Die Glücklichen – Kristine Bilkau

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Wir scheitern immer schöner, aber gelernt sein will es trotzdem. Kristine Bilkau hat in ihrem Roman eine sehr aktuelle, wunderbar treffende Befindlichkeits-Diagnose unserer Gesellschaft erstellt. Bilkau seziert, hält uns den Spiegel vor, tut dies aber mit Wärme und ohne sich lustig zu machen, als eine, die verstehen will und die Wahrheit sucht.

Man kommt der kleinen Familie bestehend aus Isabell, Cellistin, ihrem Mann Georg, Journalist, und deren kleinem Sohn Matti in ihrer Altbauwohnung gleichzeitig sehr nahe und ist doch distanziert. Sie hipstern durch ihr Kinfolk Leben, kaufen ihre Lebensmittel bevorzugt in Manufakturen, kochen vollwertig, nachhaltig ökologisch und bevorzugt mit Mineralwasser, denn das Leitungswasser könnte für den Kleinen zu sehr belastet sein. Ein Leben wie aus dem schönsten Lifestyle-Blog und dann schleicht sich der Abstieg als Zittern verkleidet in den Alltag.

„Er beneidet jeden, der seine Laufbahn hinter sich hat. Laufbahn, Laufen, auf der für ihn bestimmten Bahn, ein Sprint, nein, ein Langstreckenlauf, bei dem ihm jetzt schon die Luft ausgeht. Sein Leben besteht aus Etappen, die vor allem davon geprägt sind: ständig zu spät zu kommen. Zu spät geboren zu sein, um den digitalen Wandel (…) Zu spät, um an seinen Beruf glauben zu dürfen, ohne Angst vor Zahlen und Umstrukturierungen.“

Das Zittern kommt im Orchestergraben, in den Isabell nach ihrer Babypause zurückkehrt und nimmt ihr die Sicherheit und Leichtigkeit ihres Cellospiels. Isabell, die immer fleißig auf ihren Erfolg hingearbeitet hat, bekommt ihr krankhaftes Lampenfieber nicht unter Kontrolle. Sie wird krankgeschrieben, geht zum Orthopäden, versucht es weg zu ignorieren und vor allen Dingen spricht sie nicht mit Georg darüber. Sie verliert ihre Position und wirkt im ersten Moment fast ein wenig erleichtert.

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„Das hier wird nicht bleiben. Kann es nicht. Wer weiß – wir schaffen es vielleicht nicht.“

Als auch Georg kurz darauf entlassen wird aus dem verunsichernden Störgefühl blanke Existenzangst. Beide entfernen sich immer weiter voneinander, finden keine Worte und keinen Trost in ihrer Situation. Das Kind wird von beiden im präzise abgestimmten Alltag versorgt, doch wie beim Staffellauf kommt es auch hier jetzt gelegentlich zu kleinen Störungen. Sie stehen sich beim Wickeln im Wege, wissen nicht genau, wer jetzt das Fläschchen geben soll, wollen beide die einzige wirkliche Aufgabe ncht teilen, die es in ihrem Alltag noch gibt.

„Georg hat keine Antwort darauf, womit er in Zukunft sein Geld verdienen soll, das Gewimmel um ihn herum, die Mails von Kollegen, meine neue Kontaktdaten, machen ihn nervös. Ihnen scheint alles so mühelos zu gelingen, weitermachen, neu anfangen, der nächste Job ist immer der Beste. (…) Etwas stimmt mit ihm nicht. Wenn er an Matthias und die anderen denkt, fühlt er sich kränklich, beschädigt, disqualifziert, und das selbst verschuldet.“

Georg fühlt sich beschädigt ohne Job, wertlos. Ihn ängstigen die immer häufiger eingehenden emails seiner Kollegen mit neuen Kontaktadressen, die es alle anscheinend schnell geschafft haben etwas neues zu finden. Er surft sich durch die Immobilienwelt und träumt sich mit hübschen Häusern und Wohnungen aus seinem eigenen Alltag, will lernen mit ganz wenig auszukommen, legt sich und seiner Familie eiserne Sparmaßnahmen auf und denkt über die Flucht aufs Land nach.

Isabell will nicht sparen, will nicht aufs Land, will ihren Lebensstil nicht aufgeben und versinkt in melchanolischen Dauerschlaf. Sie hat keine Schuld, will diese Trostlosigkeit nicht.

