Mai Lektüre

Der Mai war ein toller Lesemonat – mit berührenden Geschichten, diversen Perspektiven, unerwarteten Fundstücken und viel literarischer Reiselust. Besonders bewegt haben mich zwei Bücher über ungewöhnliche Berufe: Schwere Lasten und Marzahn, mon Amour. So sehr, dass ich jetzt ernsthaft darüber nachdenke, Kranfahrerin zu werden (Fußpflegerin aber eher nicht). Beide Bücher waren für mich klare 5-Sterne-Titel Ein echtes Highlight war auch die Lesung von Annett Gröschner, von der ich sogar eine persönliche Widmung bekommen habe: „Für die künftige Kranfahrerin.“ 🧡

Einen völlig anderen, aber gleichfalls eindrucksvollen Ton schlug Andrew O’Hagan in „Caledonian Road“ an – ein moderner Gesellschaftsroman à la Dickens, der das Leben entlang einer Londoner Straße in all seinen Facetten einfängt. Mit Christine Frohmanns „Vier Wochen“ kam schon ein erster Hauch Italien auf, während mich Monique Roffey mit „Die Meerjungfrau von Black Conch“ auf die karibische Insel Trinidad und Tobago entführte.

Ein überraschender Fund aus dem Bücherschrank war Bernard Berensons „One Year’s Reading for Fun“ – eine kleine literarische Zeitreise. Weniger überzeugt hat mich hingegen Christine Brückners „Wenn du geredet hättest, Desdemona“ das mich leider nicht richtig gepackt hat und das ich abgebrochen habe. Schade, hatte mich sehr darauf gefreut.

Auch auf die Ohren gab’s im Mai einiges: Olga Ravns „Die Angestellten“ als Hörbuch war eine faszinierende, leicht verstörende Mischung aus Science-Fiction, Poesie und Gesellschaftskritik. Und mit Neil deGrasse Tysons „Astrophysics for People in a Hurry“ habe ich zwischendurch einen kleinen Ausflug ins Weltall gemacht.

Was ihr hier noch nicht findet, sind die Bücher, die mich Ende Mai mit auf meine Reise nach Italien begleitet haben – die stelle ich euch bald in einem separaten Beitrag vor: Read Around the World: Italien.

Schwere Lasten – Annett Gröschner erschienen im C. H. Beck Verlag

Schwere Lasten ist eines dieser Bücher, die man aufschlägt und dann plötzlich das Gefühl hat, man würde einer Stimme lauschen, die man schon lange kennt. Vielleicht, weil sie einen an die eigene Oma erinnert. Vielleicht, weil sie aus einer Zeit erzählt, die einem trotz aller historischen Distanz so schmerzlich gegenwärtig vorkommt. Bei mir war es beides. Ich habe die Autorin auf einer Lesung erlebt, war von ihrer Art zu erzählen sofort gepackt – und wusste: Dieses Buch brauche ich in meinem Leben.

Im Mittelpunkt steht Hannah, eine Frau mit einem Leben, das man kaum fassen kann: geboren noch unter dem Kaiser, überlebt sie zwei Diktaturen, zieht sechs Kinder groß (zwei davon kann sie nicht begraben), betreibt einen Blumenladen, wird dann Kranführerin in der DDR – und lebt zuletzt in Hellersdorf, wo es für den Traum vom Garten nur zum Beet unter dem Fenster reicht. Eine Figur, so dicht und dreidimensional gezeichnet, dass man das Gefühl hat, sie könnte gleich zur Tür hereinkommen.

Was Gröschner gelingt, ist ein literarisches Kunststück: Die politische Geschichte des 20. Jahrhunderts wird nicht nacherzählt, sondern durchlebt – in Hannahs Alltag, in ihrer Arbeit, in ihren Verlusten und kleinen Hoffnungen. Besonders die Kapitel zu den Bombardierungen während des Zweiten Weltkriegs haben mich tief getroffen. Sie haben Erinnerungen an die Geschichten meiner Großmutter geweckt, die die Kriegsjahre in Quedlinburg überlebt hat. Weniger Bomben vielleicht, aber dieselbe Angst, dieselbe Ungewissheit. Und heute? Wieder Menschen in Kellern und U-Bahn-Schächten. Wieder Kriege. Wie krass lernresistent sind wir Menschen eigentlich?

Je besser sie den Kran beherrschte, desto mehr Gefallen fand sie an ihrer Position. Bald nannte sie ihren Kran Mimi. Sie redete mit Mimi, wie sie mit den Blumen geredet hatte. Und nicht selten dachte sie, dass sie mehr mit ihrem Arbeitsgerät redete als mit Karl.

Was dieses Buch auch ist: ein Denkmal für die Frauen der Arbeiterklasse. Für die, die gearbeitet haben, bis nichts mehr ging – und trotzdem nie wirklich Teilhabe bekamen. Für die, die sich alles vom Mund absparen mussten, während man heute mit blanker Selbstverständlichkeit fordert, sie mögen doch bitte länger arbeiten, länger schuften. Schwere Lasten zeigt, wie viel Menschen tragen müssen – und wie wenig sie dafür häufig bekommen.

Habe seitdem echt mal gegoogelt, was man braucht, um diesen Beruf zu ergreifen. Zwischen all den Bullshit Jobs, die uns umgeben und oft nur um sich selbst kreisen, erscheint mir der der Kranführerin unter Umständen realer, sinnvoller, vielleicht sogar erstrebenswerter als Beruf. Verantwortung, Übersicht, etwas bewegen – ganz buchstäblich. Und vielleicht auch ein bisschen Würde. Genau wie bei Hannah. Die mir allerdings berechtigt in den Hintern treten würde ob meiner romantisierenden Gedanken. Hanna Krause blieb bis zu ihrem Tod eine, die das Leben nimmt, wie es kommt. Ihr einziges Credo: „anständig bleiben.“ Große Empfehlung für dieses Buch – das habe ich sicherlich nicht zum letzten Mal gelesen.

Marzahn Mon Amour – Katja Oskamp erschienen im Hanser Verlag


Ich muss zugeben, ich war überrascht, wie sehr mich dieses Buch berührt hat. Katja Oskamp, geboren 1970 in Leipzig, hat ursprünglich Theaterwissenschaft und später am Leipziger Literaturinstitut studiert. Nach einigen literarischen Veröffentlichungen wechselte sie irgendwann beruflich völlig die Spur – und wurde medizinische Fußpflegerin in Berlin-Marzahn. Berlin Mon Amour basiert auf ihren Erlebnissen in diesem Beruf, mitten in einer Plattenbausiedlung, fernab vom hippen Mitte und Prenzlauer Berg – und genau das macht das Buch so besonders.

Ich hatte beim Lesen immer wieder Flashbacks an einen Sommer in den frühen 90ern, als ich Ferien bei einer Freundin in Hellersdorf in „der Platte“ gemacht habe. Damals stand gefühlt in jedem Treppenhaus ein Berg aus ausrangierten DDR-Möbeln, und es gab diese älteren Damen mit Berliner Schnauze, die den ganzen Tag das Treiben draußen vom Fensterbrett aus kommentierten – herrlich direkt, witzig und ohne Blatt vorm Mund. Einige dieser Damen hätten auch wunderbar bei Katja Oskamp im Fußpflegesalon Platz nehmen können. Genau diese Lebensnähe macht das Buch so stark.

Ich mochte besonders die Dynamik zwischen den drei Frauen im Salon – da schwingt Solidarität, Humor und viel Lebenserfahrung mit. Oskamp schafft es, Menschen zu porträtieren, die sonst eher durchs Raster der Literatur fallen. Keine Hochglanzfiguren, keine Dramen à la Netflix – sondern echte, manchmal schrullige, immer aber würdevolle Persönlichkeiten. Und ganz ohne diesen voyeuristischen Blick, den man aus dem Reality-TV kennt.

Unsere Arbeit ist kostbar! Unsere Kundschaft ist Spitze! Marzahn, mon amour!“
„O Gott, sie dichtet wieder“, sagt Flocke und grinst.
„Muss ick doch, Schnuffelpuppe“, sage ich, von die Füße alleene kann ja keen Mensch leben.“

Ganz nebenbei habe ich auch realisiert, wie wenig Aufmerksamkeit wir eigentlich unseren Füßen schenken. Kaum ein Lifestyle-Ratgeber redet drüber, dabei tragen sie uns doch jeden Tag durchs Leben – und Katja Oskamp gibt ihnen (und denen, die sie pflegen) endlich die Aufmerksamkeit, die sie verdienen.

Ein warmherziges und ehrliches Buch, das dieses Jahr auch als Miniserie verfilmt und in der ARD Mediathek abrufbar ist – absolut empfehlenswert – beides.

Vier Wochen – Christine Frohmann erschienen im mikrotext Verlag

Vier Wochen hat mir richtig gut gefallen – ein Buch, das auf unaufgeregte Weise eine ganz besondere Stimmung einfängt. Perfekt, um sich auf den Italienurlaub einzustimmen: Sonne, Olivenbäume, ein bisschen Chaos – und das alles durch die Augen einer Patchworkfamilie mit Teenagern, die unterschiedlicher kaum sein könnten.

Besonders mochte ich wie die Autorin die Gefühlswelt der Jugendlichen einfängt – eine Welt, die mir mittlerweile echt fremd ist, aber hier so authentisch und sensibel erzählt wird, dass ich fast das Gefühl hatte auf die künftige Teenagerzeit meines Neffen vorbereitet zu sein. Die Konflikte, Unsicherheiten und Einstellungen der Jugendlichen wirkten absolut authentisch auf mich.

Was mir ebenfalls sehr gefallen hat: Die gesellschaftskritischen Aspekte, die immer wieder ganz selbstverständlich und klug mit einfließen. Ob es um Klassenunterschiede, familiäre Strukturen oder Erwartungshaltungen geht – Frohmann beobachtet genau und bringt diese Themen ganz natürlich in ihre Erzählung ein, ohne sie mit dem Holzhammer zu präsentieren.

„… denn in Italien war alles schön und wahr und gut, außer der Neigung zum Faschismus, die sie hier leider auch hatten, aber sie war schon voll auf Überidentifikation, eine Droge, die sie beide liebten.“

Ein ruhiges, atmosphärisches Buch über das Zusammenleben, das Sich-Finden und den Sommer – ohne große Dramen, aber mit viel Herz und klarem Blick. Wer ein Buch sucht, das nach Ferien schmeckt und trotzdem etwas zu sagen hat, ist hier genau richtig.

Die Meerjungfrau von Black Conch – Monique Roffey erschienen im Tropen Verlag übersetzt von Gesine Schröder

Das Buch habe ich euch ja bereits im Rahmen meiner literarischen Weltreise vorgestellt. Wer also Lust hat auf einen leicht fantastischen Ausflug nach Trinidas & Tobago der klickt jetzt bitte hier.

One year’s reading for fun – Bernard Berenson nur antiquarisch erhältlich

Dieses kleine Buch war ein echter Zufallsfund aus dem öffentlichen Bücherschrank – und ein überraschend unterhaltsamer Begleiter. Bernard Berenson, eigentlich berühmter Kunsthistoriker und Experte für italienische Renaissancekunst, hat darin seine Lektüregewohnheiten aus dem Jahr 1954 festgehalten – in kurzen Notizen, Reflexionen und Empfehlungen.

Was das Ganze besonders macht: In diesem Jahr versteckte sich Berenson, aufgrund seines jüdischen Hintergrunds, vor den Faschisten in Italien. Gemeinsam mit seiner Frau und seiner langjährigen Sekretärin verbrachte er diese Zeit in seiner Villa I Tatti bei Florenz – abgeschottet von der Welt, aber umgeben von Kunst, antiken Skulpturen, einem prachtvollen Garten und natürlich: unzähligen Büchern.

Die Vorstellung, wie die drei dort leben – lesend, Rotwein oder Champagner trinkend, sich gegenseitig vortragend – hatte für mich beim Lesen fast etwas Filmisches. Ich musste ganz oft an Call Me by Your Name denken. So stell ich mir die Atmosphäre dort vor.

Und doch ist der Titel „A Year’s Reading for Fun“ fast ironisch: Die Lektüreliste ist alles andere als leichte Kost. Es wird überwiegend griechische und römische Philosophie gelesen, daneben Kunstgeschichte, Theologie und Klassiker der Literatur – auf Englisch, Italienisch, Altgriechisch, Deutsch. Die drei waren echt polyglott! Neben Goethe, Schelling und dem heute kaum noch gelesenen Jakob Burckhardt liest Berenson sogar Mein Kampf – um, wie er schreibt, den Feind zu verstehen.

Desultory reading was always a favorite pastime at ‚I Tatti‘.

Ein Buch für alle, die sich wie ich für Lesebiografien interessieren, für Geschichte, Kunst, Sprachen – und für das Lesen als Lebensform. Ich möchte das auch sehr gerne mal, ein Jahr in einer hübschen Villa mit Garten vor mich hin lesen – nur bitte komplett ohne Faschismus!

Caledonian Road – Andrew O’Hagan auf deutsch unter dem gleichen Titel im Ullstein Verlag erschienen, übersetzt von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié

Ich muss gestehen, der erste Blick in Caledonian Road hat mich fast erschlagen – nicht nur wegen des Umfangs (über 600 Seiten!), sondern auch wegen der Vielzahl an Figuren, die gleich zu Beginn auf mich einprasselten. Doch zu meiner eigenen Überraschung war ich sofort drin. Ich musste kaum je zurückblättern, um zu klären, wer wer ist – was ich allein schon als beachtliche Leistung werte. O’Hagan gelingt es, jedem seiner Charaktere Tiefe und Kontur zu verleihen, ohne den Überblick zu verlieren.

Der Roman hat eine Dickens’sche Qualität: London – insbesondere die titelgebende Caledonian Road – wird zum atmenden, lebendigen Organismus. Die Straße ist nicht nur Kulisse, sondern Protagonist. Sie fängt die Extreme der britischen Gesellschaft ein: Armut, Reichtum, alte Eliten, neue Medien, Aktivismus, Migration, Ausbeutung – alles auf engstem Raum.

We participate in the systems that oppress people, we thrive on them, and we think that by going on festive marches and tweeting slogans to our like-minded friends we are somehow cleansed. Welcome to the orgy of white contrition.

Im Zentrum steht Campbell Flynn, gefeierter Intellektueller, politischer Kommentator und ganz klar ein Alter Ego des Autors. Besonders faszinierend fand ich seine Beziehung zu Milo, einem jungen Aktivisten und Hacker. Es war ziemlich offensichtlich, dass Milo Flynn finanziell ausnutzt – aber ich hatte das Gefühl, Campbell weiß das, akzeptiert es fast. Es wirkt wie eine Art moderner Ablasshandel: Er zahlt dafür, die Welt erklärt zu bekommen, die seine Generation mitgestaltet (und ziemlich verbockt) hat. Milo, bei aller Skrupellosigkeit, bleibt dabei erstaunlich offen – das Spiel zwischen ihnen ist eines auf Augenhöhe. Und obwohl Campbell letztlich alles verliert, war ich sehr berührt davon, dass Milo ihn nicht fallen lässt. Trotz aller Differenzen erkennt man: Da ist echte Menschlichkeit im Spiel.

Ein besonders emotionaler Strang war für mich die Geschichte des jungen polnischen Emigranten, der versucht, seinen Partner nach England zu bringen – und was es ihn kostet. Dieser Teil war sehr bewegend und hat mich lange beschäftigt. Auch weil dieser Fall auf wahren Begebenheiten beruht.

And now, in the North of England, just as in Kansas or Illinois, people vote against their own interests, because they detest a culture that sees them as needy, they hate the caring elites who like to tell them what is good for them. In the modern world, William told himself, people don’t mind being exploited so long as they can choose it themselves.

Die Darstellung der russischen Oligarchen war für mich etwas überzeichnet – fast schon klischeehaft. Aber vielleicht ist die Realität da tatsächlich so überdreht, wie O’Hagan sie zeichnet. Campbells Frau, mit all ihrer Ambivalenz, hat mir gut gefallen, während sein stinkreicher Schwager mir fast schon klischeehaft unsympathisch war – ein klassischer Repräsentant des alten Geldes, das sich jede Schuld und Verantwortung elegant vom Hals hält.

Schön fand ich auch, dass Campbell seinem alten Freund – trotz zunehmender Zweifel an dessen Integrität – nicht den Rücken kehrt. Das hat ihn für mich menschlicher gemacht, auch wenn man ihm an vielen Stellen seine Eitelkeit und sein moralisches Schwanken anmerkt. Caledonian Road ist ein Buch voller Reibung, voller Ambivalenzen. Es geht um Macht und Moral, Generationenkonflikte, Klasse, Migration, Liebe und Verlust – und es schafft es dabei, trotz der vielen Themen nie den erzählerischen Fokus zu verlieren. Man spürt, dass O’Hagan ein exzellenter Beobachter ist – und dass er seine Figuren liebt, selbst die, an denen er scharfe Kritik übt.

Für mich ein kluges, vielschichtiges Buch mit einem spannenden, manchmal wütend machenden, aber immer lebendigen Blick auf unsere Gegenwart.

Die Angestellten – Olga Ravn erschienen im März Verlag

Dieses Hörbuch war eine absolute Entdeckung für mich – Die Angestellten von Olga Ravn ist ein faszinierender, sprachlich dichter Text, der sich irgendwo zwischen Science-Fiction, Poesie und philosophischem Gedankenexperiment bewegt. Ich habe es in der ARD Mediathek gehört, die ich inzwischen wirklich zu schätzen gelernt habe – tolle Produktionen, großartige Sprecher:innen, und Die Angestellten war da ein echtes Highlight.

