Auf meiner literarischen Weltreise bin ich jetzt in den Niederlanden angekommen. Ein Nachbarland, das ich seltsamerweise erst einmal besucht habe, das aber ganz oben auf meiner Wunschliste der zu bereisenden Länder steht. Amsterdam vor ein paar Jahren war ein kurzes, intensives Abenteuer – eine fast überfordernde Lebendigkeit ist mir in Erinnerung geblieben und die Mengen an Radler*innen die um mich rum gesaust sind. Doch in den Niederlanden gibt es noch so viel mehr zu entdecken. Utrecht wurde mir immer wieder ans Herz gelegt, und ich bin mir sicher, bei diesem Weltreise-Stopp gibt es einige, die Tipps für Besuche, Bücher, Musik oder Filme haben.

Aber auch wenn dieser Stopp nicht ganz so exotisch ist wie Mauretanien, Afghanistan oder Sri Lanka, war ich dennoch überrascht, wie viel mir Unbekanntes sich bei der Recherche zu diesem Artikel aufgetan hat. Denn die Niederlande sind eines dieser Länder, die einem vertraut vorkommen, obwohl man sie kaum kennt. Windmühlen, Tulpenfelder, Käse, Fahrräder, Coffee Shops – das Bild scheint klar, fast zu klar. Doch dahinter liegt ein Land, das sich immer wieder neu erfindet: pragmatisch, progressiv, eigensinnig und von einer Geschichte geprägt, in der Landgewinn, Welthandel, Kunst und Protest eine erstaunliche Allianz eingehen.
Ich beginne mal direkt mit den vergleichenden Daten:
- Bevölkerung: Rund 17,8 Millionen Menschen leben in den Niederlanden (Stand 2025), also etwa ein Fünftel der deutschen Bevölkerung.
- Fläche: Mit etwa 41.500 km² sind die Niederlande rund ein Neuntel so groß wie Deutschland
(≈ 357.000 km²). - Bevölkerungsdichte: Mit über 500 Einwohnern pro km² gehören die Niederlande zu den am dichtesten besiedelten Ländern Europas – besonders im sogenannten „Randstad“-Gebiet (Amsterdam, Rotterdam, Den Haag, Utrecht).
- Wirtschaft: Die Niederlande sind eine exportstarke Handelsnation – von Hightech bis Agrarprodukten. Sie sind der zweitgrößte Agrar-Exporteur der Welt, trotz ihrer geringen Fläche. Große Sektoren sind Logistik, Chemie, Maschinenbau, Finanzdienstleistungen und ein stark wachsender nachhaltiger Technologiesektor.
Die Geschichte der Niederlande ist eng mit Wasser, Unabhängigkeit und Handel verbunden. Ein großer Teil des Landes wurde dem Meer abgerungen – durch Deiche, Schleusen und geniale Ingenieurskunst. Der ewige Kampf gegen die Flut ist nicht nur geografisch, sondern auch symbolisch: Er steht für Selbstbehauptung und Organisation, für Pragmatismus und Planung.
Im 16. und 17. Jahrhundert stiegen die Niederlande zur globalen Seemacht auf. Die „Goldene Zeit“ brachte Reichtum, Wissenschaft und Kunst hervor – Rembrandt, Vermeer, Spinoza –, aber auch Kolonialismus, Sklavenhandel und Ausbeutung. Wie viele europäische Länder ringt die niederländische Gesellschaft heute mit diesem Erbe: In Museen, in der Bildung, in der Sprache tauchen diese Fragen immer häufiger auf. Der Kolonialismus in Indonesien, Surinam und der Karibik wird nicht mehr verdrängt, sondern zunehmend kritisch aufgearbeitet.
Im 20. Jahrhundert erlebten die Niederlande sowohl die Schrecken der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg als auch den Aufstieg zu einem modernen Wohlfahrtsstaat. In den 1960er- und 70er-Jahren wurden sie zu einem Labor sozialer Reformen: Liberale Drogenpolitik, Abtreibungsrecht, Euthanasiegesetzgebung, gleichgeschlechtliche Ehe – vieles, was anderswo lange tabu war, wurde hier früh gesellschaftlich verhandelt und gesetzlich geregelt. Dieses Bild eines progressiven, offenen Landes prägt den internationalen Blick bis heute, auch wenn sich innenpolitisch zunehmend konservative und rechtspopulistische Kräfte formieren.
Die Niederlande sind ein Land der Vielfalt – nicht nur ethnisch, sondern auch kulturell und sprachlich. Etwa ein Viertel der Bevölkerung hat Migrationshintergrund, viele Menschen stammen aus Indonesien, Surinam, der Türkei, Marokko oder den Antillen. Diese Vielfalt ist Teil des Alltags, aber sie wird nicht selten zum Schauplatz politischer Debatten über Integration, Religion und Identität. Besonders in den letzten Jahren haben Themen wie Islamfeindlichkeit, Rassismus und Wohnungsnot neue gesellschaftliche Spannungen erzeugt.






