Stimmen die bleiben: Anna Seghers

Neue Reihe auf dem Blog: Weibliche Stimmen die bleiben

Manchmal bleiben einem Autorinnen ein Leben lang nah – ohne dass man es gleich merkt. Sie schleichen sich ins Herz über eine zufällig entdeckte Erzählung, ein biografisches Detail, ein Ton, der hängen bleibt. In dieser neuen Reihe möchte ich Schriftstellerinnen vorstellen, die mir viel bedeuten – sei es, weil ich mit ihnen aufgewachsen bin, weil ich sie spät entdeckt habe oder weil sie mir das Gefühl geben, dass Literatur eben doch mehr ist als bloß Worte auf Papier, ein Rettungsanker in sich verdunkelnden Zeiten.

Dabei soll es nicht nur um die großen Namen gehen – sondern auch um jene, die heute vielleicht nicht mehr so oder noch nicht so präsent sind, obwohl ihr Werk es verdient hätte, gelesen (und/oder wiederentdeckt) zu werden. Es geht um politische Stimmen, poetische Wahrheiten, radikale Gedanken, leise Töne. Und immer auch um die Frage: Was macht eine Autorin eigentlich bedeutsam – für mich, für uns, für die Gegenwart?

Den Anfang macht eine Frau, die mir nicht nur literarisch nah ist – sondern auch geografisch. Denn wie ich stammt Anna Seghers aus Mainz.

Manchmal begegnet einem eine Autorin im Leben nicht durch Zufall. Bei mir war das so mit Anna Seghers. Als „Meenzer Mädche“ war mir ihr Name schon früh vertraut – allein, weil die Stadtbibliothek ihren Namen trägt. Und obwohl sie lange Zeit für mich irgendwie im Kanon der „Schulpflichtlektüre“ abgehakt war, hat sie sich still und nachhaltig in mein literarisches Herz geschrieben. Mit einem ganz eigenen Ton, zwischen großer politischer Überzeugung und tief persönlicher Verletzlichkeit, zwischen klarer Haltung und innerer Zerrissenheit.

Geboren wurde Anna Seghers 1900 als Netty Reiling in Mainz, in eine wohlhabende, jüdische Familie, die im orthodoxen Glauben verankert war. Dass sie sich früh von Religion lossagte und sich später der Kommunistischen Partei anschloss, wirkt rückblickend wie ein klarer Bruch. Aber gerade in dieser Entscheidung steckt auch etwas ganz Menschliches: der Wunsch, an eine Sache unbedingt glauben zu können – auch dann noch, als dieser Glaube längst Risse bekommen hatte. Der Hitler-Stalin-Pakt von 1939 war ein Schock für viele linke Intellektuelle, auch für Seghers, die sich zeitlebens dennoch nicht öffentlich von der Sowjetunion lossagte. Vielleicht war das politische Festhalten auch Selbstschutz – oder eine Weigerung, sich den eigenen Illusionen stellen zu müssen.

Als Jüdin, Kommunistin und Intellektuelle war sie früh gefährdet. Sie gehörte zu den ersten Autorinnen, die ins Exil gingen. Zuerst floh sie nach Paris, wo ihr Mann, der Ungar László Radványi, jedoch nach dem Einmarsch der Nazis in Südfrankreich interniert wurde. Anna Seghers floh mit ihren beiden Kindern in den unbesetzten Süden Frankreichs, nach Marseille – wo das Bangen und das Warten begannen: auf Papiere, auf eine Ausreisemöglichkeit, auf Rettung. Und dabei war da ständig die Angst vor Bespitzelung. Sie hatte sich nicht – wie andere Exilantinnen – für die Sowjetunion entschieden, sondern für Frankreich und später Mexiko. Und das bedeutete: kein richtiger Schutz, aber auch kein klares Feindbild. Sondern dieses gefährliche Dazwischen.

