November Lektüre

Wieder ein wirklich hervorragender Lesemonat! Dieses Mal sogar noch besser als zuletzt – kein einziger Flop, nicht mal in Sichtweite. Alle Bücher lagen stabil zwischen 4 und 5 Sternen, und jedes einzelne hat mich auf ganz eigene Weise überrascht, bewegt oder begeistert. Würde ich mich für ein „Buch des Monats“ entscheiden müssen, wäre das fast unmöglich, denn die Qualität war durchgehend beeindruckend. Ein paar Favoriten kristallisieren sich trotzdem heraus, aber selbst da trennen sie nur Nuancen.

Hier die Bücher in alphabetischer Reihenfolge – los geht’s:

Balle, Solvej – Über die Berechnung des Rauminhalts II erschienen im Matthes & Seitz Verlag, übersetzt von Peter Urban Halle

If you know, you know. Wer einmal in diese seltsam klar leuchtende Zeitschleife geraten ist, den lässt sie nicht mehr los. Auch der zweite Band knüpft nahtlos an Tara Selters ewigen 18. November an ein Tag, der für alle anderen neu ist, nur für sie nicht. Und doch fühlt sich dieser Band anders an: ruhiger, wacher, fast schon meditativ.

Balle lässt Tara durch Europa ziehen, auf der Suche nach Jahreszeiten, die ihr verwehrt bleiben. Sie ahmt Feiertage nach, jagt Schneeflocken im Norden und Herbstlicht im Süden wie jemand, der verzweifelt versucht, seinem inneren Kalender zu glauben. Besonders stark ist, wie der Roman unsere fixen Erwartungen an Zeit, Wetter, Traditionen auseinandernimmt. Die Idee, dass Jahreszeiten psychologische statt meteorologische Phänomene sind?

Gleichzeitig schleicht sich ein dunklerer Ton ein: Tara als „Monster auf der Wanderschaft“, das die Welt verbraucht, weil nichts wieder aufgefüllt wird. Eine fast schon ökologische Parabel über Konsum, Spuren, Verantwortung – alles verdichtet in einem einzigen, endlosen Tag.

Es ist windstill, und ich denke, es muss die Stille sein, die mich weckt, die Abwesenheit der Geräusche. Das ist sicher so, weil es schneit, aber ich verstehe es nicht, denn wie kann der Schnee Geräusche dämpfen, wenn sowieso alles still ist.

Und dann wieder diese Momente, in denen Tara akzeptiert, dass ihre Zeit nicht fließt, sondern ein Raum ist ein Gefäß, in dem man sich einrichten kann. Vielleicht, weil wir alle unsere eigenen Räume in der Zeit haben, ob wir wollen oder nicht.Vielleicht ist das das Berührendste an diesem Band: die langsame, verletzliche Annäherung an ein Leben außerhalb des Bekannten.

Vielleicht brauchen wir Balle-Zeitreisenden irgendwann ein gemeinsames Erkennungszeichen, mit dem wir rund um die Erde den 18. November feiern. Ich weiß nur eines: Für die nächsten beiden bereits erschienenen Bände warte ich garantiert nicht wieder bis zum 18.11. ich will jetzt mit Tara weiterreisen. Seid ihr auch dabei?

Baltasar, Eva – Mammut erschienen im Schöffling Verlag, übersetzt von Petra Zickmann

Ein Buch wie ein Schlag in die Magengrube – es packt einen total und man weiß gar nicht genau warum, denn es ist roh, sperrig und unangenehm. Eva Baltasar wagt in Mammut etwas radikal Eigenes: Eine Protagonistin, die mit entwaffnender Klarheit weiß, was sie will und gleichzeitig jede Art von menschlicher Nähe verachtet. Zu ihrem 24. Geburtstag plant sie, durch einen One-Night-Stand schwanger zu werden; später flieht sie aus Barcelona, sie löst sich von der Stadt wie von einem alten, unpassenden Mantel um aufs Land zu fliehen, um endlich irgendetwas zu spüren.

