November Lektüre

Wieder ein wirklich hervorragender Lesemonat! Dieses Mal sogar noch besser als zuletzt – kein einziger Flop, nicht mal in Sichtweite. Alle Bücher lagen stabil zwischen 4 und 5 Sternen, und jedes einzelne hat mich auf ganz eigene Weise überrascht, bewegt oder begeistert. Würde ich mich für ein „Buch des Monats“ entscheiden müssen, wäre das fast unmöglich, denn die Qualität war durchgehend beeindruckend. Ein paar Favoriten kristallisieren sich trotzdem heraus, aber selbst da trennen sie nur Nuancen.

Hier die Bücher in alphabetischer Reihenfolge – los geht’s:

Balle, Solvej – Über die Berechnung des Rauminhalts II erschienen im Matthes & Seitz Verlag, übersetzt von Peter Urban Halle

If you know, you know. Wer einmal in diese seltsam klar leuchtende Zeitschleife geraten ist, den lässt sie nicht mehr los. Auch der zweite Band knüpft nahtlos an Tara Selters ewigen 18. November an ein Tag, der für alle anderen neu ist, nur für sie nicht. Und doch fühlt sich dieser Band anders an: ruhiger, wacher, fast schon meditativ.

Balle lässt Tara durch Europa ziehen, auf der Suche nach Jahreszeiten, die ihr verwehrt bleiben. Sie ahmt Feiertage nach, jagt Schneeflocken im Norden und Herbstlicht im Süden wie jemand, der verzweifelt versucht, seinem inneren Kalender zu glauben. Besonders stark ist, wie der Roman unsere fixen Erwartungen an Zeit, Wetter, Traditionen auseinandernimmt. Die Idee, dass Jahreszeiten psychologische statt meteorologische Phänomene sind?

Gleichzeitig schleicht sich ein dunklerer Ton ein: Tara als „Monster auf der Wanderschaft“, das die Welt verbraucht, weil nichts wieder aufgefüllt wird. Eine fast schon ökologische Parabel über Konsum, Spuren, Verantwortung – alles verdichtet in einem einzigen, endlosen Tag.

Es ist windstill, und ich denke, es muss die Stille sein, die mich weckt, die Abwesenheit der Geräusche. Das ist sicher so, weil es schneit, aber ich verstehe es nicht, denn wie kann der Schnee Geräusche dämpfen, wenn sowieso alles still ist.

Und dann wieder diese Momente, in denen Tara akzeptiert, dass ihre Zeit nicht fließt, sondern ein Raum ist ein Gefäß, in dem man sich einrichten kann. Vielleicht, weil wir alle unsere eigenen Räume in der Zeit haben, ob wir wollen oder nicht.Vielleicht ist das das Berührendste an diesem Band: die langsame, verletzliche Annäherung an ein Leben außerhalb des Bekannten.

Vielleicht brauchen wir Balle-Zeitreisenden irgendwann ein gemeinsames Erkennungszeichen, mit dem wir rund um die Erde den 18. November feiern. Ich weiß nur eines: Für die nächsten beiden bereits erschienenen Bände warte ich garantiert nicht wieder bis zum 18.11. ich will jetzt mit Tara weiterreisen. Seid ihr auch dabei?

Baltasar, Eva – Mammut erschienen im Schöffling Verlag, übersetzt von Petra Zickmann

Ein Buch wie ein Schlag in die Magengrube – es packt einen total und man weiß gar nicht genau warum, denn es ist roh, sperrig und unangenehm. Eva Baltasar wagt in Mammut etwas radikal Eigenes: Eine Protagonistin, die mit entwaffnender Klarheit weiß, was sie will und gleichzeitig jede Art von menschlicher Nähe verachtet. Zu ihrem 24. Geburtstag plant sie, durch einen One-Night-Stand schwanger zu werden; später flieht sie aus Barcelona, sie löst sich von der Stadt wie von einem alten, unpassenden Mantel um aufs Land zu fliehen, um endlich irgendetwas zu spüren.

Was dann passiert, ist bizarr, düster, manchmal fast satirisch und immer kompromisslos. Baltasar kreeirt eine Figur, die ihr Leben mit kühler Pragmatik in die Hand nimmt und dabei permanent an die Grenzen des Erträglichen stößt – und uns mitreißt, obwohl wir nie ganz greifen können, warum. Genau das macht diese Figur so faszinierend: freundlich und menschenverachtend zugleich, brutal ehrlich, verletzlich ohne Sentimentalität.

Aber: Mammut ist kein Buch für jeden. Die Gewaltszenen besonders die gegenüber Tieren – haben mich abgestoßen, also hier echt mal Trigger Warning. Baltasar zeigt Natur und Mensch als ungeschönt brutal, fern jeder romantischen Dorfidylle. Leben ist hier immer auch Sterblichkeit, ob im Altenheim oder zwischen Schafen, Gicht und Einsamkeit.

Ein verstörendes, eigenwilliges Buch und vielleicht darum ziemlich einzigartig. Es ist der dritte Teil einer Trilogie, die aber komplett unabhängig voneinander gelesen werden kann. Große Empfehlung mit kleinen Abstrichen. Bin auf die anderen beiden Bände „Boulder“ und „Permafrost“ schon sehr gespannt.

Ich danke dem Schöffling Verlag für das Rezensionsexemplar.

