August Lektüre

Mein August war wieder ein ziemlich bunter Lesemonat – mit teils großer Begeisterung, einer wunderbaren (Wieder-)Entdeckung, aber auch ein, zwei Bücher, die mich nicht wirklich gepackt haben. Lasst uns ohne lange Vorrede direkt starten – es gibt viel zu besprechen 🙂

James – Percival Everett erschienen im Hanser Verlag, übersetzt von Nikolaus Stingl

Percival Everett gelingt mit James ein außergewöhnlicher Roman, der gleichzeitig Klassiker und Neuschöpfung ist. Ausgangspunkt ist Mark Twains Huckleberry Finn, doch Everett gibt der Figur James – bei Twain meist nur „Jim“ genannt – die eigene Stimme zurück. Diese Stimme ist klar, reflektiert, voller Intelligenz und Würde. Damit dreht sich die Perspektive radikal: Wir sehen nicht mehr den Abenteuerroman aus der Sicht des Jungen, sondern erleben die Geschichte durch die Augen eines Mannes, der im System der Sklaverei ums Überleben kämpft und Sprache als Schutz, Waffe und Identität nutzt.

Der Roman ist sprachlich brillant, oft von dunklem Humor getragen, zugleich erschütternd in seiner Darstellung von Gewalt, Abhängigkeit und Überlebensstrategien. Everett zeigt, wie unterdrückte Menschen oft absichtlich gebrochen oder „falsch“ sprachen, um Erwartungen weißer Gesellschaft zu erfüllen und sich so einen Spielraum zu verschaffen. Diese doppelte Ebene der Sprache ist das Herzstück des Buches.

James überzeugt sowohl literarisch als auch emotional. Der Roman ist hochintelligent komponiert, ohne ins Theoretische zu verfallen. Er erzählt eine mitreißende Geschichte, die man nicht aus der Hand legen möchte, und schafft eine Figur, mit der man noch lange innerlich im Gespräch bleibt. Kein Wunder also, dass unser Bookclub nahezu einhellig Höchstnoten vergeben hat.

Halbe Leben – Susanne Gregor erschienen im Zsolnay Verlag

Schon die erste Szene, ein tötlicher Sturz, setzt den Grundton dieses Romans. Kein großer Knall, kein Drama, eher ein dumpfes Nachhallen, das einen durch das ganze Buch begleitet.

Paulina, die gelernte Krankenschwester lebt tatsächlich zwei halbe Leben: einmal in der Slowakei als alleinerziehende Mutter von zwei Söhnen, dann in Österreich als helfende Hand in einer fremden Familie. Sie bewegt sich wie ein Chamäleon zwischen diesen Welten, passt sich an, übernimmt, trägt, macht möglich – und verliert dabei immer mehr von sich selbst. Ich habe beim Lesen oft gedacht: Wie viel von uns allen steckt in dieser Haltung, „immer funktionieren zu müssen“, auch wenn es einen innerlich zerreißt?

Besonders bedrückend fand ich die Szenen in der Gastfamilie. Klara, die Architektin, so zielstrebig, so selbstsicher, hat Paulina an ihrer Seite fast wie ein zweites Fundament ihres Erfolges. Ihr Mann dagegen wirkt wie ein schwebender Luftballon, frei von den Lasten des Alltags. Und Paulina fängt das alles auf. Man spürt förmlich, wie sie immer tiefer in ein Leben hineingleitet, das nicht ihres ist, bis die Grenze zwischen Dienen und Ausgenutztwerden verschwimmt. Das Beklemmende daran: Es ist kein offener Missbrauch, kein Skandal – sondern eine Reihe kleiner, leiser Verschiebungen, die sich summieren.

Ihre Mutter war zu einem defekten Rädchen im Uhrwerk ihrer Tage geworden, das alle anderen durcheinanderbrachte, und Klara der Zeiger, der sich nonstop im Kreis drehte

Was mich an Gregors Schreibweise beeindruckt hat ist diese leise Eindringlichkeit. Die Sprache ist schlicht, fast zurückhaltend, und gerade dadurch entsteht eine enorme Spannung. Vieles bleibt ungesagt, aber man fühlt es umso stärker zwischen den Zeilen. Es gibt keine plakativen Appelle, keine moralischen Zeigefinger – und doch schleicht sich die Kritik an unserer perfekt organisierten, aber zutiefst ungleichen Welt unübersehbar ein.

Ein Roman in dem das sozialkritische nicht plakativ im Vordergrund steht, sondern als stilles Kammerspiel, beklemmend klar die Rolle einer Frau zeigt, die immer gebraucht wird – und nie ankommt.

Das Narrenschiff – Christoph Hein erschienen im Suhrkamp Verlag

Christoph Heins „Das Narrenschiff“ hat mich von Anfang an gepackt und gleichzeitig auf Abstand gehalten. Ein seltsamer Zwiespalt, denn auf der einen Seite war ich komplett absorbiert, habe Seite um Seite verschlungen, unfassbar viel über die DDR gelernt und mich an vieles wieder erinnert – an Gespräche, an Stimmungen, an diesen ganz eigenen gesellschaftlichen Tonfall. Und trotzdem: Die Figuren, so klar sie gezeichnet sind, blieben mir fern. Das liegt sicherlich auch an Heins Schreibstil – nüchtern, analytisch, oft beinahe kühl. Emotional andocken war schwer, was aber wohl auch Teil seines literarischen Konzepts ist. Hein will nicht rühren, er will verstehen machen – und das gelingt ihm auf fast schon unheimlich präzise Weise.

Der Roman öffnet mit der Rückkehr prominenter Antifaschisten im April/Mai 1945 aus Moskau – der berüchtigten „Gruppe Ulbricht“ – und begleitet sie, darunter Karsten Emser, Johannes Goretzka und Benaja Kuckuck, auf ihrem Aufstieg in den DDR-Apparat.

… was ist aus unseren Hoffnungen und Träumen geworden? Wir wollten ein anderes Land, einen anderen Staat aufbauen, friedlicher, solidarischer und vor allem gerechter.

Der Fokus liegt klar auf dem Machtpersonal, auf Politikern und Funktionären, die die Gründungsjahre des Staates markieren und später dessen Strukturen mittragen – stets mit einem Blick für ihre eigene Ideologie und ihr oft tragisches Scheitern.

Was ich dabei allerdings ein wenig vermisst habe – und das ist ein Punkt, der mir beim Lesen immer wieder durch den Kopf ging – war ein breiteres Panorama der DDR-Gesellschaft. Die Figuren, die Hein porträtiert, stammen allesamt aus einem eher elitären, privilegierten Milieu. Intellektuelle, Funktionäre, Parteikader. Mir fehlte das kulturelle Leben, das so viel zur Identität der DDR beigetragen hat – Literatur, Theater, Musik – und auch das Leben der „normalen“ Leute, der Arbeiter*innen, derjenigen, die mit dem System auf andere Weise rangen oder es schlichtweg ignorierten. Ich hätte gerne mehr über diese Facetten gelesen, über das, was jenseits des Apparats existierte. Heins Fokus liegt klar auf den Strukturen der Macht, auf den Mechanismen der inneren Systemlogik.

Der Roman war eine gute Ergänzung für mich zu Erpenbecks „Kairos“ das ich schlußendlich etwas gelungener fand.

Ich habe einen Anschlag auf sie vor. Der Briefwechsel – Christpoph Hein & Elmar Faber erschienen im Faber & Faber Verlag

Der Briefwechsel „Ich habe einen Anschlag auf Sie vor“ zwischen Christoph Hein und Elmar Faber ist weit mehr als ein literarisches Dokument – er ist eine Begegnung zweier starker Persönlichkeiten, die sich über mehr als dreißig Jahre hinweg mit Witz, Ernst und unverstellter Offenheit austauschen. Die Korrespondenz, die 1983 beginnt und bis kurz vor Fabers Tod 2017 reicht, schlägt dabei einen Ton an, der gleichermaßen respektvoll wie pointiert ist. Man spürt in jedem Schreiben die Freude am geistigen Schlagabtausch, das Bedürfnis, die eigenen Beobachtungen zu teilen, und den Mut, auch unbequeme Wahrheiten nicht zu verschweigen.

Thematisch öffnet sich ein Panorama, das weit über Privates hinausgeht: der literarische Alltag in der DDR, der ständige Balanceakt zwischen Kunst und Zensur, die Brüche und Herausforderungen nach der Wiedervereinigung, dazu persönliche Fragen nach dem Älterwerden, nach Krankheit, nach dem Platz der eigenen Arbeit im größeren Zusammenhang. Hein erscheint darin als genauer, oft spöttischer Beobachter, während Faber die Rolle des streitbaren, humorvollen Verlegers verkörpert. Beide aber eint der Wille, Kultur nicht nur zu gestalten, sondern sie als lebendiges, widerständiges Element einer Gesellschaft zu begreifen.

So liest sich dieser Briefwechsel nicht nur als Zeugnis einer Freundschaft, sondern auch als literarisches Zeitdokument, das Einblicke in Denk- und Arbeitsweisen zweier wichtiger Stimmen der deutschen Nachkriegsliteratur bietet. Dass ausgerechnet dieser Band 2019 der erste Titel des wiederbelebten Leipziger Verlages Faber & Faber wurde, hat Symbolkraft: Elmar Faber, der den Verlag 1990 gemeinsam mit seinem Sohn Michael gegründet hatte, wird hier nicht nur als Verleger, sondern auch als Mensch sichtbar. Das Buch ist damit Hommage, Geschichtsbuch und kurzweilige Lektüre in einem – eine Einladung, sich in den Dialog zweier kluger Köpfe hineinziehen zu lassen.

War eine gute Begleitlektüre für „Das Narrenschiff“ kann diesen Briefwechsel sehr empfehlen.

Alltagsmenschen – Carry Brachvogel erschienen im Allitera Verlag

Carry Brachvogels „Alltagsmenschen“ habe ich auf dem Blog bereits kürzlich in meiner Reihe „Stimmen, die bleiben“ vorgestellt. Hier geht es zum Beitrag.
Brachvogel (1864–1942) war eine deutsch-jüdische Schriftstellerin, die in ihren Werken besonders das Leben und die Herausforderungen von Frauen eindrucksvoll schilderte.

Freie Menschen kann man nicht zähmen – Yayou Ekhou erschienen im Alibri Verlag

Yayou Ekhou’s „Freie Menschen kann man nicht zähmen“ habe ich bereits im Rahmen meiner Reihe „Read around the world“ für Mauretanien vorgestellt. Hier geht’s zum Beitrag.
Ekhou ist ein mauretanische Autor und Aktivist, der in seinen Texten eindrücklich von Freiheit, Identität und gesellschaftlichem Wandel erzählt.

Ein Bericht für eine Akademie – Franz Kafka sowie Mikromegas – Voltaire beide erschienen in der Edition Hibana

Über die beiden von Florian L. Arnold illustrierten Bücher habe ich in meiner Reihe „Illustrierte Klassiker“ geschrieben, den link dazu findet ihr hier.

Stone Yard Devotional – Charlotte Wood auf deutsch unter dem Titel „Tage mit dir“ im Kein & Aber Verlag erschienen, übersetzt von Michaela Grabinger

Charlotte Woods Stone Yard Devotional ist ein leises, zugleich aber unglaublich eindringliches Buch. Im Mittelpunkt steht eine Frau, die sich nach einer Ehe in Sydney in ein Kloster zurückzieht – nicht, weil sie eine religiöse Berufung verspürt, sondern weil sie Ruhe, Rückzug und einen neuen Rhythmus sucht.

Mich hat der Anfang komplett hineingezogen. Diese leicht bedrohliche, schwer greifbare Atmosphäre war so packend, dass ich das Buch kaum aus der Hand legen konnte. Als die Protagonistin dann aber nicht mehr nur Besucherin, sondern Teil der religiösen Gemeinschaft wurde, war der Zugang für mich schwieriger.

Die Handlung verlagert sich zunehmend auf das Leben innerhalb der Gemeinschaft, die während der Covid-Beschränkungen auf die Rückkehr der Überreste einer ermordeten Mitschwester wartet. Parallel dazu bricht eine unfassbar drastische Mäuseplage über das Kloster herein – ein Ereignis, das tatsächlich in New South Wales stattgefunden hat. Wood beschreibt Szenen von Ausmaß und Grausamkeit (inklusive kannibalistischen Verhaltens der Tiere), die mühelos jedem Stephen-King-Roman das Wasser reichen. Das war wirklich krass und hat mich nachhaltig verstört.

Zwischen der Rückkehr einer Ordensschwester, die mit der Ermordeten im Ausland gearbeitet hat, den Knochen, die schließlich eintreffen, und dieser biblisch anmutenden Mäuseplage türmen sich Belastungen auf, die die Gemeinschaft fast zu zerreißen scheinen.

Stone Yard Devotional ist ein leises Buch – keines, das man einfach wegliest. Eher eines, das nachhallt, das mich zwingt, über Schuld, Verlust und Gemeinschaft nachzudenken. Und gleichzeitig ist es ein Buch, mit dem ich auf eine bestimmte Weise noch immer hadere. Vielleicht genau deshalb denke ich so oft daran zurück.

Stone Yard Devotional landete 2024 auf der Booker Shortlist – kein Buch für zwischendurch, aber durchaus lohnend, wenn man sich darauf einläßt.

Sister Europe – Nell Zink erschienen im Rowohlt Verlag, übersetzt von Tobias Schnettler

Ich habe Sister Europe als Hörbuch gehört – und leider bin ich damit nicht warm geworden. Immer wieder fanden sich kluge Sätze und tolle Bilder, aber die eigentliche Geschichte hat mich überwiegend eher genervt. Besonders schwierig fand ich die Struktur des Romans: Die Handlung spielt innerhalb weniger Stunden – einen einzelnen Abend und die darauffolgende Nacht – und führt eine Vielzahl von Figuren ein. Beim Hören habe ich die Protagonist*innen immer wieder durcheinandergebracht, was den Zugang zusätzlich erschwert hat.

Der Roman spielt in Berlin im Februar 2023 und beginnt mit einer Literaturpreisverleihung in einem Hotel, bei der ein arabischer Autor geehrt wird. Rund um diese Veranstaltung begegnen wir einer bunten, zum Teil exzentrischen Gruppe: Der Kunstkritiker Demian, seine transgender Tochter Nicole, ein amerikanischer Verleger namens Toto mit seiner schwer fassbaren Begleitung Avianca, eine privilegierte Livia, ein arabischer Prinz und ein verdeckter Polizist namens Klaus, der ihnen folgt. Gemeinsam streifen sie durch die Berliner Nacht – vom Interconti über eine U-Bahn-Party bis hin zu Burger King – und führen Dialoge, die gleichermaßen bissig, witzig und kritisch sind. Themen wie Identität, Privileg, Einsamkeit, politische Debatten und gesellschaftliche Leere spielen eine zentrale Rolle.