Das Buch spielt auf einem Raumschiff und besteht aus einer Sammlung von Berichten und Aussagen der dort tätigen Menschen und humanoiden Mitarbeiter:innen. Die Grenze zwischen „echt“ und „künstlich“, zwischen Körper und Funktion, zwischen Erinnerung und Programmierung verschwimmt dabei immer mehr – und genau darin liegt die große Stärke dieses Textes: Er stellt existenzielle Fragen in einer ganz ruhigen, fast lyrischen Sprache.

Was heißt es, ein Mensch zu sein? Was bedeutet Arbeit, wenn der Körper zur Maschine wird? Und: Was bleibt von uns, wenn alles effizient, aber seelenlos ist?

Die Umsetzung als Hörspiel war absolut gelungen – atmosphärisch, verstörend schön, mit Stimmen, die perfekt zur kühlen, gleichzeitig melancholischen Stimmung passten. Für alle, die Sci-Fi jenseits von Action suchen, und sich auf ein intensives, fast meditatives Hörerlebnis einlassen wollen: große Empfehlung.

Astrophysics for People in a hurry – Neil de Grasse Tyson auf deutsch unter dem Titel „Das Universum für Eilige“ im Hanser Verlag erschienen, übersetzt von Hans-Peter Remmler

Dieses Hörbuch war genau das Richtige für zwischendurch: Neil deGrasse Tyson nimmt uns in „Astrophysics for People in a Hurry“ mit auf eine rasante, aber gut verständliche Reise durch Raum, Zeit, Dunkle Materie und all die anderen kosmischen Rätsel, die uns normalerweise einschüchtern könnten.

Wie auch in seinen TV Dokus gelingt es ihm, auch komplexe Themen greifbar und unterhaltsam zu vermitteln – ohne sie zu banalisieren. Ob Urknall, Quantenphysik oder das Ende des Universums: Tyson erklärt so, dass man Lust bekommt, tiefer einzusteigen, statt sich erschlagen zu fühlen. Ein kleiner Bonus: Er liest das Hörbuch selbst – und seine Stimme trägt viel zur Wirkung bei finde ich.

Perfekt für alle, die sich für die großen Fragen interessieren, aber (noch) keinen Doktortitel in Physik haben – oder einfach etwas klüger aus dem nächsten Spaziergang oder Pendelweg zurückkehren wollen. Universum to go sozusagen.

Was waren eure Highlights im Mai und welche der vorgestellten Bücher habt ihr auch gelesen/gehört? Wie fandet ihr sie?

Lektüre April

Der April war ein richtig guter Lesemonat. Das gruselige Wetter draußen hat für viel Lesezeit gesorgt, der freie Freitag ebenso. Ich habe gemerkt, wie gerne ich ein bißchen thematisch lese und habe mir durch Wald & Naturbücher versucht den Frühling eben literarisch ein bißchen ins Haus zu holen. War das schon eine Hirngymnastik oder nur ein thematischer Lesemonat? Wer weiß das schon und wen kümmert es. Lasst uns starten – ich stelle euch wieder kurz und knapp in alphabetischer Reihenfolge vor was ich diesen Monat gehört und gelesen habe:

Heimkehr – Wolfgang Büscher erschienen im Rowohlt Verlag

Wolfgang Büscher macht den Traum seiner Kindheit wahr. Er zieht in den Wald und erlebt dort Frühjahr, Sommer, Herbst. Ein Fürstenhaus an der hessisch-westfälischen Grenze, wo Büscher aufwuchs, überlässt ihm eine Jagdhütte – mitten im Wald, mitten in Deutschland. Hier schlägt er sein Feldbett auf. Kein Strom, kein fließend Wasser. Er richtet sich auf eine stille Zeit ein, auf Holzhacken und Feuermachen, eine Jagd ab und zu, eine Wanderung, ein Schützenfest, auf radikale Einsamkeit und eine Schwärze der Nächte, die in der Stadt unbekannt ist. Das Jahr wird ungeahnt dramatisch, Sturm, Hitze und Käferplage bringen den halben Wald um.

Das klang sehr vielversprechend, hat für mich aber so gar nicht gehalten was ich mir versprochen hatte. Da war eine Menge los im Wald und von Ruhe und Einsamkeit konnte keine Rede sein. Ich wollte wohl doch nichts von Schützenfesten und Jagdausflügen mit Fürsten lesen. Keine Empfehlung – ich fand es langweilig.

„Und wenn es so zugeht, wenn auf dem Wühltisch der Identitäten so einiges herumliegt und lockt, wenn gar nicht genau gesagt werden kann, wer einer ist – ist das dann alles, was über ihn gesagt werden kann?“

Die Fledermaus – Gunnar Decker erschienen im Berenberg Verlag

Eine Fledermaus im Schlaf­zimmer – nur stoische ­Naturen bleiben da unbeeindruckt. Nachdem sich bei Gunnar Decker der erste Schreck gelegt hatte, wurde er neugierig und wollte mehr über die unheimliche Herrin des Nachthimmels in Erfahrung bringen. Über ihre erstaunliche Fähigkeit, sich in stockdunklen Räumen zu orientieren, zu fliegen, obwohl sie keine Federn wie der Vogel, sondern Arme und Beine wie der Mensch hat. Über ihre zuneh­men­de Gefährdung und die Tatsache, dass die Fledermaus ein Wildtier ist, zu dem man – in beider­seitigem ­Interesse – den nötigen Abstand bewahren sollte. (Man holt sich schließlich auch keinen Wolf in die Wohnung.) Und über die zahllosen Legenden und Mythen. Denn natürlich gilt: Am Vampir kommt kein Fledermaus-Forscher vorbei.

Spannende Mischung aus Tierporträt, informativem Sachbuch und umfassender Kulturgeschichte – hat mir gut gefallen und ich habe noch so einiges über Fledermäuse erfahren, was ich nicht wußte. Finde sie weiterhin unendlich faszinierend, werde aber auch weiterhin respektvoll Abstand halten.

„Der Ruhepuls einer Fledermaus sinkt im Winterschlaf auf 3 bis 5 Herzschläge pro Minute, davon träumt jeder indische Yogi-Meister. Ihr normaler Puls im Wachzustand liegt bei 400 Schlägen pro Minute, im Jagdflug steigert er sich dann bis auf tausend Herzschläge pro Minute!“

The Geometer Lobachevsky – Aiden Duncan erschienen im Tuskar Rock Verlag

Nikolai Lobatschewski erkundet 1950 ein Moor in den irischen Midlands, wo er Landvermessungen vornimmt. Eines Nachmittags, kurz nach seiner Ankunft, erhält er ein Telegramm, das ihn zu einem „besonderen Termin“ nach Leningrad zurückruft.

Lobatschewski mag kein großes Genie sein, aber er erkennt ein Todesurteil, wenn er es sieht, und geht auf eine kleine Insel im Mündungsgebiet des Shannon, wo die Inselfamilien Seetang ernten und sich mit dem Spalten von Steinen abmühen. Hier muss Lobachevsky über den Tod nachdenken, darüber, wie er ihn vermeiden kann und ob er seine Heimat jemals wiedersehen wird.

Unsere April Bookclub Lektüre habe ich auf dem Kindle gelesen und es ist mir unfassbar schwer gefallen es zu Ende zu bringen. Ständig sind meine Gedanken abgeschweift, es war einfach wirklich wahnsinnig langweilig und ich möchte in diesem Leben nichts mehr über Landvermessung und Seetang lesen. Das letzte Kapitel wirkte als hätte er dringend noch den Bus bekommen müssen und hat dann im Laufen die letzten 10 Seiten geschrieben. War auch im Bookclub nicht wirklich der Renner, zwei mochten es sehr, die meisten empfahlen es als gut wirkendes Schlafmittel.

Zur See – Dörte Hansen erschienen im Penguin Verlag

Die Fähre braucht vom Festland eine Stunde auf die kleine Nordseeinsel, manchmal länger, je nach Wellengang. Hier lebt in einem der zwei Dörfer seit fast 300 Jahren die Familie Sander. Drei Kinder hat Hanne großgezogen, ihr Mann hat die Familie und die Seefahrt aufgegeben. Nun hat ihr Ältester sein Kapitänspatent verloren, ist gequält von Ahnungen und Flutstatistiken und wartet auf den schwersten aller Stürme. Tochter Eske, die im Seniorenheim Seeleute und Witwen pflegt, fürchtet die Touristenströme mehr als das Wasser, weil mit ihnen die Inselkultur längst zur Folklore verkommt. Nur Henrik, der Jüngste, ist mit sich im Reinen. Er ist der erste Mann in der Familie, den es nie auf ein Schiff gezogen hat, nur immer an den Strand, wo er Treibgut sammelt. Im Laufe eines Jahres verändert sich das Leben der Familie Sander von Grund auf, erst kaum spürbar, dann mit voller Wucht.

Das erste Drittel des Romans habe ich wirklich gerne gelesen, dann flachte mein Interesse ein kleines wenig ab. Hätte mir vielleicht etwas mehr stringente Handlung gewünscht, empfand es als etwas unzusammenhängende kurze Episoden. Altes Land gefiel mir etwas besser, aber Frau Hansen kann schreiben und selbst ein Buch das nicht vollends vom Hocker haut, ist immer noch ein sehr gutes.

“Alle Inseln ziehen Menschen an, die Wunden haben, Ausschläge auf Haut und Seele. Die nicht mehr richtig atmen können oder nicht mehr glauben, die verlassen wurden oder jemanden verlassen haben. Und die See soll es dann richten, und der Wind soll pusten, bis es nicht mehr wehtut.”

Quallen – Samuel Hamen erschienen im Matthes & Seitz Verlag

Von den direkten Gezeiten über die küstennahe Kontinentalschelfzone, von der Oberfläche des offenen Meeres bis hinab in dessen tiefste, kaum erforschte Bereiche bringen sie mit ihren ungeheuer reizbaren, »wie Hirnmasse in Häute verwandelten Leibern« nicht nur das Wasser zum Leuchten: Quallen. Seit Menschengedenken entziehen sich die Medusen jeglicher Festschreibung. Sie winden und wandeln sich wie organisiertes Wasser in den sie umströmenden Wellen und lassen die Imagination Funken sprühen. Doch gleich, ob als Störfaktor oder Symbol des Digitalen und Immersiven, als gestalterische Idee des Art Déco, als rückgratloses Schreckbild, Alien des Meeres, queeres Wappentier oder alarmistisches Emblem eines radikalen Wandels, bei dem selbst Wissenschaftler:innen mitunter an ihre Grenzen stoßen – Quallen, so zeigt Samuel Hamen in diesem schillernden Portrait, zucken nicht mit Wimpern, sondern mit Tentakeln, die je nach Art schon bei flüchtigem Kontakt starke Verbrennungen verursachen können. Wer es dennoch wagt, ihren Schwebebewegungen zu folgen, dem offenbart sich ein Einblick in die früheste Erdgeschichte wie auch in alle erdenkbaren Zukünfte.

Ich liebe Quallen und habe diesen Band wahnsinnig gerne gelesen. Wirklich spannend, gut geschrieben und sehr schön illustriert. Die Naturkunden Reihe ist eine kleine Schatztruhe an wunderschön gestalteten gut recherchierten Büchern – irgendwann möchte ich sie alle haben 🙂

„Die Blase von der die Rede ist, ist höchstwahrscheinlich der obere Teil der Physalia physalis, die gemeinhin Portugiesische Galeere genannt wird. Wem dieser Ausdruck noch nicht bellizistisch genug ist: Im Englischen trägt sie den Kosenamen Floating Terror. Von ihrem länglichen, halb durchsichtigen Körper, der an eine Boje erinnert und mit einer Gasmischung gefüllt ist, hängen angelschnurähnliche Tentakel herab, die üblicherweise eine Länge von acht bis zehn Metern erreichen und hochwirksame Gase absondern können.“

The Fifth Season – N. K. Jemisin unter dem Titel „Zerrissene Erde“ im Heyne Verlag erschienen übersetzt von Susanne Gerold

Inmitten einer sterbenden Welt hat die verzweifelte Essun nur ein Ziel: ihre Tochter aus den Händen eines Mörders zu befreien, den sie nur zu gut kennt.
Seit sich im Herzen des Landes Sansia ein gewaltiger Riss voll brodelnder Lava aufgetan hat, dessen Asche den Himmel verdüstert, scheinen immer mehr Menschen dem Wahnsinn zu verfallen. So lässt der Herrscher seine eigenen Bürger ermorden. Doch nicht Soldaten haben Essuns kleinen Sohn erschlagen und ihre Tochter entführt – sondern ihr eigener Ehemann! Essun folgt den beiden durch ein Land, das zur Todesfalle geworden ist. Und der Kampf ums nackte Überleben steht erst noch bevor.

Ich hatte es langsam bereits geahnt und das Buch hat er jetzt wohl final für mich bestätigt. Ich lese nicht so wahnsinnig gerne Space Operas. Das Buch ist wirklich gut geschrieben, es ist wahnsinnig intelligent und ich kann es Fans von Ursula LeGuin, Frank Herbert oder Octavia Butler nur ans Herz legen, aber ich freue mich auf eine Verfilmung, denn ich liebe SciFi und Space Opera – im Film, aber lese es einfach nicht so gerne. Daher werde ich die Trilogie auch nicht beenden und drücke mir und uns die Daumen, dass die Verfilmung nicht mehr allzu lange auf sich warten läßt.

“For all those that have to fight for the respect that everyone else is given without question.”

Wald – Doris Knecht erschienen im Rowohlt Verlag


Eine Frau allein in einem abgelegenen Haus in den Voralpen: Marian hat alles verloren. Die Krise und eigene Fehler trieben sie in den Bankrott, zum völligen Rückzug. Aber auch ihr Versuch, im geerbten Haus wieder zu sich zu finden, wird zum Überlebenskampf. Mühsam lernt Marian, sich zu versorgen, sie fischt, wildert, stiehlt Hühner, und dann ist da Franz …
Eine starke, gefallene Frau mit dem Willen zum Neuanfang, und das Landleben als Spiegel einer brüchigen bürgerlichen Welt – Doris Knecht erzählt mit unverwechselbarem Ton und auf mitreißende Weise davon, wie es ist, wenn man sein schönes Leben auf einen Schlag verliert.

Gelegentlich fremdel ich ja etwas mit deutscher Gegenwartsliteratur aber Frau Knecht ist genau wie Frau Hansen ganz mein Ding. Ein sehr intelligenter Roman der der Leser:in tief in die Seele schaut und den Finger in die Wunde unserer brüchigen bürgerlichen Welt hält mit ihren Unzulänglichkeiten und ihrer Doppelmoral. Große Empfehlung.

„Die Zeiten waren nicht normal, nicht ihre, und da es ihr nicht gelang, Sorgen und Furcht mit der Erinnerung an etwas Schönes zu kalmieren, vertrieb sie sie eben mit der Erinnerung an ein großes Scheitern.“

Der Klang der Wälder – Natsu Miyashita erschienen im Insel Verlag übersetzt von Sabine Mangold

Als der junge Tomura einem Klavierstimmer bei der Arbeit lauscht, fühlt er sich durch den Klang in die hohen, rauschenden Wälder seiner Kindheit zurückversetzt, und fortan prägt die Leidenschaft für die Musik sein Leben. Er lernt das Handwerk des Klavierstimmens, doch bei aller Hingabe ist da doch stets die Angst vor dem Scheitern auf der Suche nach dem perfekten Klang. Als er das Klavier der beiden Schwestern Kazune und Yuni stimmen soll, muss er erkennen, dass es dabei um mehr geht als um technische Versiertheit – und es »den einen« perfekten Klang nicht gibt. Und als er Kazune, die angehende Konzertpianistin, dann spielen hört, spürt er die Bestimmung seines Lebens: ihr Spiel zum Strahlen zu bringen.

Ein wunderschöner kleiner poetischer Roman, bei dem man sofort erkennt, dass es ein japanischer Roman ist, selbst wenn es keine Namen und Ortsbezeichnungen gebe. Leise und anmutig kommt es daher und ich habe ich sehr gerne gelesen.

„Mein Los war das Klavierstimmen, das mir den Duft der Wälder offenbart hatte. Ich konnte nicht mehr in die Berge zurück.“

The Shepherd’s Life – James Rebanks auf deutsch erschienen unter dem Titel „Mein Leben als Schäfer“ im Penguin Verlag übersetzt von Maria Andreas

James Rebanks‘ Familie lebt seit Generationen im englischen Hochland, dem Lake District. Die Lebensweise ist seit Jahrhunderten von den Jahreszeiten und Arbeitsabläufen bestimmt. Im Sommer werden die Schafe auf die kahlen Berge getrieben und das Heu geerntet; im Herbst folgen die Messen, wo die Herden aufgestockt werden, im Winter die Anstrengung, dass die Schafe am Leben bleiben, und die Erleichterung, die mit dem Frühling kommt, wenn die Lämmer geboren werden und die Tiere wieder in die Berge getrieben werden.

James Rebanks erzählt von einer archaischen Landschaft, von einer tiefen Verwurzelung an einen Ort. In eindrucksvoll klarer Prosa schildert er den Jahresablauf eines Hirten, bietet uns einen einzigartigen Einblick in das ländliche Leben. Er schreibt auch von den Menschen, die ihm nahestehen, Menschen mit großer Beharrlichkeit, obwohl sich die Welt um sie herum vollständig verändert hat.

Ich folge James Rebanks und seiner Frau seit geraumer Zeit auf Instagram und habe mich lange auf das Buch gefreut. Ich wurde nicht enttäuscht. Ich habe eine ganze Menge über den Lake District und das Leben der Menschen dort gelernt. Ein großartiges Buch, das ich rundum empfehlen kann.