Eng, Tan Twan – The House of Doors auf deutsch unter dem Titel das Haus der Türen im Dumont Verlag erschienen, übersetzt von Michaela Grabinger

Auf Tan Twan Engs „The House of Doors“ hab ich mich schon lange gefreut und es hat mich umgehend gepackt mit einer leisen, fast hypnotischen Intensität, die einen unmerklich in eine andere Zeit und Welt zieht. Schon nach wenigen Seiten war ich mitten in der flirrenden Hitze Malaysias, konnte das Rascheln der Palmen hören und den Geruch von Regen und Meer beinahe spüren.

Ich habe eine besondere Schwäche für Romane, in denen Schriftsteller selbst zu Figuren werden – Geschichten über das Erzählen, über die Macht und die Verantwortung, die mit dem Schreiben einhergehen und genau das bietet The House of Doors auf meisterhafte Weise. Im Zentrum steht Lesley Hamlyn, die in den 1940ern auf einer Farm in Südafrika lebt und auf ihr früheres Leben im kolonialen Penang zurückblickt. Dort begegnet sie 1921 William Somerset Maugham „Willie“, der mit seinem Sekretär und Lebensgefährten Gerald Haxton reist. Maugham, 1874 in Paris geboren und einer der meistgelesenen britischen Autoren seiner Zeit, ist auf der Suche nach Geschichten, nach den feinen Rissen hinter den Fassaden menschlicher Beziehungen. Haxton begleitet ihn seit Jahren auf all seinen Reisen, ihre Beziehung bewegt sich zwischen tiefer Zuneigung, Abhängigkeit und dem permanenten Druck, ihre Liebe in einer Zeit der gesellschaftlichen Enge verbergen zu müssen.

Willie’s words had polished the lens through which I had always viewed my husband, and yet, at the same time, they shifted him slightly out of focus.

Tan Twan Eng beschreibt diese beiden mit einer Zartheit und Genauigkeit, die weit über bloße Hommage hinausgeht. Seine Beobachtungsgabe erinnert an Maugham selbst doch Eng nutzt die Perspektive der Kolonisierten, um die moralischen und kulturellen Bruchstellen dieser Welt offenzulegen. Lesley, gefangen zwischen Loyalität, Schuld und dem Wunsch nach Wahrheit, steht am Schnittpunkt dieser Spannungen. Das titelgebende „Haus der Türen“ ist dabei weit mehr als ein Schauplatz: Es ist ein Sinnbild für Erinnerung und Erzählung, für die unzähligen Türen, die wir im Leben öffnen oder verschlossen halten. Eng gelingt es, historische Begebenheiten die Begegnung mit dem Revolutionär Sun Yat-sen, den realen Mordfall Ethel Proudlock mit fiktionaler Raffinesse zu verweben, ohne den emotionalen Kern aus den Augen zu verlieren.

Der Roman liest sich wie ein fein komponiertes Musikstück, getragen von Melancholie, von der Schönheit des Vergehens und der Frage, wie aus Leben Literatur wird. Tan Twan Eng, selbst in Penang geboren, beweist einmal mehr sein Gespür für Atmosphäre, für leise Zwischentöne und das Unsagbare zwischen den Zeilen. Am Ende hat mich The House of Doors nicht nur berührt, sondern auch ganz schön neugierig gemacht – auf Maugham selbst, auf seine Romane, seine Kurzgeschichten und vor allem auf das faszinierende, widersprüchliche Leben eines Mannes, der wie kaum ein anderer wusste, dass jede Geschichte zwei Seiten hat: die erzählte und die verschwiegene.

Ich habe das Buch für den Bookclub und den „Read around the World“ Stopp in Malaysia gelesen.

Harpman, Jacqueline – I Who Have Never Known Men auf deutsch unter dem Titel Ich, die ich Männer nicht kannte im Klett-Cotta Verlag erschienen, übersetzt von Luca Homburg

Was für ein großartiges, wiederentdecktes Juwel aus den 1980er-Jahren. Der Roman folgt 40 Frauen, eingesperrt in einem Bunker, ohne irgendeine Erklärung weder für sie noch für uns. Unsere Erzählerin ist die Jüngste unter ihnen, aufgewachsen in Gefangenschaft, ohne Erinnerung an eine Welt davor. Und genau hier liegt die eigentliche Sprengkraft des Buches: Es verweigert sich jeder Form von Auflösung. Wer Antworten braucht, klare Strukturen, eine Art „Aha, deshalb“, wird hier garantiert scheitern. Aber wer bereit ist, durch die Finsternis zu gehen und sich vom Nichtwissen tragen zu lassen, wird mit einer Erfahrung belohnt, die einen noch lange verfolgt.

Trotz des dystopischen, beinahe außerweltlichen Settings ist „I Who Have Never Known Men“ zutiefst menschlich. Harpman stellt große Fragen, ganz ohne philosophisches Trommelwirbel:
Was macht uns eigentlich zu Menschen? Wie verändern sich Zeit, Erinnerung und Identität, wenn die Welt unverständlich wird?

Besonders faszinierend ist die Dynamik zwischen der Erzählerin und den anderen Frauen. Während die 39 Gefährtinnen noch ums Festhalten an früheren Leben ringen, kennt die Erzählerin diese Welt nur aus ihren bruchstückhaften Erinnerungen. Das macht sie analytischer, neugieriger und auf eine seltsame Weise freier. Die Beziehungen zwischen den Frauen, ihr ständiges Anpassen, ihr Zusammenwachsen und Zerfallen: Das alles wirkt gleichzeitig zart und gnadenlos.

I was forced to acknowledge too late, much too late, that I too had loved, that I was capable of suffering, and that I was human after all.