Nell Zink ist eine US-amerikanische Autorin die seit vielen Jahren in Deutschland lebt und schreibt. Ihre Romane sind bekannt für ihre witzige, scharfzüngige Prosa, ihren gesellschaftlichen Tiefgang und ihr Gespür für das Abgründige im Alltäglichen.

Leider kann ich für dieses Buch keine Empfehlung aussprechen – trotz der glitzernden, scharfsinnigen Dialoge, die Nell Zink wie gewohnt liefern kann. Der Stil ist zweifellos clever, ironisch und geistreich, aber für mich fehlte die erzählerische Struktur, die Figuren blieben zu flach, um nachhaltig zu fesseln.

Das war mein Lesemonat August – wie war eurer? Was waren eure Highlights? Habt ihr schon das eine oder andere hier vorgestellte Buch gelesen? Besonders würde mich eure Meinung zu Stone Yard Devotional und den Büchern von Nell Zink interessieren, falls ihr die gelesen habt.

Ich wünsche euch einen guten Lese-September 🙂

Februar Lektüre

Diesen Monat war ich überall: in Italien mit den Mann-Brüdern, in Israel mitten in einer moralischen Zwickmühle, in einem japanischen Teehaus mit Franka Potente – und sogar auf Großwildjagd im Kongo – ein Hörbuch, das mich völlig überrascht hat. Truman Capote nahm mich mit in ein sonniges Baumhaus. Mit Deniz Ohde sah ich den Industrieschnee fallen, und die poetischen Worte und Bilder von Robert Macfarlane und Jackie Morris ließen mich staunen.

Welche Bücher davon kennt ihr und welche landen vielleicht auf eure Leseliste?

Beteigeuze – Barbara Zeman erschienen im dtv Verlag

Barbara Zemans „Beteigeuze“ ist ein sprachgewaltiger Roman, der mich wirklich komplett in seinen Bann gezogen hat. Ich habe in den letzten Tagen quasi in dem Buch gewohnt. Ein Buch, das man nicht nur liest, sondern erlebt – funkelnd, irrlichternd, poetisch. So unfassbar wie schön. Ohne zu zögern habe ich ihm fünf Sterne gegeben, denn es ist ein Werk, das auf eine Weise leuchtet, die in der Literatur selten geworden ist.

Beteigeuze, der rote Riesenstern im Sternbild Orion, trägt den Hauch der Vergänglichkeit in sich. Er ist ebenso flimmernd, poetisch und irrlichternd wie dieser Roman.

Das letzte Mal, dass ich ihn hier an dieser Stelle sah, da stand er höher. Rotes Scheibchen Beteigeuze, links unterhalb des Mondes. Wie ich mich auf den Winterhimmel freue. Da machen sich die Sterne in der Dunkelheit groß wie die Goldäpfel im Märchen, dass ich sie mir aus dem Himmel brocke und einen nach dem anderen verspeise, wenn ich denn einen essen will.

Wenn der rote Riese schließlich explodiert, wird der Himmel für Wochen in einem überirdischen Leuchten erstrahlen. Ein kosmischer Abgang, ein letztes Feuerwerk. Doch noch glimmt sein Feuer. Noch trotzt er der Dunkelheit. Und genau diese Vergänglichkeit, dieses Flackern und Leuchten spiegelt sich in Zemans Roman wider. Die Protagonistin Theresa Neges, deren Name übersetzt „Du solltest Nein sagen“ bedeutet, lebt in einer kleinen blauen Wohnung in Wien. Ohne festen Beruf, ohne Geld, mit einem Freund, den sie vielleicht liebt, aber nicht wirklich besitzt. In ihrem großen grauen Mantel streift sie durch die Stadt, legt sich im Hallenbad auf den Beckengrund und übt das Luftanhalten, sucht den Schwindel auf einem Karussell – sie möchte ins Leichte, ins Schwebende, näher an Beteigeuze, diesen brennenden Riesen, der ihr seit ihrer Kindheit vertraut ist.

Immer zärtlicher nimmt sie den Schnee wahr als etwas zur ihr Gehöriges. Ihre Adern, die sind winzige, eisig blaue Flüsse. Gefrierend knisternd. Und ihre Gedanken sind schwer, verlieren alle Schnelligkeit. Welch schöne Muster der Frost ihnen gibt. Wie von Zauberhand sind sie zu Kristallen gereiht.

Zeman schreibt nicht einfach eine Geschichte. Sie erschafft ein Sprachkunstwerk, aufgespannt zwischen Weltraum und Unterwasserwelt, zwischen Absturz und Schweben. Es funkelt in hell und dunkel, im Zentrum ein tanzender Stern. Die Sprache vibriert, schillert, greift nach den Lesenden. Es ist einer dieser seltenen Romane, bei denen es mir komplett egal ist, worum es geht – weil jeder einzelne Satz schon Grund genug ist, das Buch zu lieben. Barbara Zeman, geboren 1981 im Burgenland, lebt in Wien. Sie ist Historikerin, Journalistin und erhielt 2012 den Wartholzpreis. Ihr Debüt „Immerjahn“ erschien 2019, und mit einem Auszug aus „Beteigeuze“ war sie 2022 für den Ingeborg-Bachmann-Preis nominiert.

Sie versteht es, mit Sprache umzugehen, wie es nur wenige tun. Ihre Sätze sind ein Kaleidoskop aus Bildern und Tönen, manchmal messerscharf, manchmal melancholisch verwaschen – eine Supernova von einem Roman.

„Beteigeuze“ ist ein Roman, der in mir nachglüht wie sein namensgebender Stern. Er schwankt zwischen Explosion und Erlöschen, zwischen Schönheit und Schmerz. Ein poetisches Meisterwerk, das man vermutlich entweder nach ein paar Seiten entnervt in die Ecke wirft oder feiert.

Die Grasharfe – Truman Capote erschienen im Suhrkamp Verlag, übersetzt von Friedrich Podszus und Annemarie Seidel

Truman Capote war ein Meister der poetischen Prosa, ein Schriftsteller, der mit wenigen Worten ganze Welten erschaffen konnte. Sein Roman „Die Grasharfe“ ist ein gutes Beispiel dafür. Capote, bekannt für Werke wie „Frühstück bei Tiffany“ und „Kaltblütig“, schöpft hier aus seinen eigenen Erinnerungen an seine Kindheit im Süden der USA. Der Roman trägt eine autobiografische Note, denn Collin Fenwick, der Erzähler, weist deutliche Parallelen zu Capotes eigenem Werdegang auf: ein vaterloser Junge, der bei exzentrischen Verwandten aufwächst und in der Natur eine Zuflucht findet.

Dieses kleine Buch ist ein sonnendurchfluteter Spätsommerroman, voller Nostalgie und Lebensweisheit. Es erzählt die Geschichte von Dolly Talbo, einer sanften, intuitiven Frau, die sich von ihrer dominanten Schwester Verena abwendet, um mit ihrer Catherine, die sie ein Leben lang begleitet sowie ihrem Neffen Collin in einem Baumhaus Zuflucht zu suchen. Sie werden bald von zwei weiteren Außenseitern begleitet: Riley Henderson, ein draufgängerischen Jungen aus der Stadt, und Richter Charlie Cool, einem alten Mann, der nach einem Leben voller Urteile endlich Freiheit sucht. Gemeinsam bilden sie eine provisorische Familie, eine Gemeinschaft jenseits gesellschaftlicher Zwänge.

Was mich an Die Grasharfe am meisten berührt hat, ist die Atmosphäre. Capote gelingt es, die Natur als einen lebendigen, atmenden Raum darzustellen – ein Ort des Friedens, aber auch der Erkenntnis. Die leise flüsternden Grashalme, die Titel gebende „Grasharfe“, scheinen Geschichten aus der Vergangenheit zu erzählen, Geschichten von Verlorenen und Suchenden. Es ist ein Buch über Zugehörigkeit, über Liebe und die Wahl, seinen eigenen Weg zu gehen. Dabei bleibt die Erzählung immer leicht, schwebend, durchzogen von einem feinen Humor, aber auch von einer tiefen Melancholie.

Es war ein Schiff, und wenn man dort oben saß, konnte man die wolkengesäumten Küsten aller Träume entlangsegeln.

Jedes Wort dieses kleinen Romans ist mit Bedacht gewählt, jeder Satz trägt eine poetische Kraft. Man spürt man die Wehmut in jeder Zeile. Man möchte wieder Kind sein, durch Felder streifen, sich in den Ästen eines Baumes verstecken und den Stimmen der Natur lauschen. Der Roman ist kein großes Drama, kein aufwühlendes Epos – er ist eine kleine stille Meditation über das Leben und die Menschen, die es prägen. Dennoch bleibt er spannend, weil Capote es versteht, dass die Leser*innen sich den Figuren verbunden fühlen. Besonders Dolly ist eine sehr faszinierendste Figur, herzlich mit einer fast tiefen Verbindung zur Natur. Es gibt eine Szene, in der Collin beschreibt, wie Dolly das Wetter vorhersagen, Pilze und Wildhonig finden und die süßesten Früchte aufspüren kann – als wäre sie selbst ein Teil des Waldes. Diese sanfte Weisheit ist es, die sie so unvergesslich macht.

Während Capote oft mit seinen düsteren Reportagen und Charakterstudien in Kaltblütig oder Frühstück bei Tiffany in Verbindung gebracht wird, zeigt er hier seine lyrische Seite. Es war sein zweiter Roman und sein erster kommerzieller Erfolg. Die Grasharfe liest sich fast wie ein langes Gedicht, voller Bilder, die nachhallen. Und ja – es macht Lust, ein Baumhaus zu bauen, einen Ort der Freiheit zu schaffen, an dem man den Zwängen der Welt entfliehen kann.

Wer dieses Buch liest, sollte sich Zeit nehmen. Es ist kein Roman, den man hastig konsumiert. Er will in der Sonne gelesen werden, mit dem Wind in den Haaren und dem Rascheln der Blätter im Hintergrund. Es ist ein literarisches Kleinod, das von Freiheit, Freundschaft und den Geschichten erzählt, die in uns weiterleben.

Längst fällige Verwilderung – Simone Lappert erschienen im Diogenes Verlag

In Simone Lapperts Lyrik vermoosen Gedanken und leuchtet der Mond siliziumhell. Die Liebe schmeckt nach Quitte, die Katastrophe nach Erdbeeren, und die Dichterin fragt sich, fragt uns: ›sag, wie kommt man noch gleich ohne zukunft durch den winter?‹ Gedichte über Aufbrüche, Sehnsüchte, Selbstbestimmung und die fragile Gegenwart. Alle Sinne verdichten sich, aller Sinn materialisiert sich in diesen Texten voller Schönheit, Klugheit und Witz.

Ein sehr schöner Gedichtband, den ich gerne gelesen habe. Habe noch zwei Romane im Regal stehen von Simone Lappert, auf die freue ich mich jetzt noch mehr. Eine Autorin die wunderbar mit Sprache spielen kann, die einen Gedichtband verfasst hat, den ich vielleicht auch Leuten in die Hand drücken würde, die sich sonst nicht wirklich an Lyrik herantrauen. Wirklich schön.

Teufels Bruder – Matthias Lohre erschienen im Piper Verlag

Matthias Lohres Roman „Teufels Bruder“ ist die Geschichte über die beiden Brüder Thomas und Heinrich Mann, die gemeinsam eineinhalb Jahre in Italien verbringe. Das wird nicht nur spannend, sondern auch atmosphärisch dicht erzählt und es scheint so viel italienische Sonne durch den Roman, man möchte direkt los reisen.

Lohre gelingt es unwahrscheinlich gut, historische Fakten mit literarischer Fiktion zu verweben. Er zeichnet die Beziehung der beiden Brüder in all ihren Facetten: die Rivalität, die Bewunderung, die unterschiedlichen Lebensentwürfe. Heinrich, der ältere, bereits als Schriftsteller anerkannte Bruder, der sich in die Schauspielerin Lina verliebt, und Thomas, der suchende, schwankende jüngere Bruder, der sich immer wieder in seiner Faszination für einen lockigen melancholischen Jüngling verliert. Gerade diese Passagen fand ich anfangs faszinierend, irgendwann aber etwas zu ausschweifend. Das ständige Hinterherschleichen und die intensiven Grübeleien hätten für meinen Geschmack etwas gestrafft werden können – aber das ist Jammern auf hohem Niveau.

Was Lohre besonders gut macht, ist die psychologische Tiefe seiner Figuren. Thomas Mann wird nicht als der überlebensgroße Literat dargestellt, sondern als junger Mensch, der seinen Platz in der Welt sucht, zwischen bürgerlichen Erwartungen und künstlerischer Ambition. Man spürt seinen inneren Zwiespalt, die Bewunderung für den älteren Bruder, die Unsicherheit, das Staunen über die eigene wachsende Schaffenskraft. Dass diese Reise nicht nur einen literarischen, sondern auch einen persönlichen Wendepunkt für ihn darstellt, wird immer deutlicher, je weiter der Roman voranschreitet.

Heinrich leerte sein Glas in wenigen Zügen und ließ sich den Weg zu den Waschräumen zeigen. Auch wenn der Verlegersohn nur aussprach, wovon er selbst überzeugt ar, war dessen Gestus doch anstössig. Junior schien unter der Schlechtigkeit der Menschen nicht zu leiden, sondern sie zu genießen.

Die Atmosphäre des südlichen Italiens fängt Lohre hervorragend ein. Man fühlt sich in die Hitze Neapels versetzt, hört das geschäftige Treiben Roms und spürt die Melancholie Venedigs. Gerade die Szenen in Palestrina, wo Thomas Mann dem „Bösen schlechthin“ begegnet, haben eine fast unheimliche Intensität. Es bleibt unklar, was genau dort geschah, aber die Andeutungen reichen aus, um die Schwere dieses Erlebnisses zu erahnen.

Besonders gelungen fand ich die literarischen Bezüge. Wer Thomas Manns Werk kennt, wird hier viele Motive und Anklänge wiederfinden – sei es an „Buddenbrooks“, „Tod in Venedig“ oder „Doktor Faustus“. Doch auch ohne Vorkenntnisse funktioniert der Roman, denn Lohre erzählt eine eigenständige Geschichte, die sich nicht in literarischen Anspielungen verliert, sondern ihre ganz eigene Kraft entfaltet.

Insgesamt ist „Teufels Bruder“ ein großartiger Roman, der sowohl als fiktionale Biografie als auch als eigenständige Erzählung überzeugt. Er hätte vielleicht 100 Seiten kürzer sein können, aber das ändert nichts daran, dass ich ihn sehr mochte. Eine klare Leseempfehlung und ich möchte nach „Felix Krull“ das mich letztes Jahr so begeistert hat dieses Jahr unbedingt die „Buddenbrooks“ lesen. Lohre hat mir da echt Lust drauf gemacht.