In Marseille kämpfte sie unermüdlich um die Freilassung ihres Mannes und um Ausreisepapiere. Es war das mexikanische Generalkonsulat unter Gilberto Bosques, das schließlich Hoffnung brachte – nicht nur für sie, sondern für viele Intellektuelle und Verfolgte. 1941 konnte sie mit ihren Kindern an Bord der Capitaine Paul-Lemerle nach Martinique ausreisen. Eine bizarre Fahrt, fast surreal, mit Mitreisenden wie André Breton und Claude Lévi-Strauss – ein Schiff voller Literatur, Theorie und Überlebenswillen. Auf der Weiterreise, als sie mit ihrer Familie New York erreichte und schon die Freiheitsstatue sehen konnte, wurde ihnen die Einreise in die USA unter fadenscheinigen Vorwänden verwehrt. Ein Bild, das hängen bleibt: Freiheit zum Greifen nah – und doch unerreichbar. Die mexikanische Hauptstadt wurde ihr schließlich zur neuen Heimat.

Mexiko wurde aber nie Heimat im eigentlichen Sinne. Der Schmerz blieb: Sie hatte es nicht geschafft, ihre Mutter aus Mainz zu retten. Die alte Frau starb in einem Konzentrationslager, und Seghers hat sich diesen Verlust, diese Schuld, nie verziehen. Es war eine Wunde, die auch durch literarischen Ausdruck nicht verheilte.

In Mexiko engagierte sich Seghers weiterhin politisch: Sie gründete den Heinrich-Heine-Klub, war eine treibende Kraft im antifaschistischen Widerstand im Exil und gab gemeinsam mit anderen die Zeitschrift Freies Deutschland heraus. In dieser Zeit entstand auch ihr bekanntestes Werk: Das siebte Kreuz. Der Roman erschien 1942 parallel in Mexiko (im Exilverlag El libro libre) und in einer englischen Ausgabe in den USA – ein Jahr später wurde er von Fred Zinnemann verfilmt. Die Geschichte eines Häftlings, der aus einem Konzentrationslager flieht, berührte einen Nerv – weltweit. Besonders in den USA wurde der Roman ein großer Erfolg. In einer Zeit, in der ein erheblicher Teil der amerikanischen Bevölkerung noch gegen einen Kriegseintritt der USA eingestellt war, trug Das siebte Kreuz entscheidend dazu bei, die Wahrnehmung des NS-Regimes zu verändern. Der Roman öffnete vielen die Augen – und half mit, die öffentliche Stimmung in Richtung eines entschlossenen Kampfes gegen den Nationalsozialismus zu wenden.

Kurz darauf, 1943, dann der schwere Autounfall in Mexiko. Seghers lag lange im Krankenhaus, erneut zwischen Leben und Tod. Es ist fast sinnbildlich für ihre Biografie – dieses ständige Schwanken zwischen Hoffnung und Bedrohung, zwischen Fortgehen und Festhalten.

Nach Kriegsende kehrte sie nach Europa zurück – nicht ins geliebte Mainz, sondern in die DDR. Sie wurde eine zentrale Figur im Kulturleben des neuen Staates, Präsidentin des Schriftstellerverbandes, eine Stimme des Sozialismus. Doch mit dieser Rolle ging auch ein Schweigen einher – etwa als ihr Verleger Walter Janka in Ungnade fiel und verhaftet wurde. Öffentlich schwieg Seghers. Sie blieb „auf Linie“. Hinter den Kulissen soll sie sich für seine Freilassung eingesetzt haben, aber öffentliches Eintreten? Fehlanzeige.

Und doch war da diese Sehnsucht. Nach Mainz, nach einer verlorenen Kindheit und sicherlich vor allem auch nach ihrer Mutter. Es dauerte bis 1981, ehe sie zur Ehrenbürgerin ihrer Heimatstadt ernannt wurde. Da war sie bereits eine alte, müde Frau. Sie starb 1983 in Berlin.

Anna Seghers war keine einfache Autorin. Keine, die sich auf ein Podest stellen lässt. Aber genau das macht sie so faszinierend. Sie hat geliebt, geglaubt, gezweifelt, gekämpft – und all das findet sich in ihrem Werk wieder.