Was dann passiert, ist bizarr, düster, manchmal fast satirisch und immer kompromisslos. Baltasar kreeirt eine Figur, die ihr Leben mit kühler Pragmatik in die Hand nimmt und dabei permanent an die Grenzen des Erträglichen stößt – und uns mitreißt, obwohl wir nie ganz greifen können, warum. Genau das macht diese Figur so faszinierend: freundlich und menschenverachtend zugleich, brutal ehrlich, verletzlich ohne Sentimentalität.

Aber: Mammut ist kein Buch für jeden. Die Gewaltszenen besonders die gegenüber Tieren – haben mich abgestoßen, also hier echt mal Trigger Warning. Baltasar zeigt Natur und Mensch als ungeschönt brutal, fern jeder romantischen Dorfidylle. Leben ist hier immer auch Sterblichkeit, ob im Altenheim oder zwischen Schafen, Gicht und Einsamkeit.

Ein verstörendes, eigenwilliges Buch und vielleicht darum ziemlich einzigartig. Es ist der dritte Teil einer Trilogie, die aber komplett unabhängig voneinander gelesen werden kann. Große Empfehlung mit kleinen Abstrichen. Bin auf die anderen beiden Bände „Boulder“ und „Permafrost“ schon sehr gespannt.

Ich danke dem Schöffling Verlag für das Rezensionsexemplar.

Eng, Tan Twan – The House of Doors auf deutsch unter dem Titel das Haus der Türen im Dumont Verlag erschienen, übersetzt von Michaela Grabinger

Auf Tan Twan Engs „The House of Doors“ hab ich mich schon lange gefreut und es hat mich umgehend gepackt mit einer leisen, fast hypnotischen Intensität, die einen unmerklich in eine andere Zeit und Welt zieht. Schon nach wenigen Seiten war ich mitten in der flirrenden Hitze Malaysias, konnte das Rascheln der Palmen hören und den Geruch von Regen und Meer beinahe spüren.

Ich habe eine besondere Schwäche für Romane, in denen Schriftsteller selbst zu Figuren werden – Geschichten über das Erzählen, über die Macht und die Verantwortung, die mit dem Schreiben einhergehen und genau das bietet The House of Doors auf meisterhafte Weise. Im Zentrum steht Lesley Hamlyn, die in den 1940ern auf einer Farm in Südafrika lebt und auf ihr früheres Leben im kolonialen Penang zurückblickt. Dort begegnet sie 1921 William Somerset Maugham „Willie“, der mit seinem Sekretär und Lebensgefährten Gerald Haxton reist. Maugham, 1874 in Paris geboren und einer der meistgelesenen britischen Autoren seiner Zeit, ist auf der Suche nach Geschichten, nach den feinen Rissen hinter den Fassaden menschlicher Beziehungen. Haxton begleitet ihn seit Jahren auf all seinen Reisen, ihre Beziehung bewegt sich zwischen tiefer Zuneigung, Abhängigkeit und dem permanenten Druck, ihre Liebe in einer Zeit der gesellschaftlichen Enge verbergen zu müssen.

Willie’s words had polished the lens through which I had always viewed my husband, and yet, at the same time, they shifted him slightly out of focus.

Tan Twan Eng beschreibt diese beiden mit einer Zartheit und Genauigkeit, die weit über bloße Hommage hinausgeht. Seine Beobachtungsgabe erinnert an Maugham selbst doch Eng nutzt die Perspektive der Kolonisierten, um die moralischen und kulturellen Bruchstellen dieser Welt offenzulegen. Lesley, gefangen zwischen Loyalität, Schuld und dem Wunsch nach Wahrheit, steht am Schnittpunkt dieser Spannungen. Das titelgebende „Haus der Türen“ ist dabei weit mehr als ein Schauplatz: Es ist ein Sinnbild für Erinnerung und Erzählung, für die unzähligen Türen, die wir im Leben öffnen oder verschlossen halten. Eng gelingt es, historische Begebenheiten die Begegnung mit dem Revolutionär Sun Yat-sen, den realen Mordfall Ethel Proudlock mit fiktionaler Raffinesse zu verweben, ohne den emotionalen Kern aus den Augen zu verlieren.