Antarctica – Claire Keegan auf deutsch unter dem Titel „Wo das Wasser am tiefsten ist“ im Steidl Verlag erschienen

Mit Claire Keegans Debüt Kurzgeschichten Band bin ich überhaupt nicht warm geworden. Die erste titelgebende Geschichte war krass, sehr düster und an die denke ich immer noch. Alle anderen haben nicht gefunkt bei mir und sind irgendwie alle ineinander geflossen. Ich mochte ihren Schreibstil, möchte auch gerne noch einen ihrer Romane lesen, aber bei den Kurzgeschichten bin ich raus.

Hat einer von euch etwas von Claire Keegan gelesen? Welchen Roman würdet ihr empfehlen?

Löwen wecken – Ayelet Gundar-Goshen erschienen im Kein & Aber Verlag übersetzt von Ruth Achlama

Der Roman den ich für den Stopp in Israel auf meiner literarischen Weltreise gelesen habe. Meine Rezension dazu könnt ihr hier nachlesen.

Zehn – Franka Potente erschienen im Piper Verlag

Wir hatten ein paar wirklich graue Tage in München und irgendwann habe ich beschlossen eine kleine „Reise nach Japan“ zu unternehmen und unser wunderschönes japanisches Teehaus zu besuchen. Entsprechende Reiselektüre habe ich auch eingepackt und Franka Potentes Kurzgeschichten haben mich gut unterhalten. Zehn feine kleine Geschichten mit Beobachtungen aus dem japanischen Alltag, viel Augenmerk auf Essen und Heizgeräte 😉

Besonders gern mochte ich die erste Kurzgeschichte „Götterwinde“ über eine Frau die einen Laden für handgemachte Fächer hat und eine besondere Begegnung mit einem Kunden hat. Perfekte Begleitlektüre für meinen Ausflug.

Streulicht – Deniz Ohde erschienen im Suhrkamp Verlag

Industrieschnee markiert die Grenzen des Orts, eine feine Säure liegt in der Luft, und hinter der Werksbrücke rauschen die Fertigungshallen – Deniz Ohde entwirft in ihrem Debütroman Streulicht eine Kulisse, die mir seltsam vertraut ist. Ich bin und bleibe wohl eine Identifikationsleserin. Und selten habe ich mich einer Protagonistin so nahe gefühlt wie hier.

Ohde erzählt von einer jungen Frau, die in einem westdeutschen Arbeiterhaushalt aufwächst, deren Vater tagein, tagaus Aluminiumbleche beizt, deren Mutter irgendwann ihre Koffer packt und verschwindet, deren Großvater an seiner eigenen Stille und Unbeweglichkeit fast erstickt. Sie erzählt von einem Mädchen, das sich in einem Bildungssystem behaupten muss, das Chancengleichheit verspricht, aber (unsichtbare) Hürden aufbaut, die für manche kaum zu überwinden sind. Vom frühen Schulabbruch, von der Anstrengung, sich durchzukämpfen, von der Angst, nicht zu genügen, und der Scham, wenn man doch immer wieder zurückverwiesen wird auf den Platz, den andere für einen vorgesehen haben.

Ich kenne dieses Gefühl so gut. Es ist das Gefühl, mit jedem Schritt, den man geht, gegen eine unsichtbare Wand zu laufen. Das Gefühl, dass der eigene Hintergrund sich wie ein bleierner Schatten über alle Ambitionen legt. Deniz Ohde hat es geschafft, all das in eine Sprache zu fassen, die so unfassbar präzise ist, dass man das Gefühl hat sich manchmal blutige Schrammen zu holen. Ihre Sätze sind zurückgenommen und gleichzeitig eindringlich, jede Beobachtung sitzt, jedes Detail erzählt eine eigene Geschichte.

Und während ich lese, denke ich auch zurück. Ich bin nicht schaumgeboren, sondern ölofendunstgeboren. Der Geruch, der mich sofort in meine Kindheit zurückkatapultiert, ist der von Öl, das aus der Kanne in den Ofen gegossen wird. Dieser alles durchdringende, stechende Geruch, der nicht nur im Keller bei den riesigen Öltanks vorherrschte, sondern sich auch in unser Essen schlich. Denn meine Oma lagerte aus Platzmangel unsere Vorräte im Keller – Kartoffeln, Karotten, Kohl, direkt neben den Tanks.

Der eingebaute Schrank, in dem die Ölkannen standen. Heizungsölgeruch in den Klamotten und immer die Sorge, andere können das an einem riechen. Wir lebten in einer Reihe von vier Mietskasernen, doch nur unsere Reihe hatte keine Heizung. Sie war für die Aussiedler und Flüchtlinge vorgesehen. Heute sind es Eigentumswohnungen – ein absurdes Schicksal für diese Bauten, oder? Krass, wie sehr die Orte, in denen wir aufwachsen, uns formen, wie tief sich ihre Geschichten in unsere Körper einschreiben.

Ohde beschreibt diese Welt ohne Pathos, aber mit einer Wahrhaftigkeit, die manchmal schwer auszuhalten ist. Sie zeigt, was es bedeutet, wenn Herkunft nicht nur eine Tatsache, sondern ein Stigma ist. Wie Klassismus sich in feinen, kaum sichtbaren Rissen im Selbstbewusstsein eingräbt. Wie er sich als verinnerlichte Abwertung manifestiert – und wie schwer es ist, sich davon zu befreien. Und dann sind da noch die anderen Linien der Ausgrenzung: subtiler Rassismus, Armut, psychische Krankheiten, alles ineinander verschränkt, alles spürbar in jeder Begegnung, jedem Blick, jeder Geste.


Wenn einem etwas angetan wird, dann ist er nicht selbst schuld daran; wenn einer in einem System versagt, das von vornherein auf sein Versagen angelegt ist, liegt die Schuld nicht bei ihm. Für wen ist das Netz gebaut. Für wen ist es ein Fangnetz, und für wen ist der Abgrund darunter bestimmt.

Ich habe diesen Roman nicht nur gelesen – ich habe ihn durchlebt. Ich saß mit der Protagonistin im Klassenzimmer und habe die Lehrer verflucht, ich sah mit ihr auf den Industriepark mit seinen hohen Schloten, ich spürte ihre Resignation auf meinen eigenen Schultern lasten. Und ich ging mit ihr mühevolle Schritte mit dem Gefühl, falsch zu sein, selbst schuld zu haben, durchs Raster gefallen zu sein – in einem Land, das gleiche Bildungschancen proklamiert.

Deniz Ohde hat meinen tiefsten Respekt für diesen Roman. Es ist eine Geschichte, die bleiben wird, weil sie nicht nur erzählt, sondern auch entblößt. Weil sie einen nicht nur an die Hand nimmt, sondern einem auch einen Spiegel vorhält. Und weil sie mich – und sicher viele andere – an Dinge erinnert, die sonst oft unsichtbar bleiben. Ich bin gespannt auf alles, was sie noch schreiben wird. Denn wenn Streulicht eines bewiesen hat, dann das: Es gibt Literatur, die uns nicht nur etwas über andere erzählt, sondern uns mit jedem Wort mehr über uns selbst verrät. Was für ein Roman!

Die verlorenen Wörter – John Macfarlene & Jackie Morris erschienen bei Naturkunden im Matthes & Seitz Verlag, übersetzt von Daniela Seel

Es gibt Bücher, die man liest, bewundert und dann wieder ins Regal stellt. Und es gibt Bücher wie „The Lost Words/Die verlorenen Wörter“ von Robert Macfarlane und Jackie Morris, die man nicht nur liest, sondern immer wieder zur Hand nimmt, weil sie einen ganz tief berühren. Dieses Buch ist mehr als eine Sammlung von Versen und Illustrationen – es ist ein Zauberbuch, das verlorene Worte und damit verlorene Welten zurückruft.

Die Geschichte hinter diesem Buch ist ein bißchen traurig, hat enthält aber auch einen Hauch Hoffnung: Als das Oxford Junior Dictionary 2007 Wörter wie „Eichel“, „Dachs“ und „Königsfischer“ strich, um Platz für Begriffe wie „Broadband“ und „Voicemail“ zu machen, war das ein bezeichnendes Zeichen unserer Zeit. Ein Kind, das keine Worte für die Natur hat, verliert nicht nur die Fähigkeit, sie zu benennen, sondern auch, sie wirklich wahrzunehmen. Sprache formt unsere Vorstellungskraft, und wenn uns die Worte für das Wilde, das Ursprüngliche fehlen, wird es Stück für Stück unsichtbar.

Macfarlane und Morris haben darauf mit einer poetischen „Rebellion“ geantwortet. Sie haben nicht einfach ein Kinderbuch geschaffen – sie haben eine Sammlung von „Zaubersprüchen“ geschrieben, Verse, die die verlorenen Worte zurückholen und ihnen neues Leben einhauchen. Jackie Morris’ Illustrationen sind wunderschön, detailverliebt und von einer tiefen Liebe zur Natur durchdrungen. Würde so gerne so zeichnen können! Jedes Bild, jede Seite ist ein kleiner Zauber, der die Magie der Sprache und der Wildnis feiert.



Ja, es ist eigentlich ein Kinderbuch – aber es weckt eine tiefe Sehnsucht nach der Natur, egal wie alt man ist. „Die verlorenen Wörter“ sollte vielleicht vom Arzt als Antidepressiva verschrieben werden, als Gegenmittel gegen Doom-Scrolling, Betontristesse und die allgemeine Entzauberung der Welt.

Dieses Buch zaubere ich jetzt in jedes Klassenzimmer, jede Bibliothek, jedes Zuhause. Es ist eine Einladung, die Natur wieder zu entdecken. Denn nur was wir benennen können, können wir auch lieben. Und nur was wir lieben, werden wir bewahren.

Geschafft! Was waren eure Februar Highlights? Freue mich von euch zu hören!

Read around the world: ISRAEL

Heute mal wieder ein Stopp auf der literarischen Weltreise den wir tatsächlich schon mal besucht haben. Vor mittlerweile acht Jahren waren wir für zwei Wochen in Israel unterwegs. Schon die Anreise ist ein Erlebnis für sich. Der verstecke Abflugterminal am Münchner Flughafen, die deutlich intensiveren Sicherheitskontrollen wo es zB neben den üblichen Maßnahmen kurze persönliche Interviews gibt, die nicht nur darauf abzielen, gefährliche Gegenstände zu finden, sondern potenzielle Sicherheitsrisiken zu identifizieren. Die Ausreiseprozedur ist oft noch strenger, doch das zeigt, welchen Stellenwert Sicherheit in diesem Land hat.

Eine beliebte Redewendung lautet: „Nach Jerusalem fährt man zum Beten, nach Haifa zum Arbeiten und nach Tel Aviv zum Sündigen.“ Zu Haifa kann ich nicht viel sagen, da wir nicht dort waren, aber Tel Aviv ist eine leichtlebige, herzliche Stadt mit einem 14 km langen Sandstrand, einer jungen, modernen Atmosphäre und einem angenehmen Klima, die wir sehr schnell lieb gewonnen hatten. Tagsüber waren wir angenehme 20–21 Grad, doch sobald die Sonne unterging, wurde es schlagartig kalt – da kam unsere dicke Münchner Winterjacke tatsächlich zum Einsatz.

Tel Aviv ist eine vergleichsweise junge Stadt. Sie wurde 1909 gegründet, als die alte Hafenstadt Jaffa aus allen Nähten platzte. In den 1920er und 1930er Jahren kamen viele jüdische Architekten deutscher Herkunft ins Land und prägten die Stadt mit rund 5000 Gebäuden im Bauhaus-Stil. Besonders rund um den Rothschild-Boulevard findet man diese moderne Architektur, die mittlerweile von der UNESCO als Weltkulturerbe anerkannt wurde.

Ein Ausflug nach Jerusalem durfte natürlich nicht fehlen. Knapp 1 Stunde braucht man auf der Autobahn und fährt dabei durch das Jordan Valley an vielen geschichtsträchtigen Orten vorbei. Da wir uns das Auto fahren in Jerusalem schenken wollten, begaben wir uns für diesen Trip auf einen geführten Ausflug und waren mit 10 Leuten eine international bunt gemischte Truppe.

Jerusalem ist das komplette Gegenteil zu Tel Aviv eine der ältesten Städte der Welt, seit Jahrtausenden von verschiedenen Kulturen und Religionen geprägt und religiös bis in die Haarwurzeln. Die Altstadt ist in vier Viertel unterteilt – das jüdische, das armenische, das muslimische und das christliche Viertel. Die engen Gassen voller Menschen, Geschäfte, Stimmengewirr und Gerüche vermitteln ein Gefühl aus „1001 Nacht“ und „Indiana Jones“ zugleich.

Wahrscheinlich ist es nicht überraschend, dass Jerusalem das Ziel schlechthin für religiöse Touristen ist, trotzdem war ich irgendwie nicht drauf vorbereitet. In Deutschland sind mir selbst in Bayern selten extrem gläubige Menschen begegnet: die deutschen Touristen die mit uns unterwegs waren fielen mit ihren riesigen Kreuzen, die sie um den Hals trugen, eindeutig in diese Kategorie.

Der erste und zum Glück einzige kommerzielle Stop der Tour brachte uns auf dem Ölberg in ein biblisches Devotionaliengeschäft, in dem man alles bekommen konnte, was das religiöse Herz begehrt. Man muss sich den Laden vorstellen wie einen riesigen Supermarkt inklusive roter Plastikeinkaufskörbe die jeder in die Hand bekam. Es gab Kreuze, Krippen, Heilenstatuen, Rosenkränze, Öle in allen Ausführungen und Preisklassen etc zu kaufen und sehr erstaunt musste ich feststellen, das wir zwei die einzigen in der Gruppe waren, die nichts einkauften. Die anderen kamen mit großen Tüten in den Bus zurück und hatten zum Teil richtig große Beträge dort gelassen.

Die Altstadt von Jerusalem ist aufgeteilt in vier Bezirke: das jüdische, das armenische, das arabische und das christliche Viertel und die engen Gassen voller Menschen, Geschäfte, Stimmengewirr und Gerüche vermitteln ein Gefühl aus einer Mischung von 1001 Nacht und Indiana Jones.

Bei der Führung durch die diversen Kirchen merkte ich, dass mir teilweise entsprechendes Hintergrundwissen fehlte und ich mit einigen biblischen Namen nicht genug anfangen konnte, um es in den historischen Kontext zu setzen. Die Pilger, die sich zum Beispiel in der Erlöserkirche auf den Boden warfen, um den Boden zu küssen, den angeblichen Abdruck von Jesus Hand in der Via Dolorosa küssten oder stundenlang anstanden, um sich das Grab von Joseph von Arimatrea anzusehen und dort fanatisch weinend zu knien, fand ich ganz schön beklemmend.

Die Klagemauer ist erwartungsgemäss absolute Hochsicherheitszone. Man geht durch Sicherheitschecks wie am Flughafen und reiht sich dann in die Schlange vor dem nach Geschlechtern getrennten Eingang. Es gibt eine Art free little library, in der man sich Bibeln in allen Sprachen ausleihen kann und in weißen Plastikstühlen kann man vor der Mauer sitzen und beten oder einen Zettel mit einem Gebet in die Klagemauer stecken. Unser Wunsch Trump das Zeitliche segnen zu lassen wurde leider bislang nicht erfüllt, vielleicht hätte man dazu religiöser sein müssen.

