Juli Lektüre

Ein herausragender Lesemonat liegt hinter mir – einer, der mich auf meiner literarischen Weltreise in die Ukraine geführt hat. Für diesen Stopp habe ich die folgenden Bücher gelesen:

Vielleicht Esther – Katja Petrowskaja erschienen im Suhrkamp Verlag
Sie kam aus Mariupol – Natascha Wodin erschienen im Rowohlt Verlag
Eine Formalie in Kiew – Dmitrij Kapitelman erschienen im Hanser Verlag
Baba Dunas letzte Liebe – Alina Bronsky erschienen im Kiepenheuer & Witsch Verlag

die ausführliche Besprechung dazu könnt ihr hier finden. Die Bücher werde ich hier in der Monatsübersicht daher nicht noch einmal vorstellen.

Neu auf dem Blog ist außerdem meine Serie „Stimmen, die bleiben“, in der ich an Autor*innen erinnere, deren Worte nachhallen. Den Auftakt machte Anna Seghers – mit ihrem eigenen Erzählband und einer beeindruckenden biografischen Studie über ihre Zeit in Mexiko. Auch hierzu verlinke ich euch die Besprechung und widme mich jetzt den Büchern aus diesem Monat, die ich bislang noch nicht auf dem Blog besprochen habe:

Drei große Entdeckungen hatte ich in diesem Monat für mich: Silvia Bovenschen mit einer zutiefst persönlichen Hommage an ihre Partnerin, Penelope Lively mit einem perfekt komponierten Sommerroman, und die Debütantin Christina Fonthes, deren Coming-of-Age-Geschichte zwischen England und Kongo spielt.

Und schließlich: Einfach Literatur von Klaus Willbrandt – ein Buch, das ich sehr wehmütig gelesen habe. Ein literarischer Nachlass, der bleibt.

Alle Bücher lagen zwischen 4 und 5 Sternen – das kommt nicht oft vor. Aber Juli hat geliefert.

Wohin du auch gehst – Christina Fonthes erschienen im Diogenes Verlag, übersetzt von Michaela Grabinger

In ihrem vielschichtigen Debütroman erzählt Christina Fonthes die miteinander verflochtenen Geschichten zweier Frauen, Mira und Bijoux, die beide aus Kinshasa stammen und auf je eigene Weise mit Herkunft, Identität und gesellschaftlichen Erwartungen ringen. Mira verlässt in den 1980er Jahren den Kongo und zieht über Belgien und Paris nach London. Ihre Beziehung zu einem armen Musiker bringt sie in Konflikt mit der bürgerlich-aufstiegsorientierten Familie. Bijoux hingegen wird als Kind nach London geschickt, wo sie bei ihrer streng gläubigen Tante aufwächst – ihre queere Identität wird von dieser als „unchristlich“ und „unafrikanisch“ gebrandmarkt.

Fonthes erzählt über einen Zeitraum von rund dreißig Jahren hinweg, springt elegant zwischen Zeiten und Orten – Kinshasa, Brüssel, London, Paris – und verbindet große politische Fragen (Migration, Diaspora, Religion, Geschlechterrollen, Kolonialgeschichte) mit sehr persönlichen Erfahrungen von Liebe, Scham, Entwurzelung und Widerstand.

Besonders eindrücklich ist, wie stark kulturelle Prägung in Sprache, Ritualen und Erinnerung weiterwirkt: Wenn die Figuren Fufu kochen, Lingala sprechen oder gemeinsam Lieder singen, ist Kinshasa immer präsent – egal, ob sie gerade in Kilburn, London oder in einem Pariser Friseursalon stehen.

Als ich die Augen wieder öffnete, schwebten goldene und silberne Flöckchen durchs Zelt. Ich sah Chancey an. Ich hatte keinen einzigen Schluck getrunken, trotzdem war mir schwindelig. Ich strich mit beiden Händen über ihren Körper, hierhin und dahin. Dort in dem Zelt und bei Rory und Darren und anderen Leuten zu sein, die so waren wie wir, erschien mir ganz selbstverständlich. In diesem Moment, während wir tanzten und lachten und Spaß miteinander hatten, waren wir wie alle anderen – zwei schwer verliebte Mädchen, zwei schwer verliebte Menschen.

Fonthes’ Stil ist poetisch und atmosphärisch, zugleich klar und erzählerisch dicht. Sie schafft es, komplexe Themen wie Homophobie, intergenerationale Konflikte, Trauma und Migration behutsam und doch ungeschönt darzustellen. Dabei verzichtet sie auf Klischees, zeigt stattdessen die Vielstimmigkeit, Würde und Widersprüchlichkeit kongolesischer Lebensrealitäten – sowohl im Kongo selbst als auch im Exil.

Christina Fonthes ist eine britisch-kongolesische Autorin, Spoken-Word-Künstlerin und Aktivistin, die sich für queere, afrikanische und diasporische Perspektiven stark macht. „Wohin du auch gehst“ ist ein kraftvoller, bewegender Auftakt ihres literarischen Schaffens – voller Emotion, politischer Klarheit und erzählerischer Eleganz. Eine Autorin von der ich sehr gerne noch weitere Bücher lesen möchte.

Ich danke dem Diogenes Verlag für das Rezensionsexemplar.

Sarahs Gesetz – Silvia Bovenschen erschienen im S. Fischer Verlag

In Sarahs Gesetz schreibt Silvia Bovenschen über das gelebte Leben mit ihrer langjährigen Lebensgefährtin Sarah Schumann – Künstlerin, Malerin, Zeichnerin und eine der zentralen Figuren der feministischen Kunstszene der 1970er Jahre. Entstanden ist ein ungewöhnlich stilles, zugleich kraftvolles Buch über die Liebe zwischen zwei eigenwilligen, starken Frauen – über Zuneigung, Widerspruch, Fürsorge, Krankheit, das Älterwerden und die Grenzen des Sagbaren im engen Miteinander.

Bovenschen porträtiert Sarah Schumann als widersprüchliche und kompromisslose Persönlichkeit: stolz, scharfzüngig, klug und oft schwer zugänglich. Doch statt zu verklären oder zu erklären, nähert sie sich ihr essayistisch und literarisch tastend, in Miniaturen, Reflexionen und Erinnerungsbildern, die mal zärtlich, mal bitter, aber nie gefällig sind.

Sarahs Gesetz ist kein klassisches Liebes- oder Erinnerungsbuch. Es ist ein Dialog mit einer Präsenz, die sich nicht einfach festhalten lässt – eine Annäherung an das Andere im geliebten Menschen. Ein kluges, bewegendes Werk über das Zusammenleben, das Altwerden in Würde und die Formbarkeit von Nähe, ohne deren Ambivalenzen auszublenden.

Ich vertraue Sarah mehr als mir selbst.

Krankheit adelt nicht.
Eine schwere Kindheit auch nicht.

Silvia Bovenschen (1946–2017) war Literaturwissenschaftlerin, Essayistin und eine der prägenden feministischen Intellektuellen Deutschlands. Bereits 1979 erschien ihr einflussreiches Buch Die imaginierte Weiblichkeit. Sie lehrte viele Jahre an der Universität Frankfurt, bevor sie sich – selbst seit ihrer Jugend an MS erkrankt – zunehmend dem literarischen Schreiben zuwandte. Mit Älter werden. Notizen (2006) erreichte sie ein großes Publikum. Sarahs Gesetz, erschienen 2015, ist eines ihrer persönlichsten Bücher – klug, liebevoll und radikal wahrhaftig.

Habe große Lust noch weitere Bücher von Silvia Bovenschen zu entdecken – eine sehr interessante Autorin.

Heat Wave – Penelope Lively auf deutsch unter dem Titel „Hinter dem Weizenfeld“ bei dtv erschienen, übersetzt von Isabella Nadolny

Könnt ihr euch noch erinnern, wie wir vor ein paar Tagen vor lauter Hitze kaum noch einen klaren Gedanken fassen konnten? Ich jedenfalls schon – schmorend in unserer gefühlt 60 Grad heißen Dachgeschosswohnung, mit dem Ventilator als einzigem Verbündeten. Vielleicht ist genau jetzt, wo draußen der Sommer als Herbst cosplayed, die beste Zeit, sich noch einmal in die drückende Hitze zurückzuversetzen.

Gelesen habe ich in diesen Tagen Penelope Livelys Roman „Heat Wave“ – ein Glücksgriff. Ohne große Erwartungen aufgeschlagen, wurde ich komplett hineingezogen in diese stille und dennoch spannungsgeladene Geschichte. Eine Lektüre, die mich so gefesselt hat, dass ich danach sofort mehr von Lively lesen wollte.

Heat Wave“, erschienen 1996, spielt während eines glühend heißen Sommers auf dem englischen Land – genauer: in einem umgebauten Bauernhof in den Midlands, genannt World’s End. Einen Sommer den ich im Übrigen in London mit erlebt habe und mich sehr genau daran erinnern kann. Dort verbringt Pauline, Anfang fünfzig und freiberufliche Lektorin (sie korrigiert in einem ihrer Aufträge Kommas in einem Einhorn-Roman), den Sommer mit ihrer Tochter Teresa, deren Ehemann Maurice und dem kleinen Enkelsohn Luke.

Die Figuren leben Wand an Wand in nebeneinander liegenden Cottages – eine räumliche Nähe, die emotional immer bedrückender wird. Denn Pauline erkennt früh, dass Maurice nicht ganz treu ist. Ihre eigenen Erfahrungen mit einem untreuen Ehemann holen sie ein, und sie steht vor der Frage: Redet sie mit Teresa – und wenn ja, wie viel sagt sie? Oder schweigt sie und wartet, bis die Tochter selbst erkennt, was los ist?

Was auf den ersten Blick wie ein ruhiges Beziehungsdrama wirkt, ist in Wahrheit hoch aufgeladen. Lively lässt die Spannung langsam, aber unaufhaltsam wachsen – mit jeder Hitzewelle, mit jeder verdorrten Wiese, mit jedem überhitzt flirrenden Nachmittag. Natur und Emotionen spiegeln sich ständig: Die Landschaft wird zum Seismograf innerer Erschütterungen.

Die Atmosphäre ist fast kammerspielartig dicht. Es gibt keinen actiongeladenen Plot, aber umso mehr psychologische Raffinesse. Pauline ist eine wunderbar gezeichnete Figur – klug, witzig, verletzlich. Rückblenden in ihre frühere Ehe, kleine Begegnungen mit ihrem sympathisch-schrulligen Buchhändlerfreund Hugh oder dem Romanautor Chris geben ihr Tiefe und eine Welt jenseits der Ferienhausgrenze. Und dann ist da noch diese fast van Gogh’sche Landschaft: gelbgoldene Felder unter einem strahlend blauen Himmel, flirrend vor Hitze – ein grandioses Setting für ein emotionales Flächenbrand-Drama.

It occurs to her that she is probably the first person to live here for whom the weather is an aesthetic diversion.

Was mir besonders gefallen hat, war die Art und Weise, wie Lively mit Erwartungshaltungen spielt. Anfangs glaubt man, das sei eine jener subtilen Erzählungen, in denen „nichts passiert“. Aber wer aufmerksam liest, merkt bald: Das Ende ist längst angelegt, in Andeutungen, kleinen Gesten, Blicken. Es kommt nicht plötzlich, aber wow war ich überrascht.

