
Selten habe ich mich derart schwer getan eine Rezension zu schreiben, wie bei diesem Buch. Nicht weil es mir nicht gefallen hätte, sondern weil ich während und auch nach dem Lesen so geflasht war, mir fehlten die Worte.
Dieses Buch ist während des Lesens lebedig geworden. Ich werde gar nicht erst großartig versuchen, die verschiedenen Ebenen der Geschichten zusammen zu fassen, ich kann mir das nur schwer vorstellen, ohne zu spoilern, möglich wäre es sicher, aber mir gelingt das meist nicht.
Da ist einmal die mysteriös-düster-schräge Geschichte von S. und Sola auf dem seltsamen Schiff, mit der noch seltsameren Crew (puh die zugenähten Lippen fand ich schon krass), die Suche nach dem wahren Autor dieser Geschichte und in den Randbemerkungen die Geschichte von Jen und Eric. Ich kam mir beim Lesen als deren Komplize vor, hab mit ihnen Texte entschlüsselt, Zeitungsausschnitte durchforstet und hätte zu gerne die Möglichkeit gehabt, die beiden tatsächlich zu schütteln, damit sie sich doch endlich mal in Wirklichkeit treffen.
Diese drei Ebenen im Buch sind alle miteinander verwoben. Es sind jede Menge Foren und Webseiten, entstanden rund um das Buch, die sich unter anderem mit der besten Lese-Methode für das Buch beschäftigen.

Ich habe jetzt nicht erst die Geschichte „Ship of Theseus“ gelesen und dann die handschriftlichen Notizen, wie häufig empfohlen wurde. Ich habe erst ein Kapitel „Schiff“ gelesen, bin dann zurückgegangen und habe dann die dazugehörigen Randbemerkungen von Jen und Eric gelesen. Ich habe die jetzt auch nicht unbedingt in chronologischer Reihenfolge gelesen, wie einige Hardliner empfohlen haben (also erst Eric’s ursprüngliche Notizen, dann die „Unterhaltungen“ von Jen und Eric, dann deren spätere Notizen in einer anderen Farbe) das war mir doch eine Spur zu umständlich. Ich fand es war durchaus möglich, den Geschichten auf den unterschiedlichen Ebenen zu folgen, wenn man es Kapitel für Kapitel gelesen hat.
Mir geht so viel durch den Kopf zu diesem Buch, es war ein ganz besonderes Leseerlebnis, eigentlich nur mit Danielewskis „House of Leaves“ vergleichbar. Lost-Fans haben sicherlich auch deutlich gespürt, dass Abrams bei beidem seine Hände im Spiel hatte. Ich bin der totale „sucker“ für solche non-linearen, experimentellen, rätselhaften Mystery-Geschichten. Ich wünschte es würde mehr Bücher in dieser Richtung geben.
Tipps, anybody ? 🙂

Das Buch ist so liebevoll zusammengestellt, die verschiedenen Geschichten so kunstvoll miteinander verwoben und es war so spannend. Manchmal wußte man schon teilweise was kommen würde, was der Spannung aber überhaupt keinen Abbruch getan hat.
„The Ship of Theseus“ ist im Grunde ein philosophisches Experiment (siehe Theseus‘ Paradox) bei dem es darum geht, ob das Schiff eigentlich noch immer das gleiche Schiff ist, wenn das alte Holz des Schiffes Stück für Stück durch neues ersetzt wurde. Ist es das gleiche, das es vorher war, oder ein ganz anderes? Und wenn du aus dem alten Holz dann wieder ein Schiff baust, welches der beiden Schiffe ist dann das Original?
So wie das Schiff in S. sich ständig verändert, verändert sich auch unsere Identität und die Identität von S. – oder ist er ein anderer, da er sich an seine Vergangenheit nicht mehr erinnern kann?
Verändern wir uns nicht auch jeden Tag ein bisschen und werden wir dann zu einer anderen Person oder bleiben wir immer derselbe Mensch, nur mit anderen Gedanken versehen und stetigen Um- und Neu-„Dekorationen“ unseres Selbst? Ist mein „Ich“ heute noch das gleiche wie mit 18 oder bin ich eigentlich ein komplett anderer Mensch?
Da kann man wunderbar stundenlang drüber nachdenken, ohne zu einem wirklichen Ergebnis zu kommen, was für mich aber einwandfrei feststeht ist, dass dieses Buch eine wunderbare Liebeserklärung ist an das gedruckte Buch. Da können Audio- oder ebook-Versionen einfach nicht mithalten.
Allein das Buch zu öffnen, das Durchtrennen des „Siegels“ aus Papier mit dem Brieföffner, das Durchblättern und die vielen Postkarten, beschriebenen Servietten, Zeitungsausschnitte, Fotos etc. treibt den Blutdruck in ungeahnte Höhen. Gelegentlich schlich sich das Gefühl ein, ein Buch in den Händen zu halten, das man auf dem Flohmarkt oder in der Papiermülltonne gefunden hat. Dann ist es besser, sich nicht zu genau an Danielewskis „House of Leaves“ zu erinnern, denn sonst konnte es einem Nachts beim Lesen schon mal etwas mulmig werden.
Ein „Must-Have“ für alle Buchliebhaber. Für manche vielleicht mehr ein haptisches Lesevergnügen, Freunde von Akte X, Lost, House of Leaves etc. werden sicherlich auch an den miteinander verwobenen Geschichten großen Spaß haben. Einfach zu lesen ist es nicht, aber es lohnt sich auf jeden Fall.

Hier noch eine sehr schöne Rezension bei Zeilensprünge.
Auf deutsch ist es bei Kiepenheuer und Witsch erschienen.