit sich selbst? Aufrichtig, lebenslustig, zärtlich und entwaffnend klug erinnert Mely Kiyak daran, dass es die Verhältnisse sind, die einem beibringen, wie man liebt und lebt.
Wieviel man in einem so schmalen Buch anstreichen kann, was für eine poetische Sprache – ein Buch das klüger macht, dem ich wunderbare Gedanken verdanke und das einen gleichzeitig beglückt und tieftraurig zurück läßt. Eines meiner Lese-Highlights 2021.
Das Erlesen der Welt stürzte mich regelmäßig in gedankliche Krisen. Das eigene Erleben hingegen hatte kaum Auswirkung auf meine psychische Stabilität.
Das Lesen der Bücher aus der Stadtbibliothek war ein Vergnügen. Das Lesen der Seminarliteratur ist eine Qual. Ich hätte jemanden gebraucht, der mich betreut und mir die Sätze erklärt, die ich las. Ich war mit Sufismus aufgewachsen, mit altorientalischer Dichtung, mit politischen Theorien, mit einer Kultur, verwoben mit Elementen, die nicht einmal als Schatten in den Fächern vorkamen, die ich studierte. Plötzlich war ich umgeben von Studenten, die immer alles bereits kennen. Sie sind gebildete Kinder gebildeter Eltern.
Ich weiß, jede Silbe in diesem Satz ist wahr: Wer eine Schule eröffnet, schließt ein Gefängnis.
Ein Haus an einem märkischen See ist das Zentrum, fünfzehn Lebensläufe, Geschichten, Schicksale von den Zwanzigerjahren bis heute ranken sich darum. Das Haus und seine Bewohner erleben die Weimarer Republik, das Dritte Reich, den Krieg und dessen Ende, die DDR, die Wende und die Zeit der Nachwende. Jedem einzelnen Schicksal gibt Jenny Erpenbeck eine eigene literarische Form, jedes entfaltet auf ganz eigene Weise seine Dramatik, seine Tragik, sein Glück. Alle zusammen bilden eine Art kollektives literarisches Gedächtnis des letzten Jahrhunderts, geformt in einer Literatur, die nicht nur großartige Sätze und Bilder zu bieten hat, sondern die auch Wunden reißt, verstört, beglückt, verunsichert und versöhnt.
Ein Roman, den ich gemeinsam mit Miss Booleana auf Goodreads gelesen habe, was mir wieder großen Spaß gemacht hat. Der Roman selbst konnte mich allerdings nicht so in seinen Bann ziehen, wie ich es aufgrund des Themas eigentlich erwartet hätte und auch im Vergleich zu Erpenbecks „Gehen, Ging, Gegangen“, das mich förmlich umgehauen hatte.
Ich wurde nicht warm mit dem Buch. Es springt durch die Zeiten, ich wußte oft nicht wo ich mich gerade befinde, wer gerade spricht und die einzelnen Hausbewohner blieben mir leider fast alle recht fremd und distanziert.
Wo der neue Mensch anfangen soll, kann er nur aus dem alten wachsen.“
Jana hat ihren Vater nie kennengelernt. Alles, was sie über ihn weiß, ist, dass er als Kapitän auf der MS Mozart arbeitet, einem eher wenig glamourösen Kreuzfahrtschiff auf der Donau. Also bucht sie sich kurzerhand eine Woche dort ein. Ob sie sich ihm zu erkennen geben wird, weiß sie noch nicht. Mit knapp hundert Gästen im Seniorenalter und der trinkfesten Bordbesatzung beginnt die Fahrt von Passau nach Wien. Mit großer Sensibilität erzählt Ilona Hartmann die Geschichte einer jungen Frau auf der Suche nach den eigenen Wurzeln. Ein Roman voller Situationskomik und ungewöhnlicher Begegnungen, aber auch der Beginn einer zärtlichen, emotionalen Annäherung zwischen Vater und Tochter, die gerade erst lernen, was es heißt, einander Familie zu sein.
„Emanzipation war im Dorf eine Freizeitbeschäftigung. Eine, der man sich als Frau nur zuwandte, wenn man im klassischen Modell versagt oder sich bewusst dagegen verweigert hatte, also selber Schuld war. “
Noch eine große positive Überraschung. Der Autor war mir völlig unbekannt, wieder ein Roman, der seltsam zeitlos wie „Der Junge mit dem schwarzen Hahn“ irgendwo in einer unbestimmten Zeit im Mittelalter spielt und von Anfang an an einen Folk-Horror Film erinnert.
Ein abgelegenes, von Wäldern umschlossenes Dorf. Einige Bauern führen hier ein einsames und zufriedenes Dasein, das von Ereignissen kaum berührt wird. Eines Tages geschieht etwas vermeintlich Belangloses: Einer der Bauern findet auf einer Wiese am Dorfrand ein Seil. Er geht ihm nach, ein Stück in den Wald hinein, kann jedoch sein Ende nicht finden. Neugier verbreitet sich im Dorf, ein Dutzend Männer beschließt, in den Wald aufzubrechen, um das Rätsel des Seils zu lösen. Ihre Wanderung verwandelt sich in ein ebenso gefährliches wie bizarres Abenteuer: Das Ende des Seils kommt auch nach Stunden nicht in Sicht – und die Existenz des ganzen Dorfes steht auf dem Spiel.
Konnte es gar nicht aus der Hand legen, spannend, atmosphärisch, düster und wunderbar.
Wenn das Glück zu groß wird, wird es zu einem Leid.