Der Roman liest sich wie ein fein komponiertes Musikstück, getragen von Melancholie, von der Schönheit des Vergehens und der Frage, wie aus Leben Literatur wird. Tan Twan Eng, selbst in Penang geboren, beweist einmal mehr sein Gespür für Atmosphäre, für leise Zwischentöne und das Unsagbare zwischen den Zeilen. Am Ende hat mich The House of Doors nicht nur berührt, sondern auch ganz schön neugierig gemacht – auf Maugham selbst, auf seine Romane, seine Kurzgeschichten und vor allem auf das faszinierende, widersprüchliche Leben eines Mannes, der wie kaum ein anderer wusste, dass jede Geschichte zwei Seiten hat: die erzählte und die verschwiegene.

Ich habe das Buch für den Bookclub und den „Read around the World“ Stopp in Malaysia gelesen.

Harpman, Jacqueline – I Who Have Never Known Men auf deutsch unter dem Titel Ich, die ich Männer nicht kannte im Klett-Cotta Verlag erschienen, übersetzt von Luca Homburg

Was für ein großartiges, wiederentdecktes Juwel aus den 1980er-Jahren. Der Roman folgt 40 Frauen, eingesperrt in einem Bunker, ohne irgendeine Erklärung weder für sie noch für uns. Unsere Erzählerin ist die Jüngste unter ihnen, aufgewachsen in Gefangenschaft, ohne Erinnerung an eine Welt davor. Und genau hier liegt die eigentliche Sprengkraft des Buches: Es verweigert sich jeder Form von Auflösung. Wer Antworten braucht, klare Strukturen, eine Art „Aha, deshalb“, wird hier garantiert scheitern. Aber wer bereit ist, durch die Finsternis zu gehen und sich vom Nichtwissen tragen zu lassen, wird mit einer Erfahrung belohnt, die einen noch lange verfolgt.

Trotz des dystopischen, beinahe außerweltlichen Settings ist „I Who Have Never Known Men“ zutiefst menschlich. Harpman stellt große Fragen, ganz ohne philosophisches Trommelwirbel:
Was macht uns eigentlich zu Menschen? Wie verändern sich Zeit, Erinnerung und Identität, wenn die Welt unverständlich wird?

Besonders faszinierend ist die Dynamik zwischen der Erzählerin und den anderen Frauen. Während die 39 Gefährtinnen noch ums Festhalten an früheren Leben ringen, kennt die Erzählerin diese Welt nur aus ihren bruchstückhaften Erinnerungen. Das macht sie analytischer, neugieriger und auf eine seltsame Weise freier. Die Beziehungen zwischen den Frauen, ihr ständiges Anpassen, ihr Zusammenwachsen und Zerfallen: Das alles wirkt gleichzeitig zart und gnadenlos.

I was forced to acknowledge too late, much too late, that I too had loved, that I was capable of suffering, and that I was human after all.

Und ja, das Buch ist düster. Richtig düster. The Road wirkt dagegen fast gemütlich. Harpman erspart uns jede Form von Trost. Keine Erklärungen, keine Erlösungen, keine epische Enthüllung am Ende. Nur die Frage, was bleibt, wenn alles, was wir für menschlich halten: Liebe, Nähe, Hoffnung einfach weg ist.

Die Stille in diesem Roman ist lauter als jedes World-Building. „I Who Have Never Known Men“ ist brillant, zutiefest verstörend, philosophisch – ein Roman mit einem letzten Satz, der einem quasi in die Magengrube haut.

Im Grunde könnte meine Rezension lauten: I who have never known a book like that.
Jacqueline Harpman ist eine Autorin die man unbedingt wiederentdecken sollte.

Hertmans, Stefan – Dius erschienen im Diogenes Verlag übersetzt von Ira Wilhelm

Es gibt Zufälle, die so schräg sind als wäre kurz ein Riss im Raum-Zeit-Kontinuum entstanden und man zweifelt, ob das Buch sich vielleicht ins echte Leben ausgedehnt hat. Während ich Stefan Hertmans’ „Dius“ las ein Buch, in dem Vittore Carpaccios Bilder eine recht zentrale Rolle spielen fand ich auf meinem täglichen Spaziergang mit der kleinen Gasthündin im offenen Bücherschrank ausgerechnet einen Bildband dieses Malers. Carpaccio, nicht da Vanci oder Michaelangeo, ein Maler, den man nun wirklich nicht an jeder Ecke erwartet. Plötzlich wurde aus einer ohnehin schon intensiven Lektüre ein kleines multimediales Erlebnis: Musik über die Playlist, die beim Diogenes-Zoom-Abend mit dem Autor empfohlen wurde, Hertmans’ Worte im Buch und dann diese Bilder, die direkt daneben aufschlugen und die mich wirklich sehr fasziniert haben.