Beide haben Heimweh an eine verloren gegangene behagliche Welt, die es so vielleicht gar nicht wirklich gab. Sie sehnen sich nach Kontinuität, nach „irgendwas das bleibt“. Darum muß er auch zubleiben der Tresor, den sie im Kinderzimmer finden.

Mich hat dieser spröde melancholische Roman sehr bewegt. Die Geschichte geht mir nach. Wo finden wir die Sicherheit, die wir brauchen, wenn so vieles in unserem Leben immer unsicherer wird? Welche Werte sind uns wichtig, wie können wir es lernen die Sicherheit und Beständigkeit in uns selbst aufzubauen, um unabhängiger zu sein von den Veränderungen draußen?

„Er sehnt sich nach einem Ort, den ihm niemand wegnehmen wird. Der ganz ihm gehört, ohne das Gefühl, jetzt ja, später nicht mehr. „

Da spricht er mir aus dem Herzen der Georg. Ein Buch das viele Fragen stellt und dem ich viele Leser wünsche. Ein grandioses Debüt, ich freue mich, dass ich die Gelegenheit hatte Kristine Bilkau im Literaturhaus zu treffen und bin schon jetzt auf ihr nächstes Buch gespannt.

http://literatourismus.net/2015/03/kristine-bilkau-im-interview/

Meine Woche

2066 Gesehen: „The Haunting“ die brilliante Verfilmung von Shirley Jackson’s „The Haunting of Hill House“ – unbedingt ansehen!

Die Ehe der Maria Braun“ von Fassbinder. Muss man mal gesehen haben, große Kunst, aber puh fand ich Frau Braun nervig.

The Second Best Exotic Marigold Hotel“ mit den wunderbaren Damen Dench und Smith. Leichte Unterhaltung die fast garantiert anschleßend im indischen Lieblings-Lokal endet 😉

Gehört: „Für mich, solls rote Rosen regnen – Hildegard Knef (mein Geburtstagslied), „Zebra“ – Beach House, „Says“ – Nils Frahm

Gelesen: diesen Artikel über Margaret Atwood und ihr Buch für die „Library of the Future“, diesen Artikel über die abgefahrensten Fragen an die New York Library und einen Artikel über Rainer Werner Fassbinder

Getan: unseren armenischen Beer Bash in der Firma besucht, in den Geburtstag reingefeiert, gestern den ganzen Tag leider mit Magenkrämpfen auf dem Sofa verbracht, aber getröstet von vielen lieben Anrufen und Geburtstagsgrüßen

Gegessen: diese wunderbaren Mini-Quiches, die noch entschieden besser schmecken, wenn man sie auf dem passenden Geschirr serviert 😉

Getrunken: ein Gläschen Ledaig und Glentauchers – in den passenden schicken Whisky-Gläsern – tolles Geschenk 🙂

Gefreut: dass ich so wunderbare Freunde habe und dazu noch eine großartige Familie Geärgert: der Magen-Darm-Krempel darf jetzt gerne wieder abdüsen

Gelacht: My train of thought derailed. There were no survivors.

Geplant: nix – let’s plan less

Gewünscht: diese Woche Geschenkt bekommen. Sooo viel, wow:
Bücher: Haruki Murakami gleich 3 Stück – Wenn der Wind singt / Pinball 1973, Birthday Stories, The Strange Library W. B. Yeats – Selected Poems, Tania Schlie – Wo Frauen ihre Bücher schreibenBücherwelten – Von Menschen und Bibliotheken, George R. R. Martin – A Game of Thrones, David Whitehouse – Mobile Library, T. C. Boyle – The Harder They Come Ein wunderschöner kleiner 50er Jahre Nierentisch, etwa wie dieser,  Ein Abo für die neue englische Literaturzeitschrift „The Happy Reader„, 2 wunderschöne Teller aus dem Literaturhaus, mein Lieblings-Parfum, eine richtig gute Flasche Bordeaux, Büchergutscheine, selbstgemachte Marmelade und einen Gutschein für ein japanisches Abendessen und dieses sehr passende Tshirt

Gekauft: dieses Tshirt

Gefunden: nix

Geklickt: auf diese Vorträge zur TEDWomen 2015, The Lake Radio – immer wieder spannend und schön und auf dieses Interview mit Toni Morrison

Gewundert: wie zutraulich unser Eichhörnchen Willy mittlerweile ist

Women – Charles Bukowski

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Bukowski lesen ist ein Kurztrip in die Hölle. Ein paar Seiten reichen und ich war einfach nur dankbar, dass ich es nur mit Bildern in meinem Kopf zu tun haben würde, nicht aber noch mit Gerüchen, die aus dem Buch kommen könnte. What a dirty smelly old man – krass!