Penelope Lively wurde 1933 in Kairo geboren und ist noch very much alive and kicking 🙂 Sie ist eine der renommiertesten britischen Schriftstellerinnen der Gegenwart und wurde unter anderem 1987 für Moon Tiger mit dem Booker Prize ausgezeichnet. 2017 erschien ihr letztes Buch eine Biografie mit dem Titel Life in the Garden – möchte ich – neben Moon Tiger – unbedingt lesen.

Kultur – eine neue Geschichte der Welt – Martin Puchner erschienen bei Klett-Cotta

Für dieses Buch durfte ich bei Bild der Wissenschaft eine Kurz-Rezension verfassen, diese könnt ihr hier lesen.

Einfach Literatur – Klaus Willbrand & Daria Razumovych erschienen im S. Fischer Verlag

Ich folgte dem Buchantiquariat Willbrand auf Instagram fast von Anfang an. Seine ruhige Art, mit der er über Literatur sprach, hat mich sofort berührt und dann diese Geschichte: ein kleines Antiquariat in Köln, das kurz vor dem Aus stand. Und eine junge Kundin, Daria, die ihn dazu brachte, sein Wissen nicht aufzugeben, sondern es mit der Welt zu teilen.

Aus dieser Freundschaft entstand nicht nur eine digitale Erfolgsgeschichte, sondern auch ein ganz besonderes Buch: „Einfach Literatur“

In diesem Werk verbindet sich autobiografisches Erzählen mit literarischer Leidenschaft. Willbrandt schreibt über seine Kindheit mit Asthma und wie ihn das zum Bücherwurm werden ließ, seine Jahrzehnte im Buchhandel, seine Begeisterung für Schriftsteller wie Kafka, Böll, Ingeborg Bachmann oder Rolf Brinkmann. Sein Ton bleibt klar und schnörkellos, manchmal melancholisch, aber nie sentimental. Man merkt jedem Kapitel an, dass hier jemand schreibt, der Literatur nicht nur gelesen, sondern gelebt hat. Besonders beeindruckt hat mich seine dreijährige Lese-Auszeit. Krass, habe wohl tatsächlich einen Menschen gefunden, dem Bücher NOCH wichtiger sind als mir.

Was jedoch alle großen literarischen Werke vereint, ist ihre Fähigkeit, die Zeit zu überdauern. Sie schafft es, ein Momentum einzufangen, das in ihrer Epoche tief verwurzelt ist, und doch ruft dieses Momentum auch Assoziationen und Empfindungen hervor. So entstehen Klassiker – Werke, die motivisch zeitlos, aber zugleich so unverwechselbar mit der Ära verbunden sind, in der sie entstanden. Große Literatur bewahrt etwas von ihrer Zeit, bleibt dabei aber unvergänglich.

Wie schön, dass Daria Razumovych seine Stimme so einfühlsam begleitet und mit in dieses Buch mit übersetzt hat. Was mir besonders gefällt sind natürlich die Listen, bei denen ich noch das eine oder andere Werk oder Autor*in entdecken konnte und die authentische Mischung aus Erinnerung, Fachwissen und einem direkten Zugang, der weder belehrt noch überfordert. Es ist ein Buch, das einen – wie ein gutes Gespräch im Buchladen – in die richtige Richtung stupst.

Ich war sehr traurig, als ich Anfang des Jahres vom Tod Klaus Willbrandts erfuhr. Wie gerne wäre ich bei meinem nächsten Köln-Besuch in seinem Antiquariat vorbeigegangen und hätte mich mit ein paar Büchern eingedeckt und auf den einen oder anderen fachmännischen Geheimtipp gehofft. Umso schöner, dass es dieses Buch gibt. Es ist ein Vermächtnis, eine literarische Schatztruhe und eine Hommage an einen Mann, der mit seinen Empfehlungen mehr als nur Bücher teilte: Er teilte Haltung, Haltung zur Welt, zur Sprache, zum Menschsein.

Wie war euer Lesemonat? Was waren eure Highlights? Konnte ich euch auf eines der vorgestellten Bücher neugierig machen? Freue mich über eure Rückmeldungen 🙂

Juni Lektüre

Still Life war für mich eines dieser Bücher, bei denen man schon beim Lesen weiß: das wird bleiben. Großartig geschrieben, voller Wärme und leiser Schönheit.

Und Beklaute Frauen von Leonie Schöller, das mich gleichermaßen wütend, bewegt und tief beeindruckt zurückgelassen hat – so wichtig, so stark.

Enttäuschung des Monats war leider Zadie Smiths The Fraud – trotz großer Vorfreude konnte es mich (und auch meinen Bookclub) nicht abholen.

Ansonsten: ein spannender Mix – mal politisch, mal literarisch, mal laut, mal leise.
Den Stopp in Sri Lanka mit Brotherless Night stelle ich in den nächsten Tagen im Rahmen meines Read Around the World noch ausführlicher vor.

Beklaute Frauen – Leonie Schöler erschienen im Penguin Verlag

Leonie Schölers Beklaute Frauen ist ein dringendes, wütendes und klug recherchiertes Buch, das zeigt, wie systematisch Frauen in der Geschichte der Arbeiter*innenbewegung unsichtbar gemacht, ausgebremst und vergessen wurden. Ob Rosa Luxemburg, Clara Zetkin oder weniger bekannte Aktivistinnen – Schöler spürt Biografien nach, die aus den großen Erzählungen gestrichen wurden, obwohl sie maßgeblich geprägt haben.

Der Ton ist kämpferisch, auch mal wütend aber nie beliebig. Die Autorin gibt sich nicht mit bloßer Empörung zufrieden, sondern liefert historische Fakten, verwebt persönliche Reflexionen mit politischen Analysen und zeigt: Die Geschichte der Linken ist ohne Frauen nicht nur unvollständig – sie ist falsch erzählt.

Beklaute Frauen sich bewußt zu machen: Wer fehlt in den Geschichten, die wir erzählen? Ein schmerzhaft wichtiges Buch, das nachhallt – und dem ich von Herzen viele Leser*innen wünsche.

Erste Hilfe für Demokratie-Retter – Jürgen Wiebicke erschienen im Kiepenheuer & Witsch Verlag

Jürgen Wiebickes „Erste Hilfe für Demokratie-Retter“ ist ein engagiertes, handliches Plädoyer gegen politischen Fatalismus – und eine Anleitung für all jene, die sich fragen, was sie dem wachsenden Autoritarismus, der Polarisierung und der Demokratie-Müdigkeit entgegensetzen können.

In 100 kurzen Ideen, Impulsen und Appellen ruft Wiebicke dazu auf, Haltung zu zeigen, ins Gespräch zu gehen, Widerspruch zu leisten – und die eigene Wirksamkeit nicht kleinzureden. Der Ton ist zugänglich, oft persönlich, manchmal bewusst provokant. Dabei bleibt das Buch stets nah am Alltag und bietet eine niedrigschwellige Ermutigung zum politischen Handeln im Kleinen.

Allerdings wirkt die Form – 100 Tipps auf knappem Raum – mitunter etwas formelhaft und lässt Tiefe vermissen. Manche Gedanken bleiben an der Oberfläche, und komplexe gesellschaftliche Probleme werden mitunter etwas zu leicht abgehandelt.

Trotzdem: Ein guter Einstieg für alle, die nach Orientierung in politisch schwierigen Zeiten suchen.

Was soll aus dem Jungen bloß werden? – Heinrich Böll erschienen im dtv Verlag

Der Untertitel „Irgendwas mit Büchern“ war es, der mich sofort neugierig gemacht hat – und tatsächlich gewährt Heinrich Böll in diesem schmalen autobiografischen Text einen leisen, oft lakonischen Blick zurück auf seine Jugend im Köln der 1930er Jahre.

Mit trockenem Humor und melancholischer Distanz beschreibt Böll, wie er in einem zunehmend autoritären Deutschland zum Bücherliebhaber – und später zum Schriftsteller – wurde. Zwischen katholischer Prägung, schulischer Disziplin und ersten literarischen Träumereien bleibt der Ton zurückhaltend, manchmal fast spröde.

Der Text ist keine klassische Autobiografie, sondern eher eine Skizze, ein Erinnerungsfragment. Wer sich für Bölls Werk oder für die Atmosphäre der Vorkriegszeit interessiert, wird hier fündig. Große Erzählbögen oder emotionale Tiefe darf man nicht erwarten – dafür punktet das Buch mit stiller Selbstironie und einem feinen Gespür für Sprache und gesellschaftliche Zwischentöne.

Kein Must-read, aber ein kleiner Einblick in die frühen Jahre eines etwas in Vergessenheit geratenen Autors, – besonders für alle, die selbst immer „irgendwas mit Büchern“ machen (wollten).

Arturos Insel – Elsa Morante erschienen im Verlag Klaus Wagenbach, übersetzt von Susanne Hurni-Maehler

Die Rezension zu diesem ganz besonderen Roman könnt ihr hier beim Italien Stopp der literarischen Weltreise nachlesen.

Still Life – Sarah Winman auf deutsch unter dem Titel „Das Fenster zur Welt“ bei Klett Cotta erschienen, übersetzt von Elina Baumbach

Ich habe Still Life auf der Zugfahrt von Neapel nach München gelesen – und während der Zug durch die Toskana rollte und Florenz am Fenster vorbeizog, fühlte es sich an, als würde sich die Landschaft direkt mit dem Buch verbinden. Nicht nur, weil ein Großteil der Handlung in Florenz spielt, sondern auch weil der Ton des Romans so viel von dem trägt, was man mit dieser Gegend verbindet: Wärme, Geschichte, Schönheit – aber auch Brüche und Neuanfänge.

Die Geschichte beginnt 1944 in einem kleinen italienischen Dorf, als der junge britische Soldat Ulysses Temper auf Evelyn Skinner trifft, eine ältere, kluge Kunsthistorikerin, die Italien liebt und gerade auf der Suche nach verschollenen Kunstwerken ist. Ihre Begegnung ist kurz, aber bedeutungsvoll – und zieht sich wie ein unsichtbarer Faden durch die Jahrzehnte, die folgen.

The responsibility of privilege must always be to raise others up.

Im Mittelpunkt steht Ulysses, der zurück in London versucht, in ein normales Leben zurückzufinden – und schließlich, gemeinsam mit einer bunt zusammengewürfelten Gruppe von Freund*innen, in Florenz ein neues Zuhause findet. Das Buch erzählt nicht in klassischer Dramaturgie, sondern in kleinen Episoden, Momentaufnahmen, in denen sich das Leben ganz leise entfaltet. Es gibt Verluste, Veränderungen, Umwege – aber alles in einem Ton, der nie resigniert, sondern immer den Blick nach vorn richtet.

Winmans Sprache ist zugänglich, dabei poetisch und oft sehr treffend. Sie beschreibt ihre Figuren mit viel Empathie, ohne sie zu idealisieren. Besonders schön ist, wie beiläufig und selbstverständlich queere Identitäten im Roman vorkommen. Es wird nichts erklärt, nichts betont – sie sind einfach Teil dieser Gemeinschaft, die sich jenseits traditioneller Familienstrukturen gefunden hat.

Still Life ist ein Roman über Freundschaft, über Lebensentscheidungen, über die Bedeutung von Kunst, Geschichte – und über das, was bleibt, wenn alles andere sich verändert. Er stellt keine großen Fragen laut in den Raum, aber beantwortet viele kleine, fast beiläufig: Wie leben wir mit anderen? Wo fühlen wir uns zugehörig? Und was macht ein gutes Leben aus?