Im Zentrum des Romans steht Anton, ein Kunsttheoretiker voller Sehnsucht, der oft eher beobachtet als handelt. Schon früh gibt es eine Szene, die sich ins Gedächtnis brennt: ein Autounfall, ein Hirsch, eine beinahe tödliche Bewegung. Hertmans schreibt das mit einer Intensität, die einen sofort in Antons Kopf zieht. An seiner Seite steht Dius, zunächst sein Student, dann sein Freund impulsiver, unmittelbarer, ein Künstler, der die Welt mit den Händen begreift. Zwischen den beiden entsteht eine enge, zugleich fragile Verbindung, getragen von Gesprächen über Kunst und Natur, aber auch von all dem, was unausgesprochen bleibt. Am Ende geht Dius nach Italien, Anton bleibt zurück – und die Lücke zwischen ihnen erzählt ebenso viel wie ihre gemeinsamen Jahre.


Hertmans verankert diese Freundschaft in einem alten Bauernhaus in den weiten Westflämischen Poldern, einer Landschaft, die wie ein Resonanzraum wirkt, Seine Naturbeschreibungen sind präzise und voller Zärtlichkeit, und immer wieder stellt der Text die Frage, wie man Schönheit überhaupt fassen kann – ob Sprache reicht, um zu vermitteln, was Kunst, Landschaft oder ein Mensch in uns auslösen können.

In solchen Momenten weiß ich warum Dius in mein Leben treten musste: weil wir beiden den Durst nach längst vergangenen Zeiten teilen, die uns durch die frühen Erinnerungen irgendwie in den Körper eingeschrieben sind und uns unbehaust werden lassen im Lärm unserer Gegenwart. Kultur ist etwas Unbegreifliches; das Höchste ist mit dem Abgründigsten verwandt, und voll all den Jahrhunderten voller Schmerz, Verzückung und Verwirrung bleibt uns am Ende nur diese himmlische Musik, bei der sich mein Herz vor Verlangen zusammenkrampft, während ich unter der leichten Daunendecke liege….


Anton, ist Kunsttheoretiker, der oft an den Rändern des Lebens entlanggleitet. Einer, der eher denkt als handelt, der seine Sehnsüchte und seine Melancholie mit sich herumträgt und im Gegensatz Ein Gegenpol, lebendig, impulsiv, handfest im besten Sinn. Er denkt nicht nur über Kunst nach, er greift nach ihr, verschmilzt mit Material und Werkzeug, ein Mensch, der mit seiner Umgebung in eine Art physischer Resonanz tritt. Zwischen den beiden entsteht eine Freundschaft, die nicht idyllisch ist, sondern vibrierend; eine Beziehung, in der Nähe und Verrat, Inspiration und Verletzlichkeit von Anfang an mitschwingen.

Gerade weil Dius kein klassisch plotgetriebenes Buch ist, wirkt das, was geschieht, umso intensiver. Hertmans schildert ein Leben, das von Verlust, Erinnerung und dem Bedürfnis nach Nähe geprägt ist aber auch von dem Versuch, sich über Kunst und die Betrachtung der Welt neu zu verorten. Durch die kunsthistorischen Exkurse, die Musik und die Naturbeobachtungen entsteht ein Geflecht, das gleichzeitig poetisch, scharf und berührend ist. Es ist ein Buch über das Sehen im wörtlichen wie im übertragenen Sinn. Dius hat mich sehr berührt, und als Nächstes wartet nun Hertmans’ Krieg und Terpentin auf mich. Danke an Susanne vom Diogenes Verlag für ihre treffsichere Empfehlung und natürlich an den Diogenes Verlag für das Rezensionsexemplar.

Dius war außerdem die Lektüre für meinen Read around the World Belgien Stop.