Wer Bukowski lesen will, muss bereit sein, sich drauf einzulassen, prophylaktisch sollten alle etwaig vorhandenen Stöcke aus dem Hintern entfernt und jegliche ideologische, feministische oder moralische Weltsicht bis zum Ende der Lektüre sorgsam auf Seite deponiert werden.

„Women“ war meine erste Begegnung mit Bukowski und ganz erholt hab ich mich glaube ich noch nicht von der Erfahrung 😉 Auf Seite 15 etwa habe ich mich erst einmal verpisst und mich nach diesem Dialog seinen Gedichten gewidmet:

„Look“, I said, „I know your tragedy.“
„What?“
„I know your tragedy.“
„What do you mean?“
„Listen,“ I said, „just forget it.“
„I want to know.“
„I don’t want to hurt your feelings.“
„I want to know what the hell you’re talking about.“
„O.K., if you give me another drink I’ll tell you.“
„All right.“ Lydia took my empty glass and gave me half whiskey, half-water. I drank it down again.
„Well?“ she asked.
„Hell, you know.“
„Know what?“
„You’ve got a big pussy.“
„What?“
„It’s not uncommon. You’ve had two children.“

Jaaaa, nicht wirklich ein Absolvent der Wiener Charmeschule. Aber die Gedichte, zu denen ich mich dann vorübergehend geflüchtet habe, sind richtig gut. Auch Briefe wie dieser sind Seiten seiner Persönlichkeit,die zeigen, dass er mehr ist als einfach nur ein sexistischer, notgeiler Typ.

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Fast jeder, der „Women“ liest, macht eine ähnliche Erfahrung. Man ist abgestossen und kann es doch nicht weglegen, es ist wie einem Autounfall zuschauen. Nach der siebten oder achten Kotzorgie habe ich wieder mal gedroht, Chinaski in die Ecke zu treten, um dann, gerade als ich es zum Wurf bereit in der Hand hatte, mit einem weiteren kleinen Goldstückchen belohnt zu werden, das in einer Menge Unrat schwamm. Mehr als einmal habe ich mich gefragt „WTF – warum lese ich das?“ und hab dann weitergeblättert.

Wir haben das Buch im Bookclub gelesen (spannende Diskussion auf jeden Fall) und ein E-Reader machte interessante Statistik-Spielereien möglich. „Vomit“ kam nur schlappe 19 mal vor, gefühlt hat er sich für mich auf jeder Seite übergeben 😉 Dafür „Cunt“ glaube ich 38 mal, auch „mount“  und „dick“ waren recht vorn dabei. Hab leider vergessen, mir genaue Daten zu notieren.

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„I never pump up my vulgarity. I wait for it to arrive on its own terms.“

Bukowski beschönigt nichts. Er bezeichnet sich selbst als „dirty old man“ ich möchte ihm da nicht widersprechen. Ob wir wollen oder nicht, wir schauen ihm einfach fasziniert angeekelt zu, wie er sich nochmal übergibt, die nächste Frau besteigt, sich Vodka-Infusionen legt und nach und nach macht sich das Gefühl breit, Bukowski ist das beschissenste und gleichzeitig stellenweise Beste (Gedichte!) was man lesen kann.

„Love is alright for those who can handle the psychic overload. It’s like trying to carry a full garbage can on your back over a rushing river of piss.“

Für Absätze wie diese hat sich die Lektüre für mich definitv gelohnt. Die Gewalt, die Vergewaltigung, seine Lächerlichkeit haben mich oft ziemlich abgestossen. Wenn man weiß, woher er kommt, die tiefen Verletzungen erkennt, die er in der Kindheit erlitten hat, wird einem vieles klarer „Love is a Dog from Hell“.

Ist kein Freifahrtschein, aber ich habe einiges besser verstanden.

Das Buch erschien auf deutsch unter dem Titel „Das Liebesleben der Hyäne“ bei dtv.