Und ja, das Buch ist düster. Richtig düster. The Road wirkt dagegen fast gemütlich. Harpman erspart uns jede Form von Trost. Keine Erklärungen, keine Erlösungen, keine epische Enthüllung am Ende. Nur die Frage, was bleibt, wenn alles, was wir für menschlich halten: Liebe, Nähe, Hoffnung einfach weg ist.

Die Stille in diesem Roman ist lauter als jedes World-Building. „I Who Have Never Known Men“ ist brillant, zutiefest verstörend, philosophisch – ein Roman mit einem letzten Satz, der einem quasi in die Magengrube haut.

Im Grunde könnte meine Rezension lauten: I who have never known a book like that.
Jacqueline Harpman ist eine Autorin die man unbedingt wiederentdecken sollte.

Hertmans, Stefan – Dius erschienen im Diogenes Verlag übersetzt von Ira Wilhelm

Es gibt Zufälle, die so schräg sind als wäre kurz ein Riss im Raum-Zeit-Kontinuum entstanden und man zweifelt, ob das Buch sich vielleicht ins echte Leben ausgedehnt hat. Während ich Stefan Hertmans’ „Dius“ las ein Buch, in dem Vittore Carpaccios Bilder eine recht zentrale Rolle spielen fand ich auf meinem täglichen Spaziergang mit der kleinen Gasthündin im offenen Bücherschrank ausgerechnet einen Bildband dieses Malers. Carpaccio, nicht da Vanci oder Michaelangeo, ein Maler, den man nun wirklich nicht an jeder Ecke erwartet. Plötzlich wurde aus einer ohnehin schon intensiven Lektüre ein kleines multimediales Erlebnis: Musik über die Playlist, die beim Diogenes-Zoom-Abend mit dem Autor empfohlen wurde, Hertmans’ Worte im Buch und dann diese Bilder, die direkt daneben aufschlugen und die mich wirklich sehr fasziniert haben.

Im Zentrum des Romans steht Anton, ein Kunsttheoretiker voller Sehnsucht, der oft eher beobachtet als handelt. Schon früh gibt es eine Szene, die sich ins Gedächtnis brennt: ein Autounfall, ein Hirsch, eine beinahe tödliche Bewegung. Hertmans schreibt das mit einer Intensität, die einen sofort in Antons Kopf zieht. An seiner Seite steht Dius, zunächst sein Student, dann sein Freund impulsiver, unmittelbarer, ein Künstler, der die Welt mit den Händen begreift. Zwischen den beiden entsteht eine enge, zugleich fragile Verbindung, getragen von Gesprächen über Kunst und Natur, aber auch von all dem, was unausgesprochen bleibt. Am Ende geht Dius nach Italien, Anton bleibt zurück – und die Lücke zwischen ihnen erzählt ebenso viel wie ihre gemeinsamen Jahre.


Hertmans verankert diese Freundschaft in einem alten Bauernhaus in den weiten Westflämischen Poldern, einer Landschaft, die wie ein Resonanzraum wirkt, Seine Naturbeschreibungen sind präzise und voller Zärtlichkeit, und immer wieder stellt der Text die Frage, wie man Schönheit überhaupt fassen kann – ob Sprache reicht, um zu vermitteln, was Kunst, Landschaft oder ein Mensch in uns auslösen können.

In solchen Momenten weiß ich warum Dius in mein Leben treten musste: weil wir beiden den Durst nach längst vergangenen Zeiten teilen, die uns durch die frühen Erinnerungen irgendwie in den Körper eingeschrieben sind und uns unbehaust werden lassen im Lärm unserer Gegenwart. Kultur ist etwas Unbegreifliches; das Höchste ist mit dem Abgründigsten verwandt, und voll all den Jahrhunderten voller Schmerz, Verzückung und Verwirrung bleibt uns am Ende nur diese himmlische Musik, bei der sich mein Herz vor Verlangen zusammenkrampft, während ich unter der leichten Daunendecke liege….


Anton, ist Kunsttheoretiker, der oft an den Rändern des Lebens entlanggleitet. Einer, der eher denkt als handelt, der seine Sehnsüchte und seine Melancholie mit sich herumträgt und im Gegensatz Ein Gegenpol, lebendig, impulsiv, handfest im besten Sinn. Er denkt nicht nur über Kunst nach, er greift nach ihr, verschmilzt mit Material und Werkzeug, ein Mensch, der mit seiner Umgebung in eine Art physischer Resonanz tritt. Zwischen den beiden entsteht eine Freundschaft, die nicht idyllisch ist, sondern vibrierend; eine Beziehung, in der Nähe und Verrat, Inspiration und Verletzlichkeit von Anfang an mitschwingen.

Gerade weil Dius kein klassisch plotgetriebenes Buch ist, wirkt das, was geschieht, umso intensiver. Hertmans schildert ein Leben, das von Verlust, Erinnerung und dem Bedürfnis nach Nähe geprägt ist aber auch von dem Versuch, sich über Kunst und die Betrachtung der Welt neu zu verorten. Durch die kunsthistorischen Exkurse, die Musik und die Naturbeobachtungen entsteht ein Geflecht, das gleichzeitig poetisch, scharf und berührend ist. Es ist ein Buch über das Sehen im wörtlichen wie im übertragenen Sinn. Dius hat mich sehr berührt, und als Nächstes wartet nun Hertmans’ Krieg und Terpentin auf mich. Danke an Susanne vom Diogenes Verlag für ihre treffsichere Empfehlung und natürlich an den Diogenes Verlag für das Rezensionsexemplar.