Evelyn Skinner ist eine Figur, die ich nicht mehr vergessen werde. Sie erinnert mich sehr an Dulcie in „The Offing“

The Fraud – Zadie Smith auf deutsch unter dem Titel „Betrug“ im Kiepenheuer & Witsch Verlag erschienen, übersetzt von Tanja Handels

Zadie Smith gehört seit White Teeth zu meinen literarischen Favoritinnen – umso größer war die Vorfreude auf The Fraud. Leider blieb sie unerfüllt.

Der Roman spielt im viktorianischen London und verwebt reale historische Ereignisse mit fiktiven Figuren, allen voran die Schriftstellerin Eliza Touchet. Es geht um Wahrheit und Täuschung, um Klasse, Rassismus, Literatur und Kolonialismus – Themen, die zweifellos relevant sind. Doch Smith versucht, all das auf einmal zu erzählen, und genau darin liegt das Problem.

Man spürt die immense Recherche, das kluge Fundament – aber statt zu fokussieren, wollte Smith offenbar alles unterbringen. The Fraud wirkt dadurch überfrachtet, wie ein Gericht mit lauter guten Zutaten, das am Ende trotzdem nicht schmeckt. Die Figuren blieben für mich seltsam blass, der Erzählfluss stockte immer wieder, und auch im Bookclub wurde das Buch eher durchgekämpft als genossen.

Ambitioniert, aber unbefriedigend. Wer Smiths erzählerisches Können wirklich erleben will, greift besser zu „White Teeth“

Liebes Arschlosch – Virginie Despentes erschienen im Kiepenheuer & Witsch Verlag, übersetzt von Ina Kronenberger und Tatjana Michaelis

Liebes Arschloch ist ein literarischer Schlagabtausch, der sich liest wie ein wütender Briefwechsel unserer Gegenwart.

In E-Mails zwischen einem abgehalfterten Schauspieler und einer feministischen Autorin verhandelt Despentes Themen wie Cancel Culture, Macht, Sexismus, #MeToo und digitale Empörungskultur. Was dabei herauskommt, ist alles andere als schwarz-weiß: Beide Figuren sind kantig, verletzlich, widersprüchlich – und gerade deshalb glaubwürdig.

Despentes bleibt ihrem Stil treu: direkt, roh, laut, aber manchmal auch überraschend zärtlich. Ihr gelingt das Kunststück, Widerspruch auszuhalten und Ambivalenz nicht nur zu zeigen, sondern auszuhalten. Ein kluges, streitbares Buch voller Reibung – unbequem, provokant, pointiert aber absolut notwendig. Kein Roman zum Wohlfühlen, sondern zum Mitdenken und Aushalten.

Das war der Juni – krass schon wieder ein halbes Jahr um. Was war euer Juni Highlight und habt ihr von den vorgestellten Büchern schon was gelesen? Falls ja, wie ist eure Meinung oder konnte ich euch auf eines der Bücher Lust machen? Freue mich von euch zu hören.

Dezember Lektüre

Mit dem Lesemonat Dezember habe ich ein wunderbares Lesejahr beendet. Selten habe ich so viele großartige Bücher in einem Jahr verschlungen wie 2024 – ein wahres Fest für die literarische Seele. Auch wenn die äußeren Umstände unserer Zeit – die Krisen und Katastrophen um uns herum – wenig Raum für Optimismus lassen, blicke ich zumindest literarisch mit großer Vorfreude auf das Jahr 2025. Bücher sind und bleiben für mich ein Anker in unruhigen Zeiten, eine Möglichkeit, die Welt zu verstehen, zu träumen oder auch einfach mal zu entfliehen.

Der Dezember war dabei ein unglaublich abwechslungsreicher Monat. Zwei Sachbücher haben mich besonders beschäftigt: Eines tauchte tief in die sogenannten „Dark Ages“ ein – eine Epoche, die bei mir dank Michael Woods bedrückend prophetischem Sachbuch und den Parallelen zur heutigen Zeit Gänsehaut hinterließ. Ich hoffe wirklich, dass wir nicht sehenden Auges in eine ähnliche Ära der Dunkelheit schlittern. Auf der anderen Seite wagte ich mit Yuval Noah Harari den Blick in die Zukunft. Sein Buch war nicht nur ein intellektuelles Abenteuer, sondern auch eine Warnung, die mich dazu brachte, über die langfristigen Konsequenzen unseres Handelns – oder Nichthandelns – nachzudenken.

Neben diesen Denkanstößen hatte der Dezember auch literarische Abenteuer anderer Art zu bieten. Mit Marschlande war ein spannender Roman dabei, der eine Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart schlägt und dabei die norddeutschen Marschlande zu einer fast mystischen Kulisse macht.

Für Spannung sorgte ein Krimi-Hattrick, der perfekt in die winterliche Jahreszeit passte – was gibt es Besseres als gemütliche mörderische Rätseleien an dunklen, kalten Abenden? Außerdem habe ich mit Samantha Harveys Werk einen Ausflug ins All unternommen, eine Reise, die zugleich philosophisch und poetisch war. Den Abschluss machte ein Audiobuch von Tommy Orange, mit dem ich mich im Rahmen meiner literarischen Weltreise in die USA begeben habe.

Der Dezember hatte wirklich für jede Stimmung etwas zu bieten. Jetzt freue ich mich darauf, euch meine Lektüren etwas genauer vorzustellen. Ich starte mit dem Krimi-Hattrick – der jahreszeitlich wohl passendsten Wahl – und gehe danach alphabetisch weiter durch meine Dezemberbücher. Ich bin gespannt, ob etwas für euch dabei ist.


Nicola Upson – Mit dem Schnee kommt der Tod (The Dead of Winter) erschienen im Kein & Aber Verlag, übersetzt von Anna-Christin Kramer
Nicola Upson schreibt eine Krimireihe rund um die real existierende Golden-Age-Krimiautorin Josephine Tay. Zufällig bin ich mit Band 9 in die Reihe eingestiegen und war sofort begeistert – vielleicht auch, weil der Krimi auf der kleinen Insel St. Michael’s Mount in Cornwall spielt, wo wir diesen Sommer waren. Ich kenne den Schauplatz, die Burg, die Gärten, das Dorf – und das hat mein Lesevergnügen natürlich noch einmal gesteigert. Wenn dann noch Marlene Dietrich, ein Schneesturm, der die Insel vom Festland abschneidet, und ein umhergehender Mörder ins Spiel kommen, sind alle Zutaten für einen perfekten Krimi gegeben. Ich werde die Reihe definitiv weiterverfolgen – die Reihenfolge scheint mir nicht allzu wichtig zu sein.

John Bude – Mord in Cornwall (The Cornish Coast Murder) erschienen im Klett Cotta Verlag, übersetzt von Eike Schönfeld
Der nächste Cozy-Krimi führte mich erneut nach Cornwall. Mord in Cornwall, ursprünglich 1935 erschienen (im selben Jahr wie Gaudy Night von Dorothy L. Sayers), ist ein wunderbares Beispiel für die wiederentdeckten Crime Classics der British Library. ohn Bude war ein produktiver Autor mit 30 Krimis, die zu seiner Zeit sehr beliebt waren, dann aber in Vergessenheit gerieten. Zum Glück hat die British Library viele seiner Werke neu aufgelegt. Mord in Cornwall ist der perfekte Krimi für alle, die düstere und stürmische Nächte lieben – ein Roman voller Meeresluft und lokaler Atmosphäre. Der Dorfpfarrer und der Arzt des Ortes verbringen ihre Abende mit Krimilektüre und messen sich darin, die jeweiligen Fälle zu lösen. Doch plötzlich wird ein echter Mord begangen, und die detektivischen Fähigkeiten des Pfarrers werden auf die Probe gestellt. Ein kurzweiliger, unterhaltsamer Krimi – mit einer Warnung: Die Lektüre könnte zu akuter Cornwall-Reiselust führen!

Nicholas Blake – Das Geheimnis des Schneemanns (The Corpse in the Snow Man) erschienen im Klett Cotta Verlag, übersetzt von Michael von Killisch-Horn
Der dritte Krimi in meinem Cozy-Crime-Hattrick stammt ebenfalls aus der Reihe der wiederentdeckten British-Library-Klassiker, konnte mich aber leider nicht ganz überzeugen. Die Geschichte zog sich für meinen Geschmack zu sehr, es gab zu viele Charaktere, und der Fall selbst war für mich eher unspektakulär. Interessant fand ich jedoch den Autor: Nicholas Blake, der eigentlich Cecil Day-Lewis hieß, war nicht nur ein erfolgreicher Schriftsteller, sondern wurde von der Queen zum Poet Laureate ernannt. Und sein Sohn? Niemand Geringeres als Daniel Day-Lewis, bekannt aus Filmen wie Mein linker Fuß. Auch wenn mich dieser Krimi nicht umgehauen hat, mag er für andere Leser durchaus reizvoll sein.

    Yuval Noah Harari – Nexus erschienen im Penguin Verlag, übersetzt von Jürgen Neubauer und Andreas Wirthensohn

    Yuval Noah Hararis neues Buch Nexus hat mich gleichermaßen fasziniert wie nachdenklich gestimmt. Harari gelingt es wie gewohnt, komplexe Themen auf eine Weise zu beleuchten, die zugleich intellektuell anregend und zugänglich ist. Die Kernthemen – von den Gefahren digitaler Überwachung und KI bis hin zur geopolitischen Fragmentierung – sind hochaktuell und drängen förmlich danach, diskutiert zu werden. Dennoch ließ mich das Buch mit einer Mischung aus Staunen und Skepsis zurück.

    Besonders beeindruckend fand ich Hararis Fähigkeit, historische Anekdoten mit modernen Herausforderungen zu verknüpfen. Die Schilderung, wie in faschistischen Regimen Papiere manipuliert wurden, um Minderheiten zu unterdrücken, war nicht nur erhellend, sondern auch bedrückend relevant. Ähnlich eindrucksvoll war die Diskussion über die Rolle von Facebooks Newsfeed bei politischen Eskalationen. Hier zeigt Harari seine Stärke: die Fähigkeit, historische Parallelen zu ziehen und gleichzeitig die Dringlichkeit unserer Gegenwart zu betonen.

    Weniger überzeugend fand ich jedoch seine Tendenz zu weitreichenden Verallgemeinerungen. Aussagen wie „Die antiken Römer hatten ein klares Verständnis davon, was Demokratie bedeutet“ wirken auf mich eher wie vereinfachte Schlagworte als tiefgreifende Analysen. Ebenso erscheint mir seine Darstellung von KI und deren potenziellen Fähigkeiten oft überzogen. Der Gedanke, dass eine KI in absehbarer Zeit klingen nach SciFi und es fehlt mir hier oft an einer soliden, nachvollziehbaren Argumentation.

    Hararis Lösungen – stärkere Regulierung von Algorithmen und die Förderung selbstkorrigierender Institutionen – sind letztlich nicht so bahnbrechend, wie es der apokalyptische Ton des Buches vermuten lässt. „Liberalismus, aber besser“ wäre eine treffende Zusammenfassung seiner Empfehlungen. Er möchte es sich halt auch nicht wirklich mit seinen Silicon Valley Buddys verderben, hier hätte ich mir deutlich mehr Mut seinerseits gewünscht.