Alceste – Christoph Willibald Gluck

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Wer träumt nicht davon, mal in der Oper in der zweiten Reihe zu sitzen, ohne jede Sichtbehinderung und die Sänger und Sängerinnen nicht nur zu hören sondern tatsächlich auch spielen zu sehen? In München meist unbezahlbar und häufig auch gar nicht zu bekommen die Plätze, selbst wenn das Kleingeld dafür da wäre. Das Nationaltheater Mannheim hat es mir bei „Alceste“ möglich gemacht. Was für ein Unterschied zu meinen sonstigen Plätzen und es hat sich so sehr gelohnt.

Wenn ich eines liebe, dann Barockopern. In der 1776 uraufgeführten Oper „Alceste“ von Christoph Willibald Gluck wetteifern zwei, die die große Liebe gefunden haben darum, wer jetzt für wen sterben darf. König Admète liegt im Sterben und seine liebende Frau ist außer sich vor Trauer. Der Oberpriester kennt einen Ausweg: Wenn sich jemand für den König opfert, kann dieser weiterleben. Alceste beschließt, ihren geliebten Mann durch ihren eigenen Tod zu retten – nur wie soll Admète diesen Verlust überstehen?

7712_sth6_alceste_b_premiere09Foto: Nationaltheater Mannheim

Man erlebt ja des öfteren Liebende, die sich streiten, wer jetzt das Abendessen bezahlen darf, aber würde man tatsächlich für den Partner sterben? Schwierige Frage, diese beiden ringen auf jeden Fall heftigst miteinander, wessen Opferfreudigkeit nun größer ist.

Das Bühnenbild und die Kostüme aus der Zeit der Uraufführung sind phantastisch. Das Bühnenbild stellt einen Innenhof dar, im Hintergrund ein großes Tor. Dahinter erzeugen Videoprojektionen den Eindruck weiterer Gänge und Räumen, nur für Alceste und Admète gibt weder Ausgang noch Ausweg aus ihrer Situation. Das Volk schaut dem Seelenspektakel ihrer Herrscher freundlich interessiert zu und bekommt das melancholisch-düstere Ende serviert, das von Anfang an zu erwarten war.

Die Musik ist gelassen, elegant und melancholisch. Ruben Dubrovsky hat Solisten, Chor und Orchester zu einem Gesamtkunstwerk zusammengefügt. Galina Shesterneva hat insbesondere nicht nur stimmlich, sondern auch schauspielerisch überzeugt.  Ein wundervoll düsterer klangprächtiger Abend – ich komme sehr gerne wieder, geniesse die erschwinglichen Ticketpreise, das musikalisch hohe Niveau und im Anschluß gibts dann wieder anspruchsvolle Cocktails im Speicher 7.

Schön ist aber auch, wenn man sich endlich mal ein Programmheft gönnt und es dann, bevor man es überhaupt gelesen hat, mit ’nem Stapel Wäsche in die Maschine stopft – seufz. Ich hätte es durchaus lieber gelesen als es jetzt über Wochen als nervige Mini-Fusseln aus meinen Klamotten zu pflücken.

Meine Woche

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Gesehen: Tod in Venedig von Luchino Visconti – sehr gelungene Verfilmung meiner Lieblingsnovelle von Thomas Mann

Argo von und mit Ben Affleck – Thriller über die tatsächlich stattgefundene geheime Rettungsaktion von sechs amerikanischen Geiseln während der Geiselnahme von Teheran 1979. Unglaublich spannend.

Gehört: Gustav Mahler’s Symphonie Nr 5 Adagietto, Miss Kittin & The Hacker – 1000 Dreams,  Coeur du Pirate – La Petite Mort, Grimes – Go

Gelesen: dieses Interview mit dem Autor von „Geek Sublime“ und „Sacred Games“ Vikram Chandra, diesen Artikel über unterschiedliche Methoden der Bücher-Recherche von David Nicholls, diesen und viele viele andere Artikel auf der Webseite von Jurgen Appelo einem Vordenker in Sachen „New Ways of Working“ den ich sehr schätze

Getan: ein Knoten ist endlich geplatzt und dann eine sehr wichtige Präsentation erstellt, den Buchclub besucht, mit der Schwiegermama über den Hofflohmarkt in Maxvorstadt gewandert, einen Irish Pub besucht und auf einer Geburtstagsparty den Grand Prix geschaut

