Ian McEwan ist der Naturwissenschaftler unter den Romanautoren. Immer wieder beschäftigt er sich in seinen Werken damit, woher die menschliche Erkenntnis kommt, wie zugänglich die Erkenntnisse der Wissenschaften für uns Leser sind, gibt es eine universelle menschliche Natur? In diesem Bändchen finden sich fünf Essays, die sich mit Wissenschaft, Literatur und Religion beschäftigen.
“My own particular hero is E.O. Wilson” sagte der britische Schriftsteller Ian McEwan einmal in einem Interview. Es mag etwas überraschen, dass der „Held“ eines Literaten kein Dichter oder Romancier ist, sondern ein amerikanischer Biologe, der für die Entwicklung der Soziobiologie, einer Verschmelzung von Natur- und Sozialwissenschaften, berühmt ist. Doch wenn man sich McEwans Werk ansieht, wird deutlich, dass er zwar selbst ganz klar Literat ist, sich aber sehr für wissenschaftliche Themen interessiert. Für seine Romane Saturday und Enduring Love wählte er sogar zwei Wissenschaftler als Protagonisten, die der Erzählung ihr rational-wissenschaftliches Weltbild aufdrücken. Gleichzeitig geraten beide Protagonisten in einen Konflikt mit der Literatur.
„Über die Entstehung, in dreizehn Monaten geschrieben, ist das Resultat einer enormen intellektuellen Anstrengung: ausgereifte Einsichten, umfassendes Wissen und präzise Beobachtungen, die Darbietung aller Fakten, die Erläuterung geradezu unwiderleglicher Argumente im Dienste einer profunden Kenntnis natürlicher Abläufe. Darwins Zögern, gegen Emmas religiöse Überzeugungen zu verstoßen, den theologischen Gewissheiten seiner Kollegen zu widersprechen oder sich in der unpassenden Rolle eines Bilderstürmers wiederzufinden, eines radikalen Abweichlers in der viktorianischen Gesellschaft – all diese Bedenken warf er über den Haufen, weil er fürchtete, jemand anderes könne ihm zuvorkommen und die Anerkennung für Überlegungen einheimsen, die er für die seinen hielt.“
Darwin bildet ein wenig den roten Faden zwischen den einzelnen Vorträgen bzw. Artikeln, bzw. der Vergleich der Arbeit eines Wissenschaftlers mit der eines Autors, dennoch stehen die Essays in keinem bestimmten zeitlichen oder inhaltlichen Bezug zueinander. Trotzdem habe ich sie sehr gerne gelesen – eine sehr anregende Lektüre, die mich dazu bringt, dieses Jahr aber wirklich endlich Darwins „The Origins of Species“ zu lesen, das schon viel zu lange ungelesen in meinem Regal steht.
Ich danke dem Diogenes Verlag für das Rezensionsexemplar.
Gilbert hat einen Alptraum, indem seine Frau untreu ist, er erwacht schwer empört und konfrontiert sie im Laufe des Tages mit ihrer Untreue. Sie jedoch leugnet jegliche eheliche Abschweifung, woraufhin er von ihrer Untreue weiterhin tief überzeugt, seine seine Tasche packt, seinen Pass nimmt, zum Flughafen fährt und den erstbesten verfügbaren Interkontinentalflug bucht. Er landet in Tokio, wo Gilbert – ein Forscher in Sachen Bart – versucht, ein Gespräch mit einem seltenen jungen Japaner anzufangen, der erste, den er sieht, der einen kleinen Bart trägt. Yosa war gerade im Begriff, Selbstmord zu begehen, aber als Gilbert ihn anspricht, verbietet es die Höflichkeit, mit seinem Plan fortfahren. Ausgestattet mit zwei Büchern, Bashos berühmtem Reiseführer über das Hinterland Japans und einem japanischen Selbstmord-Handbuch, beginnen die beiden Männer eine Reise durch Japan auf der Suche nach den seit Basho bedichteten berühmten Kiefern.
„Über den Weg, der neben dem Schild vom Hauptweg abzweigte, spannte sich ein dünner Faden, der offenbar eine Sperre versinnbildlichen sollte. Yosa hob das Sinnbild an, bückte sich darunter durch, und Gilbert tat es ihm gleich, auf einmal von heißem Trotz gegen eine Maßregelung durch schlaffe Bindfäden erfüllt. Sie brauchen ihm jetzt wirklich nicht mit der Albernheit zu kommen, ihn mittels Bindfäden gängeln zu wollen, er hielt sich an ausreichend viele Vorschriften, wenn auch widerstrebend, und bei einem Waldspaziergang benötigte er keine Kontrolle und keine Bevormundung. Er überholte Yosa und stapfte wütend den Pfad entlang durch unübersichtliches, verbotenes Gebiet.„
Der Roman ist ein kleines Meisterwerk. Witzig, skurril, großartig beobachtet. Ich weiß nicht, wie Poschmann es geschafft hat, sie fängt mit atemberaubender Perfektion exakt die verwirrende Erfahrung ein, die einen als Besucher des Landes permanent begleitet. Ich hatte vor der Lektüre schon eine Ahnung, dass es mir gefallen könnte, aber es dürfte eines der Highlights des Jahres sein, kann es nur jedem ans Herzen legen und je weniger man vorher über den Roman weiß, desto besser glaube ich.