„Frankly, every time I see a dog off a lead I am left fretting and fearing the worst until I see it back on the lead and packed into its owner’s car. So I suffer, even on the nine out of ten occasions when it all ends ok. Paranoid, maybe, but it is my job to fret about my sheep’s safety, and responsible visitors know that this fear exists and act accordingly. One person’s freedom is another man’s misery.“

Verwobenes Leben – Merlin Sheldrake erschienen im Ullstein Verlag übersetzt von Sebastian Vogel

Sie sind in der Erde, in der Luft, in unserem Körper. Pilze sind überall, aber man übersieht sie leicht. Sie halten uns am Leben, bauen Schadstoffe in der Atmosphäre ab und verändern das Verhalten von Tieren. Sie beeinflussen, wie wir Menschen fühlen und denken und sind für alle Lebensformen unverzichtbar. Sie existieren an der Grenze zwischen Leben und Tod. Der größte bekannte Pilz umfasst zehn Quadratkilometer, wiegt mehrere Hundert Tonnen und ist zwischen 2.000 und 8.000 Jahre alt. Pilze verfügen über eine eigene Intelligenz ohne zentrales Gehirn und können ihre Umwelt manipulieren. Merlin Sheldrake dringt ein in das verborgene Netzwerk der Pilze.

Ein wirklich erhellendes Buch das einen in die geheimnisvolle Welt er Pilze mitnimmt und mich stellenweise mit vor Staunen weit offenem Mund zurückgelassen hat. Man hat einfach keine Vorstellung, was es mit diesem Mycel auf sich hat, wozu Pilze so fähig sind und ich bin ziemlich sicher, wenn es nicht die Oktopoden sind, die die Weltherrschaft irgendwann übernehmen, dann werden es die Pilze sein. Unbedingt lesen!

„A mycelial network is a map of a fungus’s recent history and is a helpful reminder that all life-forms are in fact processes not things. The “you” of five years ago was made from different stuff than the “you” of today. Nature is an event that never stops. As William Bateson, who coined the word genetics, observed, “We commonly think of animals and plants as matter, but they are really systems through which matter is continually passing.”

„The Hobbit“ – JRR Tolkien erschienen unter dem Titel „Der kleine Hobbit“ im Klett Kotta Verlag übersetzt von Wolfgang Krege

Ohne große Ansprüche lebt Bilbo Beutlin im Auenland, bis er von dem Zauberer Gandalf und einer Horde Zwerge aus seiner Beschaulichkeit und seinem gemütlichen Alltag gerissen wird. Auf einmal findet er sich mitten in einem Abenteuer wieder, das ihn zu dem riesigen und gefährlichen Drachen Smaug führt, der einen kostbaren Schatz in seinen Besitz gebracht hat und eifersüchtig hütet. Der Hobbit ist der Anfang aller modernen Fantasy und erzählt die Vorgeschichte zum Herrn der Ringe.

Der Hobbit war diesen Monat mein Hörbuch, denn für mich bedeutet das Auenland irgendwie immerwährenden Frühling. Je ungemütlicher es draußen war, desto mehr bekam ich Lust trotz Regen mit dem Hörbuch auf den Ohren in meinem persönlichen Auenland den Isarauen herumzulaufen und mit Bilbo Beutlin große Abenteuer zu bestehen. Ich hatte es vor vielen Jahren immer Sonntags als Hörspiel im Radio gehört und war gespannt, ob es mir wohl genauso gut gefällt wie beim ersten Hören und Lesen und ich wurde nicht enttäuscht. Wo mir der „Herr der Ringe“ oft viel zu kampflastig ist und ich die vielen Szenen mit Schlachtgetümmel überblätterte ist der Hobbit eines meiner liebsten Fantasy Bücher. Wer den Regen nicht mehr sehen kann, sollte sich mit dem Hobbit ins Auenland begeben, da wo der ewige Frühling wohnt 😉

“There is nothing like looking, if you want to find something. You certainly usually find something, if you look, but it is not always quite the something you were after.”

Unter freiem Himmel – Markus Torgeby erschienen im Heyne Verlag übersetzt von Maximilian Stadler

Im Freien schlafen, umgeben von Bäumen, Dunkelheit und angenehmer Kälte. Dabei hoch zu den Sternen blicken und sehen, wie sich die Atemluft wie eine feine Wolke vor den Augen kräuselt. Vielleicht verpassen wir ja etwas, wenn wir immer nur in temperierten Räumen mit vier Wänden und einer Decke liegen. Markus Torgeby war ein erfolgreicher Langstreckenläufer, als er der Zivilisation den Rücken kehrte, in den Wald zog und fortan unter freiem Himmel schlief. Eine Erfahrung, die sein Leben und seinen Blick auf die Welt veränderte.

Mit dem Buch bin ich noch gar nicht fertig, aber ich wollte es hier schon mal hinein schmuggeln, denn es passt thematisch einfach so gut. Während ich mit meinen ganzen Waldbüchern beschäftigt war, habe ich dieses im öffentlichen Bücherschrank gefunden und da musste es natürlich mit. Ein wunderschön gestaltetes Buch und eine interessante Mischung aus Biografie und Ratgeber für alle die gerne mal unter freiem Himmel schlafen oder leben wollen. Mir reichen allerdings Wanderungen im Wald, das Bedürfnis da auch zu schlafen und gar noch auf nacktem Boden hält sich doch sehr in Grenzen. Insbesondere durch die Bilder ein wirklich schönes Buch.

„Im Jämtland, wo ich lebe, gibt es viele Nadelbäume und zwischendrin ein paar Birken. Ich gehe zuerst zu einer Birke und schäle ein paar Rindenfasern ab. Es fühlt sich ein bisschen so an, als würde man lose Haut abziehen. Wenn eine Tasche meiner Jacke voll ist, habe ich genug, um ein Feuer zu entfachen. Danach breche ich streichholzdünne Fichtenzweige ab, sie wachsen immer ganz unten und dicht am Stamm. Knackt es, wenn man sie abbricht, sind sie ausreichend trocken – es spielt keine Rolle, ob es aus Kübeln gießt, die Äste weiter oben schützen die dünnen Zweige darunter.“

Der Wald – Peter Wohlleben erschienen im Heyne Verlag

Peter Wohlleben, Förster aus Passion, zeigt den Wald, wie er ist und wie er sein könnte. Denn was wir irrtümlich für unberührte Natur halten, ist viel zu oft nur eine Ansammlung von Bäumen, die den Zwecken von Forstwirtschaft und Jagd zu dienen hat. Natürlich wachsende Bäume gedeihen in einer Lebensgemeinschaft, die alles umfasst, von den Geheimnissen des Waldbodens bis zu den höchsten Wipfeln. Peter Wohlleben lässt uns den Zauber der Natur wiederentdecken und vermittelt ein tiefes Verständnis vom Leben und Zusammenleben der Bäume.

Mein zweites Buch des Autors und wieder ein Fund aus dem Bücherschrank. Peter Wohlleben ist was den Wald angeht für mich das was Jamie Oliver seinerzeit fürs Kochen für mich war. Ich lerne viel, gehe mit offenen Augen durch den Wald bzw meine Isarauen und beschäftige mich deutlich intensiver mit den Bäumen um mich herum. Dieses Buch war deutlich biografischer als „Das geheime Leben der Bücher“ und ich fand es sehr spannend, was er über seine Ausbildung zum Förster schreibt, wie sich er Berufsstand in den letzten Jahren verändert hat und wie wichtig die Jagd für einen gesunden Wald ist.

„Die Chance, es so weit zu schaffen, beträgt für jeden Buchenembryo, der in einer Buchecker im Herbst zu Boden fällt, durchschnittlich 1:1,7 Millionen. Hungrige Tiere, die strenge Erziehung oder Unglücksfälle dezimieren die Baumjugend so stark, dass in 400 Jahren nur ein Baum ein komplettes Leben durchläuft. Aber das reicht zur Arterhaltung völlig aus.

Habt ihr es wirklich bis hier unten durchgehalten – dann Respekt. Das war ein wirklich umfangreicher Monat und ich bin gespannt, was ihr sagt. Konnte ich euch auf das eine oder andere Buch Lust machen? Habt ihr bei dem einen oder anderen eine änliche oder ganz andere Meinung? Freue mich immer von euch zu hören und jetzt Jacke an, Schuhe an und ab in den Wald…

Lektüre Februar 2023

Meine Februar Lektüre war geprägt von einer Arbeits/Urlaubsreise nach Paris, daher mag ich damit starten und habe dieses Mal keine Lust auf alphabetische Reihenfolge. Steigt ein, der Zug fährt in wenigen Minuten ab und wir treffen uns dann am Gare de L’Est 🙂 Wie der große Walter Benjamin schon sagte: Paris ist ein großer Bibliothekssaal, der von der Seine durchströmt wird – wir haben also einiges zu besprechen:

Becoming Beauvoir – Kate Kirkpatrick auf deutsch unter dem Titel „Simone de Beauvoir – ein modernes Leben“ im Piper Verlag erschienen, übersetzt von Erica Fischer, Christine Richter-Nilsson

„Becoming Beauvoir“ ist eine Biografie der französischen existenzialistischen Philosophin und Feministin Simone de Beauvoir von Kate Kirkpatrick die auf bislang unveröffentlichte Tagebücher und Briefe zurückgreift. Kate Kirkpatrick, Dr. phil., unterrichtete an der University of Hertfordshire, am St Peter’s College, University of Oxford, sowie am King’s College in London. Aktuell ist sie Fellow in Philosophie am Regent’s Park College, University of Oxford. Das Buch untersucht Beauvoirs Leben und ihre intellektuelle Entwicklung, von ihrer Kindheit in einer bürgerlichen Familie in Paris bis zu ihrem Aufstieg zu einer bedeutenden Feministin und existenzialistischen Denkerin. Kirkpatrick untersucht die wichtigsten Themen und Ideen in Beauvoirs Werk, darunter ihre Kritik am Patriarchat und den Geschlechterrollen, ihre Vorstellungen von Freiheit und Authentizität sowie ihre Beziehung zu Jean-Paul Sartre. Die Biografie beleuchtet auch Beauvoirs persönliches Leben, einschließlich ihrer langjährigen Liebesbeziehung zu Sartre und ihrer Erfahrungen als Frau im Frankreich der Mitte des 20. Jahrhunderts.

Ich bekam die Biografie bereits vor 2 Jahren zu Weihnachten geschenkt, wollte sie aber unbedingt in oder auf dem Weg nach Paris lesen und dann vor Ort de Beauvoirs Spuren folgen. Sie ist eine wahnsinnig spannende Frau über die ich schon sehr viel gelesen habe und obwohl das bei Weitem nicht meine erste Biografie war, hat mir Kirkpatricks Biografie mit Abstand am besten gefallen. Sie setzt vieles noch mal in Relation, findet immer wieder spannende, neue Perspektiven. Ganz große Empfehlung! Eine gut verständliche, tiefblickende intellektuelle Lektüre.

But that is my way. I have (sic) rather not things at all as doing them mildly.

She didn’t believe that any single point in her life showed „the“ Simone de Beauvoir because „there is no instant in a life where all moments are reconciled

Die schwarzen Fahnen von Paris – Leonard Fuest erschienen im Corso Verlag

Die „Stadt der Liebe“ in einem anderen Licht. Leonhard Fuest geht auf besonderen Spuren: Er folgt Dichtern und Denkern ins Labyrinth ihrer Gedanken und Texte. Der Leser begegnet dem verstörten Flaneur Charles Baudelaire, dem schlaflosen Aphoristiker E. M. Cioran, dem melancholischen Intellektuellen Roland Barthes, dem deprimierten Zyniker Michel Houllebecq – sie und andere tauchen die Stadt an der Seine in das Licht der schwarzen Sonnen.

Immer wenn ich Paris besucht habe, überkommen mich Zweifel. Bin ich wirklich dort gewesen? Aber ja, ich bin doch durch viele Straßen gelaufen, habe Menschen und Plätze und Gebäude gesehen und allerlei erfahren, wovon ich erzählen könnte. Indes: Wo genau in Raum und Zeit habe ich mich denn aufgehalten? War es nicht so, dass ich an jedem Tag durch die verschiedensten Epochen und Zeitläufe gegangen bin?

The Paris Bookseller – Kerri Maher auf deutsch unter dem Titel „Die Buchhändlerin von Paris“ im Suhrkamp Verlag erschienen, übersetzt von Claudia Feldmann

Eine Buchhandlung mitten in Paris. Für die junge Amerikanerin Sylvia Beach ist ein Traum in Erfüllung gegangen. Dass sie mit »Shakespeare & Company« in die Geschichte der Weltliteratur eingehen wird, ahnt sie bei der Eröffnung 1919 nicht. Schon bald wird »Shakespeare & Company« zum literarischen Treffpunkt in Paris: Hemingway, Gide, Valéry und Gertrude Stein gehen hier ein und aus – und nicht zuletzt aber James Joyce. Als nach Abdruck einzelner Episoden die vollständige Publikation seines umstrittenen Romans Ulysses verboten wird, ist es die unerschrockene Sylvia Beach, die ihn gegen alle Widerstände veröffentlicht  – und damit ihre ganze Existenz aufs Spiel setzt.

Doch in der gleichgesinnten französischen Buchhändlerin Adrienne Monnier findet Sylvia Beach nicht nur eine wagemutige Mitstreiterin, sondern auch die Liebe ihres Lebens.

Ein Roman über zwei starke Frauen, das »gefährlichste Buch des Jahrhunderts« und eine Liebe im Paris der zwanziger Jahre.

Paris? Check – Lesbische Buchändlerinnen? Check – die literarische haute volée der 20 Jahre? Check und ja, ich mochte das Buch sehr, ABER es war mir stellenweise einen Hauch zu schmalzig. Habe vor einer ganzen Weile Sylvia Beachs „Shakespeare & Company“ gelesen, ihr autobiografischer Bericht über den Buchladen und das Buch gefiel mir ein kleines bißchen besser, weil eben nicht ganz so schmonzettig, aber das ist Jammern auf hohem Niveau – ich mochte das Buch ansonsten schon sehr.

I hold it true, whate’er befall; I feel it, when I sorrow most; ’Tis better to have loved and lost than never to have loved at all.

Madame de Staël – Maria Fairweather erschienen bei Carroll & Graf Publishers New York

Zu ihren Lebzeiten wurde allgemein gesagt, dass es in Europa drei politische Mächte gab – Großbritannien, Russland und Madame de Stäel. Byron beschrieb sie als „die erste weibliche Schriftstellerin dieses, vielleicht jedes Zeitalters“. Germaine de Stäel war zweifellos die bemerkenswerteste Frau ihrer Zeit, und sie bleibt einzigartig – sowohl wegen des Umfangs ihrer künstlerischen und intellektuellen Leistungen als auch wegen der Kraft ihres politischen Einflusses, der zum Sturz Napoleons beitrug. Germaine de Stäel wurde 1766 in Paris als Tochter von Jacques Necker, dem einflussreichen und reformorientierten Finanzminister Ludwigs XVI. geboren und wuchs im Salon ihrer Mutter inmitten der Philosophen der französischen Aufklärung auf. Mit ihrem erstaunlichen und disziplinierten Intellekt, ihrem Bedürfnis nach Liebe und ihrer Freiheitsliebe sowie ihrem bemerkenswerten Mut im öffentlichen wie im privaten Leben setzte sich Germaine de Stäel über Gefahren und Konventionen hinweg, oft um den Preis eines hohen Preises.

Ihre Bücher waren meist schon wenige Monate nach ihrem Erscheinen ausverkauft. Immer wieder bewies sie Skeptikern (milde ausgedrückt) wie Lord Byron und schließlich sogar Napoleon, dass sie besser zuhören und ihre Ideen berücksichtigen und sie sich besser nicht zum Feind machen sollten.

Mir hat die Biografie gut gefallen, ich habe eine Menge gelernt und erfahren über eine ganz und gar ungewöhnliche Frau, die ich sehr gerne kennengelernt hätte. Nichtsdestotrotz hätte das Buch für mich gerne ein ganzes Stück kürzer sein dürfen.

Lord Byron: „‘I do not love Madame de Staël but depend upon it – she beats all your natives hollow as an Authoress – in my opinion – and I would not say this if I could help it.’ In his diary he admitted: ‘she is a woman by herself and has done more than the rest of them together, intellectually – she ought to have been a man’“

A history of wild places – Shea Ernshaw erschienen bei Atria / Schuster & Schuster

Travis Wren hat ein ungewöhnliches Talent für das Aufspüren vermisster Personen. Oft von Familien als letzter Ausweg angeheuert, übernimmt er den Fall von Maggie St. James – einer bekannten Autorin düsterer, makabrer Kinderbücher – und wird bald an einen Ort geführt, den viele nur für eine Legende hielten.

Diese zurückgezogene Gemeinschaft mit dem Namen Pastoral wurde in den 1970er Jahren von Gleichgesinnten auf der Suche nach einer einfacheren Lebensweise gegründet. Allem Anschein nach sollte die Kommune nicht mehr existieren, und kurz nachdem Travis über sie gestolpert ist… verschwindet er. Genau wie Maggie St. James.

Jahre später entdeckt Theo, ein lebenslanges Mitglied von Pastoral, Travis‘ verlassenen Truck jenseits der Grenze der Gemeinschaft. Niemand darf rein oder raus, nicht, wenn die Gefahr besteht, dass eine Krankheit – eine Seuche – nach Pastoral eingeschleppt wird. Die Enträtselung des Geschehens bringt Geheimnisse ans Licht, die Theo, seine Frau Calla und ihre Schwester Bee voreinander verbergen. Geheimnisse, die beweisen, dass ihre perfekte, isolierte Welt nicht so sicher ist, wie sie glaubten – und dass die Dunkelheit

Die Zeichnung der Charaktäre war richtig gut, die spannende Atmosphäre unheimlich gelungen. Eine kluge, düstere, spannende und sehr empfehlenswerte Reise, die man nicht verpassen sollte! Es ist der erste Roman der Autorin den sie nicht für ein „Young Adult“ Publikum geschrieben hat und er hat auch in unserem sonst oft sehr strengen Bookclub ordentlich Punkte eingefahren. Volle Empfehlung!

