Wenn ich Menschen spannend finde, versuche ich von ihnen zu erfahren, welches Buch sie besonders beeinflusst hat, bei welcher Lektüre sie am meisten gelernt haben. Das finde ich spannend und in vielen Fällen packe ich dieses Buch dann auf meine „To-Read-Liste“. Das kann manchmal ziemlich lange dauern bis ich dazu komme, aber ich vergesse nur in den seltensten Fällen, wer mir das entsprechende Buch und warum empfohlen hat.
Auf einem Kanban-Workshop vor ein paar Jahren hat mir ein Kollege die „Anmerkungen zu Hitler“ empfohlen und noch dazu mit dem Zusatz, es sei eines der Bücher das er und auch seine Frau fast jedes Jahr einmal lesen, das hat mich hinreichend neugierig gemacht. Gekauft war das Buch schnell, aber der „Stapel-ungelesener-Bücher“ ist mittlerweile länger als die chinesische Mauer und hätten wir nicht im Februar eine Aufführung der Otto-Falckenberg-Schule gesehen, es könnte durchaus sein, das es noch eine Weile im Regal geschlummert hätte.
Der Besuch des Theaterstücks hat daher aus mehreren Gründen sein Gutes gehabt. Das 3. Lehrjahr der Falckenberg-Schule hat sich zum 70jährigen Jubiliäum der Schule mit ihrem Namensgeber Otto Falckenberg auseinandergesetzt. Die Schüler begeben sich auf eine Recherche-Zeitreise, beleuchten das Verhältnis der Münchner Kammerspiele unter der Intendanz von Falckenberg von 1917 – 1944 (!) zur Reichstheaterkammer der Nazis.
Die Schüler versuchen, sich Theaterarbeit in der Nazidiktatur vorzustellen, wie sie damit umgegangen wären, wenn ihr Theater 1939 zum Stadttheater von Nazis Gnaden wurden, was gleichzeitig höhere Subventionen, aber auch die Aufführung richtig schlechter Stücke bedeutete. 1944 wurde Falckenberg auf die „Liste der Gottbegnadeten“ aufgenommen (für das Reich unentbehrliche Künstler, die nicht zum Kriegsdienst eingezogen wurden).
Die Schauspielschüler versuchen selbst eine Haltung zu finden, hätten sie gerne unter Falckenberg gespielt oder nicht? Ich mochte die Ehrlichkeit mit der sie beim Schlußvorhang offen darüber abstimmen, ob die Schule umbenannt werden soll oder nicht. Wenn es nach den Schülern geht, dann bleibt es bei der zwischen pro, contro und Enhaltung fast gleich ausgehenden Abstimmung knapp bei Falckenberg. Es war ein sehr spannender, nuancenreicher Abend, der zum weiteren recherchieren und denken anregte und mich dann noch am gleichen Abend zu Haffners „Anmerkungen zu Hitler“ greifen ließ.
Das Büchlein ist eine beeindruckende historische und psychologische Untersuchung des Rätsels Adolf Hitler. Wer war er, wie schaffte er es, an die Macht zu kommen und warum war er im Grunde dazu verurteilt unterzugehen. Haffner untersucht die historischen, politischen und emotionalen Einflüsse, die seinen Charakter formten. Er beschäftigt sich sowohl damit, wieso Politik zu einem Ersatz-Leben für Hitler wurde, als auch seine merkwürdige Beziehung zu Frauen, seine psychologische Entwicklung, die irgendwann einfach nicht weiterging, seine ideologischen Fehleinschätzungen und seine immer größere werdende Obsession in Bezug auf Rasse.
“Hitler legte im Gegenteil den größten Wert darauf, seine Erfolge seiner feindlichen Welt abgetrotzt erscheinen zu lassen; was ihm auch gelang, nicht nur dank seiner totalen Kontrolle der deutschen öffentlichen Meinung, sondern auch dank einer gewissen Prädisposition der deutschen Volksstimmung, die sich solche Triumphe des Trotzes über das verhaßte Versailler System immer sehnt hatte und über außenpolitische Erfolge nur halb so glücklich war, solange sie im Namen der Versöhnung erzielt wurden.”
Zum Ende beschäftigt sich Haffner mit der quälenden Frage, ob ein anderer Hitler im modernen Deutschland wieder eine Chance hätte. Er schrieb das Buch 1979 und meines Erachtens ist das Buch nach wie vor unglaublich aktuell und erkenntnisreich. Ein Buch das jeder gelesen haben sollte. Nicht nur bei der Lektüre des Buches, auch beim Besuch des Theaterstücks wurde einem permanent klar, wie erschreckend tagesaktuell manches klingt.
Sebastian Haffner war ein deutscher Journalist und Autor, der sich hauptsächlich mit der Geschichte des deutschen Reiches von 1871 – 1945 beschäftigte. 1938 emigrierte er aus Nazi-Deutschland nach London, zusammen mit seiner jüdischen Verlobten. Anfangs fast ohne Englischkenntnisse, arbeteite er schon bald für den Londoner „Observer“ und wurde sogar Chefredakteur. Haffner ist ein Pseudonym für seinen eigentlichen Namen Raimund Pretzel, den er annahm, um seine in Deutschland verbliebene Familie zu schützen. 1954 ging er als Korrespondent nach Berlin, wo er bis zum Mauerfall blieb. Er arbeitete auch für die „Welt“ und war regelmässiger Besucher des „Internationalen Frühschoppens“, einer politischen Talkrunde im Fernsehen.
Vermutlich, bin ich eine der wenigen, die dieses Buch erst jetzt gelesen hat, aber falls nicht: Lest dieses Buch. Es ist eingängig geschrieben, versucht Antworten zu finden auf große Fragen und ist dennoch stets differenziert. Falls es nicht schon zur Schullektüre gehört, ich würde es durchaus empfehlen. Ich kann jetzt auch den Kollegen verstehen, Haffners Anmerkungen sind die passende Lektüre, die aktuelle Tagespolitik dagegenzuhalten.
Das Buch erschien im Fischer Verlag.
Ja, unbedingt lesen!
Und auch: „Die Geschichte eines Deutschen“ – wie der Wahnsinn peu à peu Fuss faßt.
Aber eigentlich ist alles von Haffner lesenswert.
Wichtiges Buch, keine Frage. Knapper kann man’s eigentlich nicht mehr zusammenfassen, aber das gelingt Haffner sehr gut.
Viele Grüße,
Gerhard
Mannigfaltiges(Danke!) hatte mir das Buch geschickt, nachdem er meinen Blogbeitrag über Annas Referat „Hitler“ gelesen hatte. Leider hat sich Anna jeder Hilfe verweigert und wollte nur das Netzt befragen. Glücklicherweise hatten wir aber eine Doku über bzw. von Haffner gesehen .mein Kampf mit Hitler.das hat vieles sehr klargemacht. Haffner ist Klasse und deine Besprechung zu dem Buch wird mich jetzt doch sofort das Büchlein vom noch zu lesen Stapel nehmen lassen.
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