Jerusalem ist eine aufregende Stadt, es gibt so viel Geschichte und wahnsinnig viel zu sehen, dennoch war ich froh, abends wieder im leichtlebigeren Tel Aviv zu sein.

Hier noch einige wichtige geschichtliche Eckpunkte:

  • Antike: Das Gebiet des heutigen Israel war in biblischer Zeit das Königreich Israel und Juda. Die Stadt Jerusalem wurde im 10. Jahrhundert v. Chr. zur Hauptstadt des jüdischen Königreichs.
  • Römische Zeit: Nach der Zerstörung des Tempels 70 n. Chr. durch die Römer wurde die jüdische Bevölkerung zerstreut (Diaspora).
  • Mittelalter und Osmanische Herrschaft: Bis 1917 war das Gebiet Teil des Osmanischen Reiches.
  • Britisches Mandatsgebiet: Nach dem Ersten Weltkrieg übernahm Großbritannien die Verwaltung über Palästina.
  • Gründung Israels (1948): Nach der UN-Resolution zur Teilung Palästinas rief David Ben-Gurion am 14. Mai 1948 den Staat Israel aus. Es folgte der erste arabisch-israelische Krieg. Golda Meir war eine der bekanntesten Politikerinnen Israels und diente von 1969 bis 1974 als Premierministerin. Sie war die erste Frau in diesem Amt in Israel und eine der wenigen Frauen weltweit, die ein solches politisches Spitzenamt innehatten.
  • Konflikte und Friedensverträge: Israel war in mehrere Kriege verwickelt (Sechstagekrieg 1967, Jom-Kippur-Krieg 1973), schloss aber auch Friedensabkommen, z. B. mit Ägypten 1979 und Jordanien 1994.

Ein besonders ergreifender Teil unserer Reise war der Besuch der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem. Das Museumsgebäude ist eine architektonische Besonderheit, bei dem man nicht gerade durch das Museum gehen kann, sondern man immer wieder um eine Ecke biegen muss und immer neuen schrecklicheren Geschehnissen gegenübersteht. Dabei verliert sich der Boden immer weiter nach unten und gleicht einem Abstieg in die Hölle. Das Gebäude läuft vorne spitz zu und öffnet sich dann einer positiven Zukunft entgegen. Die Gedenkstätte sollte man sich unbedingt ansehen, auch wenn man denkt, man hat schon soviel zu dem Thema gehört. Es ist erschütternd, schrecklich und zeigt, wie schnell die Welt aus den Fugen geraten kann.

Das im Jahre 1987 errichtete „Denkmal für die Kinder“ ist dem Gedenken an die 1,5 Millionen von den Nationalsozialisten ermordeten jüdischen Kinder gewidmet. Das Denkmal ist als unterirdischer Raum angelegt, in dem fünf Kerzen durch Spiegel in der Dunkelheit so reflektiert werden, dass ein ganzer Sternenhimmel entsteht. Im Hintergrund werden die Namen, das Alter und der Geburtsort der Kinder von einem Tonband abgespielt. Dieses Endlosband braucht ungefähr drei Monate, um alle Namen wiederzugeben. Unfassbar traurig!

Israel hat sich von einem kleinen, ressourcenarmen Land zu einer der führenden Hightech-Nationen der Welt entwickelt. Es wird oft als „Start-up Nation“ bezeichnet, da es die höchste Start-up-Dichte pro Kopf hat. Zu den wichtigsten Wirtschaftssektoren gehören:

  • Technologie und Innovation: Israel ist weltweit führend in Bereichen wie Cybersicherheit, Medizintechnik und künstlicher Intelligenz.
  • Landwirtschaft: Trotz des trockenen Klimas hat Israel durch innovative Bewässerungssysteme eine leistungsfähige Landwirtschaft aufgebaut.
  • Tourismus: Historische und religiöse Stätten ziehen jedes Jahr Millionen Besucher an.

Im Masada National Park in der Judäischen Wüste liegt die Masada Festung die Herodes, König von Judea von 37 bis 4 BC erbauen ließ. Es war die letzte Bastion der jüdischen Zeloten (Freiheitskämpfer) gegen die Römer. Zwei Jahre lang versuchten etwa 8000 römische Soldaten die Leute auf der Festung auszuhungern, gelang ihnen aber nicht, denn diese legten Gärten, Zisternen und Bäder an, hielten Tiere und lebten einigermaßen vergnüglich in ihrer Festung, während die Römer in der Wüste litten.

Nach zwei Jahren hatten die aber genug und ließen sich von jüdischen Zwangsarbeitern eine Rampe bauen, mit der sie dann die Festung eroberten. Bevor die etwa 960 Zeloten allerdings gefangengenommen werden konnten, brachten sie sich gegenseitig um, um nicht in feindliche Hände zu fallen.

Die tragischen Ereignisse der letzten Tage der Rebellen von Masada transformierten den Ort in eine kulturelle Ikone als Symbol für den dauernden Kampf der Menschheit für Freiheit und gegen Unterdrückung. 2001 wurde Masada von der Unesco in die Liste der Weltkulturerbstätten aufgenommen.

Nach der Wüstenhitze kam das Tote Meer gerade recht. Das Tote Meer ist das tiefstgelegenste Meer der Welt und hat einen Umfang von etwa 135 km und in der Mitte des Sees verläuft die Grenze zwischen Israel und Jordanien. Die Einsamkeit und Weite der Wüste und des Toten Meeres schaffen eine ganz surreale Atmosphäre.

Die Oberfläche des Toten Meeres nimmt pro Jahr etwa um etwas mehr als 1 Meter ab. Aufgrund des hohen Salzgehaltes, der fast das Zehnfache der Ozeane beträgt, und der damit verbundenen hohen Dichte trägt das Wasser den menschlichen Körper außergewöhnlich gut, man kann allerdings dennoch ertrinken. Das Baden dort ist gar nicht so ungefährlich, den die Menschen verlieren am Toten Meer oft die Balance und schlucken dann große Mengen an Wasser. Das ist lebensgefährlich, da es schwere Lungenverletzungen verursachen kann. Mit einem Salzgehalt, der zehnmal höher ist als in den Ozeanen, trägt das Wasser den menschlichen Körper mühelos – ein einzigartiges Erlebnis.

Die israelische Küche ist ein Schmelztiegel aus mediterranen, arabischen und osteuropäischen Einflüssen.

Besonders beliebt sind:

  • Hummus und Falafel – Grundnahrungsmittel, die man überall bekommt.
  • Shakshuka – eine würzige Eierspeise in Tomatensauce.
  • Sabich – ein Pita-Sandwich mit Auberginen und Ei.
  • Jachnun – ein jemenitisches Gebäck, das traditionell am Shabbat gegessen wird und was uns ganz schön überraschte:
  • Schnitzel – wurde insbesondere in Tel Aviv als „Pargit“ gebratenes Hähnchen-Schnitzel an jeder Ecke angeboten und war richtig gut

Während unserer Reise fühlten wir uns die meiste Zeit über sicher. Trotzdem wurden wir durch ein Ereignis aufgeschreckt: Ein Messerangriff in Jaffa, von dem wir nur durch besorgte Anrufe unserer Familie in Deutschland erfuhren. Auch Raketenangriffe im Süden des Landes passierten während unseres Aufenthalts, wurden aber durch das Abwehrsystem Iron Dome abgefangen. Diese Realität ist für viele Israelis Alltag.

Noch ein bisschen was zur Kultur in Israel: Erstaunlicherweise habe ich bislang gar nicht so viele israelische Filme gesehen, daher ist meine Auswahl hier etwas bescheiden. In Erinnerung geblieben ist mir auf jeden Fall der Film „A Tale of Love and Darkness“ von und mit Natalie Portman:

Der Film basiert auf den Memoiren des israelischen Schriftstellers Amos Oz und erzählt von seiner Kindheit im Jerusalem der 1940er Jahre, geprägt von der Gründung Israels, familiären Konflikten und der melancholischen Beziehung zu seiner Mutter, die mit Depressionen kämpft.

Den zweiten Film den ich nennen möchte habe ich leider noch gar nicht gesehen, kenne bislang nur Trailer habe ihn aber schon eine Weile auf meiner Liste. Es geht um „Shiva Baby“, eine schwarze Komödie, um eine junge Frau, die auf einer traditionellen jüdischen Trauerfeier (Shiva) auf ihre Ex-Geliebte, ihren aktuellen Liebhaber und ihre Eltern trifft.

Insbesondere in Tel Aviv haben wir wunderbare Buchläden gefunden, dort gibt es eine pulsierende Literaturszene die lebendig, politisch engagiert und oft geprägt ist von Mehrsprachigkeit – Hebräisch dominiert, doch auch arabische, jiddische und russische Literatur haben bedeutenden Einfluss. Zahlreiche Literaturpreise wie zB der Sapir-Preis und die internationale Anerkennung israelischer Autor*innen zeigen, wie tief Literatur im kulturellen Leben des Landes verwurzelt ist.

Besonders gerne lese ich die Bücher des Historikers Yuval Noah Harari, die Romane von Zeruya Shalev und Ayelet Gundar-Goshen, von der ich euch heute hier auch einen Roman vorstellen werde. In den 90er Jahren habe ich eine Menge Bücher von Meir Shalev gelesen, insbesondere „Im Haus der großen Frau“ ist mir sehr in Erinnerung geblieben.

Bevor ich aber auf die heutige entsprechende Lektüre eingehe möchte ich noch kurz auf die Musikszene in Israel eingehen. Und da kommt man eigentlich nicht wirklich am Eurovision Song Contest vorbei 😉 Israel und der Eurovision Song Contest – das ist wie Falafel und Hummus: einfach eine perfekte Mischung! Seitdem Israel 1998 mit „Diva“ von Dana International den Wettbewerb gewann, hat das Land regelmäßig mit seinen einzigartigen Beiträgen überrascht. Egal ob mit melodischen Hits oder schrillen Showeinlagen, Israel sorgt stets für die nötige Portion Drama und Glamour.

Israel ist ein wunderbares Reiseland mit vielfältiger Geschichte, beeindruckender Natur, kultureller Vielfalt, warmherzige, humorvolle Menschen und einem der wenigen sicheren Orte in der Region für Menschen aus der LGBTQ Community. Der Terrorangriff am 7. Oktober war ein furchtbarer, grausamer und unmenschlicher Akt was danach in Gaza folgte ebenso. Ich hoffe, es wird irgendwann ein friedliches Zusammenleben von jüdischen und arabischen Menschen in Israel möglich sein. Trusk mit seinen menschenverachtenden Ideen von einer Riviera in Gaza trägt sicherlich nicht zu einer vernünftigen friedlichen Lösung bei. Trotz der politischen Spannungen und Herausforderungen bleibt Israel ein Land voller Hoffnung und Warmherzigkeit, das Besucher*innen mit seiner einzigartigen Mischung aus Tradition und Moderne, Spiritualität und lebendigem Stadtleben definitiv in seinen Bann zieht.

Löwen wecken – Ayelet Gundar-Goshen erschienen im Kein & Aber Verlag, übersetzt von Ruth Achlama


„Löwen wecken“ ist ein tiefgründiger und fesselnder Roman, der die moralischen Dilemmata eines neurochirurgischen Arztes, Eitan Green, in den Mittelpunkt stellt. Nachdem er einen Migranten überfährt und die Tat vertuscht, gerät er in die Hand der Witwe des Opfers, Sirkit, die ihn erpresst, illegale Flüchtlinge medizinisch zu versorgen. Die Erpressung entwickelt sich zu einer zunehmend komplexen Beziehung, die zwischen moralischen Zwängen, Schuld und unerforschten Gefühlen pendelt.

Gundar-Goshen schafft es ausgesprochen gut, die inneren Konflikte ihrer Figuren zu beleuchten. Der Arzt, der an seinem Hippokratischen Eid gebunden ist, muss sich mit seiner Schuld und der Verantwortung für das Leben anderer auseinandersetzen, was zu einem spannungsgeladenen Drama führt. Sirkit, die Witwe, ist eine faszinierende und ambivalente Figur, die von Rachegefühlen und einem tiefen Überlebenswillen geprägt ist, und ihre Entwicklung vom „Schurken“ zur vielschichtigen Persönlichkeit ist ein zentraler Bestandteil der Erzählung. Auch Eitans Frau, Liat, die mit ihrer Fähigkeit, Menschen zu durchschauen, eine Art menschliche Detektivin ist, spielt eine wichtige Rolle in der spannungsgeladenen Atmosphäre des Romans.

Er parkte den Wagen und ging auf den Hof. Versuchte zu begreifen, warum sein Mitleid immer so schnell versiegte. Wieso sich hinter der Empathie immer dieser Groll einschlich. Wie Haie, die bei Blutgeruch durchdrehen, witterte auch er Schwäche und rastete aus. Oder vielleicht war es umgekehrt; nicht wegen der Kraft, die Schwachen kaputt zu machen, zürnte er ihnen, sondern wegen der raffinierten Art, mit der sie ihn kaputt machten. Wie ihre Armseligkeit ihm zusetzte, ihn schuldig machte.

Der Roman ist nicht nur eine packende Geschichte über moralische und existenzielle Fragen, sondern auch eine scharfsinnige Reflexion über die Behandlung von Flüchtlingen in Israel und die rassistischen und politischen Spannungen, die damit verbunden sind. Gundar-Goshen hinterfragt, was es bedeutet, „gut“ oder „schlecht“ zu sein, und wie gesellschaftliche Vorurteile unsere Entscheidungen beeinflussen.

Ayelet Gundar-Goshen, bekannt für ihre feinfühligen und komplexen Erzählungen, nutzt in „Löwen wecken“ ihre Fähigkeit, tief in menschliche Psychen einzutauchen. Die Autorin wurde 1982 in Tel Aviv geboren und ist bekannt für ihre Auseinandersetzungen mit gesellschaftlichen und politischen Themen, besonders in Bezug auf das Leben in Israel. Ihre Werke sind international anerkannt und werden für ihre brillante Mischung aus Humor, Tragik und tiefgründiger Analyse geschätzt.

Weitere Bücher aus Israel die ich hier besprochen habe findet ihr hier: Lizzie Doron – Ruhige Zeiten, Etgar Keret – Gaza Blues, Dana Vowinckel – Gewässer im Ziplock

Das war unser Stopp in Israel – seid ihr schon mal da gewesen? Welche kulturellen Tipps aus Israel (Bücher / Filme / Musik etc) habt ihr für mich?

Wer noch mal die zurückliegenden Stationen besuchen will:

Das nächste Land auf der literarischen Weltreise ist China (unser 10. Stopp!) – habt ihr Lust?