Volker Weidermann – Brennendes Licht erschienen im Aufbau Verlag

Ein leises, beinahe tastendes Buch über Anna Seghers Zeit im mexikanischen Exil. Weidermann folgt ihr auf ihrer Flucht aus Nazi-Deutschland bis nach Mexiko – und erzählt nicht nur vom äußeren Weg, sondern auch von inneren Rissen. Freundschaften, Erfolge, Zweifel, Sehnsucht: alles ist da, aber nichts wird laut ausgesprochen. Alles bleibt immer irgendwie vage.

Spannend wird es, wenn Weidermann Seghers’ Welt in Mexiko ausleuchtet: der Heinrich-Heine-Club, die Begegnungen mit anderen Exilant*innen, der große Erfolg mit Das siebte Kreuz, der sie plötzlich weltberühmt machte. Und dann der Bruch – der schwere Unfall, die Zeit im Krankenhaus. Und doch wird Seghers später sagen: „Das waren die schönsten Jahre meines Lebens.“ Ein Satz, der hängen bleibt.

Besonders lebendig wird es, wenn er von den Menschen um sie herum erzählt: Kisch, Breton, Lévi-Strauss, über Exil und Eigensinn und furchtbar viel Spitzelei an jeder Ecke. Seghers selbst bleibt oft seltsam entrückt. Und der Stil – kurz, sehr leicht, manchmal fast zu sehr auf Wirkung geschrieben – hat mich ab und an ein bisschen rausgeworfen.

Trotzdem: ein kluges, empfindsames Porträt. Kein Denkmal, eher eine literarische Skizze – mit Licht, aber auch Schatten. Und genau das passt eigentlich ziemlich gut zu Anna Seghers finde ich.

Anna Seghers – Und habt ihr denn etwa keine Träume, Büchergilde Gutenberg


Der Erzählband, erschienen in der Büchergilde Klassik-Edition, ist für mich ein echtes Juwel – gerade weil er auch einige weniger bekannte Texte versammelt. Und ja, es ist keine leichte Lektüre. Die erste Geschichte, Die Ziegler, ist sprachlich fast expressionistisch, sprunghaft, fordernd. Man muss dranbleiben, sich einlassen, durchbeißen. Aber es lohnt sich.

„Der Ausflug der toten Mädchen“ ist sicherlich der emotionale Höhepunkt des Bandes. Die Geschichte bewegt sich zwischen Gegenwart und Vergangenheit, zwischen Erinnerung und Trauer. Seghers verarbeitet darin die Frage was ein junges Mädchen dazu bringt sich mutig gegen das Regime zu stellen und das andere sich dem Bösen hinzugeben. Es ist ein Text, der mich immer noch beschäftigt. Umso eindrücklicher, wenn man weiß, wie sehr er auch in Brennendes Licht reflektiert wird.

„Das Argonautenschiff“ hier schreibt Seghers 1947 in der Ostzone über „Schicksal, Heimat und Bindung“ sowie über die Suche nach einem Weg aus der Existenzkrise. Die Geschichte des Heimkehrers Jason, vormals Anführer der Argonauten, wurde seinerzeit ignoriert beziehungsweise war anscheinend auf Unverständnis gestoßen. Auch wieder keine einfache Kost diese Erzählung.

„Post ins gelobte Land“ erschienen 1944 erzählt sie die Geschichte des Juden Jakob Levi, der vor dem Kriege in Paris als geachteter Augenarzt Dr. Jacques Levi praktizierte.

„Reise ins Elfte Reich“ ist eine satirische Parabel in der Seghers konkrete Erfahrungen ihrer Flucht verarbeitet. Die Zeit der Handlung wird nicht genannt, die Orte der Handlung sind Berlin, das Innere eines zum Elften Reich fahrenden Zuges, die dortige Grenzstation sowie die Hauptstadt dieses fiktiven Landes.

Die 14 Erzählungen sind stilistisch sehr verschieden, von der Groteske über die Hymne bis zum Märchen ist gefühlt alles dabei. Sie erzählen oft von Flucht und Verlorenheit – in vielen Tonlagen. Mit manchen hatte ich durchaus meine Schwierigkeiten: „Wiedereinführung der Sklaverei in Gouadeloupe“ zB oder auch „Auf dem Weg zur amerikanischen Botschaft“, da wäre es ohne Sekundärliteratur gar nicht gegangen, musste mir bei dem Erzählband das eine oder andere Mal auf die Sprünge helfen lassen. Anna Seghers Sprache ist nicht gefällig, aber ehrlich. Kein Pathos, keine Pose. Literatur die man sich erarbeiten muss, die oft verwirrt, auch mal wehtut aber dafür auch mit Figuren und Gedanken belohnt, die einen lange beschäftigen.