Kim, Monika – Das Beste sind die Augen erschienen im Kiepenheuer & Witsch Verlag, übersetzt von Jasmin Humburg

Ich hatte mich durchaus auf Horror eingestellt – aber was Monika Kim in diesem Debüt abliefert, hat meine Vorstellung doch noch mal ordentlich übertroffen. Es geht um die koreanisch-amerikanische Schülerin Ji-won, die versucht, ihre Familie zusammenzuhalten, während sie sich gleichzeitig durch alltägliche Mikroaggressionen, Fetischisierung und unterschwelligen Rassismus kämpft. Und irgendwo auf diesem Weg kippt etwas in ihr – langsam, aber unaufhaltsam.


Ji-won ist keine Karikatur und keine reine Horrorfigur, sondern eine vielschichtige, verletzte, wütende junge Frau die irgendwann einen Weg wählt, der definitiv ins Dunkle führt. Und ja, es geht um Augen. Um das Essen von Augen. Um eine Obsession, die eng mit dem neuen Freund ihrer Mutter zusammenhängt, einem weißen Mann, der die Familie so unverhohlen exotisiert, dass es einem schon beim Lesen unangenehm wird.

Stark fand ich die Stellen, in denen Kim zeigt, wie unterschiedlich Rassismus aussehen kann: Der offensichtliche, laute Typ wie George – aber auch die Sorte, die sich hinter vermeintlichem „Ich bin doch einer von den Guten“ versteckt. Diese leisen, schmierigen, hohlen Gesten, die sich erst später als echte Gefahr entpuppen.

Männer wie George sind nicht wie wir. Nicht wie ich, nicht wie Ji-hyun. Nicht einmal mein Vater, ein anderer Mann, kann George das Wasser reichen, da seine Macht nicht allein der Tastsache entspringt, dass er einen Penis hat. Sie basiert auf seiner weißen Haut. Für uns ist diese Art der Bestimmtheit und Selbstsicherheit unmöglich. Uns Mädchen wird von klein auf eingebläut, dass wir nachweislich weniger wert sind als unsere männlichen Zeitgenossen. Wir sind kleiner, schwächer, dümmer. Wenn wir Erfolg haben, dann nur, weil Männer es uns erlauben. Und als asiatische Frauen sind wir besonders machtlos und fremdartig, mit unserer vermeintlichen Porzellanhaut, der zierlichen Figur, der „Schlitzaugenpussy“ und dem ruhigen, unterwürfigen Naturell.

Allerdings wirken einige der Charaktere ziemlich schablonenhaft und bestimmte Wendungen waren schon früh vorhersehbar. Noch eine Warnung: wer empfindlich auf Splatter reagiert, sollte sich auf etwas gefasst machen. Einige Szenen gehen wirklich an die Grenze selbst mir wurde es zwischendurch mulmig und so ganz schnell geht das bei mir eigentlich nicht.

„Das Beste sind die Augen“ ist mutig, ungewöhnlich und wagt eine Perspektive, die man so selten liest. Ji-wons Abstieg ist verstörend, aber zugleich auch nachvollziehbar erzählt und weckt sogar stellenweise Mitgefühl. Und ganz ehrlich: Wenn wir seit Jahrzehnten empathisch erzählte Serienkiller-Stories über weiße Typen lesen, dann ist es absolut an der Zeit, dass auch andere Stimmen diesen Raum bekommen.

Ich danke dem Kiepenheuer & Witsch Verlag für das Rezensionsexemplar.

Toller, Ernst – Eine Jugend in Deutschland erschienen im Rowohlt Verlag

Ernst Toller war ein Mensch, der das Wort „Humanität“ nicht nur schrieb, sondern lebte. Geboren 1893 in Samotschin, aufgewachsen in einer bürgerlich-jüdischen Familie, erlebte er als junger Mann den Ersten Weltkrieg an der Front – ein Erlebnis, das ihn zutiefst prägte und zum Pazifisten machte. Aus dem patriotischen Studenten wurde ein Suchender, ein Zweifler, ein Kämpfer für eine gerechtere, menschlichere Welt.

Sein autobiographisches Werk „Eine Jugend in Deutschland“ ist nicht nur Erinnerungsbuch, sondern ein erschütterndes, poetisches Bekenntnis. Toller beschreibt darin den Weg eines sensiblen, idealistischen Menschen, der den Krieg als Wahn erkennt und im Chaos der Nachkriegszeit versucht, durch Mitgefühl und Phantasie politische Verantwortung zu übernehmen.