Dezember Lektüre

Mit dem Lesemonat Dezember habe ich ein wunderbares Lesejahr beendet. Selten habe ich so viele großartige Bücher in einem Jahr verschlungen wie 2024 – ein wahres Fest für die literarische Seele. Auch wenn die äußeren Umstände unserer Zeit – die Krisen und Katastrophen um uns herum – wenig Raum für Optimismus lassen, blicke ich zumindest literarisch mit großer Vorfreude auf das Jahr 2025. Bücher sind und bleiben für mich ein Anker in unruhigen Zeiten, eine Möglichkeit, die Welt zu verstehen, zu träumen oder auch einfach mal zu entfliehen.

Der Dezember war dabei ein unglaublich abwechslungsreicher Monat. Zwei Sachbücher haben mich besonders beschäftigt: Eines tauchte tief in die sogenannten „Dark Ages“ ein – eine Epoche, die bei mir dank Michael Woods bedrückend prophetischem Sachbuch und den Parallelen zur heutigen Zeit Gänsehaut hinterließ. Ich hoffe wirklich, dass wir nicht sehenden Auges in eine ähnliche Ära der Dunkelheit schlittern. Auf der anderen Seite wagte ich mit Yuval Noah Harari den Blick in die Zukunft. Sein Buch war nicht nur ein intellektuelles Abenteuer, sondern auch eine Warnung, die mich dazu brachte, über die langfristigen Konsequenzen unseres Handelns – oder Nichthandelns – nachzudenken.

Neben diesen Denkanstößen hatte der Dezember auch literarische Abenteuer anderer Art zu bieten. Mit Marschlande war ein spannender Roman dabei, der eine Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart schlägt und dabei die norddeutschen Marschlande zu einer fast mystischen Kulisse macht.

Für Spannung sorgte ein Krimi-Hattrick, der perfekt in die winterliche Jahreszeit passte – was gibt es Besseres als gemütliche mörderische Rätseleien an dunklen, kalten Abenden? Außerdem habe ich mit Samantha Harveys Werk einen Ausflug ins All unternommen, eine Reise, die zugleich philosophisch und poetisch war. Den Abschluss machte ein Audiobuch von Tommy Orange, mit dem ich mich im Rahmen meiner literarischen Weltreise in die USA begeben habe.

Der Dezember hatte wirklich für jede Stimmung etwas zu bieten. Jetzt freue ich mich darauf, euch meine Lektüren etwas genauer vorzustellen. Ich starte mit dem Krimi-Hattrick – der jahreszeitlich wohl passendsten Wahl – und gehe danach alphabetisch weiter durch meine Dezemberbücher. Ich bin gespannt, ob etwas für euch dabei ist.


Nicola Upson – Mit dem Schnee kommt der Tod (The Dead of Winter) erschienen im Kein & Aber Verlag, übersetzt von Anna-Christin Kramer
Nicola Upson schreibt eine Krimireihe rund um die real existierende Golden-Age-Krimiautorin Josephine Tay. Zufällig bin ich mit Band 9 in die Reihe eingestiegen und war sofort begeistert – vielleicht auch, weil der Krimi auf der kleinen Insel St. Michael’s Mount in Cornwall spielt, wo wir diesen Sommer waren. Ich kenne den Schauplatz, die Burg, die Gärten, das Dorf – und das hat mein Lesevergnügen natürlich noch einmal gesteigert. Wenn dann noch Marlene Dietrich, ein Schneesturm, der die Insel vom Festland abschneidet, und ein umhergehender Mörder ins Spiel kommen, sind alle Zutaten für einen perfekten Krimi gegeben. Ich werde die Reihe definitiv weiterverfolgen – die Reihenfolge scheint mir nicht allzu wichtig zu sein.

John Bude – Mord in Cornwall (The Cornish Coast Murder) erschienen im Klett Cotta Verlag, übersetzt von Eike Schönfeld
Der nächste Cozy-Krimi führte mich erneut nach Cornwall. Mord in Cornwall, ursprünglich 1935 erschienen (im selben Jahr wie Gaudy Night von Dorothy L. Sayers), ist ein wunderbares Beispiel für die wiederentdeckten Crime Classics der British Library. ohn Bude war ein produktiver Autor mit 30 Krimis, die zu seiner Zeit sehr beliebt waren, dann aber in Vergessenheit gerieten. Zum Glück hat die British Library viele seiner Werke neu aufgelegt. Mord in Cornwall ist der perfekte Krimi für alle, die düstere und stürmische Nächte lieben – ein Roman voller Meeresluft und lokaler Atmosphäre. Der Dorfpfarrer und der Arzt des Ortes verbringen ihre Abende mit Krimilektüre und messen sich darin, die jeweiligen Fälle zu lösen. Doch plötzlich wird ein echter Mord begangen, und die detektivischen Fähigkeiten des Pfarrers werden auf die Probe gestellt. Ein kurzweiliger, unterhaltsamer Krimi – mit einer Warnung: Die Lektüre könnte zu akuter Cornwall-Reiselust führen!

Nicholas Blake – Das Geheimnis des Schneemanns (The Corpse in the Snow Man) erschienen im Klett Cotta Verlag, übersetzt von Michael von Killisch-Horn
Der dritte Krimi in meinem Cozy-Crime-Hattrick stammt ebenfalls aus der Reihe der wiederentdeckten British-Library-Klassiker, konnte mich aber leider nicht ganz überzeugen. Die Geschichte zog sich für meinen Geschmack zu sehr, es gab zu viele Charaktere, und der Fall selbst war für mich eher unspektakulär. Interessant fand ich jedoch den Autor: Nicholas Blake, der eigentlich Cecil Day-Lewis hieß, war nicht nur ein erfolgreicher Schriftsteller, sondern wurde von der Queen zum Poet Laureate ernannt. Und sein Sohn? Niemand Geringeres als Daniel Day-Lewis, bekannt aus Filmen wie Mein linker Fuß. Auch wenn mich dieser Krimi nicht umgehauen hat, mag er für andere Leser durchaus reizvoll sein.

    Yuval Noah Harari – Nexus erschienen im Penguin Verlag, übersetzt von Jürgen Neubauer und Andreas Wirthensohn

    Yuval Noah Hararis neues Buch Nexus hat mich gleichermaßen fasziniert wie nachdenklich gestimmt. Harari gelingt es wie gewohnt, komplexe Themen auf eine Weise zu beleuchten, die zugleich intellektuell anregend und zugänglich ist. Die Kernthemen – von den Gefahren digitaler Überwachung und KI bis hin zur geopolitischen Fragmentierung – sind hochaktuell und drängen förmlich danach, diskutiert zu werden. Dennoch ließ mich das Buch mit einer Mischung aus Staunen und Skepsis zurück.

    Besonders beeindruckend fand ich Hararis Fähigkeit, historische Anekdoten mit modernen Herausforderungen zu verknüpfen. Die Schilderung, wie in faschistischen Regimen Papiere manipuliert wurden, um Minderheiten zu unterdrücken, war nicht nur erhellend, sondern auch bedrückend relevant. Ähnlich eindrucksvoll war die Diskussion über die Rolle von Facebooks Newsfeed bei politischen Eskalationen. Hier zeigt Harari seine Stärke: die Fähigkeit, historische Parallelen zu ziehen und gleichzeitig die Dringlichkeit unserer Gegenwart zu betonen.

    Weniger überzeugend fand ich jedoch seine Tendenz zu weitreichenden Verallgemeinerungen. Aussagen wie „Die antiken Römer hatten ein klares Verständnis davon, was Demokratie bedeutet“ wirken auf mich eher wie vereinfachte Schlagworte als tiefgreifende Analysen. Ebenso erscheint mir seine Darstellung von KI und deren potenziellen Fähigkeiten oft überzogen. Der Gedanke, dass eine KI in absehbarer Zeit klingen nach SciFi und es fehlt mir hier oft an einer soliden, nachvollziehbaren Argumentation.

    Hararis Lösungen – stärkere Regulierung von Algorithmen und die Förderung selbstkorrigierender Institutionen – sind letztlich nicht so bahnbrechend, wie es der apokalyptische Ton des Buches vermuten lässt. „Liberalismus, aber besser“ wäre eine treffende Zusammenfassung seiner Empfehlungen. Er möchte es sich halt auch nicht wirklich mit seinen Silicon Valley Buddys verderben, hier hätte ich mir deutlich mehr Mut seinerseits gewünscht.

    Trotzdem ist Nexus ein Buch, das ich durchaus empfehlen kann. Harari regt dazu an, über die großen Fragen unserer Zeit nachzudenken, und auch wenn ich nicht jede seiner Thesen teile, hat mir das Buch viele neue Perspektiven eröffnet. Vor allem in seinen narrativen Passagen glänzt Harari: Hier wird er zum Geschichtenerzähler, der uns die Tragödien und Triumphe der Menschheit vor Augen führt. Ein Buch, das polarisiert, inspiriert und zum Diskurs einlädt – genau was ich mir von einem Buch wünsche.

    Ich habe auf jeden Fall so unendlich viel unterstrichen in diesem Buch ich kann mich gar nicht entscheiden, welches Zitat ich besonders herausheben möchte.

    The tendency to create powerful things with unintended consequences started not with the invention of the steam engine or AI but with the invention of religion. Prophets and theologians have summoned powerful spirits that were supposed to bring love and joy but occasionally ended up flooding the world with blood.

    Samantha Harvey – Orbital auf deutsch unter dem Titel „Umlaufbahnen“ im dtv Verlag erschienen, übersetzt von Julia Wolf

    Über den diesjährigen Booker Prize Winner wurde wahrscheinlich schon alles gesagt, aber hier kurz meine begeisterten 2 Cents: Die Geschichte spielt auf einer Raumstation 250 Meilen über der Erde und dreht sich um eine Crew von Astronaut*innen, die dort ihren Alltag zwischen Experimenten, Technik und der unendlichen Weite des Weltalls meistern. Aber „Orbital“ ist so viel mehr als ein Science-Fiction-Roman – es ist eine poetische Meditation über die Menschheit, unsere zerbrechliche Welt und unseren Platz im Universum.

    Was mich besonders fasziniert hat, ist, wie Harvey Kunst und Weltraum miteinander verbindet. Zwei berühmte Kunstwerke tauchen im Buch auf: Velázquez‘ „Las Meninas“ und das ikonische Foto von Michael Collins, das die Erde, den Mond und alles Leben darauf einfängt – außer Collins selbst. Diese Kontraste spiegeln sich auch im Roman wider: die Fülle und Perspektive der einen und die abstrakte Distanz der anderen. Es ist, als ob die Astronaut*innen aus dieser Entfernung unsere Erde mit ganz neuen Augen sehen – frei von Grenzen, Konflikten und allem Alltäglichen.

    In unserer Diskussion im Bookclub kam genau das zur Sprache: Müssen wir uns erst so weit entfernen, um die Schönheit und Zerbrechlichkeit der Erde wirklich zu begreifen?

    The earth, from here, is like heaven. It flows with colour. A burst of hopeful colour. When we’re on that planet we look up and think heaven is elsewhere, but here is what the astronauts and cosmonauts sometimes think: maybe all of us born to it have already died and are in an afterlife. If we must go to an improbable, hard-to-believe-in place when we die, that glassy, distant orb with its beautiful lonely light shows could well be it.

    Harveys Schreibstil ist lyrisch, fast hypnotisch. Plot-Twist-Fans kommen hier eher nicht auf ihre Kosten, denn die Handlung ist minimalistisch. Stattdessen steht das Nachdenken über große Themen wie Zeit, Raum, Klimawandel und die Bedeutung von Fortschritt im Fokus.

    Für mich ist „Orbital“ wie ein Fenster ins All – und gleichzeitig ein Spiegel, der uns zeigt, wer wir sind. Absolute Leseempfehlung, wenn ihr Lust auf etwas Nachdenkliches und Inspirierendes habt!

    Jarka Kubsova „Marschlande“ erschienen im S. Fischer Verlag

    Schon mit dem ersten Satz zieht Marschlande mich in die dramatische Geschichte von Abelke Bleken hinein. Diese Frau lebte vor 450 Jahren im Hamburger Dorf Ochsenwerder, wo sie alleinstehend einen Hof bewirtschaftete – eine Lebensweise, die in einer patriarchalen Welt schnell verdächtig machte. Ihre Geschichte beginnt mit einem scheinbar harmlosen Vorwurf: Sie habe es versäumt, den Deichabschnitt ihres Landes zu reparieren. Doch hinter dieser Anschuldigung steckt mehr – der Versuch, eine Frau um ihr Eigentum zu bringen. Was als Streit um Deichrecht beginnt, mündet in einen Hexenprozess, der Abelke auf den Scheiterhaufen bringt.

    Kubsova erzählt diese Geschichte mit eindringlicher Präzision. Besonders erschüttert hat mich, wie Kapitalismus und Religion hier Hand in Hand gehen, um Frauen wie Abelke nicht nur wirtschaftlich zu enteignen, sondern sie letztlich auszulöschen. Der Vorwurf der Hexerei dient dabei als makabre Legitimation: Denn es fühlt sich offenbar besser an, eine vermeintliche Hexe zu töten, als eine aufrechte Bäuerin schlichtweg zu enteignen. Dieses Zusammenspiel von Gier und Aberglauben erinnert mich daran, wie kapitalistische Strukturen über Jahrhunderte hinweg Frauen immer wieder nicht nur marginalisiert, sondern existenziell bedroht haben. Die Logik bleibt dieselbe: Macht und Besitz werden durch Gewalt und Ideologie gesichert – oft auf Kosten der Schwächsten in der Gesellschaft.

    Neben Abelke steht Britta, eine Frau unserer Zeit, deren Geschichte im Hamburger Hinterland spielt. Während Abelke für ihren Hof kämpft, verliert Britta zunehmend ihre Familie an die moderne Form des Kapitalismus: den Leistungsdruck. Ihr Mann, getrieben von übermäßigen Karriereambitionen, entfremdet sich von ihr und den Kindern, um ein großes Haus auf dem Land und das passende Statussymbol-Leben zu realisieren. Brittas persönliche Krise spiegelt die Zerstörung wider, die kapitalistische Systeme in zwischenmenschlichen Beziehungen anrichten können – damals wie heute.

    Ein Bild von Abelke tauchte plötzlich in ihr auf, sie sah eine Frau zwischen leeren Feldern, die Hand zur Faust geballt, die Faust erhoben, drohend. Der gefährlichste Moment für eine Frau ist, wenn sie sich wehrt. Was folgte daraus? Dass man sich nicht wehren durfte?

    Besonders gelungen ist Kubsovas Brückenschlag zwischen den Jahrhunderten. Jedes Kapitel beginnt mit einem Satz, der sowohl für Abelkes als auch für Brittas Leben gilt, und verdeutlicht so die Kontinuitäten von Unterdrückung und Ungerechtigkeit. Die Autorin wagt die steile, aber bedenkenswerte These, dass die strukturellen Hindernisse, denen Frauen heute begegnen, tief in den historischen Wurzeln des Kapitalismus und der patriarchalen Gesellschaft verankert sind.