Dius war außerdem die Lektüre für meinen Read around the World Belgien Stop.

Kim, Monika – Das Beste sind die Augen erschienen im Kiepenheuer & Witsch Verlag, übersetzt von Jasmin Humburg

Ich hatte mich durchaus auf Horror eingestellt – aber was Monika Kim in diesem Debüt abliefert, hat meine Vorstellung doch noch mal ordentlich übertroffen. Es geht um die koreanisch-amerikanische Schülerin Ji-won, die versucht, ihre Familie zusammenzuhalten, während sie sich gleichzeitig durch alltägliche Mikroaggressionen, Fetischisierung und unterschwelligen Rassismus kämpft. Und irgendwo auf diesem Weg kippt etwas in ihr – langsam, aber unaufhaltsam.


Ji-won ist keine Karikatur und keine reine Horrorfigur, sondern eine vielschichtige, verletzte, wütende junge Frau die irgendwann einen Weg wählt, der definitiv ins Dunkle führt. Und ja, es geht um Augen. Um das Essen von Augen. Um eine Obsession, die eng mit dem neuen Freund ihrer Mutter zusammenhängt, einem weißen Mann, der die Familie so unverhohlen exotisiert, dass es einem schon beim Lesen unangenehm wird.

Stark fand ich die Stellen, in denen Kim zeigt, wie unterschiedlich Rassismus aussehen kann: Der offensichtliche, laute Typ wie George – aber auch die Sorte, die sich hinter vermeintlichem „Ich bin doch einer von den Guten“ versteckt. Diese leisen, schmierigen, hohlen Gesten, die sich erst später als echte Gefahr entpuppen.

Männer wie George sind nicht wie wir. Nicht wie ich, nicht wie Ji-hyun. Nicht einmal mein Vater, ein anderer Mann, kann George das Wasser reichen, da seine Macht nicht allein der Tastsache entspringt, dass er einen Penis hat. Sie basiert auf seiner weißen Haut. Für uns ist diese Art der Bestimmtheit und Selbstsicherheit unmöglich. Uns Mädchen wird von klein auf eingebläut, dass wir nachweislich weniger wert sind als unsere männlichen Zeitgenossen. Wir sind kleiner, schwächer, dümmer. Wenn wir Erfolg haben, dann nur, weil Männer es uns erlauben. Und als asiatische Frauen sind wir besonders machtlos und fremdartig, mit unserer vermeintlichen Porzellanhaut, der zierlichen Figur, der „Schlitzaugenpussy“ und dem ruhigen, unterwürfigen Naturell.

Allerdings wirken einige der Charaktere ziemlich schablonenhaft und bestimmte Wendungen waren schon früh vorhersehbar. Noch eine Warnung: wer empfindlich auf Splatter reagiert, sollte sich auf etwas gefasst machen. Einige Szenen gehen wirklich an die Grenze selbst mir wurde es zwischendurch mulmig und so ganz schnell geht das bei mir eigentlich nicht.

„Das Beste sind die Augen“ ist mutig, ungewöhnlich und wagt eine Perspektive, die man so selten liest. Ji-wons Abstieg ist verstörend, aber zugleich auch nachvollziehbar erzählt und weckt sogar stellenweise Mitgefühl. Und ganz ehrlich: Wenn wir seit Jahrzehnten empathisch erzählte Serienkiller-Stories über weiße Typen lesen, dann ist es absolut an der Zeit, dass auch andere Stimmen diesen Raum bekommen.

Ich danke dem Kiepenheuer & Witsch Verlag für das Rezensionsexemplar.

Toller, Ernst – Eine Jugend in Deutschland erschienen im Rowohlt Verlag

Ernst Toller war ein Mensch, der das Wort „Humanität“ nicht nur schrieb, sondern lebte. Geboren 1893 in Samotschin, aufgewachsen in einer bürgerlich-jüdischen Familie, erlebte er als junger Mann den Ersten Weltkrieg an der Front – ein Erlebnis, das ihn zutiefst prägte und zum Pazifisten machte. Aus dem patriotischen Studenten wurde ein Suchender, ein Zweifler, ein Kämpfer für eine gerechtere, menschlichere Welt.

Sein autobiographisches Werk „Eine Jugend in Deutschland“ ist nicht nur Erinnerungsbuch, sondern ein erschütterndes, poetisches Bekenntnis. Toller beschreibt darin den Weg eines sensiblen, idealistischen Menschen, der den Krieg als Wahn erkennt und im Chaos der Nachkriegszeit versucht, durch Mitgefühl und Phantasie politische Verantwortung zu übernehmen.

In München wird er einer der führenden Köpfe der Räterepublik – nicht aus Machtstreben, sondern aus der Hoffnung heraus, eine neue, menschlichere Gesellschaft zu schaffen. Sein Leitsatz bleibt unverrückbar:

Wir kämpfen für eine gerechtere Welt, wir fordern Menschlichkeit, wir müssen menschlich sein.

Doch die Geschichte war grausam zu denen, die zu früh zu viel wollten. Nach dem Scheitern der Räterepublik wird Toller wegen Hochverrats zu fünf Jahren Haft verurteilt. Die Bedingungen sind entsetzlich – Hunger, Kälte, Isolation –, und doch entstehen in dieser Dunkelheit einige seiner hellsten Texte. In der Zelle schreibt er Antikriegsstücke wie „Masse Mensch“ und das zarte, tröstende „Schwalbenbuch“.