There is no history in a place until we make it, until you live a life worth remembering.

Silence can hold a thousand untold stories.

Die Welt geht unter, und ich muss trotzdem arbeiten – Sara Weber erschienen im Kiepenheuer & Witsch Verlag

Im März 2020 änderte sich alles. Homeoffice war plötzlich die neue Norm. Alle mussten sich digitalisieren und transformieren – ob sie wollten oder nicht. Die Arbeit drängte weiter ins restliche Leben, zur Erwerbsarbeit kam noch mehr Carearbeit. Die Schere zwischen systemrelevanten Berufen und Bürojobs ging weiter auf. Covid hat uns gezeigt, was in der Arbeitswelt nicht mehr funktioniert.

Und da ist nicht nur die Pandemie. Überschwemmungen, Waldbrände, Inflation, Krieg – unsere Welt steht in Flammen, im wahrsten Sinne des Wortes. Und wir? Brennen aus, um bloß keine Deadline zu reißen. Was zur Hölle machen wir da eigentlich? Warum tun wir uns das an?

Immer mehr Menschen stellen sich diese Fragen, einige ziehen Konsequenzen. In den USA hat der Trend sogar schon einen Namen: „The Great Resignation“, das große Kündigen. Es bricht eine neue Ära an, aber weder durch agile Methoden noch durch Yoga im Alltag wird es gelingen, ein für uns alle und für den Planeten verträgliches Wirtschaften zu realisieren. Wir müssen uns überlegen, wie Arbeit heute und morgen wirklich funktionieren kann – mit einem Fokus auf Gerechtigkeit, Zukunftsfähigkeit und den Menschen.

Ein Buch das ich bereits mehr als einmal verschenkt habe und das die Fragen und Probleme unserer Zeit einfängt und auf den Punkt bringt. Mein Hörbuch des Monats!

„Am Anfang klatschten wir noch für die Pflegekräfte vom Balkon, trugen brav unsere selbst genähten Masken. Aber irgendwann wurde das Klatschen leiser. Viele Menschen waren einfach viel zu müde vom Home-schooling und all den Meetings und der zwölften Diskussion über die Impfung. Wir hatten uns nichts mehr zu erzählen, denn niemand erlebte irgendwas – außer Arbeit.“

Darm mit Charme – Giulia Enders erschienen im Ullstein Verlag

Unser Darm ist ein fabelhaftes Wesen voller Sensibilität, Verantwortung und Leistungsbereitschaft. Wenn man ihn gut behandelt, bedankt er sich dafür. Das tut jedem gut: Der Darm trainiert zwei Drittel unseres Immunsystems. Aus Brötchen oder Tofu-Wurst beschafft er unserem Körper die Energie zum Leben. Und er hat das größte Nervensystem nach dem Gehirn. Allergien, unser Gewicht und eben auch unsere Gefühlswelt sind eng mit unserm Bauch verknüpft. In diesem Buch erklärt die junge Wissenschaftlerin Giulia Enders, was die medizinische Forschung Neues bietet und wie wir mit diesem Wissen unseren Alltag besser machen können. Die dazu gehörigen Illustrationen stammen aus der Feder ihrer Schwester Jill. Die aktualisierte Neuauflage wird um ein Kapitel ergänzt: Die Schwestern Enders geben hier ein Update zu neuen Forschungsergebnissen und der Welt der Mikroben

Wer mehr über eines unserer wichtigsten Bereiche unseres Körpers lernen will sei Enders Buch auf jeden Fall empfohlen. Sie hat nicht nur Tipps zum richtigen Kacken auf Lager, sondern auch eine ganze Menge Hintergrundwissen über ein Organ, das einem in der Regel eher unangenehm ist und das nicht gerade das beste Image hat.

Übergewicht, Depressionen und Allergien hängen mit einem gestörten Gleichgewicht der Darmflora zusammen und wir tun alle gut daran uns ein kleines bißchen mehr mit diesem hochkomplexen Organ zu beschäftigen und es in Schwung zu halten. Gelegentlich hat mich die etwas bemüht lustige Sprache genervt, aber insgesamt ein gelungenes Buch.

Die Wissenschaft hat mit dem Mikrobiom ein Problem, dass die Generation Google gerade auch hat: Wir stellen eine Frage – und sechs Millionen Quellen antworten uns gleichzeitig. Da sagt man nicht einfach „Jetzt jeder nocheinmal einzeln“. Wir müssen kluge Bündel packen, deftig aussortieren und wichtige Muster erkennen.

Der Inselmann – Dirk Geiselmann erschienen im Kiepenheuer & Witsch Verlag

Anfang der Sechziger in einem entlegenen Teil Deutschlands. Das Ehepaar Roleder zieht auf eine unbewohnte Insel inmitten eines großen Sees. Es ist eine Flucht nach innen, vor der Stadt und der Wirklichkeit. Mit dabei ist ihr Sohn Hans, der auf der Insel ein neues Zuhause findet. Und noch so viel mehr. Denn mit der Zeit scheint der schüchterne Junge geradezu mit der Insel, den Bäumen, dem Laub, dem Moos und dem Gestein zu verwachsen. Hans wird zum König der Insel. Bis, mit dem Bescheid der Schulbehörde, die Realität in seine kleine große Traumwelt einbricht und ihn von Insel und Eltern trennt. Es ist der Beginn einer beschwerlichen Odyssee, gelenkt zunächst von gnadenlosen Institutionen des Staates und schließlich dem einen großen, pochenden Wunsch: zurückzukehren auf seine Insel, in die ersehnte Einsamkeit im Schatten der Welt. Doch: Wie wird die Insel, wie werden die Eltern ihn empfangen?

Dirk Gieselmanns Debüt ist die faszinierende literarische Studie eines Insellebens und erzählt von der Sehnsucht nach Einsamkeit in einer Gesellschaft, die das Individuum niemals alleine lässt, im Guten wie im Schlechten. »Der Inselmann« ist ein Roman, der nachhallt, voller berückender Bilder, leuchtender Sätze und magischer Kulissen.

„Hans wollte sie beide umarmen, den Vater, die Mutter, damit sie und diese Welt nicht gleich wieder zerbräche, ganz fest umarmen, damit alles heil bliebe und eins.“

Eine ruhige, poetische Geschichte mit wunderschönen Naturbeschreibungen – habe ich sehr gerne gelesen.

Der Ursprung der Welt – Liv Strömquist erschienen im Avant Verlag übersetzt von Katharina Erben

In „Der Ursprung der Welt“ zeichnet die Autorin Liv Strömquist die Kulturgeschichte der Vulva nach – von der Bibel bis Freud, vom unbeholfenen Biologieunterricht bis hin zur aktuellen Tamponwerbung. Sie bedient sich des Mediums Comic, um in sieben Episoden auf nonchalante und scharfsinnige Art die noch immer geltenden patriarchalen Machtverhältnisse in Frage zu stellen und bestehende Probleme pointiert zu benennen.

Die studierte Politikwissenschaftlerin Liv Strömquist ist nicht nur eine umtriebige Künstlerin, sondern auch eine über die Grenzen der schwedischen Comic-Szene hinaus viel beachtete Stimme, die ihre politische Haltung und das soziologische Interesse zu feministischen und popkulturellen Phänomenen in den Fokus ihres Schaffens stellt. In ihren beliebten TV- und Radioformaten geht sie mit bissigem Humor und vernichtender Kritik gegen bestehende gesellschaftliche Machtstrukturen an.

Sieben Nächte – Simon Strauss erschienen im Aufbau Verlag

Es ist Nacht, ein junger Mann sitzt am Tisch und schreibt. Er hat Angst. Davor, sich entscheiden zu müssen. Für eine Frau, einen Freundeskreis, einen Urlaubsort im Jahr. Er hat Angst, dass ihm das Gefühl abhandenkommt. Dass er erwachsen wird. Doch ein Bekannter hat ihm ein Angebot gemacht: Sieben Mal um sieben Uhr soll er einer der sieben Todsünden begegnen. Er muss gierig, hochmütig und wollüstig sein, sich von einem Hochhaus stürzen, den Glauben und jedes Maß verlieren. »Sieben Nächte« ist ein Streifzug durch die Stadt, eine Reifeprüfung, die vor zu viel Reife schützen soll, ein letztes Aufbäumen im Windschatten der Jugend.

Dieses Büchlein steht zu Recht ganz am Ende – puh ist mir das auf die Nerven gegangen. Das jammerige Mimimi des Jungmannes der rumheult weil er bald 30 wird und dem die Welt nicht romantisch genug ist, hab ich nicht ganz so gut ertragen. Es gab ein paar schöne Sätze und es war ja auch nicht wirklich lang, daher kann man das schon lesen, aber für mich war das nix. Simon Strauß habe ich vor meinem geistigen Auge als Baby gesehen der schon mit Wildleder-Patches am Ellbogen auf die Welt gekommen ist…

Ich, der ich von Anfang an dicht bei der warmen Heizung gesessen habe, immer schon satt gefüttert, mit allen Chancen versehen. Das Opernabo gleich bei der Geburt abgeschlossen. Ich bin schon als Schwächling auf die Welt gekommen, und meine Privilegien haben mich nur noch weiter geschwächt. Was Gefahr heißt, habe ich nie gespürt….

So meine Lieben, das war es für diesen Monat. Ich hoffe es war etwas dabei für euch! Worauf konnte ich euch Lust machen, welche der vorgestellten Bücher kennt ihr oder möchtet ihr gerne gelesen. Ich hoffe, ihr habt jetzt wenigstens ein Taxi nach Paris bestellt 😉

Nächsten Monat wird es wissenschaftlich-physikalisch, soviel verrate ich schon mal. Ich freue mich sehr von Euch zu hören!

Lektüre Januar 2023

Nachdem der Dezember so durchwachsen war, freue ich mich um so mehr, dass der Januar wieder ein richtig guter Lesemonat war. Lange Weihnachtsferien, diverse Zugfahrten und durchgelesene Nächte haben zu geführt, dass ich richtig dicke Brummer durchbekommen habe und da war der eine oder andere echte Diamant dabei.

Los gehts:

Babel, Or the Necessity of Violence: An Arcane History of the Oxford Translators’ Revolution – R. F. Kuang auf deutsch im Eichborn Verlag erschienen, übersetzt von Heide Franck und Alexandra Jordan

Ich wusste nicht viel über dieses Buch, außer dass es um 1800 in Oxford spielt und das Übersetzer*innen/Linguist*innen die Held*innen sind, was mich sofort fasziniert hat. Babel war ganz und gar nicht das, was ich erwartet hatte. Es hat einen Hauch magischen Realismus und beschäftigt sich mit den Problemen und Auswirkungen von Kolonialismus, Rassismus und damit einhergehende Ungerechtigkeiten, wobei der Schwerpunkt auf der akademischen Welt liegt.

Ich bin natürlich ein großer Fan von Dark Academia, sowohl was Ästhetik angeht, als auch alles was mit Literatur zu tun hat, aber es lässt sich nicht leugnen, dass es diesem Genre massiv an Diversität mangelt. RF Kuang stellt uns in Babel eine Gruppe ausländischer Student*innen vor unterschiedlichster Herkunft die im 19. Jahrhundert an einer der prestigeträchtigsten Universitäten Englands studieren, und das ist einfach genial.

That’s just what translation is, I think. That’s all speaking is. Listening to the other and trying to see past your own biases to glimpse what they’re trying to say. Showing yourself to the world, and hoping someone else understands.

Babel hat fast alles aufgeboten was ich in einem Buch liebe: die Lust auf Wissen, das Studium alter Sprachen und der Philosophie, Diskussionen über Konzepte, die mir tagelang nicht aus dem Kopf gingen, und die gemütliche alte Bibliotheken mit Kaminen voller Bücher. Aber R.F. Kuang seziert auch die akademische Welt und bringt ihre Schwächen ans Licht.

Was mich wirklich beeindruckt hat, war Kuangs Idee die Kunst des Silver-Working, die magischen Silberbarren, die das Fundament des Reichtums und Fortschritts in England sind und die durch das Vergleichen und Übersetzen von Wörtern aus dem Englischen und anderen Sprachen entstehen.

Es war mein erstes Buch von R.F. Kuang und diese junge Frau hat mich einfach komplett umgehauen. Es ist ihr vierter Roman. Sie ist 26, hat in Oxford und Yale studiert, einen Master in Contemporary Chinese Studies und macht jetzt ihren Doktor in East Asian Languages and Literatures

Was hab ich mit 26 eigentlich gemacht?

Anyway – lest BABEL und wahrscheinlich habt ihr dann auch noch mal mehr Hochachtung vor Übersetzerinnen und Linguist*innen. Die sind nämlich neben den Bibliothekarinnen die eigentlichen Herrscher*innen der Welt – so!

Sea of Tranquility – Emily St. John Mandel auf deutsch erschienen unter dem Titel Das Meer der endlosen Ruhe im Ullstein Verlag übersetzt von Bernhard Robben

Simulationstheorie, Untersuchung von Anomalien in der Zeit, Mondkolonien, Zeitreisen. Ein Brite aus der Vergangenheit, der einfach nur sein Leben lebt, eine Frau, die im Jahr 2020 lebt und Antworten und manchmal auch Rache will, und eine Autorin, die in der Zukunft lebt, auf Lesereise ist in eine Pandemie gerät und dann eigentlich nur noch nach Hause möchte.

Ich fand es spannend die Parallelität der Leben von der fiktiven Autorin Olive und der Autorin Emily St. Mandel zu beobachten.

Mandel ist für mich die Königin der alternativen Zeitlinien und Figuren, die sich irgendwie überschneiden und gegenseitig beeinflussen.

𝙸𝚏 𝚝𝚑𝚎𝚛𝚎’𝚜 𝚙𝚕𝚎𝚊𝚜𝚞𝚛𝚎 𝚒𝚗 𝚊𝚌𝚝𝚒𝚘𝚗, 𝚝𝚑𝚎𝚛𝚎’𝚜 𝚙𝚎𝚊𝚌𝚎 𝚒𝚗 𝚜𝚝𝚒𝚕𝚕𝚗𝚎𝚜𝚜.

Was würdest du tun, wenn du dich inmitten einer Zeitverfälschung wiederfindest, einer Art unerklärlicher Umnachtung, bei der Momente in der Zeit sich gegenseitig korrumpieren können?

Vier Menschen aus verschiedenen Zeitzonen spürten dieselbe Anomalie und ihre Schicksale kreuzten sich im selben Moment, als Alan Sami im Jahr 2200 im Luftschiffhafen von Oklahoma City Geige spielt, der dreizehnjährige Vincent in den Wäldern von Caiette im Norden der Insel Vancouver Anfang der 2000er Jahre den Wald mit ihrer Kamera filmt, während Edwin St. John St. Andrew 1812 seine langen Schritte in denselben Wald unternimmt und die berühmte Science-Fiction-Autorin Olive Llewellyn auf der Plattform des Luftschiffhafens in derselben Zeitlinie wie Alan Sami die bezaubernden Noten spielt.

Beide Menschen spüren die Musik und den Wald, die Hintergrundstimmen der Plattform und die unterschiedlichen Qualitäten ihrer eigenen Zeitzonen. Aber wie kann das möglich sein? Was ist der Grund für diese Anomalie?

Ich mochte „The Glass Hotel“ war aber nicht blown away, Mandels Meta-Fiktion Ansatz ist aber so spannend, dass ich jedes ihre Bücher wohl mehrfach lesen werde, nur um die ganzen Querverweise und wieder auftauchenden Figuren angemessen verfolgen zu können.

𝙰 𝚕𝚒𝚏𝚎 𝚕𝚒𝚟𝚎𝚍 𝚒𝚗 𝚊 𝚜𝚒𝚖𝚞𝚕𝚊𝚝𝚒𝚘𝚗 𝚒𝚜 𝚜𝚝𝚒𝚕𝚕 𝚊 𝚕𝚒𝚏𝚎.

Mit Babel und Sea of Tranquility habe ich schon im Januar große Anwärter für meine Bücher des Jahres – das kann doch so weitergehen. Und ich kann schon verraten, auch die restlichen Bücher die ich Januar gelesen habe, waren ausnahmslos richtig gut.

Der Name der Rose – Umberto Eco übersetzt aus dem italienischen von Burkhart Kroeber erschienen im Hanser Verlag

Ich habe den Namen mit 16 gelesen, als der Bibliothekar meiner heimatlichen klitzekleinen Leihbücherei mir den Roman in die Hand drückte, den er für mich auf Seite gelegt hatte und es war sogar eine nigelnagelneue Ausgabe! Ich nahm es mit in die Sommerferien und ich glaube dieses Buch hat damals den Grundstein dafür gelegt, dass ich eine echte Leserin wurde, die sich das Lesefieber aus der Kindheit ins Erwachsenenalter rüber retten konnte.

Daher war ich schon auch ganz schön nervös, das Buch jetzt nach so vielen Jahren noch einmal zu lesen. Die Verfilmung hatte ich dazwischen schon zwei oder dreimal gesehen, das Buch allerdings nie wieder. Solche Wiederentdeckungen können ja auch gehörig schief gehen.

Eco hat einen Roman geschrieben, den man als historische Fiktion, Mysterium, Theologie und Philosophie, Metafiktion, Psychologie und vieles mehr bezeichnen kann und der von allen Seiten gelobt wird. Er nimmt Sherlock Holmes und Watson und macht sie zu Mönchen in einer Abtei aus dem Jahr 1300, in der es an jeder Ecke Mord und theologische Debatten gibt. Die beiden Haupthandlungen, der Mordfall und die religiösen Debatten, verweben sich mühelos miteinander, wobei sich die Spannungen gegenseitig verstärken und die Handlung immer dichter wird.