    Marschlande ist für mich mehr als ein historischer Roman. Es ist eine eindringliche Anklage gegen die zerstörerische Allianz von Kapitalismus und patriarchaler Macht – damals wie heute. Ein Buch, das aufrüttelt, empört und lange nachhallt. Unbedingt lesen!

    Tommy Orange – There There auf deutsch unter dem Titel „Dort Dort“ im Hanser Verlag erschienen, übersetzt von Hannes Meyer

    „There There“ hat mich hat mich wirklich sehr berührt – ein Buch, das mir nicht nur neue Perspektiven eröffnet, sondern auch einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen hat. Schon beim Hören des Hörbuchs war ich überwältigt von der Kraft und Schönheit seiner Sprache. Ständig hatte ich den Wunsch, Sätze zu markieren, sie zu unterstreichen und immer wieder zu lesen. Dieses Buch, das zu Recht so viel Aufmerksamkeit und Hype erhalten hat, ist eines, das ich unbedingt noch einmal in Buchform lesen möchte.

    Der Titel des Romans bezieht sich auf Gertrude Steins berühmte Bemerkung über Oakland, Kalifornien: „There is no there there“. Oakland, Oranges Heimatstadt, bildet den Schauplatz des Romans und wird zu einem Symbol für das Erbe und die Erfahrung indigener Gemeinschaften in den USA. Orange, selbst ein Mitglied der Cheyenne und Arapaho, erzählt die Geschichten einer Gruppe indigener Menschen, deren Leben auf komplexe Weise miteinander verflochten sind. Schon das Eröffnungsprolog, das nüchtern und zugleich tief erschütternd die koloniale Unterdrückung und Gewalt gegenüber indigenen Völkern schildert, setzt den Ton für das, was folgt.

    We are the memories we don’t remember, which live in us, which we feel, which make us sing and dance and pray the way we do, feelings from memories that flare and bloom unexpectedly in our lives like blood through a blanket from a wound made by a bullet fired by a man shooting us in the back for our hair, for our heads, for a bounty, or just to get rid of us.

    Was dieses Buch für mich so besonders macht, ist die Balance zwischen Schmerz, Verzweiflung aber auch Hoffnung. Orange verzichtet bewusst auf romantisierte Darstellungen indigener Kultur oder nostalgische Bilder von offenen Prärien. Stattdessen zeigt er das Leben indigener Menschen in städtischen Räumen – in all seiner Widersprüchlichkeit, Zerbrechlichkeit und Schönheit. Figuren wie der durch fetales Alkoholsyndrom gezeichnete Tony Loneman, der Dokumentarfilmer Dene Oxendene oder der junge Orvil Red Feather, der sich mit gestohlener Regalia auf ein Powwow vorbereitet, sind so lebendig und greifbar, dass sie mir während des Lesens regelrecht ans Herz gewachsen sind.

    Besonders beeindruckt hat mich, wie Orange es schafft, die Geschichte und Gegenwart der indigenen Bevölkerung der USA miteinander zu verbinden. Das Powwow in Oakland, das den zentralen Schauplatz der Handlung bildet, steht nicht nur für den Versuch, kulturelle Traditionen zu bewahren, sondern auch für die Herausforderungen und Spannungen, die damit einhergehen.

    Michael Wood – In search of the Dark Ages erschienen in der Folio Society

    Michael Woods In Search of the Dark Ages war für mich eine echte Entdeckung – ein Buch, das Geschichte auf die beste Art und Weise vermittelt: anschaulich, spannend und voller Denkanstöße. Ich habe es mit großer Begeisterung gelesen, und es hat mich dazu inspiriert, tiefer in die faszinierende Epoche der sogenannten „Dark Ages“ einzutauchen. So sollte Geschichte immer präsentiert werden: als lebendige Erzählung, die nicht nur informiert, sondern auch zum Weiterforschen einlädt.

    Wood gelingt es meisterhaft, eine Epoche, die oft als düster und mysteriös dargestellt wird, mit Leben zu füllen. Seine Erzählungen über historische Figuren wie Boudica, Alfred den Großen oder William den Eroberer machen deutlich, wie vielschichtig und bedeutend diese Zeit für die Entwicklung Englands war. Besonders gefallen hat mir, wie er historische Fakten mit Geschichten aus Archäologie und Mythologie verwebt. Die Kapitel über Sutton Hoo oder die Artus-Legenden sind ein Beispiel dafür, wie Geschichte und Legende miteinander verschmelzen und ein tieferes Verständnis für diese Ära schaffen.

    The key point about Patrick’s narrative is that when he returned to Britain in around 415, when Roman rule had ended in Britain, there is no suggestion of disorder. Indeed, when he wrote his account in the middle years of the century, the imperial Roman system of local government was intact – the local town councils, for example, were still responsible for raising taxes for the government. It was still a world where professional rhetoricians could earn a living as they could in Rome; where a letter writer could address the British dynasty of Strathclyde as „fellow citiziens“. We can therefore imagine the continuation of a feeling of identity with Rome in the Romano-British ruling class, the senatorical aristocracy and the local landowners.

    Was mich besonders beeindruckt hat, ist die Fähigkeit des Buches, die Herausforderungen des Alltagslebens in jener Zeit greifbar zu machen. Wood schildert nicht nur die großen politischen und militärischen Ereignisse, sondern auch, wie es war, in einer Welt zu leben, die von Hunger, Seuchen und ständiger Unsicherheit geprägt war. Dabei bleibt er stets kritisch, etwa wenn er die Schwächen von Herrschern wie Ethelred ungeschönt analysiert, ohne den Respekt für seine Leistungen im Kontext dieser Zeit zu verlieren.

    Ein Highlight für mich war die Ausgabe der Folio Society, die ich gelesen habe. Die hochwertige Gestaltung, die großartigen Fotografien und die Liebe zum Detail machen diese Ausgabe zu einem echten Schatz. Die Bilder tragen wesentlich dazu bei, sich die beschriebene Zeit noch besser vorzustellen – sei es ein Fund aus einem königlichen Grab oder kunstvolle Nachbildungen historischer Artefaktr. Das Buch ist nicht nur eine intellektuelle, sondern auch eine ästhetische Freude.

    „In Search of the Dark Ages“ ist ein Buch, das weit über eine historische Nacherzählung hinausgeht – es bietet einen Zugang zu einer Zeit, die mehr als nur ein Übergang zwischen Antike und Mittelalter war – eine Epoche, die ihre eigene Dynamik und Bedeutung hatte. Spannend fand ich auch, wie unterschiedlich das Ende des römischen Reiches sich gestaltete. In manchen Ecken blieben die römische Organisation und Zivilisation fast bis in 12. Jahrhundert erhalten, in anderen Ecken der Welt war schon um 500 – 600 nach unserer Zeitrechnung nicht mehr viel übrig als Ruinen und Dunkelheit. Michael Wood schafft es, diesen Zeitraum mit einer Mischung aus Wissenschaftlichkeit und Erzählkunst zu beleuchten, die mich vollkommen überzeugt hat. Für jeden, der sich für die Ursprünge der britischen Geschichte interessiert, ist dieses Buch ein Muss.

    So das war der Dezember – war für euch was dabei? Welche Bücher kennt ihr, auf welche konnte ich euch vielleicht neugierig machen? Freue mich auf eure Rückmeldungen.

    Mai Lektüre

    Heute habe ich mir beim Wandern ziemlich das Fell verbrannt, war anscheinend doch nicht vollumfänglich eingecremt. Daher verstecke ich mich jetzt auf der schattigen Terrasse vor der Sonne und schreibe jetzt endlich mal meinen Mai Rückblick, aufgrund der – nach wie vor nicht behobenen – Internetprobleme zu Hause war das vor dem Urlaub ja nicht mehr möglich.

    Jetzt wieder im Sauseschritt und in alphabetischer Reihenfolge die Kurzvorstellungen der von mir im Mai gelesenen und zum Teil gehörten Bücher.

    Birnam Wood – Eleanor Catton bislang noch nicht auf deutsch erschienen.

    Es geht auch direkt mit einem Hörbuch los, einem das zu meinen bisherigen Jahres-Highlights gehört.

    Vor fünf Jahren gründete Mira Bunting eine Guerrilla-Gartengruppe: Birnam Wood. Als nicht angemeldeter, nicht regulierter, manchmal krimineller, manchmal philanthropischer Zusammenschluss von Freunden pflanzt dieses Aktivistenkollektiv Pflanzen dort an, wo sie niemand bemerkt: an Straßenrändern, in vergessenen Parks und vernachlässigten Hinterhöfen. Seit Jahren kämpft die Gruppe darum, die Kosten zu decken. Dann stößt Mira auf eine Lösung, eine Möglichkeit, die Gruppe endlich langfristig aufzustellen: Ein Erdrutsch hat den Korowai-Pass geschlossen und die Stadt Thorndike abgeschnitten. Die Naturkatastrophe hat eine Gelegenheit geschaffen: eine große, scheinbar verlassene Farm.

    Aber Mira ist nicht die einzige, die sich für Thorndike interessiert. Robert Lemoine, der rätselhafte amerikanische Milliardär, hat sich die Farm geschnappt, um dort seinen Endzeitbunker zu bauen – zumindest erzählt er das Mira, als er sie auf dem Grundstück erwischt. Er ist fasziniert von Mira, Birnam Wood und ihrem Unternehmergeist und schlägt ihnen vor, das Land zu bewirtschaften. Aber können sie ihm vertrauen? Und können sie sich gegenseitig vertrauen, während ihre Ideale und Ideologien auf die Probe gestellt werden?

    “There’s something so joyless about the left these days,’ Tony continued, ‘so forbidding and self-denying. And policing. No one’s having any fun, we’re all just sitting around scolding each other for doing too much or not enough – and it’s like, what kind of vision for the future is that? Where’s the hope? Where’s the humanity? We’re all aspiring to be monks when we could be aspiring to be lovers.”

    Birnam Wood ist ein fesselnder psychologischer Thriller des mit dem Booker Prize ausgezeichneten Autors von The Luminaries, der in seinem Witz, seiner Dramatik und der Vertiefung der Charaktere an Shakespeare erinnert. Es ist eine brillant konstruierte Betrachtung von Absichten, Handlungen und Konsequenzen und eine unnachgiebige Untersuchung des menschlichen Impulses, unser eigenes Überleben zu sichern.

    Ein Buch bei dem ich teilweise bereut habe, dass ich es „nur“ als Hörbuch höre, denn ich hätte jede Menge Sätze anstreichen wollen. Ein überaus kluges, zum Nachdenken anregendes Buch mit dem ich mich noch immer beschäftige. Wird sich garantiert bei meinen Highlights 2023 wiederfinden.

    Der Komponist und seine Richterin – Patricia Duncker übersetzt von Barbara Schaden erschienen im Berlin Verlag

    Am Neujahrstag werden die Leichen entdeckt: sechzehn Tote im frisch gefallenen Schnee. Die Erwachsenen liegen steif im Halbkreis, die Kinder in Pyjamas und Mänteln zu ihren Füßen.

    Als er den Bericht erhält, weiß Kommissar Andre Schweigen genau, wen er anrufen muss: Richterin Dominique Carpentier, auch bekannt als „Sektenjägerin“. Sie ist die anerkannte Expertin auf diesem Gebiet, brillant und unerbittlich rational, aber Schweigen hat seine eigenen Gründe, warum er sie für seinen Fall haben möchte. In dem verlassenen Chalet entdecken die Ermittler ein verschlüsseltes Buch mit Himmelskarten, das sie zu dem ungastlichen Komponisten Friedrich Gross führt. Doch während die skeptische Sektenjägerin das Vertrauen des Komponisten gewinnt, wird sie in eine Welt komplexer Familienbande und uralter kosmischer Überzeugungen hineingezogen, aus der sie nicht entkommen kann – und zunehmend auch nicht will -.

    Der seltsame Fall des Komponisten und seines Richters ist ein metaphysisches Mysterium von außerordentlicher Kraft, das Glauben, Unsterblichkeit und Leidenschaft in Frage stellt.

    Patricia Duncker ist eine wirklich spannende Autorin, die meines Erachtens viel mehr Beachtung verdient hätte. Dieser Roman reicht für mich nicht ganz an „The Deadly Space between“ heran, ist aber auch ein origineller Roman mit starken Bildern. Ich freue mich schon auf mein nächstes Patricia Duncker Buch, das bereits bereitliegt: Die Germanistin

    The Shards – Bret Easton Ellis unter dem gleichnamigen Titel erschienen im Kiepenheuer & Witsch Verlag, übersetzt von Stephan Kleiner

    Mein erster Easton Ellis und ich war selten so hin- und hergerissen bei einem Buch ob ich es lesen soll oder nicht. Ja, denn ich mochte den Film „American Psycho“ – nein, weil Menschen auf deren Meinung ich viel Wert lege mir davon abhielten weil zu frauenfeindlich und blutrünstig. Ja, weil Buddy Donna Tartts die ich ungemein schätze, nein siehe oben. Die Entscheidung wurde mir dann abgenommen, da wir das Buch als Gastgeschenk mitgebracht bekamen und dann war es natürlich entschieden – ich wollte den Roman umgehend lesen und mir eine Meinung bilden.

    Mir hat er ausgesprochen gut gefallen, man fällt beim Lesen in einen gruselig-wohligen 1980er Sommer, hat leichte Stephen King Assoziationen, aber nicht Kleinstadt sondern Los Angeles und das Buch hat einen ganz tollen Soundtrack.

    Bret Easton Ellis‘ neuer Roman erzählt eine traumatische Geschichte: Während seiner eigenen Schulzeit war ein Serienmörder in L.A. eine Bedrohung für die Jugendlichen.

    Der siebzehnjährige Bret ist in der Oberstufe der exklusiven Buckley Prep School, als ein neuer Schüler auftaucht. Robert Mallory ist intelligent, gutaussehend und charismatisch und zieht Bret magisch an. Bret ist sich sicher, dass Robert ein düsteres Geheimnis hat, und kann dennoch nicht verhindern, dass Robert Teil seiner Freundesgruppe wird. Als der Trawler, ein Serienmörder, der Jugendliche auf bestialische Weise umbringt, immer näher an ihn und seine Clique heranrückt, gerät Bret zunehmend in eine Spirale aus Paranoia und Isolation. Doch wie zuverlässig ist Bret als Erzähler?

    Because movies were a religion in that moment, they could change you, alter your perception, you could rise toward the screen and share a moment of transcendence, all the disappointments and fears would be wiped away for a few hours in that church: movies acted like a drug for me. But they were also about control: you were a voyeur sitting in the dark staring at secret things, because that’s what movies were—scenes you shouldn’t be seeing and that no one on the screen knew you were watching.

    „The Shards“ ist eine faszinierende Mischung aus Fakten und Fiktion, aus Realität und Fantasie, die auf brillante Weise das emotionale Gefüge von Brets Leben als Siebzehnjähriger auslotet – Sex und Eifersucht, Besessenheit und mörderische Wut. Fesselnd, raffiniert, spannend, eindringlich – nur wer seine Romane mit hübsch ordentlich sortierten Handlungsenden bevorzugt mag mit dem eher mehrdeutigen Ende vielleicht nicht ganz glücklich werden. Für mich war der Roman einer meiner Highlights.