Gegessen: ein sehr leckeres indisches Thali

Getrunken: Guinness

Gefreut:  über das über 60% „Fuck YEAH“ in Irland beim Referendum
die Hemingway Tasche die ich geschenkt bekommen habe
und St. Pauli hat die Klasse halten – hurrrraaaaaaa

Geärgert: das der Besuch von der Schwiegermama schon wieder so verregnet war und sie hatte sich so auf Steckerlfisch im Biergarten gefreut 😦

Gelacht: Bacteria – the only culture some people have

Geplant: mein Geburtstagspicknick – oder besser gesagt sollte ich mal anfangen zu planen 😉

Gewünscht: diese wunderschöne Licht/Ton-Maschine, dieses Bild und Tickets für Roisin Murphy auf Tollwood

Gekauft: dieses Tshirt und dieses bei Bidges & Sons – ein wirklich unglaublich toller Laden aus St. Pauli
und zwei Bücher und die Zeitschrift Freundin aus dem Jahr 1969 auf dem Hofflohmarkt

Gefunden: 50 Cent

Geklickt: auf die re:publica 15 Webseite um zu sehen was ich alles verpasst habe *heul* – zB Johannes Kleske „Mensch, Macht, Maschine – wer bestimmt wie wir morgen arbeiten

Gewundert: über den Hype um den ESC – das beste sind immer noch die Twitter Kommentare dazu 😉

Alles Licht, das wir nicht sehen – Anthony Doerr

 

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Die Geschichte ist in schönen, poetischen, sehr visuellen und oft knappen Sätzen erzählt, die Kapitel gespickt mit klugen Häppchen und der Erzählfluss wurde durch die häufigen Perspektivenwechsel und Zeitsprünge forsch vorangetrieben. Es gibt drei Charaktere mit unterschiedlichen Sichten und es von Anfang an klar, dass diese drei irgendwann zusammentreffen werden. Wenn sie es dann tatsächlich tun, ziemlich am Ende des Buches, passiert das fast schon zu unaufgeregt und schnell.

Während der Lektüre fühlte ich mich wunderbar unterhalten, es hat Spaß gemacht, ich habe die Sprache genossen, jetzt ein paar Tage nach Beendigung des Buches merke ich, dass ich an ein paar Ecken kritischer sehe. Ich hätte mir bei den Charakteren mehr moralische Komplexität gewünscht. Werner ist zwar entsetzt über die herrschende Brutalität an der Napola, bezieht für sich aber nie klar Stellung, wie er den Nazis gegenüber steht, im Gegensatz zu seiner Schwester, die aber eher eine untergeordnete Rolle im Buch spielt.  Auch Marie Laure kommt nie in eine Situation, in der sie eine wichtige moralische Entscheidung treffen müsste.

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Ich hätte den Protagonisten und der Geschichte insgesamt mehr Ecken und Kanten gewünscht, mir war das alles etwas zu glatt. Hübsch aber zu glatt. Ich habe auch erstaunlich wenige Sätze herausgeschrieben.

Die Atmosphäre im Buch und die Beschreibungen sind wirklich schön. Werner, der Nerd, der alles auseinanderschraubt und wieder zusammensetzt, der Radio-Reparateur des Zollvereins. Der mit seiner Schwester nachts heimlich vorm selbstgebauten Radio kauert und eine wundervoll obskure französische Radiosendung für Jugendliche hört, heimlich unter eine Decke gekuschelt.

Marie, die mit 6 Jahren erblindet, die Tage mit ihrem Vater im Museum verbringt und eine große Leidenschaft für die Naturwissenschaften entwickelt.

Die Mischung aus Radios und kleinen selbstgebauten Städten, Jules Verne, Saint-Malo und die französische Resistance ist klasse, gelegentlich schrappt der Mix ein wenig am Kitsch vorbei, aber im Großen und Ganzen ein Roman, den ich gerne gelesen habe, nur den Pulitzer Preis, den hätte ich ihm wohl nicht verliehen.

„Öffnet eure Augen und seht mit ihnen, was ihr könnt, bevor sie sich für immer schließen.“

Dieses Zitat trifft es vielleicht ganz gut. Das ist ein hübscher Satz, einer der wenigen die ich markiert hatte, aber klingt doch schon ein bisserl nach Kalenderspruch, oder?