In omnibus requiem quaesivi, et nusquam inveni nisi in angulo cum libro

Dies ist jedoch kein einfacher, von der Handlung getriebener Thriller. Eco bringt einen dicken Wälzer mittelalterlicher und christlicher Geschichte auf den Tisch, der wie ein Historienroman wirkt und den Leser sowohl unterrichtet als auch unterhält. Dies hat viele Vergleiche mit Werken wie Dan Browns Da Vince Code hervorgerufen, doch Eco übertrifft Brown in fast jeder Kategorie.

Dieses Buch verdient es wirklich, als „Literatur“ bezeichnet zu werden, denn es ist viel mehr als eine Geschichte und Forschung, die in eine Handlung geworfen wird. Die Sprache seiner Figuren ist glaubwürdig, und was mich am meisten beeindruckt hat, ist wie gekonnt er die theologischen Auseinandersetzungen zwischen den Bewohnern der Abtei schilderte. Anhand dieser Figuren, von denen viele reale Personen waren, schildert er glaubhafte und oft feurige, facettenreiche Diskussionen über eine Reihe von Themen wie Ketzer, Armutsgelübde und die Auslegung des Evangeliums. Eco verfügte über umfassendes Wissen zum Thema mittelalterliche Studien – er war Professor für Semiotik – die in diesem Roman eine entscheidende Rolle spielt. Williams Methode der Deduktion beruht auf seiner Fähigkeit, in der Welt um ihn herum „die Zeichen zu lesen“. Er stellt sorgfältig Syllogismen auf um seine Theorien darzulegen.

Der vielleicht spannendste Aspekt dieses Romans war, dass es ein Buch über Bücher ist. Der ganze Roman dreht sich um verschiedene Texte, wie Aristoteles und die Offenbarung, aber er besteht aus anderen Büchern. Er macht den Leser sogar darauf aufmerksam, wenn William Adson erklärt, wie man den Inhalt eines Buches durch die Lektüre anderer Bücher herausfinden kann. Er reiht Anspielungen auf andere mittelalterliche Texte und auch auf einen von Ecos liebsten Autoren aneinander: Jorge Luis Borges. Dieser Roman ist voll von Anspielungen auf Borges‘ Werke, es gibt sogar einen blinden Bibliothekar namens Jorge von Burgos.

Die schwarze Rose – Dirk Schümer erschienen im Zsolnay Verlag erschienen

Wenn es schon sowas wie eine Art Fortsetzung von Der Name der Rose gibt und damit eine Chance noch ein wenig länger Zeit in William von Baskervilles Gesellschaft zu verbringen, dann führt kein Weg an der schwarzen Rose vorbei.

Pünktlich zum 40. Geburtstag von Ecos Jahrhundertroman erschien Dirk Schümers Buch und um es gleich vorweg zu sagen, es macht Spaß und ich habe es sehr gerne gelesen.

Als Ketzer denunziert, muss sich im Jahr 1328 der berühmte deutsche Prediger Eckhart von Hochheim am Hof des Papstes in Avignon der Inquisition stellen. In Begleitung seines Novizen Wittekind wird Meister Eckhart Zeuge eines blutigen Raubüberfalls. Als Wittekind selbst angegriffen wird, ahnen die beiden, dass sie in einen Finanzbetrug von europäischem Ausmaß hineingezogen werden. Im Schatten des Papstpalasts ist auch der geheimnisvolle Franziskaner William von Baskerville den Tätern auf der Spur.

Dort, wo Umberto Ecos „Der Name der Rose“ aufhört, setzt Dirk Schümers packender historischer Roman an. Wir erleben eine finstere Metropole der Religion, in der nur ein Credo gilt: Gold.

So wie Francesco seinen Lehrer Ciceo auswendig lernte, so hatte auch ich meinen eigenen Patron gefunden:
Tota vita discendum est mori. Leben ist sterben zu lernen.
Das meinte Seneca: über allem stehen, Schmerz und Sehnsucht ignorieren, den Abschied immer schon hinter sich haben.
Wer kann über dem stehen, der über dem Schicksal steht!
Über dem Schicksal zu stehen, darum hatte ich mich seit Jahren mit aller Kraft bemüht.

Ein simpler Eingriff – Yael Inokai erschienen im Hanser Verlag

Ein elegantes schmales Büchlein das ruhig und sachlich ohne ein Wort zu viel vom Horror des historischen Umgangs mit der weiblichen Psyche berichtet. Es ist aber auch eine Geschichte über Selbstbestimmung und Eigenverantwortung.

Meret ist Krankenschwester. Die Klinik ist ihr Zuhause, ihre Uniform trägt sie mit Stolz, schließlich kennt die Menschen in ihrem Leiden niemand so gut wie sie. Bis eines Tages ein neuartiger Eingriff entwickelt wird, der vor allem Frauen von psychischen Leiden befreien soll. Die Nachwirkungen des Eingriffs können schmerzhaft sein, aber danach fängt die Heilung an. Daran hält Meret fest, auch wenn ihr langsam erste Zweifel kommen.

Ich dachte in diesem Moment, dass sie eine große Freiheit besaß. Egal, wo sie hinging, sie konnte sich einfach setzen. Sie fragte sich nie, ob dieser oder jener Platz für sie bestimmt war.

Was den Eingriff anbelangte, waren auch die Schwestern auf unserer Station geteilter Meinung. Wenn sie denn überhaupt eine hatten. Manche waren gut darin geworden, sich jede Meinung abzugewöhnen. Die Vorgaben und Regeln fingen einen immer auf. Meinungen konnten das nicht

Gegliedert ist das Buch in drei Abschnitte, benannt nach den drei Protagonist*innen des Buchs: Meret, Marianne und Sarah. Marianne ist die Patientin, deren fehlgeschlagene Operation erste Zweifel in Meret weckt. Sarah ist Merets Mitbewohnerin, in die sie sich von der ersten Begegnung an verliebt, die ihr neue Blickwinkel aufzeigt und mit der sie von einer besseren Zukunft zu träumen wagt und Merets eigene Beobachtungen.

Hatte meine alte Zimmernachbarin dafür geliebt, dass sie die unsichtbare Trennlinie zwischen unseren Betten nie übertrat, dass ihr Vergnügen so wenig bedeutete, dass ihr Herz in all den Jahren nur zweimal zu Bruch ging. Nicht wie bei den anderen, wo es ohne Unterlass brach, ein störanfälliges Organ, immer nur gerade so zusammengeflickt, bevor der Nächste es wieder auseinanderriss.

Harry Potter and the Order of the Phoenix – J. K. Rowling auf deutsch unter dem Titel Harry Potter und der Ordes des Phönix im Carlsen Verlag übersetzt von Klaus Fritz

Harry Potter ist wütend darüber, dass er den Sommer über im Haus der Dursleys zurückgelassen wurde, denn er vermutet, dass Voldemort eine Armee zusammenstellt, dass er selbst angegriffen werden könnte und dass seine so genannten Freunde ihn im Dunkeln lassen. Als er schließlich von Leibwächtern der Zauberer gerettet wird, erfährt er, dass Dumbledore den Orden des Phönix neu formiert – einen Geheimbund, der vor Jahren gegründet wurde, um Voldemort zu bekämpfen. Doch das Zaubereiministerium ist gegen den Orden, und das Zaubererblatt Daily Prophet verbreitet Lügen, und Harry fürchtet, dass er diesen epischen Kampf gegen das Böse vielleicht allein aufnehmen muss.

Meine Heldin ist natürlich insbesondere Hermione – wie gerne wäre ich sie, so klug, so belesen und mutig. Aber von Buch zu Buch merke ich, Hermione hat noch unerwartet große Konkurrenz mit Blick auf Lieblings-Figur bekommen. Professor McGonagall ich liebe die alte Schottin und im Buch vor allem diesen Dialog:

“Is it true that you shouted at Professor Umbridge?“
„Yes.“
„You called her a liar?“
„Yes.“
„You told her He Who Must Not Be Named is back?“
„Yes.“
„Have a biscuit, Potter.”

Idol in Flammen – Rin Usami erschienen im Kiepenheuer & Witsch Verlag, übersetzt von Luise Steggewentz

Der Roman, der die japanische Verlagswelt in Brand gesetzt hat: Ein preisgekrönter Bestseller aus Japan von einer 21-jährigen Autorin, die zum Shootingstar der japanischen Literatur avanciert: Rin Usami. Ein Roman der sich auf brillante Weise mit toxischem Fandom, sozialen Medien und Desillusionierung beschäftigt.

Akari ist eine Highschool-Schülerin, die von „oshi“ Masaki Ueno, einem Mitglied der beliebten J-Pop-Gruppe Maza Maza, besessen ist. Sie schreibt einen Blog, der ihm gewidmet ist, und verbringt Stunden damit durchs Internet zu scrollen, süchtig nach Informationen über ihn und sein Leben. Verzweifelt versucht Akari, ihn zu analysieren und zu verstehen, und hofft, die Welt irgendwann mit seinen Augen zu sehen. Es ist eine Hingabe, die ans Religiöse grenzt: Masaki ist ihr Retter, ihr Rückgrat, jemand, von dem sie glaubt, dass sie ohne ihn nicht überleben kann – auch wenn sie ihn nie wirklich getroffen hat.

Als Gerüchte auftauchen, dass ihr Idol einen weiblichen Fan angegriffen hat, explodieren die sozialen Medien. Akari fängt sofort an, alles zu sichten, was sie über den Skandal finden kann, und teilt jedes Detail auf ihrem Blog und zieht damit zahlreiche Leser an, die begierig auf ihre Updates warten.

Aber die strukturierte und gut informierte Person, die Akari online präsentiert, ist ganz anders als der sozial unbeholfene, unkonzentrierte Teenager, die sie im wirklichen Leben ist. Als sich Masakis Situation zuspitzt, drohen seine Probleme auch ihr Leben zu zerstören. Anstatt einen Weg zu finden, sich zu befreien, um sich selbst zu retten, wird Akari immer fanatischer…

Da ist was für dich gekommen, Fräulein Akari Yamashita, sagt meine Schwester und reicht mir ein Paket, ds zehnmal dieselbe CD enthält, die ich in meinem Zimmer vorsichtig auspacke, um die Wahlscheine herauszunehmen. Neue Singles von Mazamaza kommen immer zusammen mit einem Wahlschein, und eine Single kostet zweitausend Yen. Fünf CDs habe ich schon, also kann ich jetzt insgesamt fünfzehn Stimmen bei der Beliebtheitswahl der Bandmitglieder abgeben.

Eine Geschichte über Ruhm, Trennung, Besessenheit und Desillusionierung von einer Autorin, die kaum älter ist als ihre Protagonistin. Idol in Flammen nimmt die Fan-Kultur, die Geldmacherei der J-Pop-Idol-Industrie, die verführerische Macht der sozialen Medien und die gewaltige emotionale Leere, die sich auftut, wenn ein Idol in Ungnade fällt unter die Lupe.

Ein Roman wie ein brennender Benzinkanister, der mit 200 km/h über die Autobahn rast. Atemlos in einem Rutsch durchgelesen. Krass.

The Wonder – Emma Donoghue auf deutsch erschienen unter dem Titel „Das Wunder“ erschienen im Goldmann Verlag, übersetzt von Thomas Mohr

Die irischen Midlands, 1859. Die englische Krankenschwester Lib Wright wird in ein kleines Dorf gerufen, um zu beobachten, was manche für eine medizinische Anomalie oder ein Wunder halten – ein Mädchen, das monatelang ohne Nahrung überlebt haben soll. Touristen strömen zu der Hütte der elfjährigen Anna O’Donnell, und ein Journalist ist gekommen, um über die Sensation zu berichten. The Wonder“ ist eine Geschichte über zwei Fremde, die das Leben des anderen verändern, ein psychologischer Thriller und eine Geschichte über Liebe im Kampf gegen das Böse.

How could the child bear not just the hunger, but the boredom? The rest of humankind used meals to divide the day, Lib realized – as a reward, as entertainment, the chiming of an inner clock. For Anna, during this watch, each day had to pass like one endless moment.

Habe „The Wonder“ als Hörbuch gehört und es sehr gemocht. Es passte sehr gut in die Jahreszeit und ich habe meine Isar-Spaziergänge gerne verlängert, um noch ein wenig weiter hören zu können, was es mit Anna und ihrer seltsamen Hunger-Geschichte auf sich hat. Das Buch ist bereits verfilmt worden mit Florence Pugh in der Hauptrolle und obwohl ich die Schauspielerin sehr sehr schätze, die Geschichte klasse fand, der Film großartige Bilder hat – ich bin nicht wirklich mit dem Film warm geworden. Hier ist das Buch wirklich um Längen besser meiner Meinung nach.

Das war es jetzt aber – eine reiche großartige Ausbeute hatte ich da im Januar und natürlich bin ich wieder sehr neugierig auf eure Reaktionen. Welche dieser Bücher habt ihr auch gelesen? Seid ihr anderer Ansicht als ich bei dem einen oder anderen? Auf welche konnte ich euch besonders neugierig machen?

Ich wünsche euch einen guten Februar und freue mich, wenn ihr dann wieder an meiner Lektüre teilhabt. Soviel kann ich schon verraten – es geht literarisch und auch in echt nach Paris. Jusque là!

Lektüre Dezember 2022

Frohes neues Jahr meine Lieben! Ich hoffe, ihr seid gut ins neue Jahr gerutscht und eure guten Vorsätze drehen sich hauptsächlich um das Lesen. Ich hatte im Dezember einen durchwachsenen Lesemonat. Ich hatte mich sehr lange auf meinen „Drood“ Marathon gefreut, der war dann aber ein bisschen weniger spannend und überwältigend als ich es erhofft hatte. Aber dazu gleich mehr.

Ich hoffe, ihr schaut auch 2023 wieder regelmässig vorbei hier, bei meinen monatlichen Lektüre-Übersichten oder meiner Woche, ich hoffe auch die Hirngymnastik und die Reihe Women in Science und Women in SciFi wieder zu beleben.

Jetzt aber der Rückblick auf den Dezember:

Über Emily Brontë – Mithu Sanyal erschienen im Kiepenheuer & Witsch Verlag

Wie ein Sturm ist das Werk Emily Brontës in das Leben von Mithu Sanyal hineingefegt. Die erste Lektüre des Romans »Sturmhöhe: Wuthering Heights« hatte für die Autorin von »Identitti« lebensprägende, lebensverändernde Kraft.

Mithu Sanyal hat ein mitreißendes Buch über das Leben und Schreiben der weltberühmten englischen Autorin geschrieben, der man zu Lebzeiten mangelnde Weiblichkeit vorwarf und deren Buch als gefährlich galt. Für Sanyal, Tochter einer polnischen Mutter und eines indischen Vaters, war und ist »Sturmhöhe« ein Buch, in dem sie die eigene Fremdheitserfahrung wiederfand, ein Buch, das ihr in ungefähr allen wichtigen Lebensmomenten irgendwie weiterhalf und sie immer begleitet. Beim Sex, beim langweiligsten Urlaub der Welt, bei angeheirateten englischen Verwandten, die sich nach dem Empire zurücksehnen, und beim Planen der Revolution. Denn darum geht es vor allem in diesem Buch: um das Wunder, wie ein mehr als 170 Jahre alter Roman auf alle wesentlichen Fragen von heute zu Gender, Race, Class und Geistern klare, aktuelle, zukunftsweisende Antworten hat.

Dieses kleine Büchlein war mein Lesehighlight im Dezember. Auf einer Zugreise von Köln nach München, nach meinem Besuch des Kiepenheuer & Witsch Verlages in einem Rutsch durchgelesen und zu Hause direkt alle meiner Brontë Bücher vorgekramt und weitergelesen. Sanyal hat ein sehr kluges, elegantes Buch über die viel zu früh verstorbene Autorin des wahrscheinlich am häufigsten verfilmte Buch aller Zeiten geschrieben.

Allein schon wegen der wunderbaren Zitate über den Roman am Beginn jeden Kapitels lohnt sich das Buch:

Bei dem Buch hagt man das Gefühl, man würde sich in Gefahr begeben, wenn man es nur aufschlägt“ // Helen Oyeyemi

Heathcliff ist ein Findelkind. Als adoptiertes Kind verstand ich seine Demütigung, seine Inbrunst und seine Kapazität, andere zu verletzen. Außerdem lernte ich die Lektion des Romans, dass Grundbesitz Macht ist. Anscheinend braucht man, wenn man sich verlieben will, Immobilien. // Jeanette Winterson

Sie hat mir nicht nur Lust auf eine erneute Lektüre von „Wuthering Heights“ gemacht, sondern auch auf ihren Roman „Identitti“ der schon länger auf meiner Wunschliste steht.

Kauft dieses Buch, verschenkt dieses Buch und wer mag kann hier parallel noch mittels dieser Doku hier über die „Sturmhöhe“ wandeln:

Radikaler Universalismus – Omri Boehm erschienen im Ullstein Verlag

Mit „Radikaler Universalismus“ liefert Omri Boehm mehr als eine Neuinterpretation, er revolutioniert unser grundlegendes Verständnis von dem, was Universalismus eigentlich ist. Dabei beruft er sich auf Kant und seine oft missverstandene Wiederbelebung des ethischen Monotheismus der jüdischen Propheten. Ein kühner Entwurf, der in seiner Furchtlosigkeit einen Ausweg aus der festgefahrenen Identitätsdebatte eröffnet.

Boehm geht hier dem Ansatz nach dass wir uns auf die universellen Werte des Humanismus zurück besinnen und die Appelle der biblischen Propheten und Immanuel Kants wirklich verstehen müssen um Ungerechtigkeit kompromisslos bekämpfen zu können. Er sieht das nur möglich im Namen des radikalen Universalismus, nicht in dem der Identität.