    Trotzdem ist Nexus ein Buch, das ich durchaus empfehlen kann. Harari regt dazu an, über die großen Fragen unserer Zeit nachzudenken, und auch wenn ich nicht jede seiner Thesen teile, hat mir das Buch viele neue Perspektiven eröffnet. Vor allem in seinen narrativen Passagen glänzt Harari: Hier wird er zum Geschichtenerzähler, der uns die Tragödien und Triumphe der Menschheit vor Augen führt. Ein Buch, das polarisiert, inspiriert und zum Diskurs einlädt – genau was ich mir von einem Buch wünsche.

    Ich habe auf jeden Fall so unendlich viel unterstrichen in diesem Buch ich kann mich gar nicht entscheiden, welches Zitat ich besonders herausheben möchte.

    The tendency to create powerful things with unintended consequences started not with the invention of the steam engine or AI but with the invention of religion. Prophets and theologians have summoned powerful spirits that were supposed to bring love and joy but occasionally ended up flooding the world with blood.

    Samantha Harvey – Orbital auf deutsch unter dem Titel „Umlaufbahnen“ im dtv Verlag erschienen, übersetzt von Julia Wolf

    Über den diesjährigen Booker Prize Winner wurde wahrscheinlich schon alles gesagt, aber hier kurz meine begeisterten 2 Cents: Die Geschichte spielt auf einer Raumstation 250 Meilen über der Erde und dreht sich um eine Crew von Astronaut*innen, die dort ihren Alltag zwischen Experimenten, Technik und der unendlichen Weite des Weltalls meistern. Aber „Orbital“ ist so viel mehr als ein Science-Fiction-Roman – es ist eine poetische Meditation über die Menschheit, unsere zerbrechliche Welt und unseren Platz im Universum.

    Was mich besonders fasziniert hat, ist, wie Harvey Kunst und Weltraum miteinander verbindet. Zwei berühmte Kunstwerke tauchen im Buch auf: Velázquez‘ „Las Meninas“ und das ikonische Foto von Michael Collins, das die Erde, den Mond und alles Leben darauf einfängt – außer Collins selbst. Diese Kontraste spiegeln sich auch im Roman wider: die Fülle und Perspektive der einen und die abstrakte Distanz der anderen. Es ist, als ob die Astronaut*innen aus dieser Entfernung unsere Erde mit ganz neuen Augen sehen – frei von Grenzen, Konflikten und allem Alltäglichen.

    In unserer Diskussion im Bookclub kam genau das zur Sprache: Müssen wir uns erst so weit entfernen, um die Schönheit und Zerbrechlichkeit der Erde wirklich zu begreifen?

    The earth, from here, is like heaven. It flows with colour. A burst of hopeful colour. When we’re on that planet we look up and think heaven is elsewhere, but here is what the astronauts and cosmonauts sometimes think: maybe all of us born to it have already died and are in an afterlife. If we must go to an improbable, hard-to-believe-in place when we die, that glassy, distant orb with its beautiful lonely light shows could well be it.

    Harveys Schreibstil ist lyrisch, fast hypnotisch. Plot-Twist-Fans kommen hier eher nicht auf ihre Kosten, denn die Handlung ist minimalistisch. Stattdessen steht das Nachdenken über große Themen wie Zeit, Raum, Klimawandel und die Bedeutung von Fortschritt im Fokus.

    Für mich ist „Orbital“ wie ein Fenster ins All – und gleichzeitig ein Spiegel, der uns zeigt, wer wir sind. Absolute Leseempfehlung, wenn ihr Lust auf etwas Nachdenkliches und Inspirierendes habt!

    Jarka Kubsova „Marschlande“ erschienen im S. Fischer Verlag

    Schon mit dem ersten Satz zieht Marschlande mich in die dramatische Geschichte von Abelke Bleken hinein. Diese Frau lebte vor 450 Jahren im Hamburger Dorf Ochsenwerder, wo sie alleinstehend einen Hof bewirtschaftete – eine Lebensweise, die in einer patriarchalen Welt schnell verdächtig machte. Ihre Geschichte beginnt mit einem scheinbar harmlosen Vorwurf: Sie habe es versäumt, den Deichabschnitt ihres Landes zu reparieren. Doch hinter dieser Anschuldigung steckt mehr – der Versuch, eine Frau um ihr Eigentum zu bringen. Was als Streit um Deichrecht beginnt, mündet in einen Hexenprozess, der Abelke auf den Scheiterhaufen bringt.

    Kubsova erzählt diese Geschichte mit eindringlicher Präzision. Besonders erschüttert hat mich, wie Kapitalismus und Religion hier Hand in Hand gehen, um Frauen wie Abelke nicht nur wirtschaftlich zu enteignen, sondern sie letztlich auszulöschen. Der Vorwurf der Hexerei dient dabei als makabre Legitimation: Denn es fühlt sich offenbar besser an, eine vermeintliche Hexe zu töten, als eine aufrechte Bäuerin schlichtweg zu enteignen. Dieses Zusammenspiel von Gier und Aberglauben erinnert mich daran, wie kapitalistische Strukturen über Jahrhunderte hinweg Frauen immer wieder nicht nur marginalisiert, sondern existenziell bedroht haben. Die Logik bleibt dieselbe: Macht und Besitz werden durch Gewalt und Ideologie gesichert – oft auf Kosten der Schwächsten in der Gesellschaft.

    Neben Abelke steht Britta, eine Frau unserer Zeit, deren Geschichte im Hamburger Hinterland spielt. Während Abelke für ihren Hof kämpft, verliert Britta zunehmend ihre Familie an die moderne Form des Kapitalismus: den Leistungsdruck. Ihr Mann, getrieben von übermäßigen Karriereambitionen, entfremdet sich von ihr und den Kindern, um ein großes Haus auf dem Land und das passende Statussymbol-Leben zu realisieren. Brittas persönliche Krise spiegelt die Zerstörung wider, die kapitalistische Systeme in zwischenmenschlichen Beziehungen anrichten können – damals wie heute.

    Ein Bild von Abelke tauchte plötzlich in ihr auf, sie sah eine Frau zwischen leeren Feldern, die Hand zur Faust geballt, die Faust erhoben, drohend. Der gefährlichste Moment für eine Frau ist, wenn sie sich wehrt. Was folgte daraus? Dass man sich nicht wehren durfte?

    Besonders gelungen ist Kubsovas Brückenschlag zwischen den Jahrhunderten. Jedes Kapitel beginnt mit einem Satz, der sowohl für Abelkes als auch für Brittas Leben gilt, und verdeutlicht so die Kontinuitäten von Unterdrückung und Ungerechtigkeit. Die Autorin wagt die steile, aber bedenkenswerte These, dass die strukturellen Hindernisse, denen Frauen heute begegnen, tief in den historischen Wurzeln des Kapitalismus und der patriarchalen Gesellschaft verankert sind.

    Marschlande ist für mich mehr als ein historischer Roman. Es ist eine eindringliche Anklage gegen die zerstörerische Allianz von Kapitalismus und patriarchaler Macht – damals wie heute. Ein Buch, das aufrüttelt, empört und lange nachhallt. Unbedingt lesen!

    Tommy Orange – There There auf deutsch unter dem Titel „Dort Dort“ im Hanser Verlag erschienen, übersetzt von Hannes Meyer

    „There There“ hat mich hat mich wirklich sehr berührt – ein Buch, das mir nicht nur neue Perspektiven eröffnet, sondern auch einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen hat. Schon beim Hören des Hörbuchs war ich überwältigt von der Kraft und Schönheit seiner Sprache. Ständig hatte ich den Wunsch, Sätze zu markieren, sie zu unterstreichen und immer wieder zu lesen. Dieses Buch, das zu Recht so viel Aufmerksamkeit und Hype erhalten hat, ist eines, das ich unbedingt noch einmal in Buchform lesen möchte.

    Der Titel des Romans bezieht sich auf Gertrude Steins berühmte Bemerkung über Oakland, Kalifornien: „There is no there there“. Oakland, Oranges Heimatstadt, bildet den Schauplatz des Romans und wird zu einem Symbol für das Erbe und die Erfahrung indigener Gemeinschaften in den USA. Orange, selbst ein Mitglied der Cheyenne und Arapaho, erzählt die Geschichten einer Gruppe indigener Menschen, deren Leben auf komplexe Weise miteinander verflochten sind. Schon das Eröffnungsprolog, das nüchtern und zugleich tief erschütternd die koloniale Unterdrückung und Gewalt gegenüber indigenen Völkern schildert, setzt den Ton für das, was folgt.

    We are the memories we don’t remember, which live in us, which we feel, which make us sing and dance and pray the way we do, feelings from memories that flare and bloom unexpectedly in our lives like blood through a blanket from a wound made by a bullet fired by a man shooting us in the back for our hair, for our heads, for a bounty, or just to get rid of us.

    Was dieses Buch für mich so besonders macht, ist die Balance zwischen Schmerz, Verzweiflung aber auch Hoffnung. Orange verzichtet bewusst auf romantisierte Darstellungen indigener Kultur oder nostalgische Bilder von offenen Prärien. Stattdessen zeigt er das Leben indigener Menschen in städtischen Räumen – in all seiner Widersprüchlichkeit, Zerbrechlichkeit und Schönheit. Figuren wie der durch fetales Alkoholsyndrom gezeichnete Tony Loneman, der Dokumentarfilmer Dene Oxendene oder der junge Orvil Red Feather, der sich mit gestohlener Regalia auf ein Powwow vorbereitet, sind so lebendig und greifbar, dass sie mir während des Lesens regelrecht ans Herz gewachsen sind.

    Besonders beeindruckt hat mich, wie Orange es schafft, die Geschichte und Gegenwart der indigenen Bevölkerung der USA miteinander zu verbinden. Das Powwow in Oakland, das den zentralen Schauplatz der Handlung bildet, steht nicht nur für den Versuch, kulturelle Traditionen zu bewahren, sondern auch für die Herausforderungen und Spannungen, die damit einhergehen.

    Michael Wood – In search of the Dark Ages erschienen in der Folio Society

    Michael Woods In Search of the Dark Ages war für mich eine echte Entdeckung – ein Buch, das Geschichte auf die beste Art und Weise vermittelt: anschaulich, spannend und voller Denkanstöße. Ich habe es mit großer Begeisterung gelesen, und es hat mich dazu inspiriert, tiefer in die faszinierende Epoche der sogenannten „Dark Ages“ einzutauchen. So sollte Geschichte immer präsentiert werden: als lebendige Erzählung, die nicht nur informiert, sondern auch zum Weiterforschen einlädt.

    Wood gelingt es meisterhaft, eine Epoche, die oft als düster und mysteriös dargestellt wird, mit Leben zu füllen. Seine Erzählungen über historische Figuren wie Boudica, Alfred den Großen oder William den Eroberer machen deutlich, wie vielschichtig und bedeutend diese Zeit für die Entwicklung Englands war. Besonders gefallen hat mir, wie er historische Fakten mit Geschichten aus Archäologie und Mythologie verwebt. Die Kapitel über Sutton Hoo oder die Artus-Legenden sind ein Beispiel dafür, wie Geschichte und Legende miteinander verschmelzen und ein tieferes Verständnis für diese Ära schaffen.