Ich würde „Alles Licht das wir nicht sehen“ auf jeden Fall empfehlen und verschenken, aber eher an Teenager oder sehr sehr junge Erwachsene.

Eine weitere Rezension findet ihr hier:

Müdigkeitsgesellschaft – Byung-Chul Han

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Um die Wahrheit zu sagen – das Büchlein hat mich ordentlich gefordert, aber genau das mag ich an Herrn Han. Das ich die Sätze erst marinieren lassen muss, bevor sie langsam zugänglich werden (was vermutlich für Herrn Han spricht, meine intellektuellen Kapazitäten wohl eher schmälert).

Er irritiert mich oft nachhaltig, der aus Seoul stammende und an der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe lehrende Philosoph. Der Rektor dieser Uni ist im Übrigen Herr Sloterdijk, aber das nur am Rande.  Er tut das zum Beispiel, wenn er in der westlichen Welt ein Problem im Übermaß an Positivität zu erkennen glaubt. Erstmal – hmmm? Schneller zugänglicher und nachvollziehbarer ist für mich seine These, dass sich der moderne Mensch in unserer Leistungsgesellschaft zur permanenten Selbstoptimierung gezwungen sieht und sich daher selbst ins Hamsterrad verfrachtet hat. Keine Außenkontrolle, die die Peitsche schwingt, das macht er schon schön selbst mit sich aus, der moderne Mensch.

„Sie (die Depression) bricht in dem Moment aus, in dem das Leistungssubjekt nicht mehr können kann.“

„Die Klage des depressiven Individuums ,Nichts ist möglich’ ist nur in einer Gesellschaft möglich, die glaubt Nichts ist unmöglich.“

Das Buch hat erstaunlichen Erfolg gehabt und war nach kurzer Zeit schon ausverkauft, was insbesondere für ein philosophisches Buch eine echte Leistung ist. Ob beim Titel „Müdigkeitsgesellschaft“ einige beim Kauf einen Burn-Out-Ratgeber erwarteten, kann ich nicht belegen, aber die Vermutung hat sich mir aufgedrängt.

Han beleuchtet in seinem Büchlein die neben den Leitmedien und den Leitkulturen bestehenden Leitkrankheiten unseres Zeitalters. Das bakteriologische Zeitalter endete mit der erfolgeichen Verbreitung von Antibiotika, wir dagegen müssen uns im beginnenden neuronal bestimmten  21. Jahrhundert erst noch erfolgreich nach Heilung umschauen. Unser Zeitalter ist geprägt von Neuro-Erkrankungen: Burn-Out, Depression, ADHS, unterschiedlichsten Angst und Persönlichkeitsstörungen.

Han belegt seine Theorie des neuronalen Zeitalters mit Anekdoten und Beispielen aus der Wirtschaft, der Arbeit, der Politik. Wo es im bakteriologischen Zeitalter um die Bekämpfung eines Feindes von außen ging, sitzt er im neuronalen in uns drin. Dann macht irgendwann auch das Übermaß an Positivität Sinn, von dem er spricht. Die Bedrohung sitzt eben nicht außen, ist nicht im Anderen, sondern liegt an einem Übermaß am Gleichen, für die es keine natürliche Abwehrreaktion gibt. Gegen Hyperaktivität oder Dauerkommunikation gibt es keine Abwehrreaktion des Körpers, wie auch nicht bei einem Zuviel an Zucker oder Fett. Die sind ja kein wirklicher Feind, die werden es erst bei einem Zuviel.

„Nicht-Mehr-Können-Können führt zu einem destruktiven Selbstvorwurf und zur Autoagression.“

„In der freien Wildbahn ist das Tier dazu gezwungen, seine Aufmerksamkeit auf diverse Tätigkeiten zu verteilen. So ist es zu keiner kontemplativen Versenkung fähig – weder beim Fressen noch beim Kopulieren. Das Tier kann sich nicht kontemplativ in sein Gegenüber versenken, weil es gleichzeitig den Hintergrund bearbeiten muss. Nicht nur Multitasking, sondern auch Aktivitäten wie Computerspiele erzeugen eine breite, aber flache Aufmerksamkeit, die der Wachsamkeit eines wilden Tieres ähnlich ist…. Die Sorge um das gute Leben, zu dem auch das gelingende Zusammenleben gehört, weicht immer mehr der Sorge ums Überleben.“