Merkwürdig aufwendige Systeme wie Glauben, Religion oder der Rechtsstaat hat man sich gerade deshalb ausgedacht, um Gerechtigkeit ethisch plausibler und faktisch zwingender erscheinen zu lassen, als sie tatsächlich sind.

Ich stimme nicht in allen Punkten mit Boehm überein, aber es war eine interessante, zum Nachdenken anregende Lektüre, die ich durchaus empfehlen kann.

The Mystery of Edwin Drood – Charles Dickens auf deutsch erschienen unter dem Titel „Das Geheimnis des Edwin Drood“ übersetzt von Burkhart Kroeber erschienen im Manesse Verlag

Dieser Schauerroman erster Güte entführt uns in Opiumhöhlen, Hinterzimmer und Grüfte. Er entlarvt Propheten als Betrüger, Gottesmänner als arme Sünder und Würdenträger als Halbweltexistenzen. Obendrein ist «Edwin Drood» einer der ersten Kriminalromane der Weltliteratur. Da Dickens über der Arbeit an den Schlusskapiteln verstorben ist, gibt sein reifstes Werk seit beinahe hundertfünfzig Jahren Rätsel auf und hat Generationen von begeisterten Lesern zum Weiterspinnen des Plots angeregt. Die Spur zur Auflösung legte aller dings Dickens selbst, indem er wenige Wochen vor seinem Tod noch Originalillustrationen in Auftrag gab.

How beautiful you are! You are more beautiful in anger than in repose. I don’t ask you for your love; give me yourself and your hatred; give me yourself and that pretty rage; give me yourself and that enchanting scorn; it will be enough for me

Der Roman stand schon schon eine ganze Weile im Regal und als ich kürzlich im Bücherschrank zwei Bücher fand, bei denen es um die Auflösung rund um „Drood“ ging – plante ich für die Adventszeit einen Drood-Marathon, angefangen bei Dickens Original. Ich weiß nicht, ob ich ein bisschen aus Dickens rausgewachsen bin, ich kam nicht wirklich 100% im Roman an. Ich mochte die Szenen in den Opiumhöhlen und das düstere London, allerdings sind mir die Charaktere einfach nicht wirklich näher gekommen. Ein solider Dickens, aber „Great Expectations“, „Oliver Twist“ oder „David Copperfield“ haben mir deutlich besser gefallen, allerdings habe ich diese vor Ewigkeiten gelesen als Teenager und war damals schwer begeistert.

Drood – Dan Simmons übersetzt von Friedrich Mader erschienen im Heyne Verlag.

London im Jahr 1865: Bei einem dramatischen Eisenbahnunglück finden etliche Menschen den Tod. Unter den Überlebenden ist der bedeutendste Schriftsteller seiner Zeit: Charles Dickens. Doch nach diesem Ereignis ist Dickens nicht mehr derselbe. Wie besessen macht er sich auf die Suche nach einem mysteriösen Mann namens Drood. Aber wer oder was ist Drood wirklich? Und kann es sein, dass Charles Dickens in seinen letzten Lebensjahren zum kaltblütigen Mörder wird?

Die ersten 450 Seiten oder so habe ich wirklich ganz gerne gelesen. Ich habe unfassbar viel über Dickens und Wilkie Collins gelernt und fand die Geschichte ganz interessant, wenn auch sehr weitschweifig erzählt und nicht wirklich gruselig. Aber nach 450 Seiten etwa war die Luft raus für mich. Die Geschichte drehte sich im Kreis, es ging einfach nicht voran und ich die Vorstellung noch mal soviele Seiten in dieser Geschichte lesen zu müssen ließ mich verzweifelt nach einer Opiumpfeife oder ähnlichen Halluzinogenen hoffen.

When the last autumn of Dickens’s life was over, he continued to work through his final winter and into spring. This is how all of us writers give away the days and years and decades of our lives in exchange for stacks of paper with scratches and squiggles on them. And when Death calls, how many of us would trade all those pages, all that squandered lifetime-worth of painfully achieved scratches and squiggles, for just one more day, one more fully lived and experienced day? And what price would we writers pay for that one extra day spent with those we ignored while we were locked away scratching and squiggling in our arrogant years of solipsistic isolation?

Would we trade all those pages for a single hour? Or all of our books for one real minute?”

Reader – I ended it. Abgebrochen, in die Ecke geworfen. Noch auf halber Strecke dachte ich das wird, aber irgendwann hat es sich echt einfach totgelaufen. Hätte er doch einfach bei etwa 450 Seiten aufgehört und fertig.

Ich habe hier noch „Erebus“ von Dan Simmons liegen, das ist auch so ein dicker Klopper. Hat das schon eine*r von euch gelesen? Könnt ihr das empfehlen? Soll ich Mr. Simmons noch mal eine Chance geben?

Das letzte Kapitel (The Last Dickens) – Matthew Pearl übersetzt von Linda Budinger und Alexander Lohmann erschienen im Bastei Lübbe Verlag

Boston, 1870. Sylvanus Bendall eilt durch die engen Gassen des heruntergekommenen Stadtviertels New Land. Im fahlen Licht der Dämmerung wirkt der Nebel wie ein Leichentuch. Immer wieder dreht der Anwalt sich um und lauscht. Der Verfolger kommt näher. Bendall beschleunigt seine Schritte – vergeblich. Sein Blick fällt auf den Knauf eines Gehstocks, der wie ein Bestienkopf aussieht. Reißzähne blitzen auf. Bendall ahnt, was der Unbekannte mit den schwarzen Augen von ihm will: das Papierbündel in seiner Westentasche – die letzten unveröffentlichten Seiten aus der Feder des kürzlich verstorbenen Charles Dickens. Sie bergen ein dunkles Geheimnis – und jeder, der es kennt, muss sterben.

The books do pretend, Mr. Branagan. Surely. But that is not all. Novels are filled with lies, but squeezed in between is even more that is true—without what you may call the lies, the pages would be too light for the truth, you see?

Ich habe das Buch ganz gerne gelesen, aber mitgerissen oder begeistert hat es mich nicht. Vor ein paar Jahren haben wir im Bookclub „The Dante Club“ gelesen, da ging es mir ähnlich. Eigentlich müsste Pearl, der seine Romane gerne in Schriftstellerkreisen im 19. Jahrhundert spielen läßt genau mein Ding sein, aber irgendwie werden wir beide nicht richtig warm miteinander.

My Broken Mariko – Waka Hirako übersetzt von Cordelia Suzuki erschienen im Egmont Verlag

Dieser Manga war ein überraschendes Weihnachtsgeschenk der lieben Miss Booleana, die sehr zur Recht der Ansicht war, meine klaffende Manga-Bildungslücke bräuchte dringlichst Füllung. Der Manga hatte kein einfaches Thema, es geht um den Selbstmord eines jungen Mädchens, die Geschichte ist eindringlich und intensiv erzählt und hat mich ganz schön gefesselt.

Der Einzelband My broken Mariko widmet sich dem Thema Suizid auf eine ebenso aufwühlende wie authentische Art und Weise. Mariko ist gestorben. Sie hat sich das Leben genommen. Als ihre beste Freundin Shino davon zufällig in der Mittagspause erfährt, kann sie es kaum glauben. Wie kann das sein? Erst letzte Woche haben sie sich doch noch getroffen…? Fragen und Gedanken rasen ihr durch den Kopf und Shino fasst einen Entschluss: Wenn sie Mariko schon im Leben nicht helfen konnte, will sie wenigstens ihre Asche an einen besseren Ort bringen!

Es dauerte etwas bis ich mich an das Lesen von rechts nach links gewohnt hatte, verirrte mich beim Lesen immer mal wieder, aber ich denke das ist reine Übungssache. Es wäre gelogen zu sagen, ich bin sofort zum großen Manga-Fan geworden, aber ein bisschen angefixt bin ich schon und habe Lust mich mehr mit dem Thema zu beschäftigen. Wird also definitiv nicht mein letzter Manga gewesen sein.

Harry Potter and the Goblet of Fire – J. K. Rowling auf deutsch erschienen unter dem Titel Harry Potter und der Feuerkelch erschienen im Carlsen Verlag übersetzt von Klaus Fritz

Weiter ging es im Dezember auch mit dem Wiederlesen der Harry Potter Reihe, mittlerweile bin ich bei Band 4 angelangt:

Harrys viertes Schuljahr in Hogwarts beginnt und ein Wettkampf hält die Schüler in Atem: das Trimagische Turnier, in dem Harry eine Rolle übernimmt, die er sich im Traum nicht vorgestellt hätte. Natürlich steckt dahinter das Böse, das zurück an die Macht drängt: Lord Voldemort. Es wird eng für Harry. Doch auf seine Freunde und ihre Unterstützung kann er sich auch in verzweifelten Situationen verlassen

It matters not what someone is born, but what they grow to be.

Macht mir riesigen Spaß wieder in Hogwart einzutauchen und mit Hermione, Harry und Ron das zaubern zu lernen. Hätte nicht gedacht, dass es mir fast noch mehr gefällt als beim ersten Mal. Groß war auch meine Freude als ich im Hamburger Hauptbahnhof dann plötzlich vor Harrys Wizzard World stand und natürlich gleich einen Abstecher hinein machen musste:

12 Bytes – Jeanette Winterson erschienen im Vintage Verlag bislang noch nicht auf deutsch übersetzt

In 12 Bytes teilt die Autorin Jeanette Winterson ihre Überlegungen zu künstlicher Intelligenz in all ihren verwirrenden Erscheinungsformen. In ihrem brillanten, pointierten und witzigen Erzählstil blickt Winterson auf Geschichte, Religion, Mythos, Literatur, Rassen- und Geschlechterpolitik sowie Computerwissenschaft, um uns zu helfen, die radikalen Veränderungen zu verstehen, die sich derzeit um uns herum vollziehen.

Wenn wir nicht-biologische Lebensformen erschaffen, werden wir sie dann nach unserem Ebenbild erschaffen? Oder werden wir die Gelegenheit wahrnehmen, uns nach ihrem Bild umzugestalten? Wie sehen Liebe, Fürsorge, Sex und Bindung aus, wenn Menschen Verbindungen mit nichtmenschlichen Helfern, Lehrern, Sexarbeitern und Gefährt*innen eingehen? Und was wird mit unseren tief verwurzelten Annahmen über das Geschlecht geschehen? Wird der physische Körper, der unser Zuhause ist, bald durch biologische und neuronale Implantate verbessert werden, die uns fitter, jünger und verbundener machen? Ist es an der Zeit, Elon Musk zu folgen und den Planeten Erde zu verlassen?

The arts aren’t a leisure industry – the arts have always been an imaginative and emotional wrestle with reality -a series of inventions and creations. A capacity to think differently, a willingness to change our understanding of ourselves. To help us be wiser, more reflective, less frightened people.

Ich schließe den Dezember mit meinem zweiten großen Highlight des Monats ab. Dieses Buch war großartig, hat mich gepackt, zum Nachdenken gebracht und in diverse Internet-Rabbitholes versenkt. Am Ende des Buches findet sich eine lange Bibliography die meine Leseliste wieder kräftig hat anwachsen lassen. Dieses Buch möchte nachts bei mehreren Flaschen Wein diskutiert werden. Besorgt es euch, lest es, ladet eure Freund*innen ein und diskutiert euch die Köpfe heiß. Jeanette Winterson ist ein tolle Erklärbärin.

So meine Lieben – jetzt möchte ich von euch hören. Worauf konnte ich euch besonders Lust machen? Was habt ihr auch schon gelesen und ihr teilt meine Einschätzung oder auch nicht? Danke fürs dabei sein, kommentieren, mit mir lesen und diskutieren 🙂

Lektüre September 2022

Im September haben wir zwei herrliche Wochen in der Toskana verbracht, das bedeutete wunderbare faule Lesezeit auf der Terrasse, am Pool, am Strand und Hörbuch-Zeit bei der Autofahrt. Deswegen heute ein längerer Post, den im September habe ich überdurchschnittlich viel Lektüre gelesen bzw gehört.

Wie immer im Schnelldurchlauf von A-Z, ich hoffe ich kann euch auf das eine oder andere Buch Lust machen.

100 Autorinnen in Porträts – Verena Auffermann, Julia Encke, Gunhild Kübler, Ursula März, Elke Schmitter erschienen im Piper Verlag.

Fünf renommierte Kritikerinnen schreiben über ihre 100 bedeutendsten Autorinnen

Eine Auswahl der 100 bedeutendsten schreibenden Frauen aus zwei Jahrtausenden und der ganzen Welt, vorgelegt von den renommierten Kritikerinnen Verena Auffermann, Gunhild Kübler, Ursula März, Elke Schmitter und Julia Encke. Von Sappho bis Atwood, von Adichie bis Zeh porträtieren sie Schriftstellerinnen und ihren Weg zum Schreiben, betten ihr Werk in Lebens- und Zeitumstände ein und positionieren sie innerhalb literarischer Traditionen.

Denn viele dieser Autorinnen, die heute berühmt und erfolgreich sind – wie Siri Hustvedt und Hilary Mantel, wie Olga Tokarczuk und Leïla Slimani – erzählen davon, wie lust-, aber auch leidvoll es ist, eine Autorin zu sein, mit einem weiblichen Körper und einer michtmännlichen Erfahrung. Die, wo immer sie leben, vergleichbar und doch besonders ist.

Klare Warnung vor diesem Buch – es wird unweigerlich deine Wunschliste erweitern 😉

Unsere Welt neu denken – Maja Göpel erschienen im Ullstein Verlag

Unsere Welt steht an einem Kipp-Punkt, und wir spüren es. Einerseits geht es uns so gut wie nie, andererseits zeigen sich Verwerfungen, Zerstörung und Krise, wohin wir sehen. Ob Umwelt oder Gesellschaft – scheinbar gleichzeitig sind unsere Systeme unter Stress geraten. Wir ahnen: So wie es ist, wird und kann es nicht bleiben. Wie finden wir zu einer Lebensweise, die das Wohlergehen des Planeten mit dem der Menschheit versöhnt? Wo liegt der Weg zwischen Verbotsregime und Schuldfragen auf der einen und Wachstumswahn und Technikversprechen auf der anderen Seite? Diese Zukunft neu und ganz anders in den Blick zu nehmen – darin besteht die Einladung, die Maja Göpel ausspricht.

Als Hörbuch gehört und sehr gemocht. Hat zu spannenden Diskussionen geführt, läßt die Gehirnwindungen heiß laufen und führt dazu, dass man erkennt wie dringend wir handlen müssen. Große Empfehlung.

Radikale Kompromisse – Yasmine M’Barek erschienen im Hoffmann & Campe Verlag

Mehr und mehr kennzeichnet radikale Kompromisslosigkeit unsere Diskurse in Politik und Gesellschaft. Gleichzeitig wird klar: Wir kommen kaum voran. Über drängende Themen wie Klimawandel, Impfpflicht, Rassismus bei der Polizei oder Gleichberechtigung zwischen Klassen oder Geschlechtern wird heftig polemisiert, ohne dass es zu Ergebnissen kommt. Die Fronten sind klar: Ihr oder wir.

Yasmine M’Barek zeigt, dass es auch anders geht. Dass wir uns dringend vergegenwärtigen müssen, warum wir es verlernt haben, miteinander zu sprechen, und wo die Fehler in der Kommunikation der Idealisten liegen, die in der Konsequenz Kompromisse verhindern, die uns als Gesellschaft weiterbringen würden. Dabei erklärt sie den scheinbar unanfechtbaren Mythos der schwarzen Null (die außerhalb Deutschlands völlig unbekannt ist), warum der Ausstieg aus der Atomkraft ein gutes Beispiel dafür ist, warum man die Meinung der Realisten nicht vernachlässigen sollte, um negative Folgen zu vermeiden, und warum sich der Generationenkonflikt nur lösen lässt, wenn man ihn von der Schuldfrage löst.

Das zweite Hörbuch und eines das ich ebenfalls gerne gehört habe, weil ich es mochte auch mal aus meiner Denk-Komfortzone gekickt zu werden. Hier war ich definitiv nicht mit allem einverstanden, aber das ist gut so. Einzig ihre teilweise arg genervt klingende Stimme beim Einlesen des Buches fand ich gelegentlich etwas anstrengend.


A Month in Siena – Hisham Matar erschienen im Penguin Verlag, derzeit nicht auf deutsch übersetzt

Als Hisham Matar neunzehn Jahre alt war, stieß er zum ersten Mal auf die sienesische Malschule. In dem Jahr, in dem Matars Leben durch das Verschwinden seines Vaters erschüttert wurde, schienen ihm die Werke der großen Künstler von Siena ein Gefühl der Hoffnung zu geben. Im Laufe der Jahre vertieften sich Matars Gefühle gegenüber diesen Gemälden, und, wie er sagt, begann Siena die Art von unbehaglicher Ehrfurcht einzunehmen, die die Gläubigen gegenüber Mekka, Rom oder Jerusalem empfinden könnten“.

A Month in Siena ist die fünfundzwanzig Jahre später stattfindende Begegnung zwischen dem Schriftsteller und der Stadt, die er aus der Ferne verehrt hatte und die Beschwörung eines außergewöhnlichen Ortes und seiner Wirkung auf das Leben des Schriftstellers. Es ist ein Eintauchen in die Malerei, eine Betrachtung der Trauer und eine zutiefst bewegende Betrachtung der Beziehung zwischen Kunst und dem menschlichen Dasein.

Desire dies the moment it achieves its end

Die perfekte Lektüre für unseren Ausflug nach Siena. Ein Buch das Lust macht in die sienesische Renaissance Kunst einzutauchen. Sehr schönes Buch, tolle Stadt.