    The key point about Patrick’s narrative is that when he returned to Britain in around 415, when Roman rule had ended in Britain, there is no suggestion of disorder. Indeed, when he wrote his account in the middle years of the century, the imperial Roman system of local government was intact – the local town councils, for example, were still responsible for raising taxes for the government. It was still a world where professional rhetoricians could earn a living as they could in Rome; where a letter writer could address the British dynasty of Strathclyde as „fellow citiziens“. We can therefore imagine the continuation of a feeling of identity with Rome in the Romano-British ruling class, the senatorical aristocracy and the local landowners.

    Was mich besonders beeindruckt hat, ist die Fähigkeit des Buches, die Herausforderungen des Alltagslebens in jener Zeit greifbar zu machen. Wood schildert nicht nur die großen politischen und militärischen Ereignisse, sondern auch, wie es war, in einer Welt zu leben, die von Hunger, Seuchen und ständiger Unsicherheit geprägt war. Dabei bleibt er stets kritisch, etwa wenn er die Schwächen von Herrschern wie Ethelred ungeschönt analysiert, ohne den Respekt für seine Leistungen im Kontext dieser Zeit zu verlieren.

    Ein Highlight für mich war die Ausgabe der Folio Society, die ich gelesen habe. Die hochwertige Gestaltung, die großartigen Fotografien und die Liebe zum Detail machen diese Ausgabe zu einem echten Schatz. Die Bilder tragen wesentlich dazu bei, sich die beschriebene Zeit noch besser vorzustellen – sei es ein Fund aus einem königlichen Grab oder kunstvolle Nachbildungen historischer Artefaktr. Das Buch ist nicht nur eine intellektuelle, sondern auch eine ästhetische Freude.

    „In Search of the Dark Ages“ ist ein Buch, das weit über eine historische Nacherzählung hinausgeht – es bietet einen Zugang zu einer Zeit, die mehr als nur ein Übergang zwischen Antike und Mittelalter war – eine Epoche, die ihre eigene Dynamik und Bedeutung hatte. Spannend fand ich auch, wie unterschiedlich das Ende des römischen Reiches sich gestaltete. In manchen Ecken blieben die römische Organisation und Zivilisation fast bis in 12. Jahrhundert erhalten, in anderen Ecken der Welt war schon um 500 – 600 nach unserer Zeitrechnung nicht mehr viel übrig als Ruinen und Dunkelheit. Michael Wood schafft es, diesen Zeitraum mit einer Mischung aus Wissenschaftlichkeit und Erzählkunst zu beleuchten, die mich vollkommen überzeugt hat. Für jeden, der sich für die Ursprünge der britischen Geschichte interessiert, ist dieses Buch ein Muss.

    So das war der Dezember – war für euch was dabei? Welche Bücher kennt ihr, auf welche konnte ich euch vielleicht neugierig machen? Freue mich auf eure Rückmeldungen.

    Mai Lektüre

    Heute habe ich mir beim Wandern ziemlich das Fell verbrannt, war anscheinend doch nicht vollumfänglich eingecremt. Daher verstecke ich mich jetzt auf der schattigen Terrasse vor der Sonne und schreibe jetzt endlich mal meinen Mai Rückblick, aufgrund der – nach wie vor nicht behobenen – Internetprobleme zu Hause war das vor dem Urlaub ja nicht mehr möglich.

    Jetzt wieder im Sauseschritt und in alphabetischer Reihenfolge die Kurzvorstellungen der von mir im Mai gelesenen und zum Teil gehörten Bücher.

    Birnam Wood – Eleanor Catton bislang noch nicht auf deutsch erschienen.

    Es geht auch direkt mit einem Hörbuch los, einem das zu meinen bisherigen Jahres-Highlights gehört.

    Vor fünf Jahren gründete Mira Bunting eine Guerrilla-Gartengruppe: Birnam Wood. Als nicht angemeldeter, nicht regulierter, manchmal krimineller, manchmal philanthropischer Zusammenschluss von Freunden pflanzt dieses Aktivistenkollektiv Pflanzen dort an, wo sie niemand bemerkt: an Straßenrändern, in vergessenen Parks und vernachlässigten Hinterhöfen. Seit Jahren kämpft die Gruppe darum, die Kosten zu decken. Dann stößt Mira auf eine Lösung, eine Möglichkeit, die Gruppe endlich langfristig aufzustellen: Ein Erdrutsch hat den Korowai-Pass geschlossen und die Stadt Thorndike abgeschnitten. Die Naturkatastrophe hat eine Gelegenheit geschaffen: eine große, scheinbar verlassene Farm.

    Aber Mira ist nicht die einzige, die sich für Thorndike interessiert. Robert Lemoine, der rätselhafte amerikanische Milliardär, hat sich die Farm geschnappt, um dort seinen Endzeitbunker zu bauen – zumindest erzählt er das Mira, als er sie auf dem Grundstück erwischt. Er ist fasziniert von Mira, Birnam Wood und ihrem Unternehmergeist und schlägt ihnen vor, das Land zu bewirtschaften. Aber können sie ihm vertrauen? Und können sie sich gegenseitig vertrauen, während ihre Ideale und Ideologien auf die Probe gestellt werden?

    “There’s something so joyless about the left these days,’ Tony continued, ‘so forbidding and self-denying. And policing. No one’s having any fun, we’re all just sitting around scolding each other for doing too much or not enough – and it’s like, what kind of vision for the future is that? Where’s the hope? Where’s the humanity? We’re all aspiring to be monks when we could be aspiring to be lovers.”

    Birnam Wood ist ein fesselnder psychologischer Thriller des mit dem Booker Prize ausgezeichneten Autors von The Luminaries, der in seinem Witz, seiner Dramatik und der Vertiefung der Charaktere an Shakespeare erinnert. Es ist eine brillant konstruierte Betrachtung von Absichten, Handlungen und Konsequenzen und eine unnachgiebige Untersuchung des menschlichen Impulses, unser eigenes Überleben zu sichern.

    Ein Buch bei dem ich teilweise bereut habe, dass ich es „nur“ als Hörbuch höre, denn ich hätte jede Menge Sätze anstreichen wollen. Ein überaus kluges, zum Nachdenken anregendes Buch mit dem ich mich noch immer beschäftige. Wird sich garantiert bei meinen Highlights 2023 wiederfinden.

    Der Komponist und seine Richterin – Patricia Duncker übersetzt von Barbara Schaden erschienen im Berlin Verlag

    Am Neujahrstag werden die Leichen entdeckt: sechzehn Tote im frisch gefallenen Schnee. Die Erwachsenen liegen steif im Halbkreis, die Kinder in Pyjamas und Mänteln zu ihren Füßen.

    Als er den Bericht erhält, weiß Kommissar Andre Schweigen genau, wen er anrufen muss: Richterin Dominique Carpentier, auch bekannt als „Sektenjägerin“. Sie ist die anerkannte Expertin auf diesem Gebiet, brillant und unerbittlich rational, aber Schweigen hat seine eigenen Gründe, warum er sie für seinen Fall haben möchte. In dem verlassenen Chalet entdecken die Ermittler ein verschlüsseltes Buch mit Himmelskarten, das sie zu dem ungastlichen Komponisten Friedrich Gross führt. Doch während die skeptische Sektenjägerin das Vertrauen des Komponisten gewinnt, wird sie in eine Welt komplexer Familienbande und uralter kosmischer Überzeugungen hineingezogen, aus der sie nicht entkommen kann – und zunehmend auch nicht will -.

    Der seltsame Fall des Komponisten und seines Richters ist ein metaphysisches Mysterium von außerordentlicher Kraft, das Glauben, Unsterblichkeit und Leidenschaft in Frage stellt.

    Patricia Duncker ist eine wirklich spannende Autorin, die meines Erachtens viel mehr Beachtung verdient hätte. Dieser Roman reicht für mich nicht ganz an „The Deadly Space between“ heran, ist aber auch ein origineller Roman mit starken Bildern. Ich freue mich schon auf mein nächstes Patricia Duncker Buch, das bereits bereitliegt: Die Germanistin

    The Shards – Bret Easton Ellis unter dem gleichnamigen Titel erschienen im Kiepenheuer & Witsch Verlag, übersetzt von Stephan Kleiner

    Mein erster Easton Ellis und ich war selten so hin- und hergerissen bei einem Buch ob ich es lesen soll oder nicht. Ja, denn ich mochte den Film „American Psycho“ – nein, weil Menschen auf deren Meinung ich viel Wert lege mir davon abhielten weil zu frauenfeindlich und blutrünstig. Ja, weil Buddy Donna Tartts die ich ungemein schätze, nein siehe oben. Die Entscheidung wurde mir dann abgenommen, da wir das Buch als Gastgeschenk mitgebracht bekamen und dann war es natürlich entschieden – ich wollte den Roman umgehend lesen und mir eine Meinung bilden.

    Mir hat er ausgesprochen gut gefallen, man fällt beim Lesen in einen gruselig-wohligen 1980er Sommer, hat leichte Stephen King Assoziationen, aber nicht Kleinstadt sondern Los Angeles und das Buch hat einen ganz tollen Soundtrack.

    Bret Easton Ellis‘ neuer Roman erzählt eine traumatische Geschichte: Während seiner eigenen Schulzeit war ein Serienmörder in L.A. eine Bedrohung für die Jugendlichen.

    Der siebzehnjährige Bret ist in der Oberstufe der exklusiven Buckley Prep School, als ein neuer Schüler auftaucht. Robert Mallory ist intelligent, gutaussehend und charismatisch und zieht Bret magisch an. Bret ist sich sicher, dass Robert ein düsteres Geheimnis hat, und kann dennoch nicht verhindern, dass Robert Teil seiner Freundesgruppe wird. Als der Trawler, ein Serienmörder, der Jugendliche auf bestialische Weise umbringt, immer näher an ihn und seine Clique heranrückt, gerät Bret zunehmend in eine Spirale aus Paranoia und Isolation. Doch wie zuverlässig ist Bret als Erzähler?

    Because movies were a religion in that moment, they could change you, alter your perception, you could rise toward the screen and share a moment of transcendence, all the disappointments and fears would be wiped away for a few hours in that church: movies acted like a drug for me. But they were also about control: you were a voyeur sitting in the dark staring at secret things, because that’s what movies were—scenes you shouldn’t be seeing and that no one on the screen knew you were watching.

    „The Shards“ ist eine faszinierende Mischung aus Fakten und Fiktion, aus Realität und Fantasie, die auf brillante Weise das emotionale Gefüge von Brets Leben als Siebzehnjähriger auslotet – Sex und Eifersucht, Besessenheit und mörderische Wut. Fesselnd, raffiniert, spannend, eindringlich – nur wer seine Romane mit hübsch ordentlich sortierten Handlungsenden bevorzugt mag mit dem eher mehrdeutigen Ende vielleicht nicht ganz glücklich werden. Für mich war der Roman einer meiner Highlights.