Marion Poschmann erzählt in „Nimbus“ von den Verheerungen, denen die Natur durch den Menschen ausgesetzt ist. Ihre poetischen Illuminationen lassen die Magie der Natur sinnlich werden. Diese Gedichte haben eine unfassbar schöne Rhythmik und die Sprache malt passende atmosphärische Bilder dazu. Ich habe keine Ahnung, wie man Gedichte bespricht, daher einfach nur: Kauft diesen Gedichtband, lasst euch hineinfallen und legt ihn nie zu weit außer Reichweite, ihr werdet immer wieder einmal darin lesen wollen!
Farnfraktal – wie Flügel gegen sinkendes Abendlicht.
Und wir, wir wichen schüchtern den Schritt zurück
ins Dunkle, wo die Farnspiralen
ausharrten, dicht in sich eingewunden,
genügsam, lautlos. War ich denn jemals so –
so eingerollt in mich, völlig eingehegt
in Wald, der an mich grenzte, Wald, der
Gegenfarn bildete, größer, stiller.
Diese erstaunliche Frau führte ein sehr beeindruckendes Leben. Anne Beaumanoir war im Zweiten Weltkrieg im kommunistischen Widerstand gegen die Nazi-Besatzung Frankreichs, half vielen ihrer jüdischen Mitmenschen dem Nazi-Terror, der Gefangenschaft und dem sicheren Tod zu entkommen, arbeitete als Neurologin, war im algerischen Unabhängigkeitskampf gegen den französischen Kolonialismus aktiv und wurde dafür zu 10 Jahren Gefängnis verurteilt, lebte viele Jahre in Tunesien und Algerien im Exil und half in den Anfangsjahren der algerischen Unabhängigkeit beim Aufbau des algerischen Gesundheitssystems. Heute ist sie 97 Jahre alt und traf bei einer Veranstaltung auf die Autorin Anne Weber, der sie ihr Leben erzählte.
„Zu lange waren Angst Erschöpfung Einsamkeit
ihre einzigen Begleiter. Sie kann nicht mehr. Im
Parc Monceau findet sie, statt der Ruhe, die sie sucht,
eine noch nie empfundene Beklemmung. Kein
Mensch in dieser großen Stadt, die sie mit kleinen
Schritten monatelang durchmessen hat, von der sie
jeden Winkel, jeden Außenbezirk kennt, kein Mensch,
der sich im Geringsten um sie schert, der sie was fragt
oder sich vielleicht Gedanken um sie macht, nichts,
niemand – Leere. Hat Kommunismus nicht mit
Gemeinsamkeit zu tun? Als sie noch handelte und
etwas Sinnvolles vollbrachte – etwas, wovon sie
hoffte, dass es sinnvoll war -, da ging es noch. Und
jetzt?
Die Form erhebt Beaumanoir in die Höhen einer griechischen Heldin, aber gleichzeitig macht der Inhalt sie zu einer sehr modernen Figur, die nicht nur durch die Zeit in der sie lebte geformt wurde, sondern die sich auch mit Fragen wie Identität und Ideologie beschäftigte. Die Sprache ist poetisch, aber, in Anbetracht der Form, nicht sehr stilisiert und sehr zugänglich. Die ganze Mischung ist ein überaus fesselndes Erlebnis.
In The Heat of the Day erschafft Elizabeth Bowen auf brillante Weise die angespannte und gefährliche Atmosphäre Londons während der Bombenangriffe des Zweiten Weltkriegs.
Viele Menschen sind aus der Stadt geflohen, und diejenigen, die zurückgeblieben sind, finden sich in einer seltsamen, aus der Krise geborenen Intimität zusammen. Stella Rodney ist eine von denen, die sich entschieden haben, zu bleiben. Aber für sie wird das Gefühl der bevorstehenden Katastrophe plötzlich sehr persönlich, als sie entdeckt, dass ihr Geliebter Robert verdächtigt wird, Geheimnisse an den Feind zu verkaufen, und dass der Mann, der ihn verfolgt, Stella als Preis für sein Schweigen zu seiner Geliebten machen will. Gefangen zwischen diesen beiden Männern und nicht sicher, wem sie glauben soll, gerät Stellas Welt aus den Fugen, als sie erfährt, wie wenig wir wirklich über die Menschen um uns herum wissen können.