Saeculum – Ursula Poznanski erschienen im Loewe Verlag

Fünf Tage im tiefsten Wald, die nächste Ortschaft kilometerweit entfernt, leben wie im Mittelalter ohne Strom, ohne Handy , normalerweise wäre das nichts für Bastian. Dass er dennoch mitmacht bei dieser Reise in die Vergangenheit, liegt einzig und allein an Sandra.

Als kurz vor der Abfahrt das Geheimnis um den Spielort gelüftet wird, fällt ein erster Schatten auf das Unternehmen: Das abgelegene Waldstück, in dem das Abenteuer stattfindet, soll verflucht sein.
Was zunächst niemand ernst nimmt, scheint sich jedoch zu bewahrheiten, denn aus dem harmlosen Live-Rollenspiel wird plötzlich ein tödlicher Wettlauf gegen die Zeit.
Liegt tatsächlich ein Fluch auf dem Wald?

Das war spannender als ich dachte und hat mir gut gefallen. Werde Frau Poznanski mal auf dem Radar behalten.

Was uns Rassismus nimmt – Miriam Rosenlehner erschienen als Book on Demand

Wir alle lernen Rassismus, ohne uns bewusst dafür entschieden zu haben. Aber wie funktioniert das?
Dieses Buch bietet einen Blick hinter die Stirn unserer Gesellschaft. Neue Forschungsergebnisse, verständlich und spannend aufbereitet, lassen tiefe Einblicke in das Phänomen Rassismus zu.
Sie geben den Blick frei auf ein Gesellschaftsmuster, das uns alle mehr beeinflusst, als wir bisher dachten.

In dieses Buch wollte ich direkt nach dem Urlaub eigentlich erst mal nur kurz reinlesen und bin direkt hängen geblieben. Habe viel gelernt, unfassbar viel unterstrichen und rausgeschrieben und würde das Buch am liebsten zur Schullektüre machen, wobei wahrscheinlich die älteren Generationen es nötiger haben als die Kinder und Jugendlichen.

Eine wirklich gute, leicht verständliche Einführung in das Thema. Miriam Rosenlehner lädt Menschen ein und macht es ihnen leicht sich mit dem Thema zu beschäftigen. Sie vertritt die optimistische These das wir den Rassismus in zwei Generationen überwinden können und ich möchte diese so gerne und unbedingt glauben.

Es sind die Abwehrhaltungen, die immer wieder verhindern, dass die nichtWeiße Sicht in die Diskussion gelangt. Der Titel „White Fragility“, Weiße Zerbrechlichkeit, beschreibt, wie empfindlich Weiße reagieren, wenn man sie mir ihrem Verhalten konfrontiert. Weiße Zerbrechlichkeit soll darstellen, wie sehr Weiße sich angegriffen fühlen, wenn man ihre Haltungen kritisiert, und wie unglaublich unangenehm es für sie zu sein scheint, sich mit ihren Haltungen zu beschäftigen. DiAngelo folgert daraus, dass es für Weiße einfach unfassbar ungewohnt ist, sich an der Stelle infrage zu stellen, sie nennt das „racial stress“

Das Buch ist dafür ein guter Einstieg und Anfang und ich hoffe es wird zahlreiche Leser*innen finden.

Ich habe das Buch von Miriam Rosenlehner als Rezensionsexemplar erhalten. Meine Meinung hat das aber keinesfalls beeinflusst.

After Sappho – Selby Wynn Schwartz erschienen bei Galley Beggar Press bislang noch nicht auf deutsch übersetzt.

After Sappho ist Selby Wynn Schwartz‘ spannende Neuinterpretation des Lebens einer brillanten Gruppe von Feministinnen, Sapphisten, Künstlerinnen und Schriftstellerinnen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, die um die Kontrolle über ihr Leben, um Befreiung und Gerechtigkeit kämpfen.

Sarah Bernhard – Colette – Eleanora Duse – Lina Poletti – Josephine Baker – Virginia Woolf… dies sind nur einige der Frauen (einige berühmt, andere bisher unbesungen), die die Seiten eines ebenso kämpferischen wie leuchtenden Romans teilen.

A poet is someone who stands on the door sill and sees the room before her as a sea whose waves she might dive through. … A poet is someone who swims inexplicably away from the shore, only to arrive at an island of her own invention.

After Sappho ist die Geschichte von Frauen und Weiblichkeit, von Kreativität, Freiheit und Exzellenz. Und es ist eine Geschichte, die auf provokante Weise Männer fast vollständig ausschließt. Es handelt sich um das belletristische Debüt von Selby Wynn Schwartz, das bei dem ausgezeichneten Verlag Galley Beggar Press erschienen ist. Schwartz zeichnet das Leben von Frauen in der sapphischen Tradition nach, die gegen Grenzen ankämpften und den Grundstein für die Befreiung zu ihren eigenen Bedingungen legten.

Viele dieser Frauen sind bislang unbesungen, zumindest in unserer männerdominierten Gesellschaft. Schwartz‘ Fokus ist unverkennbar eurozentrisch und deckt den rund 50-jährigen Zeitraum von den 1870er bis zu den 1920er Jahren ab. Die Geschichte wird in Bruchstücken erzählt, was das Bemühen widerspiegelt, eine wiedergewonnene und rekonstruierte Geschichte aus dem Leben von Frauen zu erzählen, die weitgehend unbekannt bleiben. Leserinnen und Leser, die mehr Erfahrung mit feministischer Literatur haben – vor allem solche, die sich mit den Werken farbiger feministischer Schriftstellerinnen auskennen -, werden Schwartz‘ Sichtweise vielleicht als einschränkend oder altmodisch empfinden, ich habe es aber dennoch gerne gelesen und ein paar sehr spannende Frauen entdeckt, mit denen ich mich ausführlicher beschäftigen möchte.

Das geheime Leben der Römer – Michael Sommer erschienen im C. H. Beck Verlag

Willkommen auf der dunklen Seite der römischen Geschichte! Hier erwartet Sie eine mal schrille, mal bedrohliche und immer wieder verstörend vertraute Lebenswelt. Es ist eine Welt des Drogenkonsums, perfider Mordanschläge, obskurer Kulte, mysteriöser Staatsaffären, brutaler Bandenkämpfe und bizarrer Obsessionen. In dieser Szene finden Sie keine sittenstrengen Senatoren und Matronen, sondern treffen auf skrupellose Politiker, in allen Künsten bewanderte Prostituierte, nervenstarke Geheimagenten, geniale Waffenkonstrukteure und kaltblütige Giftmischerinnen. Willkommen in – Dark Rome !

Dem Elementarbedürfnis, ein Stückchen Gewalt über das Unkontrollierbare u erlangen, verdankt Religion ihre Existenz

War Mark Aurel drogensüchtig? Angeblich konsumierte der Philosophenkaiser Opium. Hat Archimedes, der geniale Baumeister aus Syrakus, tatsächlich eine Superwaffe konstruiert? Und tagte gar eine Geheimloge in der unterirdischen Basilika, die Archäologen in Roms Unterwelt entdeckt haben? Diese und viele weitere Rätsel erwarten die Leserinnen und Leser von Dark Rome – einer ebenso wilden wie faktenreich und spannend erzählten Sittengeschichte der römischen Welt. So stößt, wer in den Abgründen des römischen Imperiums schürft, gelegentlich auf Bleitäfelchen: Am richtigen Ort vergraben und mit der richtigen Fluchformel versehen, konnte man mit schwarzer Magie versuchen, unliebsame Zeitgenossen in den Orkus zu schicken. Eilige wählten für solche Anlässe lieber ein Pilzgericht wie beispielsweise Agrippina, die Gattin des Kaisers Claudius, die ihren Gemahl mit seiner Lieblingsspeise zu einem Gott machte (böse Zungen behaupten, er habe es im Jenseits nur zu einer Karriere als Kürbis gebracht …).

Was Mord aus politischen Motiven betrifft, so könnten selbst Despoten unserer Tage noch von den alten Römern lernen. Diese setzten bei Bedarf ihre Gegner – wie es etwa Sulla, Octavian und Marcus Antonius taten – einfach auf sogenannte Proskriptionslisten, so dass jeder die Vogelfreien straffrei töten und sich an ihrem Vermögen gütlich tun konnte.

Die Kunst der Renaissance – Andreas Tönnemann erschienen im C. H. Beck Verlag

In der Kunst der Renaissance spielten die Nachahmung der Antike und ein mächtiger Innovationsgeist auf faszinierende Weise ineinander. In Florenz und den italienischen Fürstentümern, in Rom und Venedig entstanden auf den Gebieten der Malerei, Skulptur und Architektur Werke von bis heute ungebrochener Anziehungskraft. Andreas Tönnesmann gibt einen anschaulichen und kompetenten Überblick über die reiche Kunst der italienischen Renaissance, ihre Anverwandlung in Frankreich und die besonderen Wege der Renaissance im übrigen Europa.

Sprezzatura, unangestrengte Formvollendung, gewinnt hier als höfisches Verhaltensideal der Epoche greifbare Gestalt

Brideshead Revisited – Evelyn Waugh auf deutsch unter dem Titel Wiedersehen mit Brideshead im Diogenes Verlag erschienen, übersetzt von pocaio.

Charles Ryder befreundet sich in Oxford mit Sebastian Flyte und widmet fortan sein Studium mehr den Drinks als den Büchern. Als Sebastian ihn nach Brideshead in sein prächtiges Zuhause einlädt, ist Charles fasziniert von der exzentrischen aristokratischen Familie, die ihn schon bald als einen der Ihren behandelt. Doch nach und nach erkennt er die Kluft, die ihn von den Flytes trennt: Sie sind geprägt von einer Moral, in der sich Pflichtgefühl und Begehren, Glaube und Glück im Wege stehen. Halb Beteiligter, halb Chronist, erzählt Charles Ryder von seinen Besuchen in Brideshead, von einer trügerisch leuchtenden, scheinbar unbekümmerten Welt – die schließlich unterging und nichts als verbrannte Erde zurückließ.

Sometimes, I feel the past and the future pressing so hard on either side that there’s no room for the present at all.

Ein Roman für Fans von Dead Poet Society oder The secret history und alle die ein Herz für exzentrische Dandys haben. Ein bisschen viel religiös-katholisches Geschwurbel aber ansonsten ein großartiger Roman den ich sehr sehr gerne gelesen habe und ich freue mich schon darauf, mir jetzt die Verfilmung anzusehen.

The Loved One – Evelyn Waugh auf deutsch unter dem Titel „Tod in Hollywood“ im Diogenes Verlag erschienen übersetzt von Andrea Ott

Dennis Barlow, junger Dichter und Drehbuchautor a.D., ist einstweilen Tierfriedhof-Angestellter in Los Angeles. Als sein älterer Freund, von den Studios entlassen, Hand an sich legt, lässt Dennis Barlow ihn in Hollywoods Bestattungsparadies »Gefilde der Seligen« bestatten. Neben dem Telefon stand eine Vase mit Rosen; ihr Duft wetteiferte mit dem Karbol, obsiegte aber nicht. Dort lernt er auch die Leichenkosmetikerin Aimée Thanatogenos kennen, die ihrerseits ein Auge auf Mr. Joyboy, den hauseigenen Meister der Einbalsamierungskunst, geworfen hat. In seiner rasanten Satire nimmt Waugh nicht nur die Filmbranche aufs Korn, sondern auch das Geschäft mit dem Tod und die kulturelle Unbedarftheit Amerikas.

They are a very decent, generous lot of people out here and they don’t expect you to listen. Always remember that, dear boy. It’s the secret of social ease in this country. They talk entirely for their own pleasure. Nothing they say is designed to be heard.

Wow puh das war ein voller Monat. Ich hoffe ihr konntet überhaupt durchhalten bis zum Ende? Ist irgendwas dabei auf das ich euch Lust machen konnte? Oder habt ihr das eine oder andere schon gelesen? Ich freue mich sehr auf eure Rückmeldungen und hoffe ihr schaut auch im Oktober wieder vorbei, wenn es der Jahreszeit entsprechend wunderbar dunkel-düster wird.

Lektüre Dezember 21 + Januar 22

A Tale of Two Cities – Charles Dickens, Penguin

Das war mal wieder eine tolle gemeinsame Leseaktion unter dem #Dickens2Cities auf Twitter mit meinen wunderbaren Mitstreiter:innen Miss Booleana (ihre großartige Rezension des Buches könnt ihr hier lesen), Jana vom Blog Wissenstagebuch sowie Matthias alias @_quoth_ 

It was the best of times, it was the worst of times, it was the age of wisdom, it was the age of foolishness, it was the epoch of belief, it was the epoch of incredulity, it was the season of light, it was the season of darkness, it was the spring of hope, it was the winter of despair.

Verbundensein – Kae Tempest, Suhrkamp Nova übersetzt von Conny Lösch

Kae Tempests erster großer Essay ist zugleich intimes Selbstporträt, hellsichtige Zeitdiagnose und mitreißendes Plädoyer für mehr Selbstsorge, Empathie und Gemeinsinn.

Mitgefühl ist, wenn man nicht vergisst, dass jede:r eine eigene Geschichte hat. Viele Geschichten. Und daran denkt, Raum zu schaffen, um sich die Geschichte anderer anzuhören, bevor man seine eigene erzählt.

A Gentleman in Moscow – Amor Towles, Windmill Books auf deutsch erschienen unter dem Titel Ein Gentleman in Moskau im Ullstein Verlag

Moskau, 1922. Der genussfreudige Lebemann Graf Rostov wird verhaftet und zu lebenslangem Hausarrest verurteilt, ausgerechnet im Hotel Metropol, dem ersten Haus am Platz. Er muss alle bisher genossenen Privilegien aufgeben und eine Arbeit als Hilfskellner annehmen. Rostov mit seinen 30 Jahren ist ein äußerst liebenswürdiger, immer optimistischer Gentleman. Wurde im Bookclub fast einstimmig geliebt, hat mir sehr sehr gut gefallen.

If a man does not master his circumstances then he is bound to be mastered by them

Das Dorf der toten Seelen – Camilla Steen, Harper Collins, übersetzt von Nina Hoyer

Alice Lindstedt hat gerade die Filmhochschule in Stockholm abgeschlossen und plant, ihren ersten Dokumentarfilm zu drehen: über Silvertjärn, einen abgelegenen Grubenort im Wald von Norrland in dem vor 60 Jahrenunter ungeklärten Umständen alle Bewohner von einem Tag auf den anderen verschwinden. Tolle Atmosphäre, nicht wahnsinnig spannend, aber ich könnte es mir ganz gut als Film vorstellen.

A Haunted House – Virginia Woolf, Triad Grafton

A Haunted House ist eine 1944 erschienene Sammlung von 18 Kurzgeschichten von Virginia Woolf. Sie wurde von ihrem Ehemann Leonard Woolf nach ihrem Tod produziert, obwohl er im Vorwort erklärt, dass sie die Produktion gemeinsam besprochen hatten

Safe, safe, safe,” the heart of the house beats proudly. “Long years—” he sighs. “Again you found me.” “Here,” she murmurs, “sleeping; in the garden reading; laughing, rolling apples in the loft. Here we left our treasure—” Stooping, their light lifts the lids upon my eyes. “Safe! safe! safe!” the pulse of the house beats wildly. Waking, I cry “Oh, is this your buried treasure? The light in the heart.

Wie soll ich leben: oder das Leben Montaignes – Sarah Bakewell, Beck Verlag übers. von Rita Seuß

Lebe den Augenblick! – Philosophiere nur zufällig! – Bedenke alles, bereue nichts! – Mit diesen und anderen Antworten auf die eine Frage „Wie soll ich leben?“ führt Sarah Bakewell durch das ungewöhnliche Leben des Weingutbesitzers, Liebhabers, Essayisten, Bürgermeisters und Reisenden Michel de Montaigne. Dabei gelingt ihr das Kunststück, ihn ganz im 16. Jahrhundert, im Zeitalter der Religionskriege, zu verorten und gerade dadurch für unsere Zeit verständlich zu machen. 

The trick is to maintain a kind of naïve amazement at each instant of experience – but, as Montaigne learned, one of the best techniques for doing this is to write about everything. Simply describing an object on your table, or the view from your window opens your eyes to how marvelous such ordinary things are. To look inside yourself is to open up an even more fantastical realm.

Tyrant: Shakespeare on Power – Stephen Greenblatt, The Bodley Head auf deutsch erschienen unter dem Titel Der Tyrann im Siedler Verlag

Wie kann es sein, dass eine große Nation in die Hände eines Tyrannen fällt? In seinen Dramen – von „Richard III.“ bis „Julius Cäsar“ – hat sich William Shakespeare immer wieder mit diesen Fragen beschäftigt und vom Aufstieg der Tyrannen, von ihrer Herrschaft und ihrem Niedergang erzählt. Stephen Greenblatt, einer der renommiertesten Shakespeare-Experten unserer Zeit, zeigt uns, wie präzise und anschaulich der Dichter aus Stratford das Wesen der Tyrannei eingefangen hat – und wie erschreckend aktuell uns dies heute erscheint.

Populism may look like an embrace of the have-nots, but in reality it is a form of cynical exploitation. The unscrupulous leader has no actual interest in bettering the lot of the poor. Surrounded from birth with great wealth, his tastes run to extravagant luxuries, and he finds nothing remotely appealing the lives of underclasses… But he sees that they can be made to further his ambition.