Ein verhafteter französischer Rechtsanwalt im besetzten Paris des II. Weltkriegs versucht der willkürlichen Hinrichtung zu entgehen. Jean-Pierre Chavel kann sich während der Besatzungszeit durch die Deutschen sein Leben von einem Mithäftling, der sich für ihn hinrichten läßt, erkaufen. Dafür überschreibt er der Familie des todkranken Mithäftling Geld und Besitz. Nach Kriegsende kehrt Chavel auf sein Gut zurück und verdingt sich unter falschem Namen bei den neuen Besitzern. Er verliebt sich in die Schwester des für ihn Hingerichteten, die ihm von ihrem Hass auf Chavel berichtet. Als ein gesuchter Kollaborateur auftaucht und sich als Chavel ausgibt, führt das zur Katastrophe.
“An artist paints his picture not in a few hours but in all the years of experience before he takes up the brush, and it is the same with failure.”
„The Tenth Man“ war unsere August Lektüre im Book Club und es war wieder eine spannende und durchaus kontroverse Diskussion. Wir wissen jetzt, welche unserer Bookclub Kolleginnen uns eher geopfert hätten in einem ähnlichen Szenario, wer sich hingegen für die anderen aufgeopfert hätte 😉
Man merkt diesem schmalen Roman an, dass er ursprünglich als Film-Script für MGM gedacht war und dort aus welchen Gründen auch immer in einer Schublade vor sich hinmoderte, bis er in den 1980er Jahren zufällig entdeckt und endlich veröffentlicht wurde. Mir hat er gut gefallen, ein klassischer Graham Greene – allerdings kommt er nicht an meine Lieblingsbücher von ihm „The End of the Affair“ und „Stamboul Train“ heran.
Das Buch wurde 1988 mit Anthony Hopkins und Kristen Scott Thomas verfilmt und ist derzeit in ganzer Länge auf YouTube zu finden. Mir hat er gut gefallen:
OK – jetzt ihr: Welches der Bücher kennt ihr bereits, teilt ihr meine Begeisterung, konnte ich euch auf irgendwas besonders Lust machen? Lasst doch mal hören:
Hier noch mal die Bücher im Überblick:
Junge mit dem schwarzen Hahn – Stefanie vor Schulte erschienen im Diogenes Verlag
Alte Sorten – Ewald Arenz erschienen im Dumont Verlag
Ein Monat auf dem Land – J. L. Carr erschienen im Dumont Verlag
Der Geschmack von Apfelkernen – Katharina Hagena erschienen im Kiepenheuer & Witsch Verlag
Frau sein – Mely Kiyak erschienen im Hanser Verlag
Heimsuchung – Jenny Erpenbeck erschienen im Penguin Verlag
Land in Sicht – Ilona Hartmann erschienen im Blumbenbar Verlag
Das Seil – Stefan aus dem Siepen erschienen bei DTV
The Tenth Man – Graham Greene erschienen im Penguin Verlag
Jenny Erpenbeck’s powerful novel „Gehen, Ging, Gegangen / Go, Went, Gone“ is one of the most moving and clearsighted books I read this year. Richard a former classics professor in the east part of Berlin is getting used to his new routine as a pensioner. He has a big house with an even bigger garden near a lake where a man drowned in the summer who is still lost in the water and he rather disturbingly remains lost for the entire book.
The lost swimmer who died by accident to never return to the surface is probably a metapher for the many refugees lost in the sea on their way to Europe and of the uncertainty of the ones that made it to Europe who are now drowning in a sea of paper with the crazy german bureaucracy.
It’s never entirely clear to Richard or his readers what exactly made him actually go to Oranienplatz where 10 African refugees carry out a protest and a hunger strike to make the public aware of their terrible situation. He hears about the protest on the news and realises that he was there on Alexanderplatz the same day and just didn’t see the men.
That’s how invisible refugees are in our day-to-day life. When the protest ends Richard is sad and attents a town-hall meeting in a previous school in Kreuzberg where the fate of the refugees is being discussed. Like Homer’s Odysseus who called himself „Nobody“ he refuses to say his name when his turn comes and leaves the meeting. But something draws him back to these men and he goes and finds them in their new accomodation.
He interviews and befriends different men from Nigera, Ghana, Burkino Faso, Lybia and other places and learns about their extraordinary often brutal stories of their young lives. Most of the men are traumatised, they are bored with nothing to do all day and terrified of not belonging anywhere. They feel redundant, nobody seems to need and want them.
Richard listens to their stories, writes them down even though he is not quite sure to what end. It becomes very clear to him that even a highly cultivated academic like him knows very little about Africa. He has no idea where Burkino Faso is or if Niger is at the ocean but he works hard to learn as much as possible about African history, geography, immigration law, the different causes that make people voluntary or involuntary leave their homeland etc.
„Most of the men, from various African countries, were violently expelled from the refuge they had sought in Libya, when conflict began there too“
Richard (and also his old friends) become a lot more empathic and he experiences immense intellectual and social growth by listening to the narratives of his new friends and his studies. He goes back to his beloved classics and experiences them quite different than before. He has known the classics all his life but thanks to his new knowledge is all comes together in a new divergent way.
I also really enjoyed how the author demonstrates with Richard being from the former east of Germany that you don’t need to go into excile to become estranged from a place you used to know.
The book was written in 2015 but we still life with this moral catastrophy of dozens of refugess drowing in the sea each week on their way to Europe. Jenny Erpenbeck has not necessarily all the answers but she certainly asks the right questions. An important well written book and I was glad to see that Jenny Erpenbeck landed on quite a few „best translated novel“ with this book and the previous one „Heimsuchung/Visitation“
„Going, went, gone“ was translated into English by Susan Bernofsky and published by Granta books.
„Gehen, Ging, Gegangen“ erschien im Knaus Verlag.
Check out Moshin Hamid’s novel „Exit West“ for another take on becoming a refugee and leaving everything behind.