Auch in Fragen von Klima und Nachhaltigkeit steht das Land vor großen Herausforderungen. Der Meeresspiegel steigt, die Böden sinken, und ein großer Teil des Landes liegt unter dem Meeresspiegel. Trotzdem sind die Niederlande globaler Vorreiter im Bereich Wasserwirtschaft und nachhaltiger Stadtplanung – mit Projekten wie „Room for the River“ oder schwimmenden Stadtvierteln, die zeigen, wie sich Leben und Umwelt in Balance bringen lassen.
Die rechtliche Situation der LGBTQ+ Community ist seit Jahrzehnten vorbildlich: 2001 waren die Niederlande das erste Land der Welt, das die gleichgeschlechtliche Ehe legalisierte. Auch Transrechte wurden in den letzten Jahren weiter gestärkt. Dennoch bleibt Diskriminierung im Alltag ein Thema, vor allem in konservativeren Regionen oder im konservativen religiösen Umfeld – die gesellschaftliche Akzeptanz ist also auch hier kein Selbstläufer.
In der Politik stehen die Niederlande derzeit an einem Wendepunkt. Nach den Parlamentswahlen 2023–24 kam es zu einer Neuordnung, die traditionelle Parteienlandschaften aufbrach. Populistische Bewegungen gewannen an Einfluss, während andere Kräfte versuchen, das Land auf einem Kurs zwischen Liberalismus, ökologischer Verantwortung und sozialem Ausgleich zu halten. Gleichzeitig bleibt die niederländische Demokratie robust – kritisch, debattenfreudig und mit einer aktiven Zivilgesellschaft, die regelmäßig laut wird, wenn es um Gleichberechtigung, Klimaschutz oder Pressefreiheit geht.





Fotos: Unsplash
Oft werden die Begriffe „Holland“ und „Niederlande“ synonym verwendet, was geografisch allerdings nicht ganz korrekt ist. Die Niederlande bestehen aus zwölf Provinzen, von denen Nordholland und Südholland nur zwei sind – wenn auch die bevölkerungsreichsten und wirtschaftlich bedeutendsten, mit Städten wie Amsterdam, Rotterdam und Den Haag. „Holland“ steht also streng genommen nur für diesen westlichen Teil des Landes, hat sich aber im alltäglichen Sprachgebrauch international eingebürgert. Neben dem Niederländischen, das eng mit dem Flämischen in Belgien verwandt ist wird in der Provinz Friesland das Friesische offiziellen Status – eine eigenständige Sprache mit germanischen Wurzeln, die eher dem Englischen als dem Deutschen ähnelt.
Was mich besonders fasziniert an dem Land ist die Verbindung von Bodenständigkeit und Weitblick. Die Niederländer*innen schaffen es, ihr winziges Land zu einem globalen Player zu machen – mit Fahrrädern, Windrädern, Weltoffenheit und einer beeindruckenden Fähigkeit, das Praktische mit dem Visionären zu verbinden.
Jetzt stelle ich euch aber mal das Buch vor, das ich für die Niederlande gelesen habe:
The Safekeep – Yael van der Wouden auf deutsch unter dem Titel „In ihrem Haus“ erschienen im Gutkind Verlag, übersetzt von Stefanie Ochel
Es gibt Bücher, die irgendwie leise daher kommen, sich ganz langsam entfalten – und einen dann völlig überraschen. The Safekeep von Yael van der Wouden war für mich genau so ein Buch: leise, konzentriert, präzise, und plötzlich von einer Wucht, die man nicht kommen sieht. Schon nach wenigen Seiten war klar, dass hier keine gewöhnliche Familiengeschichte erzählt wird, sondern ein vielschichtiges Spiel aus Erinnerung, Schuld und Begehren. In mehrfacher Hinsicht ist dieses Buch etwas Besonderes: Es ist das Debüt der niederländischen Autorin Yael van der Wouden, es wurde ursprünglich auf Englisch verfasst, und sie ist damit die erste niederländische Autorin, die es auf die Shortlist des Booker Prize geschafft hat. Yael van der Wouden wurde 1987 geboren und wuchs in den Niederlanden auf. Sie hat einen israelisch-niederländischen Hintergrund, studierte Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Utrecht und an der Binghamton University in den USA.