Zwei Werke von Anna Seghers verdienen es, am Ende nicht unerwähnt zu bleiben – weil sie ihre literarische Kraft vielleicht am klarsten zeigen und auch den politischen Rahmen ihrer Zeit am eindringlichsten spiegeln: Transit (1944), ein Exilroman zwischen Fluchthorror, Wartesaalgefühl und Identitätsverlust, und Das siebte Kreuz (1942), das wohl bekannteste Werk, das nicht nur durch die Verfilmung weltweite Beachtung fand, sondern auch einfach ein wahnsinnig wichtiges antifaschistes Werk ist.

Beide Bücher werde ich in nächster Zeit (wieder)lesen und auf dem Blog besprechen – weil sie nicht nur literarisch spannend sind, sondern auch helfen, Anna Seghers als Autorin und Mensch besser zu verstehen. Ich würde auch empfehlen eher mit ihren Romanen zu beginnen, die Erzählungen können meiner Ansicht nach schon recht herausfordernd sein.

Transparenz-Hinweis:
Die beiden Bücher „Brennendes Licht“ sowie „Und habt ihr denn etwa keine Träume“ wurden mir im Rahmen einer Kooperation von Bookbot zur Verfügung gestellt. Ich mag an Bookbot besonders, dass man durch das Foto immer genau sieht, welche Ausgabe man tatsächlich bestellt – das ist gerade bei besonderen Ausgaben wie der Büchergilden-Edition für mich ein echter Pluspunkt. Der Bestellvorgang war unkompliziert, die Bücher kamen schnell und genau so an, wie beschrieben. Verkauft habe ich dort bisher noch nichts – aber beim nächsten Regal-Ausmisten ist das fest eingeplant.

Wie geht es euch mit Anna Seghers? Bin sehr gespannt auf eure Rückmeldungen zur Autorin und auch zu der neuen Reihe – ist das etwas was ihr gerne lesen wollt?

11 Kommentare zu “Stimmen die bleiben: Anna Seghers

  1. Anna Seghers hat mich Jahrzehnte begleitet und der Film „Die große Reise der Agathe Schweigert“ bleibt mir nach vielen Jahren in guter Erinnerung.

    Nicht gänzlich gepackt hat mich „Das wirkliche Blau“; die Geschichte ist aktuell in der ARD Mediathek zu hören.

    Ein wenig gelitten hat der positive Eindruck, als ich die Tagebücher von Brigitte Reimann gelesen habe, in denen es am Rande um Anna Seghers, den Schriftstellerverband in der DDR und dessen Politik ging. Doch das nur nebenbei, auch Brigitte Reimann war eine faszinierende Schriftstellerin und von und über die es einiges lohneswertes zu lesen gibt.

  2. Was für eine schöne neue Rubrik!

    Ich muss ja gestehen, dass ich zu Anna Seghers bisher gar keine Berührungspunkte habe, daher hat der erste Beitrag deiner Rubrik schon seinen Zweck erfüllt, Aufmerksamkeit zu schaffen. 🙂 Ich bin gespannt, wen ich dank dir noch entdecken werde.

    • Danke schön – freu mich, dass ich dir Anna Seghers ein bißchen näher bringen konnte und bemühe mich weitere interessante Stimmen zu finden. Ganz liebe Grüße, Sabine 🙂

  3. Pingback: Blogophilie Juli 2025 – Miss Booleana

  4. Danke für die Vorstellung der Bücher! Das siebte Kreuz habe ich als Schüler gelesen, begeistert. Eines der ersten selbstständigen Leseerlebnisse, späterhin Transit. Atemloses Lesen, selbst zuletzt (dieses Jahr) mit den Wirklichen Blau und der Überfahrt, mindestens noch sehr interessanten Texten.

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