Zwei Schwalben fliegen vor mein Gitter,
sie bauen ihr Nest an der grauen Wand.
Ich sehe sie, wie sie fliegen und singen,
und mein Herz fliegt mit ihnen hinaus.

Diese Zeilen fassen alles, was Toller ausmacht: die Sehnsucht nach Freiheit, das Vertrauen in das Leben, selbst dort, wo es keine Hoffnung zu geben scheint.

Als er 1924 entlassen wird, ist er erst knapp dreißig Jahre alt – durch die Haft aber gealtert, innerlich wie äußerlich. Bis zu seiner Ausbürgerung 1933 schreibt er mehrere Dramen, in denen er die Fragen nach Verantwortung, Gewalt und Mitgefühl unermüdlich weiterstellt.

Im Exil – zunächst in England, dann in den USA – verliert er alles: seine Heimat, seine Sprache, seine Freunde, und zuletzt den Glauben, noch etwas bewirken zu können. 1939, in einem New Yorker Hotelzimmer, beendet er sein Leben – verlassen, bettelarm, und, wie er glaubte, überflüssig geworden.

Es ist eine bittere Wahrheit, dass Ernst Toller nach dem Krieg in der Bundesrepublik kaum Anerkennung fand. Die Bühnen, die ihn hätten ehren sollen, schwiegen. Dabei ist er ein Autor, dessen Werk – getragen von moralischem Mut und poetischer Zärtlichkeit – heute aktueller ist denn je.

„Eine Jugend in Deutschland“ ist ein Vermächtnis. Es ruft uns in Erinnerung, dass Menschlichkeit auch in Zeiten der Verzweiflung möglich bleibt, dass Widerstand ohne Hass denkbar ist. Toller war ein Dichter, ein Politiker, ein Idealist – und vor allem: ein Mensch, von deren Format wir heute mehr denn je brauchen.

Was waren eure Highlights im November und konnte ich euch auf das eine oder andere Buch Lust machen? Freue mich auf eure Rückmeldungen.

Große gemischte Tüte

Ian McEwan ist der Naturwissenschaftler unter den Romanautoren. Immer wieder beschäftigt er sich in seinen Werken damit, woher die menschliche Erkenntnis kommt, wie zugänglich die Erkenntnisse der Wissenschaften für uns Leser sind, gibt es eine universelle menschliche Natur? In diesem Bändchen finden sich fünf Essays, die sich mit Wissenschaft, Literatur und Religion beschäftigen.

My own particular hero is E.O. Wilson” sagte der britische Schriftsteller Ian McEwan einmal in einem Interview. Es mag etwas überraschen, dass der „Held“ eines Literaten kein Dichter oder Romancier ist, sondern ein amerikanischer Biologe, der für die Entwicklung der Soziobiologie, einer Verschmelzung von Natur- und Sozialwissenschaften, berühmt ist. Doch wenn man sich McEwans Werk ansieht, wird deutlich, dass er zwar selbst ganz klar Literat ist, sich aber sehr für wissenschaftliche Themen interessiert. Für seine Romane Saturday und Enduring Love wählte er sogar zwei Wissenschaftler als Protagonisten, die der Erzählung ihr rational-wissenschaftliches Weltbild aufdrücken. Gleichzeitig geraten beide Protagonisten in einen Konflikt mit der Literatur.

„Über die Entstehung, in dreizehn Monaten geschrieben, ist das Resultat einer enormen intellektuellen Anstrengung: ausgereifte Einsichten, umfassendes Wissen und präzise Beobachtungen, die Darbietung aller Fakten, die Erläuterung geradezu unwiderleglicher Argumente im Dienste einer profunden Kenntnis natürlicher Abläufe. Darwins Zögern, gegen Emmas religiöse Überzeugungen zu verstoßen, den theologischen Gewissheiten seiner Kollegen zu widersprechen oder sich in der unpassenden Rolle eines Bilderstürmers wiederzufinden, eines radikalen Abweichlers in der viktorianischen Gesellschaft – all diese Bedenken warf er über den Haufen, weil er fürchtete, jemand anderes könne ihm zuvorkommen und die Anerkennung für Überlegungen einheimsen, die er für die seinen hielt.“

Darwin bildet ein wenig den roten Faden zwischen den einzelnen Vorträgen bzw. Artikeln, bzw. der Vergleich der Arbeit eines Wissenschaftlers mit der eines Autors, dennoch stehen die Essays in keinem bestimmten zeitlichen oder inhaltlichen Bezug zueinander. Trotzdem habe ich sie sehr gerne gelesen – eine sehr anregende Lektüre, die mich dazu bringt, dieses Jahr aber wirklich endlich Darwins „The Origins of Species“ zu lesen, das schon viel zu lange ungelesen in meinem Regal steht.

Ich danke dem Diogenes Verlag für das Rezensionsexemplar.

Gilbert hat einen Alptraum, indem seine Frau untreu ist, er erwacht schwer empört und konfrontiert sie im Laufe des Tages mit ihrer Untreue. Sie jedoch leugnet jegliche eheliche Abschweifung, woraufhin er von ihrer Untreue weiterhin tief überzeugt, seine seine Tasche packt, seinen Pass nimmt, zum Flughafen fährt und den erstbesten verfügbaren Interkontinentalflug bucht. Er landet in Tokio, wo Gilbert – ein Forscher in Sachen Bart – versucht, ein Gespräch mit einem seltenen jungen Japaner anzufangen, der erste, den er sieht, der einen kleinen Bart trägt. Yosa war gerade im Begriff, Selbstmord zu begehen, aber als Gilbert ihn anspricht, verbietet es die Höflichkeit, mit seinem Plan fortfahren. Ausgestattet mit zwei Büchern, Bashos berühmtem Reiseführer über das Hinterland Japans und einem japanischen Selbstmord-Handbuch, beginnen die beiden Männer eine Reise durch Japan auf der Suche nach den seit Basho bedichteten berühmten Kiefern.