    Ewig Sommer – Franziska Gänsler erschienen im Kein & Aber Verlag

    Eine junge Mutter kommt mit ihrer Tochter in ein Hotel, in dem schon lange keine Gäste mehr abgestiegen sind. Seitdem die Brände im benachbarten Wald toben, hat der einstige Kurort seinen Reiz verloren. Für Iris, die Besitzerin des Hotels, ist der unerwartete Besuch gleichzeitig willkommene Abwechslung und Grund zur Sorge: Irgendetwas scheint mit der Fremden nicht zu stimmen. Ist sie auf der Flucht vor ihrem Mann? Sollte sie der Frau, die sich nicht immer angemessen um ihre Tochter zu kümmern scheint, helfen? Oder müsste sie das Kind vor ihr schützen? Mit der Zeit kommen sich die beiden Frauen näher und fangen an, die Schatten ihrer Vergangenheit auszuleuchten. Iris ahnt, dass dieser Besuch früher oder später ein jähes Ende finden wird – unklar ist nur, aus welcher Richtung wirklich die Gefahr droht.

    Eine Hitze. Das ist der Weltuntergang. So geht’s zu Ende mit uns

    Franziska Gänsler schafft eine dystopische Atmosphäre in ihrem gelungenen Debüt, das einem dank der Hauptfiguren dennoch Zuversicht und Hoffnung vermitteln.

    Mittagsstunde – Dörte Hansen erschienen im Penguin Verlag

    Die Wolken hängen schwer über der Geest, als Ingwer Feddersen, 47, in sein Heimatdorf zurückkehrt. Er hat hier noch etwas gutzumachen. Großmutter Ella ist dabei, ihren Verstand zu verlieren, Großvater Sönke hält in seinem alten Dorfkrug stur die Stellung. Er hat die besten Zeiten hinter sich, genau wie das ganze Dorf. Wann hat dieser Niedergang begonnen? In den 1970ern, als nach der Flurbereinigung erst die Hecken und dann die Vögel verschwanden? Als die großen Höfe wuchsen und die kleinen starben? Als Ingwer zum Studium nach Kiel ging und den Alten mit dem Gasthof sitzen ließ? Mit großer Wärme erzählt Dörte Hansen vom Verschwinden einer bäuerlichen Welt, von Verlust, Abschied und von einem Neubeginn.

    Man hatte hier als Mensch nicht viel zu melden. Man konnte gern rechts ranfahren, aussteigen, gegen den Wind anbrüllen und Flüche in den Regen schreien, es brachte nichts. Es ging hier gar nicht um das bisschen Mensch.

    Mit dem Roman hat mich Dörte Hansen jetzt echt erwischt. Ich mochte das „Alte Land“ ganz gern, mit „Zur See“ bin ich nicht völlig warm geworden, aber die „Mittagsstunde“ die ist mein bislang liebster Roman von ihr. Danke noch mal an meine liebe Freundin Barbara, die ihn mir schenkte und schickte, weil sie mein lauwarmes Urteil zu Hansens neuestem Roman so nicht stehen lassen wollte und sie hatte ja auch wirklich Recht damit. Ein durch und durch norddeutsches Buch mit einem ganz eigenen Sound und Figuren mit denen ich jederzeit mal den einen oder anderen Schnapps kippen würde.

    Eine kurze Geschichte der böhmischen Raumfahrt – Jaroslav Kalfar übersetzt von Barbara Heller erschienen im Klett-Cotta Verlag

    Der Roman war meine Begleitlektüre nach Karlovy Vary und ich habe hier schon kurz über den Roman geschrieben. Das war eine beglückende Lektüre und ich freue mich schon auf weitere Bücher des Autoren.

    Salem’s Lot – Stephen King auf deutsch erschienen unter dem Titel „Brennen muss Salem“ im Heyne Verlag, übersetzt von Peter Robert

    „Brennen muss Salem“ von Stephen King ist eine packende und gruselige Vampirgeschichte, die den Leser sehr schnell in seinen Bann zieht. Die Handlung spielt in der kleinen Stadt Jerusalem’s Lot und folgt dem Schriftsteller Ben Mears, als er zurückkehrt, um seine Kindheitsdämonen zu konfrontieren. Doch bald entdeckt er, dass die Stadt von einer finsteren Macht übernommen wird, die sich an den Bewohnern labt und sie in blutdurstige Kreaturen der Nacht verwandelt.

    Kings meisterhafte Erzählweise und seine detaillierten Charaktere machen ‚Brennen muss Salem‘ zu einer wahrhaft unheimlichen Lektüre. Die atmosphärischen Beschreibungen und das Gefühl der Bedrohung durchdringen jede Seite und schaffen eine beunruhigende Stimmung, die noch lange nach dem Lesen des Buches anhält. Die vielfältige und fehlerhafte Besetzung von Charakteren verleiht der Geschichte Tiefe, und ihr Kampf gegen die herannahende Dunkelheit sorgt für eine fesselnde Handlung.

    The basis of all human fears, he thought. A closed door, slightly ajar.

    Mit seiner Mischung aus übernatürlichem Horror und psychologischem Spannungsbogen zeigt ‚Brennen muss Salem‘ Kings Fähigkeit, in die dunkelsten Ecken der menschlichen Natur einzutauchen. Es ist eine klassische Vampirgeschichte, die den Leser gleichermaßen erschreckt und fesselt und Kings Ruf als Meister des Genres festigt.

    Habe nach der Lektüre die gleichnamige Verfilmung aus dem Jahr 1979 gesehen und fand die deutlich gruseliger als erwartet:

    Intimacies – Katie Kitamura auf deutsch unter dem Titel „Intimitäten“ erschienen im Hanser Verlag, übersetzt von Kathrin Razum

    Was braucht ein Ort, um zu einem Zuhause zu werden? Die heimatlose Erzählerin verlässt New York, um am Gerichtshof in Den Haag als Dolmetscherin zu arbeiten. Als sie Adriaan kennenlernt, scheint die Stadt zur Antwort ihrer Sehnsüchte zu werden. Doch dann verschwindet er zu seiner Noch-Ehefrau und hinterlässt nichts als Fragen. Fragen, die sich zu einem existenziellen Abgrund auftun, als sie für einen angeklagten westafrikanischen Kriegsverbrecher dolmetschen muss und zweifelt: Was ist kalkulierte Lüge, was Wahrheit? Glauben nur noch die Naiven an Gerechtigkeit? Wer kann über wen richten? Katie Kitamuras subtiler Roman ist ein anregendes intellektuelles Vergnügen mit hypnotischer Sogwirkung.

    Interpretation can be profoundly disorienting, you can be so caught up in the minutiae of the act, in trying to maintain utmost fidelity to the words being spoken first by the subject and then by yourself, that you do not necessarily apprehend the sense of the sentences themselves: you literally do not know what you are saying. Language loses its meaning

    Ein leiser Roman der eine Frau porträtiert die zwischen unterschiedlichen Wahrheiten gefangen ist. Die Mai Lektüre unseres Bookclubs hat allgemein Anklang gefunden, das interessante Einblicke in die Tätigkeit von Übersetzer*innen an einem Gerichtshof bietet, fürchte aber ich werde das Buch nicht sehr lange im Gedächtnis behalten.

    The End of Men – Christina Sweeney-Baird auf deutsch unter dem Titel „Die andere Hälfte der Welt“ im Diana Verlag erschienen, übersetzt von Carola Fischer

    Der Roman beginnt in London, wo Catherine, eine Sozialanthropologin mit einer glücklichen Ehe und einem bezaubernden 3-jährigen Sohn, eine Fruchtbarkeitsbehandlung vermeidet, weil sie einem zweiten Kind skeptisch gegenübersteht. Ein großer Fehler. Fünf Tage später, an „Tag 1“, stirbt ein Mann ohne ersichtlichen Grund in einem Krankenhaus in Glasgow. Nachdem zwei Tage später ein zweiter Mann dort stirbt und weitere erkranken, wittert die behandelnde Ärztin Amanda, selbst Ehefrau und Mutter zweier Söhne, eine nahende Katastrophe. Sie wendet sich an die kürzlich unabhängig gewordenen schottischen Gesundheitsbehörden, die ihre Bedenken abtun. Am 5. Tag ist „die Pest“, obwohl sie immer noch auf Schottland beschränkt ist, „alles, worüber man in London reden kann“. Und so breitet sich die Pest aus, Tag für Tag, in acht Abschnitten, die die Stadien von AUSBRUCH über PANIK und ANPASSUNG bis zur ERINNERUNG beschreiben. Obwohl Frauen Überträgerinnen sein können, erkranken nur Männer (jeden Alters), fast immer tödlich.

    Die Überlebenden, d. h. die Frauen, erleben, was Überlebende heute erleben – Verlust, Isolation, Angst, Schuldgefühle, körperliche Schäden, finanzielle Krisen und gelegentlich auch Glück. Catherine und Amanda, die früh die Männer und Jungen in ihrem Leben verlieren, stehen im Mittelpunkt, während sie ihr Leben rekonstruieren. Doch die britische Autorin Sweeney-Baird wechselt den Fokus auf immer mehr Charaktere – wohlhabend, aus der Arbeiterklasse, in der Stadt, auf dem Land, weiß, schwarz, asiatisch, heterosexuell, LGBTQ+, britisch, amerikanisch, kanadisch, philippinisch – als hätte sie Angst, irgendeine soziale Untergruppe auszulassen. Eine oberflächliche Charakterentwicklung ist unvermeidlich. Aber eine fesselnde Besonderheit ist die Darstellung der brillanten schwulen kanadischen Wissenschaftlerin Lisa, einer Schurkin und viel gehassten Retterin, die die Pandemie als Sprungbrett zu Reichtum und Ruhm nutzt. In der Zwischenzeit werfen der Verlust des größten Teils der männlichen Weltbevölkerung und die Art und Weise, wie die Regierungen auf die Seuche reagieren, komplizierte ethische Fragen auf.

    I have never felt so powerful. This must be what men used to feel like. My mere physical presence is enough to terrify someone into running. No wonder they used to get drunk on it.

    Sweeney-Baird hat wohl sowas wie den Aktualitäts-Jackpots gewonnen. Sie hat das Buch bereits 2018 vor der Covid-19 Epidemie geschrieben.

    Das Ende der Menschen ist ein intelligenter, unheimlich vorausschauender Roman, der gleichzeitig nachdenklich und hochemotional ist.

    The end of the world running club – Adrian J Walker auf deutsch im Fischer Tor Verlag erschienen unter dem Titel „Am Ende aller Zeiten“ übersetzt von Nadine Püschel und Gesine Schröder

    Adrian J Walker hat mit ›Am Ende aller Zeiten‹ einen postapokalyptischen Roman geschrieben, in dem ein ganz normaler Familienvater vor die größte Herausforderung seines Lebens gestellt wird.

    Edgar Hill ist Mitte dreißig, und er hat sein Leben gründlich satt. Unzufrieden mit sich und seinem Alltag in Schottland als Angestellter, Familienvater und Eigenheimbesitzer, fragt er sich vor allem eins: Hat das alles irgendwann einmal ein Ende? Er ahnt nicht, dass sich die Katastrophe bereits anbahnt.
    Als das Ende kommt, kommt es von oben: Ein dramatischer Asteroidenschauer verwüstet die Britischen Inseln. Das Chaos ist gigantisch, die Katastrophe total. Ganze Städte werden ausgelöscht. Straßen, das Internet, die Zivilisation selbst gehören plötzlich der Vergangenheit an. England liegt in Schutt und Asche. Ist dies der Weltuntergang?

    That beast inside you, the one you think is tethered tightly to the post, the one you’ve tamed with art, love, prayer, meditation: it’s barely muzzled. The knot is weak. The post is brittle. All it takes is two words and a siren to cut it loose.