In München wird er einer der führenden Köpfe der Räterepublik – nicht aus Machtstreben, sondern aus der Hoffnung heraus, eine neue, menschlichere Gesellschaft zu schaffen. Sein Leitsatz bleibt unverrückbar:

Wir kämpfen für eine gerechtere Welt, wir fordern Menschlichkeit, wir müssen menschlich sein.

Doch die Geschichte war grausam zu denen, die zu früh zu viel wollten. Nach dem Scheitern der Räterepublik wird Toller wegen Hochverrats zu fünf Jahren Haft verurteilt. Die Bedingungen sind entsetzlich – Hunger, Kälte, Isolation –, und doch entstehen in dieser Dunkelheit einige seiner hellsten Texte. In der Zelle schreibt er Antikriegsstücke wie „Masse Mensch“ und das zarte, tröstende „Schwalbenbuch“.

Zwei Schwalben fliegen vor mein Gitter,
sie bauen ihr Nest an der grauen Wand.
Ich sehe sie, wie sie fliegen und singen,
und mein Herz fliegt mit ihnen hinaus.

Diese Zeilen fassen alles, was Toller ausmacht: die Sehnsucht nach Freiheit, das Vertrauen in das Leben, selbst dort, wo es keine Hoffnung zu geben scheint.

Als er 1924 entlassen wird, ist er erst knapp dreißig Jahre alt – durch die Haft aber gealtert, innerlich wie äußerlich. Bis zu seiner Ausbürgerung 1933 schreibt er mehrere Dramen, in denen er die Fragen nach Verantwortung, Gewalt und Mitgefühl unermüdlich weiterstellt.

Im Exil – zunächst in England, dann in den USA – verliert er alles: seine Heimat, seine Sprache, seine Freunde, und zuletzt den Glauben, noch etwas bewirken zu können. 1939, in einem New Yorker Hotelzimmer, beendet er sein Leben – verlassen, bettelarm, und, wie er glaubte, überflüssig geworden.

Es ist eine bittere Wahrheit, dass Ernst Toller nach dem Krieg in der Bundesrepublik kaum Anerkennung fand. Die Bühnen, die ihn hätten ehren sollen, schwiegen. Dabei ist er ein Autor, dessen Werk – getragen von moralischem Mut und poetischer Zärtlichkeit – heute aktueller ist denn je.

„Eine Jugend in Deutschland“ ist ein Vermächtnis. Es ruft uns in Erinnerung, dass Menschlichkeit auch in Zeiten der Verzweiflung möglich bleibt, dass Widerstand ohne Hass denkbar ist. Toller war ein Dichter, ein Politiker, ein Idealist – und vor allem: ein Mensch, von deren Format wir heute mehr denn je brauchen.

Was waren eure Highlights im November und konnte ich euch auf das eine oder andere Buch Lust machen? Freue mich auf eure Rückmeldungen.

5 Kommentare zu “November Lektüre

  1. Das klingt nach einem absolut phänomenalen Lesemonat – kein Flop und so viele Fünf-Sterne-Bücher, Chapeau!

    Besonders die Fortsetzung von Solvej Balles Über die Berechnung des Rauminhalts reizt mich; deine Beschreibung der ewigen Zeitschleife als ruhiger, wacher Raum ist faszinierend.

    Auch Ernst Tollers Eine Jugend in Deutschland als erschütterndes und poetisches Bekenntnis eines Humanisten werde ich mir vormerken. Es ist traurig, dass sein Vermächtnis so wenig präsent ist.

    Welcher der Titel hat dich emotional am tiefsten berührt?

  2. Hi Sabine, bin erleichtert :-), dass der erste Band von Balle und „House of Doors“ schon hier liegen. Zwei der anderen Titel sind mir zu heftig, aber Toller klingt sehr interessant. Weiterhin ein gutes Händchen mit der Lektüreauswahl und noch einen schönen Dezember/Advent. LG Anna

  3. Wieder eine spannende Bücher Vorstellung. Mammut wird sich (mit Vorsicht) auf die Liste gesetzt.

    I who have never known men habe ich mir letztens erst gekauft, weil es super interessant klang. Da freue ich mich nach deiner Rezension jetzt noch mehr drauf

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