Über den Weg, der neben dem Schild vom Hauptweg abzweigte, spannte sich ein dünner Faden, der offenbar eine Sperre versinnbildlichen sollte. Yosa hob das Sinnbild an, bückte sich darunter durch, und Gilbert tat es ihm gleich, auf einmal von heißem Trotz gegen eine Maßregelung durch schlaffe Bindfäden erfüllt. Sie brauchen ihm jetzt wirklich nicht mit der Albernheit zu kommen, ihn mittels Bindfäden gängeln zu wollen, er hielt sich an ausreichend viele Vorschriften, wenn auch widerstrebend, und bei einem Waldspaziergang benötigte er keine Kontrolle und keine Bevormundung. Er überholte Yosa und stapfte wütend den Pfad entlang durch unübersichtliches, verbotenes Gebiet.

Der Roman ist ein kleines Meisterwerk. Witzig, skurril, großartig beobachtet. Ich weiß nicht, wie Poschmann es geschafft hat, sie fängt mit atemberaubender Perfektion exakt die verwirrende Erfahrung ein, die einen als Besucher des Landes permanent begleitet. Ich hatte vor der Lektüre schon eine Ahnung, dass es mir gefallen könnte, aber es dürfte eines der Highlights des Jahres sein, kann es nur jedem ans Herzen legen und je weniger man vorher über den Roman weiß, desto besser glaube ich.

Marion Poschmann erzählt in „Nimbus“ von den Verheerungen, denen die Natur durch den Menschen ausgesetzt ist. Ihre poetischen Illuminationen lassen die Magie der Natur sinnlich werden. Diese Gedichte haben eine unfassbar schöne Rhythmik und die Sprache malt passende atmosphärische Bilder dazu. Ich habe keine Ahnung, wie man Gedichte bespricht, daher einfach nur: Kauft diesen Gedichtband, lasst euch hineinfallen und legt ihn nie zu weit außer Reichweite, ihr werdet immer wieder einmal darin lesen wollen!

Farnfraktal – wie Flügel gegen sinkendes Abendlicht.
Und wir, wir wichen schüchtern den Schritt zurück
ins Dunkle, wo die Farnspiralen
ausharrten, dicht in sich eingewunden,

genügsam, lautlos. War ich denn jemals so –
so eingerollt in mich, völlig eingehegt
in Wald, der an mich grenzte, Wald, der
Gegenfarn bildete, größer, stiller.

Diese erstaunliche Frau führte ein sehr beeindruckendes Leben. Anne Beaumanoir war im Zweiten Weltkrieg im kommunistischen Widerstand gegen die Nazi-Besatzung Frankreichs, half vielen ihrer jüdischen Mitmenschen dem Nazi-Terror, der Gefangenschaft und dem sicheren Tod zu entkommen, arbeitete als Neurologin, war im algerischen Unabhängigkeitskampf gegen den französischen Kolonialismus aktiv und wurde dafür zu 10 Jahren Gefängnis verurteilt, lebte viele Jahre in Tunesien und Algerien im Exil und half in den Anfangsjahren der algerischen Unabhängigkeit beim Aufbau des algerischen Gesundheitssystems. Heute ist sie 97 Jahre alt und traf bei einer Veranstaltung auf die Autorin Anne Weber, der sie ihr Leben erzählte.

„Zu lange waren Angst Erschöpfung Einsamkeit
ihre einzigen Begleiter. Sie kann nicht mehr. Im
Parc Monceau findet sie, statt der Ruhe, die sie sucht,
eine noch nie empfundene Beklemmung. Kein
Mensch in dieser großen Stadt, die sie mit kleinen
Schritten monatelang durchmessen hat, von der sie
jeden Winkel, jeden Außenbezirk kennt, kein Mensch,
der sich im Geringsten um sie schert, der sie was fragt
oder sich vielleicht Gedanken um sie macht, nichts,
niemand – Leere. Hat Kommunismus nicht mit
Gemeinsamkeit zu tun? Als sie noch handelte und
etwas Sinnvolles vollbrachte – etwas, wovon sie
hoffte, dass es sinnvoll war -, da ging es noch. Und
jetzt?

Die Form erhebt Beaumanoir in die Höhen einer griechischen Heldin, aber gleichzeitig macht der Inhalt sie zu einer sehr modernen Figur, die nicht nur durch die Zeit in der sie lebte geformt wurde, sondern die sich auch mit Fragen wie Identität und Ideologie beschäftigte. Die Sprache ist poetisch, aber, in Anbetracht der Form, nicht sehr stilisiert und sehr zugänglich. Die ganze Mischung ist ein überaus fesselndes Erlebnis.

In The Heat of the Day erschafft Elizabeth Bowen auf brillante Weise die angespannte und gefährliche Atmosphäre Londons während der Bombenangriffe des Zweiten Weltkriegs.