    Edgar und seine Familie werden während der Evakuierung voneinander getrennt, und ihm bleibt nur eine Wahl: Will er Frau und Kinder jemals wiedersehen, muss er 500 Meilen weit laufen, durch ein zerstörtes Land und über die verbrannte Erde, von Edinburgh nach Cornwall. Zusammen mit einigen wenigen Gefährten begibt sich Edgar Hill auf einen Ultra-Marathon durch ein sterbendes Land. Doch sein Weg ist gefährlich: Im postapokalyptischen England kämpft jeder gegen jeden ums blanke Überleben.

    Edgar ging mir ziemlich auf die Nerven. Ein rumheulendes Kind in der Gestalt eines Mannes, den ich mehrfach einfach nur schütteln wollte. Es wurde deutlich weniger gerannt als ich es vermutet hätte bei dem Titel. Es gibt noch einen Folgeband bei dem die Geschichte aus Sicht von Edgars Frau beschrieben wird – mal schauen, ob ich noch mal Lust und Energie dafür aufbringe. Wollte eigentlich die meiste Zeit rufen „run away from him“ 😉

    So das wars jetzt aber mit der Mai Lektüre. Viel Dystopisch-gruseliges unter sonnigem Himmel – insgesamt ein guter Lesemonat. Welche Bücher kennt ihr, auf welche konnte ich euch Lust machen?

    Lektüre August 2022

    Der August hat mit einigen längeren Zugfahrten und zwei längeren Wochenenden für mehr Lesezeit gesorgt und mich mit überaus spannender und guter Lektüre versorgt. Hier wieder im Schnelldurchlauf von A-Z.

    Rumaan Alam – Leave the world behind auf deutsch erschienen unter dem Titel „Inmitten der Nacht“ übersetzt von Eva Bonné, erschienen im Ecco Verlag.

    Alam lässt in dieser apokalyptischen Geschichte über eine weiße Familie, die ein Haus auf Long Island von einem älteren schwarzen Ehepaar mietet vieles offen. Die Vermieter stehen nachts genau in dem Moment vor der Tür, als die Dinge eine wirklich seltsame Wendung finden. Wir erfahren nie genau, worum es sich bei der Katastrophe handelt und es ist einerseits eine recht typische Horrorgeschichte, bei der man als Leser*in immer wieder sagt: „Lasst euch nicht trennen“, aber trotz fehlender Erklärungen und vielleicht der einer oder anderen nicht ganz nachvollziehbaren Situation eines meiner Lese-Highlights dieses Jahr.

    Ich mochte die Atmosphäre des Buches, das ständig jeden Moment etwas bedrohliches komplett unbekanntes passieren könnte.

    Konnte das Buch gar nicht aus der Hand legen. Wäre auf die Diskussion im Bookclub gespannt, denn im Hause Bingereader wurde der Roman einmal mit müden zwei und einmal mit fünf Sternen ausgezeichnet, leider findet die Diskussion während unseres Urlaubs statt – aber ich lasse mir berichten, könnte mir gut vorstellen, dass es recht kontrovers diskutiert wird.

    Ich möchte es euch ans Herz legen, wenn euch Geschichten wie „Station Eleven“ gefallen, wobei bei Alam noch deutlich weniger klar ist, was genau passiert ist man ahnt nur dystopische Ausmaße.

    You never know when a time is the last time, because if you did you could never go on with life.

    Julia Armfield – Our Wives under the sea erschienen im Picador Verlag, aktuell noch nicht auf deutsch erschienen.

    Mein Hörbuch diesen Monat und ebenfalls eines in dem es sehr atmosphärisch zugeht, aber man nur wenige Erklärungen bekommt. Wer gerne alles rational erklärt bekommt, sollte wahrscheinlich bei den ersten beiden Büchern direkt die Finger weglassen. Ich fand es richtig großartig, ein weiteres Lesehighlight dieses Jahr – der August war wirklich ein toller Lesermonat.

    Miri glaubt, dass sie ihre Frau zurück hat, als Leah nach einer Tiefseemission, die in einer Katastrophe endete, endlich zurückkehrt. Es wird jedoch bald klar, dass Leah nicht mehr dieselbe ist. Was auch immer in dem Uboot passiert ist, was auch immer es war, das sie erforschen sollten, bevor sie auf dem Meeresgrund gestrandet sind, Leah hat einen Teil davon mit an Land und in ihr Haus gebracht.

    Während sie sich durch etwas bewegt, das normalen Leben nur noch entfernt ähnelt, wird Miri klar, dass das Leben, das sie vorher hatten, wahrscheinlich nicht mehr da ist und eventuell auch nie wieder zurückkehren wird. Obwohl Leah äußerlich noch da ist, spürt Miri, wie die Frau, die sie liebt, ihr immer mehr entgleitet.

    Our Wifes under the sea ist der Debütroman von Julia Armfield, die eine poetische, melancholische Geschichte über die Liebe, den Verlust, die Trauer und das Leben in den Tiefen des Meeres geschrieben hat.

    I used to think there was such a thing as emptiness, that there were places in the world one could go and be alone. This, I think, is still true, but the error in my reasoning was to assume that alone was somewhere you could go, rather than somewhere you had to be left.

    Oliver Burkeman – 4000 Weeks. Time Management for Mortals auf deutsch unter dem Titel „4000 Wochen. Das Leben ist zu kurz für Time Management“ übersetzt von Henning Dedekind und Heike Lutosch erschienen im Piper Verlag

    Das Leben ist kurz, aber das ist kein Grund zur Sorge

    Die Zeit reicht nicht aus – niemals. Gerade einmal 4000 Wochen haben wir auf der Erde, und das auch nur, wenn wir um die achtzig werden. Kein Wunder, dass wir unaufhörlich versuchen, möglichst viel in diese kurze Zeit hineinzupressen. Dabei verlieren wir genau die Dinge aus dem Blick, die uns wirklich wichtig sind und uns vor allem glücklich machen. Oliver Burkeman führt geistreich und kurzweilig vor, wie wir dem Zeit- und Effizienzdruck widerstehen – und damit der unerhörten Kürze und den schillernden Möglichkeiten unseres Lebens gerecht werden können.

    Ein intelligentes, gut geschriebenes Buch das einem teilweise den Spiegel vorhält und den Finger in die Wunde und uns einlädt das Hamsterrad zu stoppen, mal durchzuatmen und einfach öfter mal in Ruhe durch die Natur zu laufen und nachzudenken.

    Oliver Burkeman, schrieb jahrelang für den Guardian eine wöchentliche Kolumne woher ich ihn kenne, denn die habe ich immer sehr gerne gelesen. Seit einiger Zeit lese ich auch seinen wöchentlichen Newsletter und er ist einfach ein Mensch, der mich immer wieder ins Grübeln bringt. Seine Arbeiten sind darüber hinaus in der New York Times, dem Wall Street Journal, Psychologies und New Philosopher erschienen. Burkeman lebt in New York City.

    Productivity is a trap. Becoming more efficient just makes you more rushed, and trying to clear the decks simply makes them fill up again faster. Nobody in the history of humanity has ever achieved “work-life balance,” whatever that might be, and you certainly won’t get there by copying the “six things successful people do before 7:00 a.m.” The day will never arrive when you finally have everything under control—when the flood of emails has been contained; when your to-do lists have stopped getting longer; when you’re meeting all your obligations at work and in your home life; when nobody’s angry with you for missing a deadline or dropping the ball; and when the fully optimized person you’ve become can turn, at long last, to the things life is really supposed to be about. Let’s start by admitting defeat: none of this is ever going to happen. But you know what? That’s excellent news.

    Caroline Kebekus – Es kann nur eine geben erschienen im Kiwi-Verlag.

    Ich bin ja wirklich nicht bekannt für mein Interesse an lustigen Themen, kann mit den allermeisten Comedians wenig bis gar nix anfangen, aber diese Frau hat mit ihrem Hörbuch dafür gesorgt, dass ich gelegentlich Angst hatte aus dem Bus zu fliegen, weil ich lauthals lachen musste.

    Selten habe ich auf so witzige Art so derart viel gelernt und da sind einige Themen dabei, bei denen einem auch immer wieder das Lachen im Hals stecken bleibt.

    Eigentlich klingt es ganz leicht: Frau ist begabt und klug, also kann sie es schaffen, ganz nach oben zu kommen. Aber oft genug ist der eine Platz schon besetzt, es scheint nämlich ein höchst dämliches Gesetz zu geben, das lautet: Eine Frau reicht, mehr brauchen wir nicht. Die große Komikerin, Sängerin, Schauspielerin und Feministin schreibt pointiert, unmissverständlich und gleichzeitig wahnsinnig komisch, dass die Zeit überreif ist, alte (Männer-)Gesetze auf den Müll zu werfen.

    Wohin man auch schaut, immer ist es die eine Frau, die sich durchsetzt. In der Bibel ist es die jungfräuliche Maria, damit fing das Unheil an. Im Märchen gibt es immer die eine Prinzessin, sehr schön und sehr blöd. Die sündige Eva aus der Bibel und die böse Stiefmutter oder Hexe lassen wir mal hübsch beiseite, denn die sollen nur als Beispiele dafür dienen, was passiert, wenn Frauen nach Macht streben: Sie werden aus dem Paradies geworfen oder verbrannt. Mit dieser Prägung entlässt man Frauen ins Leben und wundert sich dann über die ständige Konkurrenz unter Frauen um diese begrenzten Plätze. Dann wird so getan, als wären Frauen von Natur aus eben stutenbissig und selbst schuld an dieser Rivalität. Carolin Kebekus kommt diesem bösen Spuk auf die Spur, sie untersucht alte und neue Geschichten, um zu zeigen, warum uns Frauen eingetrichtert wird, dass wir um den einen Platz – im Fernsehen, in der Firma, im Karneval usw. – konkurrieren müssten.

    Ein Buch von höchster Wichtigkeit, das aufklärt und gleichzeitig unterhält.

    Stanislaw Lem – Solaris übersetzt von Irmtraud Zimmermann-Göllheim, illustriert von Anna Stähler, erschienen in der Büchergilde Gutenberg

    Solaris zählt zu den ganz großen Klassikern nicht nur der Science-Fiction, sondern der gesamten Literatur des 20. Jahrhunderts. Der Roman ist eine faszinierende Reise in die Weiten des Kosmos und in die Tiefen unserer Wünsche und Träume. Zum 100. Geburtstag von Stanisław Lem gibt die Büchergilde eine aufwendig gestaltete, illustrierte Neuausgabe heraus.

    Über Solaris scheinen zwei Sonnen, eine rote und eine blaue. Die gesamte Oberfläche des Planeten ist von einem geheimnisvollen Ozean bedeckt, von dem viele sagen, er sei ein lebendiges Wesen. Kris Kelvin macht sich in einer Raumkapsel auf den weiten Weg von der Erde zu Solaris. Wie viele WissenschaftlerInnen vor ihm will er hinter das Geheimnis des Himmelskörpers kommen. Doch als er in der Forschungsstation eintrifft, warnen ihn seine Kollegen vor einer rätselhaften Gefahr.