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Sehr spannend ist auch die Idee der positiven Gewalt, die aus uns selbst kommt, zum Beispiel in der Arbeitswelt, wo wir uns von der Disziplinargesellschaft gelöst haben, die mit Stechuhr und Regelbuch regiert und uns in eine Welt manövriert, die auf Eigenmotivation und Eigenverantwortung setzt, wo wir uns selbst als eigene Ich-AG auf dauernde Leistungssteigerung konditioniert haben. Es geht also von der „Negativität des Sollens“ zu einer weitaus effektiveren „Positivität des Könnens“. Auch hier wieder – das Übermaß ist es, worin die Gefahr für das Individuum und die Gesellschaft besteht.

„An die Stelle von Verbot, Gebot oder Gesetz treten Projekt, Initiative und Motivation. Die Disziplinargesellschaft ist noch vom Nein beherrscht. Ihre Negativität erzeugt Verrückte und Verbrecher. Die Leistungsgesellschaft bringt dagegen Depressive und Versager hervor.“

„Das Leistungssubjekt befindet sich mit sich selbst im Krieg. Der Depressive ist der Invalide dieses internalisierten Krieges.“

Das sich selbst ausbeutende Subjekt, das einen Krieg mit sich selbst führt, ist müde und bekommt im Ernstfall Burn-Out oder Depressionen, wenn es gut läuft nur mal einen kräftigen Anfall von FOMO (Fear of missing out). Das „Alles ist Möglich“ hat eben auch eine erschreckende Kehrseite. Wenn es keine „Entschuldigungen“ mehr gibt, weil nahezu jedem fast alle Möglichkeiten offen stehen, dann gibt es eben auch keine Entschuldigungen mehr, wenn es nicht klappt. Wir sind daher permanent dabei, unendlich viele Möglichkeiten zu evaluieren um ja die richtige Entscheidung zu treffen. Was für ein Stress.

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„Der depressive Mensch ist jenes animal laborans, das sich selbst ausbeutet, und zwar freiwillig, ohne Fremdzwänge.“

Byung-Chul Han hat einen spannenden, anregenden häufig kontroversen Essay geschrieben, den wärmstens empfehle.  Und lasst Euch gelegentlichenen von Bartlebys „I would prefer not to“ inspirieren.

In der Zeit war kürzlich auch dieses sehr interessantes Interview mit Byung-Chul Han zu lesen:

http://www.zeit.de/zeit-wissen/2014/05/byung-chul-han-philosophie-neoliberalismus

Ach ja und die coole Bettwäsche im Bild ist im übrigen eine Eigenkreation der zauberhaften Ms Confusion – wer auch so etwas möchte bitte hier entlang 😉

Das Buch ist im Matthes & Seitz Verlag erschienen.

Meine Woche

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Gesehen: Touch of Evil von Orson Welles – ich liebe Film Noir. Sehr empfehlenswert

Coherence – spannender Thriller über ein astronomisches Phänomen das das Leben von 8 Freunden mehr als durcheinander bringt. Schroedingers Katze und so.

Gehört: ∆AIMON – Mirrors Fade, Cold Cave – The Great Pan is Dead, Crystal Castles – Crimewave

Gelesen: diesen Artikel über die Geister die uns verfolgen  und diesen Artikel über Fahrradkuriere in London

Getan: Freunde besucht, Alceste in Mannheim gesehen, eine tolle Cocktailbar entdeckt, im Bus nicht das Kotztütchen benutzt und die Füße vor schleckenden Hundezungen versteckt 🙂

Gegessen: jede Menge leckeren Spargel

Getrunken: Basil Gin im Speicher 7

Gefreut:  über die tollen Plätze in der Oper

Geärgert: das ich meine Sneakers vergessen hatte

Gelacht: über ein schräges Pony

Geplant: Mein Backlog abzuarbeiten

Gewünscht: diese Lampe und diesen Stuhl

Gekauft: ein Tshirt und Flip Flops

Gefunden: nix

Geklickt: auf diesen Artikel von Ursula Krechtel und auf diese Ausstellungsinfo über Louise Bourgeois im Haus der Kunst

Gewundert: wie seekrank man in einem Bus werden kann

Until I Find You – John Irving

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Puh – was war denn hier los? Wurde der Editor von der Mafia entführt, durch Bahnstreiks von seinem Arbeitsplatz ferngehalten oder war Herr Irving eventuell der Meinung er brauche keinen? Dieses Buch hat mich verzweifelt sprachlos zurückgelassen. Ich habe selten einen Roman gelesen, auf den ich mich auf der einen Seite so gefreut habe, weil die ganzen einzelnen Zutaten genau meinem Geschmack entsprechen und der dann so sehr daneben gegangen ist.