Viele Menschen sind aus der Stadt geflohen, und diejenigen, die zurückgeblieben sind, finden sich in einer seltsamen, aus der Krise geborenen Intimität zusammen. Stella Rodney ist eine von denen, die sich entschieden haben, zu bleiben. Aber für sie wird das Gefühl der bevorstehenden Katastrophe plötzlich sehr persönlich, als sie entdeckt, dass ihr Geliebter Robert verdächtigt wird, Geheimnisse an den Feind zu verkaufen, und dass der Mann, der ihn verfolgt, Stella als Preis für sein Schweigen zu seiner Geliebten machen will. Gefangen zwischen diesen beiden Männern und nicht sicher, wem sie glauben soll, gerät Stellas Welt aus den Fugen, als sie erfährt, wie wenig wir wirklich über die Menschen um uns herum wissen können.

„Beide waren in ihrem Element, und als sie sich kennenlernten gleich noch viel mehr. Es war typisch für dieses Leben im Augenblick und um des Augenblicks willen, daß man Menschen gut kannte, ohne allzuviel von ihnen zu wissen. Das Vakuum hinsichtlich der Zukunft entsprach dem Vakuum hinsichtlich der Vergangenheit; Lebensgeschichten wurden als unnützer Ballast abgeworfen, und aus verschiedenen Gründen kam das sowohl ihr als auch ihm entgegen.“

Bowen hat einen ungewöhnlichen Schreibstil, der mich immer wieder mal an Virginia Woolf erinnerte. Manchmal kamen die Worte geradezu in Maschinengewehrsalven auf einen zu, dann wieder ihre Sätze fast träge wie wie ein schwüler Spätsommertag. Dies ist mein erster Roman von Elizabeth Bowen, aber sicher nicht meine letzter. Der Roman ist eine spannende Mischung aus Noir-Spionage mit einem Spritzer Liebesroman.

Dieses kleine Buch wurde 1938 in den Vereinigten Staaten veröffentlicht und wurde noch zu Lebzeiten der Autorin zum Klassiker. Die Erstveröffentlichung hat wegen der darin enthaltenen Wahrheiten – und der Warnungen – immer wieder an Popularität gewonnen.

A short time before the war, some cultivated, intellectual, warmhearted German friends of mine returned to Germany after living in the United States. In a very short time they turned into sworn Nazis. They refused to listen to the slightest criticism about Hitler. During a return visit to California, they met an old, dear friend of theirs on the street who had been very close to them and who was a Jew. They did not speak to him. They turned their backs on him when he held his hands out to embrace them. How can such a thing happen? I wondered. What changed their hearts so? What steps brought them to such cruelty?

These questions haunted me very much and I could not forget them. It was hard to believe that these people whom I knew and respected had fallen victim to the Nazi poison. I began researching Hitler and reading his speeches and the writings of his advisors. What I discovered was terrifying. What worried me most was that no one in America was aware of what was happening in Germany and they also did not care. In 1938, the isolationist movement in America was strong; the politicians said that affairs in Europe were none of our business and that Germany was fine. Even Charles Lindbergh came back from Germany saying how wonderful the people were. But some students who had returned from studying in Germany told the truth about the Nazi atrocities. When their fraternity brothers thought it would be fun to send them letters making fun of Hitler, they wrote back and said, “Stop it. We’re in danger. These people don’t fool around. You could murder one of these Nazis by writing letters to him.”

So erklärte Kathrine Kressmann Taylor die Inspiration zu „Adresse unbekannt“, das heute als eines der grundlegenden Werke der Anti-Nazi-Literatur gilt. Ursprünglich 1938 veröffentlicht, wurde die Kurzgeschichte in Form eines Briefwechsels auf dem Höhepunkt des Aufstiegs des Nationalsozialismus in Deutschland zwischen zwei Geschäftspartnern und Freunden geschrieben. Martin, der kürzlich nach Deutschland zurückgekehrt ist, wird nach und nach von der Nazi-Ideologie indoktriniert, sein Freund Max ist Jude, der in Amerika zurückgeblieben ist, um das Geschäft weiterzuführen.

Die Geschichte beschäftigt sich mit den Themen Fanatisierung, Faschismus und Rache und wie leicht der Spieß auch umgedreht werden könnte, wenn man andere verunglimpft. Leider ist dieses Buch auch heute noch so relevant wie eh und je, wo faschistische Ideale wieder auf dem Vormarsch sind und durch Social Media leicht verbreitet und akzeptiert werden.

Ich hoffe, in dieser gemischten Tüte war etwas dabei für euch? 6 sehr unterschiedliche, aber allesamt überaus empfehlenswerte Bücher die ich euch ans Herz legen möchte.

Hier noch einmal in der Übersicht:

  • Erkenntnis und Schönheit von Ian McEwan erschienen im Diogenes Verlag
  • Die Kieferninseln von Marion Poschmann erschienen im Suhrkamp Verlag
  • Nimbus von Marion Poschmann erschienen im Suhrkamp Verlag
  • Annette, ein Heldinnenepos von Anne Weber erschienen im Matthes & Seitz Verlag
  • In der Hitze des Tages von Elizabeth Bowen erschienen im Schöffling Verlag
  • Adressat unbekannt von Kressmann Taylor erschienen im Rowohlt Verlag

#WomeninSciFi (13) Corpus Delicti – Juli Zeh

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Masuko, die leidenschaftliche Leserin vom Literaturblog „Masuko13„, bringt uns nach dem Ausflug ins All letzte Woche mit Juli Zeh wieder zurück auf festen Boden. Und erstmals auch auf deutschen Boden, den man ja irgendwie weniger mit  SciFi und Dystopien verbindet.