    Lems Schreiben zeichnet sich durch eine reiche literarische Sprache und philosophische Tiefe aus. Solaris ist ein faszinierender und ungewöhnlicher Roman über Leben auf fernen Planeten, das ganz anders ist als die typischen Darstellungen von Außerirdischen aus Literatur und Film, die oft Menschen oder Tiere zum Vorbild haben. Der Ozean auf Solaris sprengt die menschliche Vorstellungskraft. Er hat nichts mit dem gemein, was wir als Lebewesen kennen, und trotzdem spricht alles dafür, dass er eines ist. Lem interessiert vor allem, wie die Menschen auf dieses Phänomen reagieren, und thematisiert dabei ganz grundsätzliche Fragen: Wie nähern wir uns etwas, das uns fremd ist? Wie gehen wir mit dem um, was wir nicht verstehen?

    Die rote Sonne war schon hinter dem Horizont verschwunden, und die schaumgekrönten Wellen verschwammen zu tintiger Wüste. Der Himmel loderte. Über dieser zweifarbigen, unbeschreiblich trostlosen Landschaft fluteten Wolken mit lilafarbenem Saum

    Francesca Wade – Square Haunting erschienen im Faber Verlag, aktuell noch nicht auf deutsch erschienen.

    Im Mittelpunkt dieses Buches stehen fünf Frauen, die alle zu verschiedenen Zeitpunkten zwischen den Weltkriegen am Mecklenburgh Square in London lebten. Das Bindeglied (abgesehen von dem Platz und der Tatsache, dass sie alle der Mittelschicht angehören) ist das Thema der weiblichen Autonomie, und es zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch. Es gibt zwei Akademikerinnen: die Historikerin Eileen Power und die Klassizistin Jane Harrison. Die Dichterin und Romanautorin Hilda Doolittle (HD). Die Romanautorin und Schriftstellerin Dorothy L. Sayers. Und schließlich natürlich Ms Bloomsbury, her one and only Virginia Woolf.

    Der Platz liegt in der Nähe des Britischen Museums, und sie alle nutzten zeitweise den dortigen Lesesaal. Der Titel ist einem Tagebucheintrag von Woolf aus dem Jahr 1925 entnommen.

    ‚I like this London life . . . the street-sauntering and square-haunting. –Virginia Woolf, diary, 1925

    Ich hatte den Eindruck, dass der Abschnitt über Virginia Woolf zu viel von dem wiederholt, was bereits über sie geschrieben wurde. Die überzeugendsten Porträts waren für mich die von Hilda Doolittle, bekannt als HD, und Dorothy Sayers – und die Verbindungen zwischen ihnen sind faszinierend. Das Konzept des „eigenen Zimmers“ wird durchgehend verwendet, um die Kämpfe und Kosten der weiblichen Unabhängigkeit zu verdeutlichen, aber dieses Zimmer könnte wahrscheinlich genauso gut in einem Oxbridge-College wie in Bloomsbury sein.

    Daher war ich von der Bloomsbury-Verbindung als Daseinsberechtigung für das Buch nicht komplett überzeugt – aber die Lebensläufe geben interessante Einblicke in das Leben der Frauen, die den Status quo ihrer Zeit herausforderten und umstürzten und ich habe es sehr gerne gelesen.

    Youth is an unsatisfactory period, full of errors, uncertainties and distress. You will grow out of it. What’s more, you were meant to grow out of it, into something more mature and satisfactory. Don’t let middle-aged people get away with the story that this is the best time of your life and that after it there is nothing to look forward to … Go on doing the thing you think you ought, or want, to be doing at the moment, and at about 40 you may discover that you actually are doing it and settle down to enjoy it

    Iris Wolff – So tun, als ob es regnet erschienen im Klett Cotta Verlag

    Der Erste Weltkrieg bringt einen österreichischen Soldaten in ein Karpatendorf. Eine junge Frau besucht nachts die „Geheime Gesellschaft der Schlaflosen“. Ein Motorradfahrer ist überzeugt, dass er sterben und die Mondlandung der Amerikaner versäumen wird. Eine Frau beobachtet die Ausfahrt eines Fischerbootes, das nie mehr zurückkehren wird. – Über vier Generationen des 20. Jahrhunderts und vier Ländergrenzen hinweg erzählt Iris Wolff davon, wie historische Ereignisse die Lebenswege von Einzelnen prägen. Zwischen Freiheit und Anpassung, Zufall und freiem Willen erfahren ihre Protagonisten: Es gibt Dinge, die zu uns gehören, ohne dass wir wüssten, woher sie kommen. Und es gibt Entscheidungen, die etwas bedeuten, Wege, die unumkehrbar sind, auch wenn wir nie wissen werden, was von einem Leben und den Generationen vor ihm bleiben wird.

    Ich habe das Buch gerne gelesen, die Sprache hat mir sehr gefallen, aber den einzelnen Personen bin ich nicht wirklich nahe gekommen. Es ist auch kein Buch das mir noch lange nachgegangen ist, dennoch eine gute kurzweilige Lektüre.

    Lea Ypi – Frei übersetzt von Eva Bonné erschienen im Suhrkamp Verlag

    Ich traue es mich gar nicht mehr zu schreiben, aber das war tatsächlich auch noch mal ein Lese-Highlight für mich. Was für ein großartiges, fesselndes Buch – das Porträt einer sehr außergewöhnlichen Frau, die einen bemerkenswerten Weg gegangen ist.

    Albanien 1989: Der letzte stalinistische Außenposten in Europa, ein isoliertes Land, das man nur schwer besuchen und noch schwerer verlassen kann. Es herrschen Mangelwirtschaft, Geheimpolizei und das Proletariat. Der Kommunismus hat den Platz der Religion übernommen. Für die zehnjährige Lea Ypi ist dieses Land ihr Zuhause: ein Ort der Geborgenheit, des Lernens, der Hoffnung und der Freiheit.

    Alles ändert sich, als in Berlin die Mauer fällt und in Tirana Enver Hoxhas Statue vom Sockel stürzt. Jetzt können die Menschen wählen, wen sie wollen, sich kleiden, wie sie wollen, anbeten, was sie wollen. Aber die neue Zeit zeigt bald ihr unfreundliches Gesicht: Skrupellose Geschäftemacher ruinieren die Wirtschaft, die Aussicht auf eine bessere Zukunft löst sich auf in Arbeitslosigkeit und Massenflucht. Als das Land im Chaos zu versinken droht und in ihrer Familie Geheimnisse ans Licht kommen, beginnt Lea sich zu fragen, was das eigentlich ist: Freiheit.

    In hinreißender Prosa erzählt Lea Ypi von ihrem Erwachsenwerden im poststalinistischen Albanien und in einer schillernden Familie, deren Geschichte eng mit der des Landes verwoben ist. Frei ist ein fesselndes Memoir und eine scharfsinnige Reflexion über die Grenzen des Fortschritts und die Last der Vergangenheit, über glänzende Ideale und harte Realitäten. Vor allem aber über die Leben von Menschen, die vom Sturm der Geschichte erfasst werden.

    For some, leaving was a necessity that went under the official name of ‘transition’. We were a society in transition, it was said, moving from socialism to liberalism, from one-party rule to pluralism, from one place to the other. Opportunities would never come to you, unless you went looking for them, like the half-cockerel in the old Albanian folk tale who travels far away, looking for his kismet, and in the end returns full of gold. For others, leaving the country was an adventure, a childhood dream come true or a way to please their parents. There were those who left and never returned. Those who went and came back soon after. Those who turned the organization of movement into a profession, who opened travel agencies or smuggled people on boats. Those who survived, and became rich. Those who survived, and continued to struggle. And those who died trying to cross the border

    So geschafft – das war wie gesagt ein außergewöhnlich großartiger Lesemonat. War für euch was dabei? Welche kennt ihr schon? Welche mochtet ihr oder auch nicht oder auf welche konnte ich euch Lust machen?

    Der Empfänger – Ulla Lenze

    „Der Empfänger“ ist eine fiktive Geschichte angelehnt an die ihres Großonkels, der ins Visier der Geheimdienste gerät.

    Der deutsche Auswanderer, Josef Klein versucht in New York auf die Füße zu kommen. Doch kurz vor dem Kriegseintritt der Amerikaner brodelt es im Big Apple. Antisemitische und rassistische Gruppierungen liegen im heftigen Widerstreit miteinander und viele deutsche Auswanderer jubeln Hitler aus der Ferne zu und versuchen, Anhänger zu finden.

    Der Rheinländer Josef Klein lebt bescheiden und uninteressiert an Politik im multikulturellen Harlem. Er liebt Jazz, chinesische Küche und das Amateurfunken.

    Darüber lernt er auch Lauren kennen, eine junge Frau, die große Sympathien für ihn hegt. Josefs technische Fähigkeiten erregen in den deutschen Auswandererkreisen, in denen er sich teilweise bewegt, nach und nach immer größere Aufmerksamkeit.

    Er, der eigentlich nur ein friedliches Leben mit Musik, Funk und vielleicht einem Mädchen an seiner Seite sucht, gerät, bevor er es so richtig merkt, in das Spionagenetzwerk der deutschen Abwehr. Josef ist ein kleines Rädchen im Getriebe und versucht wiederholt, sich aus den Fängen der deutschen Spione zu winden.

    Lenzes Roman spielt auf drei Zeitebenen. Der Roman beginnt im Jahr 1953 in Costa Rica, dazwischen erzählt er von seinem Aufenthalt im Gefangenenlager auf Ellis Island und Joes kurzer Stipvisite in der alten Heimat bei der Familie seines Bruders im Rheinland. Die letzte Zeitebene ist die seiner Zeit in New York im Jahr 1939, während seines bescheidenen glücklichen Junggesellenlebens und bevor ihm die Spionagetätigkeit zum Verhängnis wird.

    „Weil er nicht weiter wusste, fuhr er zu Schmudderich. Er lief durch das „Halt!“ der Sekretärin mit einer Selbstsicherheit, die er nur hatte, wenn er wütend war.
    Schmudderich hinter seinem Schreibtisch stand auf.
    „Habe schon mit Dir gerechnet. Max rief mich vorhin an.“
    „Ihr hättet mich ruhig fragen können.“
    „Sei froh über das Geld. Wir könnten dir auch ein Hitler-Autogramm anbieten. Kein Witz. Ein paar echte Patrioten hier wollen nichts anderes.“
    Josef lächelte nicht mit.
    „Was?“, fragte Schmudderich. „Was willst du denn noch?“
    „Aufhören. Ich arbeite nicht für Deutschland.“

    Der Roman endet in Costa Rica mit einem Brief aus Neuss, in dem sich ein Stern-Magazin mit einer großen Reportage über den Einsatz des deutschen Geheimdienstes in Amerika befindet.

    Lenzes Roman war ein großes Highlight für mich dieses Jahr – ich habe ihn sehr gerne gelesen, habe viel gelernt über die deutschen Geheimdiensttätigkeiten in den USA und die NS Affinität vieler deutscher Auswanderer.

    Foto: Tom Coe, Unsplash

    Ein eindringlicher Roman über einen bescheidenen Mann, der scheinbar unbeabsichtigt in die Fänge der Nationalsozialisten gerät und somit ein reiner Befehlsempfänger wird in den USA, genau wie Millionen Deutsche in seiner Heimat.

    „Der Empfänger“ ist ein kluger und zeitgeschichtlich sehr interessanter Roman, mit spannenden Protagonisten, die man nicht so schnell wieder vergisst.

    Ich danke dem Klett Cotta Verlag für das Rezensionsexemplar.