Um es gleich vorweg zu nehmen – wer Kritiken nur liest, wenn der Rezensent das Buch auch zu Ende gelesen hat, der kann jetzt den roten Knopf betätigen und hier per Schleudersitz aussteigen. Auf Seite 480 etwa bin ich ausgestiegen  – ich konnte und wollte nicht mehr. Durch Treibsand waten klang zu dem Zeitpunkt nach einem verlockenden Vergnügen!

„Owen Meany“ ist eines meiner Lieblingsbücher. Ich liebe Tattoos, Orgelmusik von Bach und Händel – yes please! und ich habe eine große Affinität zu Büchern, die sich mit schwierigen oder nicht-existenten Kind-Elternteil-Beziehungen beschäftigen. Es hätte wirklich ein perfekt auf mich zugeschnittenes Lesevergnügen werden können, wurde dann aber eine über 800 Seiten andauernde dröge Beweisführung des dem Roman vorgestellten Romans zur Unzuverlässigkeit von Erinnerungen.

„Until I find you“ ist glaube ich der persönlichste und autobiographischste Roman von John Irving und vielleicht liegt genau da das Problem. Es fehlt der Abstand und es fehlt ein guter Editor, der John Irving darauf aufmerksam macht. Der kleine Jack startet mit seiner Mutter Alice, einer Tätowiererin, eine umfassende Suche nach seinem biologischen Vater. Der ist Orgelspieler, ein Tattoo-Fetischist und, was die Damenwelt angeht, kein Kind von Traurigkeit. Nach monatelanger Suche, in dem der Vater ihnen jedesmal um Haaresbreite durch die Lappen geht, kehren sie nach Kanada zurück und geben mehr oder weniger auf.

Wovor auch immer man im Leben die größte Angst hat (Verlustangst z.B.), kommt immer wieder bei allem durch, was man tut und denkt. Man sieht das Leben einfach immer durch diese Brille. Das was uns Angst macht, zeigt wer wir eigentlich sind. Diese Dinge lassen Dich nie wieder los, die kommen immer wieder durch! Das wurde mir klar beim Lesen dieses Romans und das war für mich die wichtigste Erkenntnis aus diesem Buch. Ansonsten fand ich noch alles rund um die Geschichte und die Kunst des Tätowierens spannend. Mit Jack’s Mutter Alice – ja, also mit der wär ich durchaus gerne mal ein Bier trinken gegangen. Eine spannende, vielschichtige Frau und soviel interessanter als Jack, den man irgendwie an der Nabelschnur durchs Leben ziehen musste.

Dieser erste Teil der Suche hat mir gut gefallen, ab da ging es für mich bergab. Selbst die Standardzutaten, die jeden Irving-Roman prägen (Prostituierte, seltsame Sexpraktiken wie Inzest oder obsessives Penishalten, sehr junge Männer mit Hang zu älteren Frauen und Ringen) haben irgendwann einfach nur noch genervt. Wo waren eigentlich die Bären? Kamen die später noch? Bis zu Seite 480, oder wo auch immer ich genau ausgestiegen bin, sind zumindest keine aufgetaucht. Vielleicht hätten die Bären ja noch was gerissen.

“In increments both measurable and not, our childhood is stolen from us — not always in one momentous event but often in a series of small robberies, which add up to the same loss.”

Wie schade. Hatte nach langer Zeit wieder mal Lust auf einen John Irving. „Owen Meany“ ist ein Meisterwerk, ich mochte „The Hotel New Hampshire“, „Cider House Rules“ oder auch Garp, aber diesen (über weite Strecken) editor-freien Schreib-Durchfall äh Unfall, den sollte man idealerweise ganz schnell vergessen. Ich fürchte fast Mr Irving unsere Wege trennen sich hier 😦

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Das Buch ist auf deutsch unter dem Titel „Bis ich dich finde“ im Diogenes Verlag erschienen.