Die Handlung führt in die niederländische Provinz Overijssel, in den Sommer 1961. Isabel lebt dort allein in dem Haus ihrer verstorbenen Mutter, umgeben von Dingen, die in penibler Ordnung verharren. Alles ist still, geregelt, kontrolliert – ein Leben, das sich in Ritualen und Routinen festhält. Als ihr Bruder Louis mit seiner neuen Freundin Eva auftaucht und für den Sommer bleibt, gerät dieses fragile Gleichgewicht ins Wanken. Eva ist das genaue Gegenteil von Isabel: lebendig, neugierig, körperlich. Sie bewegt sich durch das Haus, öffnet Türen, betritt Räume, die Isabel lieber verschlossen gehalten hätte. Zwischen den beiden Frauen entsteht eine Spannung, die sich kaum benennen lässt – eine Mischung aus Abwehr, Begehren und schleichender Bedrohung. Was anfangs wie eine stille Familiengeschichte beginnt, entwickelt sich zu einem psychologisch dichten Drama, in dem Schuld, Erinnerung und Verdrängung untrennbar miteinander verwoben sind. Und dann kommt eine Wendung, so unerwartet und doch so konsequent, dass man das Buch für einen Moment zuschlagen möchte, um durchzuatmen.
Was mich an The Safekeep besonders beeindruckt hat, ist die Art, wie Yael van der Wouden Atmosphäre erzeugt. Sie braucht keine spektakulären Szenen oder großen Gesten. Das Unheimliche wächst in der Stille, im Zögern, in einem Blick, der zu lange dauert. Das Haus wird zur Bühne der inneren Zersetzung, ein Ort, an dem Vergangenheit und Gegenwart unmerklich ineinanderfließen. Man spürt in jedem Satz die Spannung zwischen Kontrolle und Kontrollverlust. Van der Wouden schreibt in einer klaren, präzisen Sprache, die an niederländische Stillleben erinnert – jede Bewegung, jedes Detail scheint festgehalten, bis man merkt, dass etwas im Bild verrutscht.
Auch thematisch bewegt sich der Roman auf mehreren Ebenen zugleich. Die familiäre Enge und das unausgesprochene Trauma verweisen auf eine größere historische Dimension: die Nachkriegszeit, die Schatten der Kollaboration, das Schweigen über Schuld. Diese Themen sind nie plakativer Hintergrund, sondern fließen in die private Geschichte ein – in die Art, wie Isabel Dinge ordnet, wie sie mit Erinnerungen ringt, wie sie versucht, das Unheimliche zu bannen. In dieser Verbindung von psychologischer Genauigkeit und geschichtlicher Tiefe liegt für mich die große Stärke des Romans.
Besonders die überraschende Wendung am Ende verleiht der Geschichte eine neue Perspektive, ohne den Zauber oder die Ambivalenz der Figuren aufzulösen. Sie zwingt einen, das Gelesene noch einmal neu zu betrachten, mit anderen Augen.
The Safekeep ist ein außergewöhnliches Debüt – eines, das sowohl literarisch anspruchsvoll als auch emotional tief berührend ist. Es ist ein Roman über Ordnung und das Chaos darunter, über Begehren, das sich nicht benennen lässt, über das, was ein Haus bewahrt, und das, was darin verloren geht. Wer sich auf diese stille, intensive Geschichte einlässt, wird reich belohnt. Für mich zählt sie jetzt schon zu meinen Lieblingsbüchern dieses Jahres.
OK das war eine Menge Text bisher, bei Musik- und Filmtipp halte ich mich daher kurz. Ein Film den ich vor vielen Jahren im Kino sah und an den ich tatsächlich immer wieder mal denke ist „Antonia“ von Marleen Gorris. Muss ich unbedingt mal wieder anschauen!
Überraschenderweise sind mir gar nicht so viele niederländische Bands eingefallen, die ich hier hätte vorstellen können. Eine Gruppe aber, die mich über viele Jahre begleitet hat – und bei der ich sogar einmal live war – ist Within Temptation. Ich habe sie ewig nicht mehr gehört, aber sie waren damals eine meiner ersten Begegnungen mit niederländischer Musik jenseits des Mainstreams. Here you go:
Jetzt seid ihr wieder dran – was verbindet ihr mit den Niederlanden ? Habt ihr Lieblingsorte? Welche Bücher / Filme / musikalischen Tipps habt ihr für mich?
Weitere Romane aus den Niederlanden die ich gelesen habe und empfehlen kann sind:
- Das Tagebuch der Anne Frank – Anne Frank
- Der Virtuose – Margriet de Moor
- Intimacies – Katie Kitamura
- Das Wüten der ganzen Welt – Maarten ‚t Hart
- Die Entdeckung des Himmels – Harry Mulisch
- Das Meisterstück – Anna Enquist
- Frederick – Leo Lionni
Wer noch mal zu den vorherigen Stationen (Sri Lanka, Italien, Trinidad & Tobago, Nigeria, Südkorea, China, Israel, Belarus, Japan, DR & Republik Kongo, USA, Polen, Chile, Afghanistan, Vietnam, Ukraine, Mauretanien, Mexiko) zurückreisen möchte wird in meiner Kategorie „Read around the World“ fündig.