    Ewig Sommer – Franziska Gänsler erschienen im Kein & Aber Verlag

    Eine junge Mutter kommt mit ihrer Tochter in ein Hotel, in dem schon lange keine Gäste mehr abgestiegen sind. Seitdem die Brände im benachbarten Wald toben, hat der einstige Kurort seinen Reiz verloren. Für Iris, die Besitzerin des Hotels, ist der unerwartete Besuch gleichzeitig willkommene Abwechslung und Grund zur Sorge: Irgendetwas scheint mit der Fremden nicht zu stimmen. Ist sie auf der Flucht vor ihrem Mann? Sollte sie der Frau, die sich nicht immer angemessen um ihre Tochter zu kümmern scheint, helfen? Oder müsste sie das Kind vor ihr schützen? Mit der Zeit kommen sich die beiden Frauen näher und fangen an, die Schatten ihrer Vergangenheit auszuleuchten. Iris ahnt, dass dieser Besuch früher oder später ein jähes Ende finden wird – unklar ist nur, aus welcher Richtung wirklich die Gefahr droht.

    Eine Hitze. Das ist der Weltuntergang. So geht’s zu Ende mit uns

    Franziska Gänsler schafft eine dystopische Atmosphäre in ihrem gelungenen Debüt, das einem dank der Hauptfiguren dennoch Zuversicht und Hoffnung vermitteln.

    Mittagsstunde – Dörte Hansen erschienen im Penguin Verlag

    Die Wolken hängen schwer über der Geest, als Ingwer Feddersen, 47, in sein Heimatdorf zurückkehrt. Er hat hier noch etwas gutzumachen. Großmutter Ella ist dabei, ihren Verstand zu verlieren, Großvater Sönke hält in seinem alten Dorfkrug stur die Stellung. Er hat die besten Zeiten hinter sich, genau wie das ganze Dorf. Wann hat dieser Niedergang begonnen? In den 1970ern, als nach der Flurbereinigung erst die Hecken und dann die Vögel verschwanden? Als die großen Höfe wuchsen und die kleinen starben? Als Ingwer zum Studium nach Kiel ging und den Alten mit dem Gasthof sitzen ließ? Mit großer Wärme erzählt Dörte Hansen vom Verschwinden einer bäuerlichen Welt, von Verlust, Abschied und von einem Neubeginn.

    Man hatte hier als Mensch nicht viel zu melden. Man konnte gern rechts ranfahren, aussteigen, gegen den Wind anbrüllen und Flüche in den Regen schreien, es brachte nichts. Es ging hier gar nicht um das bisschen Mensch.

    Mit dem Roman hat mich Dörte Hansen jetzt echt erwischt. Ich mochte das „Alte Land“ ganz gern, mit „Zur See“ bin ich nicht völlig warm geworden, aber die „Mittagsstunde“ die ist mein bislang liebster Roman von ihr. Danke noch mal an meine liebe Freundin Barbara, die ihn mir schenkte und schickte, weil sie mein lauwarmes Urteil zu Hansens neuestem Roman so nicht stehen lassen wollte und sie hatte ja auch wirklich Recht damit. Ein durch und durch norddeutsches Buch mit einem ganz eigenen Sound und Figuren mit denen ich jederzeit mal den einen oder anderen Schnapps kippen würde.

    Eine kurze Geschichte der böhmischen Raumfahrt – Jaroslav Kalfar übersetzt von Barbara Heller erschienen im Klett-Cotta Verlag

    Der Roman war meine Begleitlektüre nach Karlovy Vary und ich habe hier schon kurz über den Roman geschrieben. Das war eine beglückende Lektüre und ich freue mich schon auf weitere Bücher des Autoren.

    Salem’s Lot – Stephen King auf deutsch erschienen unter dem Titel „Brennen muss Salem“ im Heyne Verlag, übersetzt von Peter Robert

    „Brennen muss Salem“ von Stephen King ist eine packende und gruselige Vampirgeschichte, die den Leser sehr schnell in seinen Bann zieht. Die Handlung spielt in der kleinen Stadt Jerusalem’s Lot und folgt dem Schriftsteller Ben Mears, als er zurückkehrt, um seine Kindheitsdämonen zu konfrontieren. Doch bald entdeckt er, dass die Stadt von einer finsteren Macht übernommen wird, die sich an den Bewohnern labt und sie in blutdurstige Kreaturen der Nacht verwandelt.

    Kings meisterhafte Erzählweise und seine detaillierten Charaktere machen ‚Brennen muss Salem‘ zu einer wahrhaft unheimlichen Lektüre. Die atmosphärischen Beschreibungen und das Gefühl der Bedrohung durchdringen jede Seite und schaffen eine beunruhigende Stimmung, die noch lange nach dem Lesen des Buches anhält. Die vielfältige und fehlerhafte Besetzung von Charakteren verleiht der Geschichte Tiefe, und ihr Kampf gegen die herannahende Dunkelheit sorgt für eine fesselnde Handlung.

    The basis of all human fears, he thought. A closed door, slightly ajar.

    Mit seiner Mischung aus übernatürlichem Horror und psychologischem Spannungsbogen zeigt ‚Brennen muss Salem‘ Kings Fähigkeit, in die dunkelsten Ecken der menschlichen Natur einzutauchen. Es ist eine klassische Vampirgeschichte, die den Leser gleichermaßen erschreckt und fesselt und Kings Ruf als Meister des Genres festigt.

    Habe nach der Lektüre die gleichnamige Verfilmung aus dem Jahr 1979 gesehen und fand die deutlich gruseliger als erwartet:

    Intimacies – Katie Kitamura auf deutsch unter dem Titel „Intimitäten“ erschienen im Hanser Verlag, übersetzt von Kathrin Razum

    Was braucht ein Ort, um zu einem Zuhause zu werden? Die heimatlose Erzählerin verlässt New York, um am Gerichtshof in Den Haag als Dolmetscherin zu arbeiten. Als sie Adriaan kennenlernt, scheint die Stadt zur Antwort ihrer Sehnsüchte zu werden. Doch dann verschwindet er zu seiner Noch-Ehefrau und hinterlässt nichts als Fragen. Fragen, die sich zu einem existenziellen Abgrund auftun, als sie für einen angeklagten westafrikanischen Kriegsverbrecher dolmetschen muss und zweifelt: Was ist kalkulierte Lüge, was Wahrheit? Glauben nur noch die Naiven an Gerechtigkeit? Wer kann über wen richten? Katie Kitamuras subtiler Roman ist ein anregendes intellektuelles Vergnügen mit hypnotischer Sogwirkung.

    Interpretation can be profoundly disorienting, you can be so caught up in the minutiae of the act, in trying to maintain utmost fidelity to the words being spoken first by the subject and then by yourself, that you do not necessarily apprehend the sense of the sentences themselves: you literally do not know what you are saying. Language loses its meaning

    Ein leiser Roman der eine Frau porträtiert die zwischen unterschiedlichen Wahrheiten gefangen ist. Die Mai Lektüre unseres Bookclubs hat allgemein Anklang gefunden, das interessante Einblicke in die Tätigkeit von Übersetzer*innen an einem Gerichtshof bietet, fürchte aber ich werde das Buch nicht sehr lange im Gedächtnis behalten.

    The End of Men – Christina Sweeney-Baird auf deutsch unter dem Titel „Die andere Hälfte der Welt“ im Diana Verlag erschienen, übersetzt von Carola Fischer

    Der Roman beginnt in London, wo Catherine, eine Sozialanthropologin mit einer glücklichen Ehe und einem bezaubernden 3-jährigen Sohn, eine Fruchtbarkeitsbehandlung vermeidet, weil sie einem zweiten Kind skeptisch gegenübersteht. Ein großer Fehler. Fünf Tage später, an „Tag 1“, stirbt ein Mann ohne ersichtlichen Grund in einem Krankenhaus in Glasgow. Nachdem zwei Tage später ein zweiter Mann dort stirbt und weitere erkranken, wittert die behandelnde Ärztin Amanda, selbst Ehefrau und Mutter zweier Söhne, eine nahende Katastrophe. Sie wendet sich an die kürzlich unabhängig gewordenen schottischen Gesundheitsbehörden, die ihre Bedenken abtun. Am 5. Tag ist „die Pest“, obwohl sie immer noch auf Schottland beschränkt ist, „alles, worüber man in London reden kann“. Und so breitet sich die Pest aus, Tag für Tag, in acht Abschnitten, die die Stadien von AUSBRUCH über PANIK und ANPASSUNG bis zur ERINNERUNG beschreiben. Obwohl Frauen Überträgerinnen sein können, erkranken nur Männer (jeden Alters), fast immer tödlich.

    Die Überlebenden, d. h. die Frauen, erleben, was Überlebende heute erleben – Verlust, Isolation, Angst, Schuldgefühle, körperliche Schäden, finanzielle Krisen und gelegentlich auch Glück. Catherine und Amanda, die früh die Männer und Jungen in ihrem Leben verlieren, stehen im Mittelpunkt, während sie ihr Leben rekonstruieren. Doch die britische Autorin Sweeney-Baird wechselt den Fokus auf immer mehr Charaktere – wohlhabend, aus der Arbeiterklasse, in der Stadt, auf dem Land, weiß, schwarz, asiatisch, heterosexuell, LGBTQ+, britisch, amerikanisch, kanadisch, philippinisch – als hätte sie Angst, irgendeine soziale Untergruppe auszulassen. Eine oberflächliche Charakterentwicklung ist unvermeidlich. Aber eine fesselnde Besonderheit ist die Darstellung der brillanten schwulen kanadischen Wissenschaftlerin Lisa, einer Schurkin und viel gehassten Retterin, die die Pandemie als Sprungbrett zu Reichtum und Ruhm nutzt. In der Zwischenzeit werfen der Verlust des größten Teils der männlichen Weltbevölkerung und die Art und Weise, wie die Regierungen auf die Seuche reagieren, komplizierte ethische Fragen auf.

    I have never felt so powerful. This must be what men used to feel like. My mere physical presence is enough to terrify someone into running. No wonder they used to get drunk on it.

    Sweeney-Baird hat wohl sowas wie den Aktualitäts-Jackpots gewonnen. Sie hat das Buch bereits 2018 vor der Covid-19 Epidemie geschrieben.

    Das Ende der Menschen ist ein intelligenter, unheimlich vorausschauender Roman, der gleichzeitig nachdenklich und hochemotional ist.

    The end of the world running club – Adrian J Walker auf deutsch im Fischer Tor Verlag erschienen unter dem Titel „Am Ende aller Zeiten“ übersetzt von Nadine Püschel und Gesine Schröder

    Adrian J Walker hat mit ›Am Ende aller Zeiten‹ einen postapokalyptischen Roman geschrieben, in dem ein ganz normaler Familienvater vor die größte Herausforderung seines Lebens gestellt wird.

    Edgar Hill ist Mitte dreißig, und er hat sein Leben gründlich satt. Unzufrieden mit sich und seinem Alltag in Schottland als Angestellter, Familienvater und Eigenheimbesitzer, fragt er sich vor allem eins: Hat das alles irgendwann einmal ein Ende? Er ahnt nicht, dass sich die Katastrophe bereits anbahnt.
    Als das Ende kommt, kommt es von oben: Ein dramatischer Asteroidenschauer verwüstet die Britischen Inseln. Das Chaos ist gigantisch, die Katastrophe total. Ganze Städte werden ausgelöscht. Straßen, das Internet, die Zivilisation selbst gehören plötzlich der Vergangenheit an. England liegt in Schutt und Asche. Ist dies der Weltuntergang?

    That beast inside you, the one you think is tethered tightly to the post, the one you’ve tamed with art, love, prayer, meditation: it’s barely muzzled. The knot is weak. The post is brittle. All it takes is two words and a siren to cut it loose.

    Edgar und seine Familie werden während der Evakuierung voneinander getrennt, und ihm bleibt nur eine Wahl: Will er Frau und Kinder jemals wiedersehen, muss er 500 Meilen weit laufen, durch ein zerstörtes Land und über die verbrannte Erde, von Edinburgh nach Cornwall. Zusammen mit einigen wenigen Gefährten begibt sich Edgar Hill auf einen Ultra-Marathon durch ein sterbendes Land. Doch sein Weg ist gefährlich: Im postapokalyptischen England kämpft jeder gegen jeden ums blanke Überleben.

    Edgar ging mir ziemlich auf die Nerven. Ein rumheulendes Kind in der Gestalt eines Mannes, den ich mehrfach einfach nur schütteln wollte. Es wurde deutlich weniger gerannt als ich es vermutet hätte bei dem Titel. Es gibt noch einen Folgeband bei dem die Geschichte aus Sicht von Edgars Frau beschrieben wird – mal schauen, ob ich noch mal Lust und Energie dafür aufbringe. Wollte eigentlich die meiste Zeit rufen „run away from him“ 😉

    So das wars jetzt aber mit der Mai Lektüre. Viel Dystopisch-gruseliges unter sonnigem Himmel – insgesamt ein guter Lesemonat. Welche Bücher kennt ihr, auf welche konnte ich euch Lust machen?

    7. Türchen: Der Trafikant – Robert Seethaler

    Türchen 7 öffnet sich für unser kürzliches gemeinsames Twitter-Leseprojekt #FranzlUndSiggi – das gemeinsame Lesen hat riesigen Spaß gemacht und auch wenn ich ein wenig mit der unerschütterlichen Naivität des Protagonisten zu kämpfen hatte, ein Buch das ich als Weihnachtsgeschenk uneingeschränkt empfehlen kann:

    Als der siebzehnjährige Franz seine Heimat in der idyllischen Schönheit in den österreichischen Alpen gegen die Hektik Wiens eintauscht, löst sich sein Heimweh schnell in der Hektik der Stadt auf. Als Lehrling bei dem alten Trafikanten Otto Trsnyek wird er bald die Großen und Schönen Wiens mit Zeitungen und Zigaretten versorgen. Zu den Stammkunden gehört auch Professor Freud, dessen Vorliebe für Zigarren und seine gelegentliche Bereitschaft, romantische Ratschläge zu erteilen, ihn und den jungen Franz verbinden. Wir schreiben das Jahr 1937. In wenigen Monaten wird Deutschland Österreich annektieren, und der Sturm, der die kleine Trafik zu verschlingen droht, wird sich legen und das Leben von Franz, Otto und Professor Freud unwiederbringlich verändern…

    Eine wirklich spannende und umfassende Rezension findet ihr hier bei meiner #FranzlUndSiggi-Mistreiterin Miss Booleana. Bei mir gibt es noch eine Besprechung zu Seethalers „Ein ganzes Leben“ wer jetzt Lust auf mehr von ihm bekommen hat.

    Habt Ihr den Trafikanten schon gelesen oder etwas anderes von Seethaler?

    Elif Shafak @International Literature Festival Berlin

    “There is no such thing as a well-meaning dictatorship. Nor is there any such thing as an undemocratic nation that is stable.”