Will in the World – Stephen Greenblatt, Pimlico auf deutsch erschienen unter dem Titel „Will in der Welt“ im Pantheon Verlag

Shakespeare ist wohl der bekannteste Dramatiker aller Zeiten, doch über sein Leben wissen wir so gut wie nichts. Kein Brief blieb von ihm erhalten, wir kennen nur ein paar dürre Lebensdaten, vereinzelte Schriftsätze aus Prozessen, die er betrieb – und ein überaus nüchternes Testament, in dem er seiner Frau sein zweitbestes Bett vermacht. In seiner hochgelobten Biographie versucht Stephen Greenblatt mit detektivischem Scharfsinn, die Lücken dieser Lebensgeschichte zu füllen und hinter das Geheimnis zu kommen, wie aus einem talentierten Jungen aus einer englischen Kleinstadt der größte Dramatiker aller Zeiten werden konnte, kurz: wie Shakespeare zu Shakespeare wurde.

The Elizabethan Renaissance – A. L. Rowse, Macmillan

Die elisabethanische Renaissance ist ein Beitrag zur Sozialgeschichte und porträtiert das Leben der einzelnen Klassen vom Hof abwärts – Adel, Adelige, Mittelstand, Landbevölkerung – und ihre bewusste oder unbewusste Mentalität, die ihre Lebensweise mit ihrer Folklore und ihrem Glauben, ihren Bräuchen und ihrem Sport prägte.

The Scotch ambassador, Melville, saw well enough that her (Elizbeth I) deepest passion was to rule and that she would never give herself a master – as any sixteenth-century woman did by marrying.

Die europäische Renaissance – Peter Burke, Beck Verlag, übersetzt von Klaus Kochmann

Von den Anfängen um 1330 bis zu den Ausläufern rund drei Jahrhunderte später erzählt dieses Buch die Geschichte der Renaissance. Peter Burke führt den Leser darin zu den großen Schauplätzen der Epoche von Italien bis in den europäischen Norden, er porträtiert ihre großen Protagonisten von Petrarca bis zu Kepler und Shakespeare, und er zeigt mit genauer Beobachtungsgabe Kräfte und Tendenzen einer einzigartigen kulturellen Bewegung.

Die Stellung der Frau wurde in der Renaissance weniger randständig als zuvor. Zwei italienische Anthologien aus der Mitte des 16. Jahrhunderts … widmeten sich ausschließlich den literarischen Arbeiten von Frauen.

Das Geheimnis von Shadowbrook – Susan Fletcher übersetzt von Marieke Heimburger, Insel Verlag

Im Sommer 1914 wird die junge Botanikerin Clara Waterfield von London nach Gloucestershire gerufen: Sie soll auf einem Landsitz namens Shadowbrook den Aufbau eines Gewächshauses mit exotischen Pflanzen aus den Kew Gardens betreuen. Doch das alte, mit Glyzinien bewachsene Wohnhaus wirkt seltsam abweisend, die meisten Räume stehen leer oder sind verschlossen, der Eigentümer Mr. Fox ist viel auf Reisen. Haushälterin und Dienstmädchen wirken verängstigt – denn nachts scheint es im Haus zu spuken. 

Das waren zwei großartige Lesemonate. Ich habe die ruhige Zeit zwischen den Jahren sehr genossen. Kennt ihr etwas von den Büchern oder habt ihr vielleicht Lust bekommen auf das Eine oder das Andere?

Kleine gemischte Tüte

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Carolin Emckes „Wie wir begehren“ ist zugleich eine biografische Erinnerung, als auch ein Essay, in dem sie den Fragen nachgeht, die ihr im Laufe ihres Lebens immer wieder begegnen. Es sind Fragen, die aus den Erfahrungen der Autorin entstanden sind, aus ihren Entscheidungen und aus dem, was sie sagt und was sie verschweigt.

Gekonnt verknüpft sie persönliches mit politischem, sie berichtet von ihrem Alltag als Journalistin in Krisen- und Kriegsgebieten, während sie ihren persönlichen Hintergrund stets aufs neue beleuchtet, hinterfragt, wieviel Ehrlichkeit und Authentizität der jeweiligen Situation angemessen ist und auch, wieviel davon ihre eigene und die Sicherheit ihrer Übersetzer und Weggefährten etwa gefährdet.

Mich hat die Geschichte des offensichtlich schwulen Übersetzers in Gaza sehr berührt. Wie schwierig es war zu ahnen, ob andere eine Ahnung davon hatten oder er selbst eigentlich von seinem Schwulsein wusste.

„Wer den Normen entspricht, kann es sich leisten zu bezweifeln, dass es sie gibt“

„Wie wir begehren“ ist eine komplexe, nachdenkliche, artikulierte Lektüre. Das erforscht anschaulich die menschliche Psyche und die Beziehung zu ihren eigenen Wünschen.

Emcke untersucht die soziale Dynamik des Begehrens und der Identität (Wir sind nicht nur das, was wir sein wollen, wir sind auch das, was andere aus uns machen), die Quelle der Entstehung des Begehrens, die Form, die es annimmt, die Art und Weise, wie es entsteht und ausgedrückt wird.

„Es war die Arroganz ihrer Klasse, die eingeübte Herablassung, die sich als schützend erwies für diese Jungen, weil sie der psychischen Ungleichheit der Erwachsenen-Kind-Relation eine andere, mächtigere Ungleichheit gegenüberstellte.“

Ab und an habe ich den roten Faden etwas verloren und die musiktheoretischen Abstecher hätten etwas kürzer sein dürfen, aber insgesamt ein sehr interessanter Einblick in das Entdecken und Wiederentdecken der eigenen Identität und des Begehrens.

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Ein unerbittlicher Strom von Wahlmöglichkeiten konfrontiert uns ständig, und doch bietet uns unsere Kultur nicht wirklich Möglichkeiten, uns zu entscheiden. Das Dilemma scheint unvermeidlich, aber tatsächlich ist es relativ neu. Im mittelalterlichen Europa war die Stimme Gottes die zentrale Kraft, im antiken Griechenland stand gar ein ganzes Pantheon strahlender Götter bereit, um den Menschen als Vorbilder zu dienen. Können in unserer Kultur, in der der Glaube an Gott nicht mehr selbstverständlich ist, trotzdem noch mit den homerischen Stimmungen des Staunens und der Dankbarkeit in Berührung kommen und uns von den Bedeutungen leiten lassen, die sie offenbaren?

„Wenn Wallace damit recht hatte und falls es genau diese kulturelle Konstellation ist, auf die er so ungemein sensibel reagierte, dann bedeutet sein Selbstmord sehr viel mehr als den Verlust eines einzelnen talentierten Menschen. Dann ist er eine Warnung, die unsere höchste Aufmerksamkeit erfordert – ein Kanarienvogel in der Kohlemine unserer modernen Existenz, der vor tödlichen Gasen warnt.“

Die Autoren von „Alles, was Leuchtet“ glauben das zumindest. Hubert Dreyfus und Sean Dorrance Kelly beleuchten einige der größten Werke des Westens, um zu identifizieren, wie wir unsere leidenschaftliche Auseinandersetzung mit der Welt und unsere Empfindsamkeit verloren haben. Ihre Reise führt uns vom Wunder und der Offenheit des Polytheismus Homers, zum Monotheismus Dantes, von der Autonomie Kants zu den vielfältigen Welten Melvilles und schließlich zu den spirituellen Schwierigkeiten, die von modernen Autoren wie David Foster Wallace und Elizabeth Gilbert heraufbeschworen werden.

Dreyfus, seit vierzig Jahren Philosoph an der University of California, Berkeley, ist ein origineller Denker, der in den klassischen Texten unserer Kultur eine neue Relevanz für das Alltagsleben der Menschen findet.

Die Schlussfolgerungen, zu denen die Autoren kommen, sind durchaus interessant – wir fühlen uns am Lebendigsten, wenn wir uns auf eine Aktivität einlassen, die uns über uns selbst hinaushebt. Dies geschieht oft im Sport, wenn wir „im Flow“ sind. Die „Götter“ rufen uns auf, unsere Sensibilität zu kultivieren, und das Staunen nicht zu verlieren.

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Die „Mary Russell“ liegt 1823 im kleinen Hafen von Cove vor Anker. Sie ist kein gewöhnliches Schiff, sondern Gegenstand einer Untersuchung und wilder Spekulationen: In der Kabine liegen die Leichen von sieben brutal geschlagenen Männern, der Kapitän ist verschwunden. Der Forschers und Predigers William Scoresby und dessen Schwager machen es sich zur Aufgabe, die Überlebenden zu befragen und anhand der Zeugenaussagen eine Idee davon zu bekommen, warum und vor allem von wem die sieben Matrosen getötet wurden.

Nach und nach fügen sich die zunächst widersprüchlich erscheinenden Augenzeugenberichte zu einem halbwegs passenden Puzzle zusammen – oder war alles doch vielleicht ganz anders, als es auf den ersten Blick scheint?

Alexander Pechmann trifft in diesem modernen Schauerroman wunderbar den Ton eines im positiven Sinne altmodischen Abenteuerromans, der sich gut in die Gedankenwelt der Menschen im 19. Jahrhundert hineinversetzen kann, eine Welt, in der der Wille Gottes selbst vor Gericht noch Gewicht hatte.

„Morley und ich froren ebenfalls wie verlorene Seelen, doch wollte ich mir nichts anmerken lassen und bat lediglich einen der Schiffsjungen darum, meine Pfeife rauchen zu dürfen, die mir schon in schlimmeren Situationen Wärme und Trost gespendet hat. Da keiner der anderen Männer an Deck erschienen war, befanden sich inzwischen wohl alle in der Gewalt des Käptns und unter der Aufsicht der drei Jungs, die keine Fesseln trugen, sondern bewaffnet mit ner Harpune, nem Kappbeil und nem Dreizack an Deck patrouillierten.“

Mit 161 Seiten ist es ein kompaktes, aber sehr unterhaltsames Lesevergnügen. Man ist sofort mitten im Geschehen und ist gemeinsam mit den beiden „Ermittlern“ am spekulieren, was nun wirklich passiert sein könnte. Das Ganze ist mehr psychologische Studie als Krimi, was der Spannung aber keinen Abbruch tut.

Ein wunderbarer kleiner Roman für Liebhaber von Abenteuergeschichten à la Jack London, von Meutereien, Geheimnissen und Seebären.

Welches Buch darf es also sein für dich sein? (hier bitte Herzblatt Stimme vorstellen:) Möchtest du mit Carolin Emcke über die Begierde diskutieren, mit den Herren Dreyfus und Kelly den Sinn des Lebens in großer Literatur suchen oder doch lieber mit Alexander Pechmann in See stechen und Abenteuer erleben?

Short and Sweet

Es wird mal wieder Zeit für eine Short and Sweet Session, jedes Einzelne der Bücher hätte eine ausführliche Rezension verdient, die Binge Readerin ist aber zu faul und möchte ihren Stapel wegbekommen, daher hier kurz und knackig die Kurzrezensionen der gelesenen und bisher noch nicht rezensierten Bücher der letzten Wochen.

Ich lasse dem wunderbaren Dandy Fritz J Raddatz den Vortritt, dessen Erinnerungen „Unruhestifer“ mich sehr begeistert haben. Habe ihn ehrlich gesagt erst seit kürzerer Zeit auf dem Radar, ausgelöst meine ich durch ein Interview in „druckfrisch“ vor ein paar Jahren, aber wow – was für eine spannende Persönlichkeit.

Er war meine passende Reisebegleitung nach Hamburg.

Raddatz

Seine Erinnerungen sind eine actionreiche, glamouröse Tour de Force durch den Kulturbetrieb der BRD. Der ehemalige Programmchef des Rowohlt-Verlages und ehemalige Feuilleton-Chef der Zeit hat als Literaturkritiker, Autoren-Entdecker und Feuilletonist überall mächtig Staub aufgewirbelt und kein Stein auf dem anderen gelassen. Für mich waren insbesondere der Anfang, seine Wurzeln, Familienhintergründe und seine späten Erinnerungen von besonderem Interesse, da ich doch mit einigen Namen aus dem früheren Kulturbetrieb nicht wirklich etwas anfangen konnte. Herr Raddatz schaut dem Feuilleton unter den Rock und wir ihm voyeuristisch dabei über die Schulter. Unbedingt kaufen und lesen.

„Unsere Beziehung, die wir – und wir beide wissen, warum – sachlich gehalten haben, weil Nähe nur aus Distanz möglich ist, weil man sich nicht duzt, wenn man sich per Sie näher ist – diese Beziehung sollte erlauben, auch spontan für den anderen da zu sein, ohne sich Intimitäten breit auszuwalzen.“

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Von meiner entzückenden Buchmessen-Begleiterin Birgit von Sätze und Schätze habe ich kürzlich passenderweise Raddatz‘ „Bestarium der deutschen Literatur“ geschenkt bekommen, das bot sich natürlich gleich als Anschlusslektüre an. Die literarischen Fabeltiere der Gegenwartsliteratur sind ausgesprochen charmant und die Zeichnungen von Klaus Ensikat absolut meisterhaft.

Jane Jacobs – The Godmother of the American City ist die legendäre Autorin des einflussreichen Buches „The Death and Life of Great American Cities“ das seit seinem Erscheinen 1961 ununterbrochen wieder verlegt wurde und die maßgeblich Einfluss auf die Disziplinen Stadtplanung und städtische Architektur genommen hat.

jane Jacobs

In der „Last Interview„-Reihe umfasst ihre Interview aus den Jahren 1962, 1978, 2001 und das letzte aus dem Jahr 2005.  Die Gespräche beleuchten die einzigartige Karriere der beliebten und einflussreichen Intellektuellen und Aktivistin, die sich schon in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts für eine organische nachhaltige Stadtplanung eingesetzt hat.

Jane Jacobs ist in Deutschland noch recht unbekannt, als Einstieg kann ich diesen Band absolut empfehlen. Eine brilliante Analystin, Ökonomin und politische Kommentatorin, die sich lohnt kennenzulernen.

„Jacobs has probably bludgeoned more old songs, rallied more support, fought harder, caused more trouble, and made more enemies than any other American woman … She is the terror of every politican in town“

Eine unterhaltsame Zugfahrt bereitete mir vor einer ganzen Weile schon Daniel Kehlmanns „F“ – der Roman erzählt von drei Brüdern, die – jeder auf seine Weise – Betrüger, Heuchler, Fälscher sind. Das „F“ hängt von Anfang an schicksalsschwer über ihren Köpfen in Form von Familie, Fälschung, Fehlentscheidungen und das Kapitel mit dem Hypnotiseur war einfach nur brilliant, zum Ende hin ist es etwas abgefallen, aber Kehlmann ist eigentlich immer ein Garant für Unterhaltung auf hohem Niveau.

Kehlmann

„Keiner konnte einem helfen. Kein Buch, kein Lehrer. Alles Entscheidende musste man aus eigener Kraft lernen, und gelang es nicht, hatte man sein Leben verfehlt. Iwan fragte sich oft, wie Leute, die nichts Besonderes konnten, das Dasein eigentlich ertrugen.“

Vladimir NabokovsInvitation to a Beheading“ verkörpert die reichlich bizarre Vision einer komplett irrationalen und absurden Welt. In der März-Lektüre unseres Bookclubs geht es um einen jungen Mann namens Cincinnatus, der in einem nicht genannten Land im Gefängnis sitzt und auf seine Hinrichtung wartet. Seine Begegnungen dort sind komplett irrational und reichen von Henkern, die sich als Gefangene maskieren, bis hin zu phantastischen Gefängniswärtern und künstlichen Spinnen.

Im Inneren des Traumzustandes herrscht jedoch eine gewisse Logik, die der Erzählung seine Glaubwürdigkeit verleiht: Wir glauben, dass in einem totalitären Staat das Schicksal eines Cincinnatus nur allzu real ist. Das erinnert an die Megalomanie der Tyrannen, die ja leider gerade wieder Hochkonjunktur haben.

Nabokov

“But then I have long since grown accustomed to the thought that what we call dreams is semi-reality, the promise of reality, a foreglimpse and a whiff of it; that is they contain, in a very vague, diluted state, more genuine reality than our vaunted waking life which, in its turn, is semi-sleep, an evil drowsiness into which penetrate in grotesque disguise the sounds and sights of the real world, flowing beyond the periphery of the mind—as when you hear during sleep a dreadful insidious tale because a branch is scraping on the pane, or see yourself sinking into snow because your blanket is sliding off.”

Die Angst eines Sträflings in der Todeszelle wirkt unglaublich beklemmend und man teilt seine Unglauben über seine Umstände, seine Reue für nicht wirklich begangene Verstöße und Misserfolge und seine falsche Hoffnung auf Rettung. Wenn Cincinnatus am Ende auf dem Weg zur Hinrichtung ist, lässt er seinen Henker durch die Kraft seiner Gedanken verschwinden und mit ihm zerfällt die gesamte Welt um ihn herum. Oder nicht?

Cincinnatus hätte sich sicherlich gut mit Kafkas K oder Figuren aus Becketts Stücken verstanden, das Absurde hat nicht jedem in unserem Bookclub zugesagt, auf die wunderschöne Sprache Nabokovs konnten wir uns hingegen absolut einigen. Ich kam aus dem Unterstreichen gar nicht mehr hinaus. „Lolita“ ist nach wie vor mein absoluter Lieblingsroman von Nabokov, aber dieses kleine Büchlein hat es absolut in sich – große Empfehlung von mir.

“What are these hopes, and who is this savior?” “Imagination,” replied Cincinnatus.”

  • Fritz J. Raddatz – „Unruhestifter“ ist im Ullstein Verlag erschienen
  • Fritz J. Raddatz – „Bestarium der deutschen Literatur“ ist im Rowohlt Verlag erschienen
  • Jane Jacobs – „The Last Interview“ ist bei Melville House erschienen
  • Daniel Kehlmann – „F“ ist im Rowohlt Verlag erschienen
  • Vladimir Nabokov – „Invitation to a Beheading“ ist auf deutsch unter dem Titel „Einladung zur Enthauptung“ im Rowohlt Verlag erschienen