Masukos Blog ist nur ein „halb-gefährlicher“ Ort für mich, denn wir haben richtig viele Überschneidungen, so dass ich die meisten von ihr besprochenen Bücher ohnehin gerade gelesen oder gekauft habe – aber wenn sie etwas mir Unbekanntes bespricht, landet es ziemlich garantiert auf meiner Wunschliste. Ich bin noch am überlegen, wer von uns beiden das größere Murakami-Fangirl ist, über die Beprechung einer seiner Romane bin ich auch auf ihrem Blog gelandet und seitdem fröhlich hängengeblieben.

Ich habe mich sehr gefreut, dass Masuko bei dem Projekt dabei ist – ich hoffe sehr auf ein Treffen irgendwann in Berlin bei einem japanischen Whisky oder ich lasse mich im Buchladen von Dir beraten. Jetzt Vorhang auf für Juli Zeh – die Grand Dame der deutschen Dystopie:

Warum ich vor wenigen Tagen Corpus Delicti gelesen habe, hat mehrere Gründe. An erster Stelle steht, dass du, Sabine, mich gefragt hast, ob ich für deine Serie Women in SciFi eine Rezension schreiben möchte. Außerdem schätze ich Juli Zeh wirklich sehr, ich liebe dystopische Romane und zusätzlich beschäftigt mich das Thema “Leben in einer Diktatur” gerade sehr.
Das liegt daran, dass ich vor einiger Zeit in der Berliner Gedenkstätte Hohenschön-hausen gewesen bin. Hier hat in den Zeiten der DDR die Stasi ihre Opfer verhört, gefoltert, schikaniert. Eiskalt wurde mir in den Kellern und Verhörzimmern. Das System der Überwachung in der DDR war flächendeckend und – bedenkt man die technisch begrenzten Mittel im Vergleich zu heute oder gar in naher Zukunft – erschreckend perfekt. Was, wenn es die Stasi heute immer noch gäbe?

Genau deshalb fand ich es so spannend, wie Juli Zeh einen solchen Unrechtsstaat der Zukunft beschreibt. Eindrucksvoll erzählt sie in Corpus Delicti, wie es sich anfühlt, unter ständiger Beobachtung und Überwachung zu stehen. In ihrem Roman gibt es keine Demokratie mehr. Das aktuelle Staats-System nennt sich die METHODE, ist allmächtig und ewig kontrollierend. Es dient dem “Wohle des Menschen”. Krankheiten sind ausgemerzt. Rauchen ist verboten. Gegessen, getrunken und geliebt wird nach vorgegebenen Standards. So sind Partnerschaften nur dann möglich, wenn bestimmte immunologische Kategorien erfüllt, Mann und Frau kompatibel sind. Sport gehört zum täglich zu absolvierenden Pensum. Um all dies kontrollieren zu können, trägt jeder Mensch einen in den Arm implantierten Chip. Verstösse gegen das System oder gar Versuche, es zu verlassen, werden sofort erfasst. Denn die Sensoren der METHODE sind überall. Subversive Elemente werden verfolgt und ausgeschaltet oder umgeschult. Konform gemacht.

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Gegen dieses System rebelliert Mia Holl. Sie ignoriert die täglichen Vorgaben auf dem Hometrainer. Sie raucht heimlich und immer in Gedanken an Moritz. Die Zigarette schmeckt nach seinem Lachen, seiner Lebenslust, seinem Freiheitsdrang. Moritz ist für Mia das Symbol der Freiheit, er hat ihr beigebracht, Dinge in Frage zu stellen, gegen die METHODE zu rebellieren. Er hat sie gelehrt, Grenzen zu überschreiten. Nicht nur psychische, nein auch echte. Da war der “unhygienische Wald”, durch den sie gern unkontrolliert liefen, um im nahen Fluss zu fischen, ein Feuer zu machen und die schuppigen verkohlten Fische dann zu verzehren. Kein Warnschild, nichts konnte sie bremsen:

Hier endet der nach Paragraph 17 Desinfektionsordnung kontrollierte Bereich. Verlassen des Hygienegebiets wird nach Paragraph 18 Desinfektionsordnung als Ordnungswidrigkeit zweiten Grades bestraft (S. 90).

Doch Moritz ist tot. Und Mia fordert Wiedergutmachung für ihren Bruder, der zu Unrecht verhaftet wurde, seine Unschuld nicht beweisen konnte und in seiner Zelle Selbstmord. begangen hat. Die METHODE zu bekämpfen jedoch, ist lebensgefährlich. Jeder Anti-Methodist gilt als Reaktionär, wird mundtot gemacht. Das bekommt schließlich auch Mia zu spüren.

Corpus Delicti ist so ein Roman, nach dessen Lektüre ich mich frage, wie gläsern ich selbst bereits bin und wie viel von meiner Individualität ich bereits verloren habe. Denn, egal ob Partnersuche nach Algorithmen oder Datenerfassung im Gesundheitssystem, die Kontrolle ist gegenwärtig. Fehlt nur noch der Chip im Oberarm und die entsprechenden Machtmechanismen, diesen zu missbrauchen? STOP! NEIN! Niemand kann das wollen. Wollen wir nicht viel lieber weiterhin unkontrolliert und frei leben, die Möglichkeit haben, Entscheidungen zu treffen – und seien sie noch so ungesund oder gefährlich?! Ich selbst glaube an das Chaos und an den Zufall, ich will den “unhygienischen Wald” und den ungewaschenen Apfel. Und natürlich will ich Kaffee, Bier und Wein.