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    Fotos: Aslihan Kuscu

    Die türkische Autorin Elif Shafak eröffnete am 06.09.17 das 17. Internationale Literaturfestival. Ihre Eröffnungsrede beschäftigt sich mit der Krise, in der sich die Demokratie weltweit befindet und ermuntert insbesondere ihre Schrifsteller-Kollegen, sich stärker für den Erhalt und Ausbau der Demokratie einzusetzen.

    Shafak ist die bekannteste Schriftstellerin der Türkei und hat dort immer wieder aufgrund ihrer politischen Äußerungen mit Morddrohungen, Beschimpfungen und anderen Repressalien zu kämpfen. Sie wuchs bei ihrer Mutter und ihrer Großmutter auf, zwei Frauen, die sie und ihr Schreiben weitgehend beeinflussen. Ihre Mutter war lange Jahre als Diplomatin tätig und Elif Shafak hat daher einen ausgesprochen kosmopolitischen Hintergrund. Ihren Wohnsitz hatte sie lange Jahre sowohl in London als auch in Istanbul, eine Pendlerin zwischen den Welten.

    So wie ihre Großmutter für Glaube und Tradition und ihre Mutter für Moderne und Säkularität steht, so spiegeln auch London und Istanbul die zwei Pole wider, zwischen denen sie sich bewegt.

    Die Demokratie ist nicht nur in der Türkei den Bach runtergegangen, wenn wir uns umschauen, müssen wir mit Schrecken feststellen, wie brüchig dieses Modell in vielen anderen Ländern ist, wie selbstverständlich wir die Demokratie genommen haben und erst jetzt, wo mehr und mehr Autokraten sie unterwandern, wachen wir langsam auf.

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    Die Regierung in der Türkei ist seit über 14 Jahren an der Macht und fassungslos muss man beobachten, wie Meinungsfreiheit und Pressefreiheit eliminiert werden, Gewalt gegen Frauen wächst, Islamismus und Angriffe auf Intellektuelle um sich greifen. Mittlerweile sitzen mehr Journalisten und Schriftsteller in der Türkei im Gefängnis als in China.

    Viele Jahre lang hat sich die Türkei Europa zugehörig gefühlt. Es wurde englische, französische, italienische Literatur gelesen und übersetzt. Erst in den letzten Jahren wurden Autoren aus dem mittleren Osten übersetzt, eine Tatsache die sicherlich schon früher hätte geschehen sollen, die aber zeigt, wie sehr die türkische Gesellschaft Europa zugewandt war und wie sehr sie jetzt die Nähe zum Mittleren Osten sucht.

    In der Türkei wie auch in anderen Ländern polarisiert sich die Gesellschaft immer mehr. Die Menschen werden gespalten in „die“ und „wir“. Gläubige gegen Ungläubige, Stadtbewohner gegen Landbewohner, Kompromisse sind immer seltener möglich. Und wir sollten uns auf keinen Fall entspannt zurücklehnen und das ganze als typisches „Muddle East“ Verhalten einordnen. Diese Spaltungen gibt es genauso in der westeuropäischen Welt und die Gräben werden immer tiefer. Eine gefährliche Entwicklung, die knappen Wahlerfolge in Frankreich, Österreich und den Niederlanden sind nur ein kurzes Aufatmen.

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    Es gibt mehr und mehr Menschen, die die Demokratie in Frage stellen, die sie definitiv nicht für ein zukunftsfähiges Modell halten. Die den Menschen einreden wollen, man müsse sich zwischen Stabilität und Demokratie entscheiden. Es gibt aber keine langfristige Stabilität in nicht-demokratischen Ländern. Länder ohne Demokratie sind unglückliche Länder und das führt kurz oder lang zu Problemen.

    Die Sehnsucht nach dem „starken Führer“ ist momentan in der Welt verbreitet wie noch nie. Progressiver Liberalismus wird angegriffen, eingeschüchtert und aufgeweicht. Man sehnt sich nach vermeintlich goldenen alten Zeiten und der Lieblingsspruch der Despoten ist „make Turkey/Hungary/Poland/Russia/US … great again“

    Leider konnte ich den Vortrag von Elif Shafak auf dem Literaturfestival in Berlin nicht online finden, allerdings habe ich einen recht ähnlichen gefunden, den sie auf dem Oslo Friedens Forum gehalten hat:

    „We all need to become activists. We need to become activists for empathy, for diversity, for pluralistic democracy, and very importantly, for a global solidarity“

    In ihrem Heimatland ist die Erdogan-Kritikerin sehr wahrscheinlich gefährdet. Sie sagt „Ich war es gewöhnt, bei internationalen Konferenzen zu den eher düsteren, deprimiert Vortragenden zu gehören. Und ich glaube, dass es viele türkische Autoren gibt, die ziemlich deprimiert und demoralisiert sind. Aber dann waren da gewöhnlich auch Autoren aus anderen Ländern, aus Ländern wie Pakistan, Ägypten, Venezuela, Nigeria, den Philippinen, die auch deprimiert waren. Wir hörten uns gegenseitig zu, lächelten uns an, aber gefühlsmäßig gab es da immer noch ein Unterschied zwischen denen von uns, die aus wackeligen oder verwundeten Demokratien, und denen, die aus stabilen Demokratien kamen.

    Im letzten Jahr habe sich das geändert, immer mehr Autoren treten dem Team der Deprimierten bei und diese kommen jetzt Europa: aus Ungarn, Polen, selbst aus Österreich, Holland und Frankreich. Und sogar Schriftsteller aus dem Vereinigten Königreich, wo ich lebe – plötzlich waren da immer mehr von uns, die sich um das Schicksal ihrer Länder und das der Welt Sorgen machten“, sagt Shafak.

    Eigentlich hätten wir die Gelegenheit haben sollen, ein persönliches Interview mit Elif Shafak zu führen, doch leider hatte ihr Flug zwei Stunden Verspätung und daher hat es leider nicht geklappt. Ich bin mit meiner Freundin Aslihan nach Berlin geflogen, die der vermutlich weltgrößte Fan von Elif Shafak ist und die auch die ganzen wunderbaren Fotos hier aufgenommen hat.

    Elif Shafak hat nach sich Abschluss ihrer Rede wahnsinnig viel Zeit für all die Menschen genommen, die sich ein (oder mehrere) ihrer Bücher signieren oder ein Foto mit ihr machen lassen wollten. Die Schlange war ewig lang, sehr sehr viele junge Türkinnen und Türken, die Elif Shafak aufs Höchste verehren.

    Ein kurzer Austausch war uns möglich mit Elif Shafak und auch wenn ich vorher schon Symphatien hatte für diese unglaublich kluge und interessante Autorin, nach dieser Rede und dem kurzen Kennenlernen bin ich noch einmal mehr Fan.

    In ihrem neuesten Roman „Three Daughters of Eve“ geht es um drei Frauen, die in Oxford studieren und sich anfreunden. Shirin, Mona und Peri : The sinner, the believer and the confused.

    Der Roman nimmt Bezug auf die aktuelle tiefe Zerrissenheit der türkischen Gesellschaft. Wenn unterschiedliche Gruppen von der absoluten Richtigkeit ihrer Meinungen überzeugt sind, ist Konflikt unausweichlich. Religion ist auch weiterhin im Zentrum der meisten dieser Debatten. Elif Shafak erschafft in ihrem Roman die Figur von Azur, einem kontroversen Oxforder Professor, der seine Studenten ermuntert, in seinem Seminar über unterschiedliche Glaubenssysteme zu debatieren, um der Unsitte der „Malady of Certainty“ Einhalt zu gebieten. Zu seinem Seminar kann man sich nicht einfach anmelden, man wird von ihm eingeladen und ausgewählt, die philosophische Bedeutung Gottes zu diskutieren.

    Neben der Protagonistin Peri, die mit einem sekulären Kemalisten als Vater und einer tiefgläubigen Mutter aufwächst und mit Bezug auf Gott eher verwirrt ist, nimmt ihre politisch aktive und gläubige Muslimin Mona und die freizügige, bisexuelle atheistische Shirin teil, eine Iranerin.

    Teile des Buches spielen im heutigen Istanbul und insbesondere während der Dinnerparty gibt es wahnsinnig gute Passagen und ich kam aus dem Unterstreichen kaum heraus.

    „Frankly, I don’t believe in democracy“, said an architect with a crew cut and perfectly groomed goatee… Take Singapore, success without democracy. China. Same. It’s a fast-moving world. Decisions must be implemented like lightning. Europe wastes time with petty debates while Singapore gallops ahead. Why? Because they are focused. Democracy is a loss of time and money“.

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    Teile des Buches haben mir sehr gefallen, andere fand ich ein wenig zu konstruiert und für eine, die auch ein bisschen zu sehr davon überzeugt ist, zu wissen was sie glaubt, war die pausenlose Auseinandersetzung mit Religion ein bisschen viel.

    Vor der Eröffnungsrede gab es im Foyer der Berliner Festspiele eine Inszenierung in der die Darstellerin Zoran Volantes im Käfig sitzend, Texte der inhaftierten Autorin Aslihan Erdogan und anderen inhaftierten oder gefährdeten türkischen Autoren vorlesend.

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    Mich hat das Treffen mit Elif Shafak sehr beeindruckt und ihre Rede hat mich sehr bewegt. Wie fragil die Demokratie momentan ist, ist mir danach noch einmal mehr bewusst geworden und wie wichtig es ist, sie nicht als etwas selbstverständliches zu sehen, sondern um sie zu kämpfen und sich mit den progressiven liberalen Menschen weltweit noch viel stärker zu solidarisieren.

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    Elif Shafaks TED Talk „The revolutionary power of diverse thought“:

    „Three Daughters of Eve“ erschien auf deutsch unter dem Titel „Der Geruch des Paradieses“ im Kein & Aber Verlag.

    In Cold Blood – Truman Capote

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    Ich habe vor ein paar Jahren den Film “Capote” im Kino gesehen, ein Biopic, das sich recht intensiv mit Capotes Buch “In Cold Blood” und seine Beziehungen zu den verurteilten Mördern beschäftigt. Durch die im Film starke Verwebung zwischen Capote, Perry und Dick erwartete ich, dass er als Person in dem Buch auftaucht, da es ja um eine Tatsachenerzählung handelt. Der Autor taucht aber nicht auf in diesem Buch, was dem ganzen noch stärker etwas romanhaftes verleiht, auch wenn man natürlich von der ersten Seite an nicht nur weiß, was passieren wird, sondern auch, dass es sich um eine wahre Geschichte handelt.

    Wie bei der Verfilmung von „Titanic“ saß ich im Bett und wollte den Clusters permanent zurufen „aufpassen“, „schließt alles zu“, „lasst keinen herein“ – es war für mich ganz schwer auszuhalten, dieses Wissen, was gleich passieren wird und doch zu hoffen, vielleicht passiert es ja doch nicht.

    „In Cold Blood“ ist vom Anfang bis zum Ende ein überaus intensives, spannendes und fesselndes Leseerlebnis. Der Schreibstil ist neutral und faktenbasiert und trotzdem gelingt es Capote, die Charaktere jedes einzelnen greifbar und anschaulich zu machen, egal, ob es sich um Familienmitglieder der Clutters handelt, die Fahnder, die Anwälte und sogar die der Mörder selbst. Er schafft das, ohne dem ganzen seine persönliche Meinung aufzudrücken und er hat damit das neue Genre des nicht-fiktiven Romans geschaffen, in dem er die Elemente des klassischen Kriminalromans mit sachlichem Journalismus und psychologischer Analyse verbindet.

    Positiv überrascht hat mich auch die unerwartete Wendung, nicht sofort explizit zu beschreiben, wie Perry und Dick die Morde tatsächlich durchgeführt haben, sondern nimmt den Leser mit auf ihre Flucht und lässt uns an den Aufklärungsbemühungen der Fahnder und der Polizei teilhaben. Dadurch bleibt es einfach danach noch unglaublich spannend.

    Der Leser erfährt sehr viel über die beiden Täter, sowohl durch ihre Interaktion miteinander, durch Briefe, Tagebucheinträge sowie Interviews mit Familienmitgliedern. Der Leser dringt tief in die Psyche der Täter ein und das ist gleichzeitig genial aber auch beklemmend und unangenehm. Man erwischt sich für ganz kurze Momente mit den Tätern zu sympatisieren, wahhh das will man wirklich nicht. Aber man versucht einfach zu verstehen, was bei denen schief gelaufen ist. Wie wurden die, wie sie sind? Perry Smith wurde in seiner Kindheit misshandelt und vernachlässigt, in Heime abgeschoben – ist das der Grund für seine Abgebrühtheit und seine Gewaltausbrüche oder ist er einfach ein Psychopath? Dick auf der anderen Seite schien eine recht normale harmonische Kindheit zu haben – war es hier der Autounfall der ihn mit lebenslangen Kopfverletzungen zurückgelassen hat?

    “Imagination, of course, can open any door – turn the key and let terror walk right in.” 

     “I thought that Mr. Clutter was a very nice gentleman. I thought so right up to the moment that I cut his throat.” 

     “It is easy to ignore the rain if you have a raincoat” 

     Capotes 1965 erschienener Roman hat ganze Generationen von Schriftstellern seitdem inspiriert, dennoch ist „In Cold Blood“ ein Roman, dem die Zeit nicht viel anhaben konnte. Auch 50 Jahre später lassen einen diese schrecklichen Geschehnisse nicht los und der Eindruck ist so genauso frisch, lebendig und grausam, wie beim ersten Erscheinen des Buches – da bin ich mir sehr sicher.

    Ein Buch, das sehr viele Leute in meinem Bekanntenkreis gelesen haben und fast jeder hat es sehr positiv bewertet. Im Film wurde Capotes Beziehung zu den beiden Tätern sehr kritisch beleuchtet, da – bei mir damals zumindest der Eindruck entstand, Capote habe sich ihre Freundschaft „erschlichen“, um Material für sein Buch zu bekommen und ihnen zu verstehen gegeben, er unterstütze sie bei ihrer Berufung, um die Todesstrafe in eine lebenslängliche Haftstrafe umzuwandeln. Wie stark er sich da wirklich eingesetzt hat und ob er sie – wie es im Film rüberkam – tatsächlich am Ende wie eine heiße Kartoffel fallen ließ, kann ich nicht beurteilen.

    Nicht ganz unumstritten ist auch, wie groß Harper Lees Rolle war beim Schreiben des Buches. Das gilt aber auch andersrum, denn es gibt auch immer wieder Stimmen, die vermuten Capote hätte bei „To Kill a Mockingbird“ seine Hände im Spiel gehabt.

    Wie auch immer. Ein wirklich tolles Buch, das ich jedem ans Herz legen kann, genauso wie Harper Lees „To Kill a Mockingbird“ und die „Capote“ Verfilmung.

    Das Buch ist auf Deutsch unter dem Titel „Kaltblütig“ im Kein & Aber Verlag erschienen.