„Beide waren in ihrem Element, und als sie sich kennenlernten gleich noch viel mehr. Es war typisch für dieses Leben im Augenblick und um des Augenblicks willen, daß man Menschen gut kannte, ohne allzuviel von ihnen zu wissen. Das Vakuum hinsichtlich der Zukunft entsprach dem Vakuum hinsichtlich der Vergangenheit; Lebensgeschichten wurden als unnützer Ballast abgeworfen, und aus verschiedenen Gründen kam das sowohl ihr als auch ihm entgegen.“
Bowen hat einen ungewöhnlichen Schreibstil, der mich immer wieder mal an Virginia Woolf erinnerte. Manchmal kamen die Worte geradezu in Maschinengewehrsalven auf einen zu, dann wieder ihre Sätze fast träge wie wie ein schwüler Spätsommertag. Dies ist mein erster Roman von Elizabeth Bowen, aber sicher nicht meine letzter. Der Roman ist eine spannende Mischung aus Noir-Spionage mit einem Spritzer Liebesroman.
Dieses kleine Buch wurde 1938 in den Vereinigten Staaten veröffentlicht und wurde noch zu Lebzeiten der Autorin zum Klassiker. Die Erstveröffentlichung hat wegen der darin enthaltenen Wahrheiten – und der Warnungen – immer wieder an Popularität gewonnen.
„A short time before the war, some cultivated, intellectual, warmhearted German friends of mine returned to Germany after living in the United States. In a very short time they turned into sworn Nazis. They refused to listen to the slightest criticism about Hitler. During a return visit to California, they met an old, dear friend of theirs on the street who had been very close to them and who was a Jew. They did not speak to him. They turned their backs on him when he held his hands out to embrace them. How can such a thing happen? I wondered. What changed their hearts so? What steps brought them to such cruelty?
These questions haunted me very much and I could not forget them. It was hard to believe that these people whom I knew and respected had fallen victim to the Nazi poison. I began researching Hitler and reading his speeches and the writings of his advisors. What I discovered was terrifying. What worried me most was that no one in America was aware of what was happening in Germany and they also did not care. In 1938, the isolationist movement in America was strong; the politicians said that affairs in Europe were none of our business and that Germany was fine. Even Charles Lindbergh came back from Germany saying how wonderful the people were. But some students who had returned from studying in Germany told the truth about the Nazi atrocities. When their fraternity brothers thought it would be fun to send them letters making fun of Hitler, they wrote back and said, “Stop it. We’re in danger. These people don’t fool around. You could murder one of these Nazis by writing letters to him.”
So erklärte Kathrine Kressmann Taylor die Inspiration zu „Adresse unbekannt“, das heute als eines der grundlegenden Werke der Anti-Nazi-Literatur gilt. Ursprünglich 1938 veröffentlicht, wurde die Kurzgeschichte in Form eines Briefwechsels auf dem Höhepunkt des Aufstiegs des Nationalsozialismus in Deutschland zwischen zwei Geschäftspartnern und Freunden geschrieben. Martin, der kürzlich nach Deutschland zurückgekehrt ist, wird nach und nach von der Nazi-Ideologie indoktriniert, sein Freund Max ist Jude, der in Amerika zurückgeblieben ist, um das Geschäft weiterzuführen.
Die Geschichte beschäftigt sich mit den Themen Fanatisierung, Faschismus und Rache und wie leicht der Spieß auch umgedreht werden könnte, wenn man andere verunglimpft. Leider ist dieses Buch auch heute noch so relevant wie eh und je, wo faschistische Ideale wieder auf dem Vormarsch sind und durch Social Media leicht verbreitet und akzeptiert werden.
Ich hoffe, in dieser gemischten Tüte war etwas dabei für euch? 6 sehr unterschiedliche, aber allesamt überaus empfehlenswerte Bücher die ich euch ans Herz legen möchte.
Hier noch einmal in der Übersicht:
- Erkenntnis und Schönheit von Ian McEwan erschienen im Diogenes Verlag
- Die Kieferninseln von Marion Poschmann erschienen im Suhrkamp Verlag
- Nimbus von Marion Poschmann erschienen im Suhrkamp Verlag
- Annette, ein Heldinnenepos von Anne Weber erschienen im Matthes & Seitz Verlag
- In der Hitze des Tages von Elizabeth Bowen erschienen im Schöffling Verlag
- Adressat unbekannt von Kressmann Taylor erschienen im Rowohlt Verlag
Okay ich versuch es doch noch mal mit dem Heldinnenepos und mit Ian Mc Ewan auch.
Liebe Sabine,
danke für den Ian-McEwan-Tipp. Was du berichtest, hört sich sehr interessant an. Und da ich McEwan immer wieder gerne lese, bin ich nun auch neugieig auf die Blicke „hinter die Kulissen“.
Einen schönen Feiertags-Montag wünscht Claudia
Schön, dass dir Poschmann so gut gefällt.